Читать книгу Nie wieder Opfer - Aline Bachmann - Страница 7

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Du kannst dich nicht selber finden, indem du in die Vergangenheit gehst. Du findest dich selber, indem du in die Gegenwart kommst.

– Eckhart Tolle

Dass ich nie ’ne zarte Ballett-Elfe werden würde, das war dann schon so irgendwann rund um mein siebtes Lebensjahr ziemlich klar. Doch als Pummelchen, das immer runder und runder wurde, wollte sich mit mir auch keiner so recht abfinden. Meine Eltern am allerwenigsten. Daher ging es in meiner Kindheit und Jugend in Dauerschleife darum, wie ich Gewicht loswerden könnte. Oder, in meinen Ohren: darum, wie unperfekt ich aussah und wie wenig meine Familie mich so akzeptieren konnte, wie ich nun mal war.

Eine Maßnahme, die meine Eltern zusammen mit der ganzen Verwandtschaft jedes Jahr aufs Neue ergriffen, um für mehr Bewegung in meinem Leben zu sorgen, waren unsere gemeinsamen Wanderausflüge in die Schwedenlöcher in der Sächsischen Schweiz. So eine Schlucht mit steilen Treppen ist doch der perfekte Trimm-dich-Pfad für das übergewichtige Töchterchen. Diese Ausflüge machten wir meist zu Weihnachten, ab dem zweiten Feiertag. Ich sehe mich noch heute den Berg hochkraxeln, mit schwitzigem Gesicht und schnaufend wie ein kleiner Postgaul. Die böse, spindeldürre Oma Christel mit ihrem stets verkniffenen Gesicht direkt hinter mir. »Du bist zu dick, Kind«, rief sie immer. »Zieh keine Gusche! Beeil dich mal lieber! Husch, husch!« Ja, das war ein großer Spaß, wie du dir vorstellen kannst. Diese Oma, die Mutter meiner Mutter, war sowieso eine echte Vogelscheuche, aber seine Familie kann man sich bekanntlich ja nicht aussuchen. Während die anderen sich bei diesen Wanderausflügen also lustig die Schneebälle um die Ohren warfen und heitere Wanderlieder sangen, hatte ich jedes Mal Mühe, überhaupt bis zur Hütte durchzuhalten. In Nullbockstimmung trottete ich vor mich hin. »Wann sind wir endlich da?« – das war mein Standardspruch alle paar Hundert Meter. Das einzige Highlight an einem solchen Wandertag: Wenn wir dann endlich oben ankamen, gab’s was zu essen. Doch während die ganze Familie Schnitzel mit Pommes bestellte und die Erwachsenen dazu noch ihren Eierlikör oder Punsch runterkippten, saß ich vor einem Salat. Weil einfach alle so kritisch beäugten, was ich mir bestellte, dass ich mich gar nicht traute, was anderes zu essen. Ich wollte nur schleunigst wieder heim, um es mir einmal mehr in meinem Kinderzimmer mit einem Teller Deftsches auf dem Schoß gemütlich zu machen.

Neben meiner geliebten Oma Ursula, über die ich dir später noch mehr erzähle, meinten es in unserer Familie auch der Bruder meiner Mama, Jörg, und seine Frau Ute wirklich gut mit mir. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, hatten die beiden Tipps zu meinem Gewicht parat – ihre Ratschläge waren aber im Gegensatz zu so vielen anderen wirklich liebevoll gemeint. Jörg und Ute hatten schließlich selbst drei Söhne. Die waren allerdings echte Sportskanonen und kannten so was wie Figurprobleme nur vom Hörensagen. Trotzdem, wenn Jörg mich beiseitenahm, mir fest in die Augen schaute und sagte: »Aline, probier einfach mal, ganz langsam und entspannt abzunehmen. In der Ruhe liegt die Kraft!«, hatte ich das Gefühl, da kümmert sich jemand um mich. Die wollten mir wirklich helfen. Leider sahen wir uns viel zu selten, als dass ihre Ratschläge tatsächlich etwas in meinem Leben hätten ändern können.

Wegen ihrer ähnlich liebevollen und einfühlsamen Art ist mir meine Kinderärztin Frau Dr. Baumann im Gedächtnis geblieben. In den Momenten, in denen sie bei meinen jährlichen Routineuntersuchungen mit ihrem weißen Kittel vor mir stand und mir hoffnungsvoll zulächelte, gab mir das richtig Kraft. Auch wenn sie spätestens nach dem Blick auf die Waage immer so Dinge sagen musste wie: »Aline, du bist übergewichtig! Achte ein bisschen auf dein Essverhalten, jetzt kannst du es noch ändern. Es wird schwieriger werden, je älter du wirst.« – bei Frau Dr. Baumann klang es nie verurteilend. Und wenn ich sie dann mit großen, hilflosen Augen anguckte und meine Mama den Tränen nahe nach meiner Hand griff, machte sie uns Mut, dass wir das doch noch alles in den Griff bekommen könnten.

Nach so einem Besuch bei Frau Dr. Baumann konnte ich mich auf mindestens eine Woche Kohlsuppe einstellen. Wenn ich das Wort »Kohl« heute nur höre, fängt mein Bauch an zu rumoren. Meine Mama setzte sich nämlich gerade nach solchen Ansagen der Frau Doktor immer in den Kopf: »Die Sache mit dem Übergewicht müssen wir ändern! Und zwar jetzt! Es kann doch nicht so schwer sein, ein paar Kilo abzunehmen.«

Dann holte sie zu Hause ihren riesigen Kochtopf aus dem Schrank und stand stundenlang in der Küche, um Gemüse zu schnippeln und zu kochen. Allein schon dieser Geruch, der durch die ganze Wohnung waberte, war so was von ekelhaft! Am Schluss pürierte und würzte meine Mama die Suppe immer ordentlich, um diese Brühe wenigstens ein bisschen schmackhafter zu machen. Ich hatte dann sieben Tage was davon, morgens, mittags und abends – und mein Umfeld auch. Kohl treibt ja nun mal. Puh, diese Bauchkrämpfe! So saß ich nicht selten mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht auf der Schultoilette, die Hände auf den Bauch gepresst und verzweifelt horchend, dass ja auch niemand kam, der dieses Elend live miterleben und sich vielleicht noch über mich lustig machen würde.

Dieser ganze Mist mit der ekligen Brühe fing übrigens schon an, als ich ungefähr acht Jahre alt war. Ab da hieß es wirklich alle paar Monate: Kohlsuppen-Woche! Fürchterlich! Sichtbare Erfolge gab es nach diesen Diäten übrigens immer: Sieben Kilo runter. Allerdings wenige Wochen später dann auch wieder zehn Kilo rauf. Ein Kreislauf, den weder ich selbst noch meine Familie zu brechen in der Lage war, weder mit Kohl noch mit irgendwelchen anderen vermeintlichen Wundermitteln.

Meine Eltern haben es wirklich versucht. Sie wollten nicht tatenlos dabei zusehen, wie ich immer dicker und dicker wurde. Aber sie haben es einfach mit den falschen Mitteln versucht. Statt mich in den Arm zu nehmen und mich zu fragen, was ich wirklich brauchte, wurde ich in die Schranken gewiesen, wenn ich wieder mal zu viel gegessen hatte. Immer wieder hieß es: »Dicksein ist nicht gut, Aline!« – »Du darfst das nicht essen!« – »Iss doch mal weniger und beweg dich mehr!«

Auf Anraten von Frau Dr. Baumann schickten mich meine Eltern insgesamt auch dreimal in den Schulferien in das Kinderkurheim in Wyk auf Föhr. Das erste Mal war ich in der zweiten Klasse, dann noch mal, als ich in die vierte ging, und in der sechsten das gleiche Spiel. Erstaunlicherweise ging es mir während der jeweils sechs Wochen dort aber jedes Mal wirklich gut, und meine Erinnerungen daran sind einfach toll! Ich wurde direkt in Freudenstadt mit einem Bus abgeholt, und nach acht Stunden Fahrt zusammen mit den Erziehern waren wir endlich da. Das große, klassisch hübsche Backsteingebäude lag direkt am Strand und war im Grunde wie ein Schullandheim de luxe. Die Neverland-Ranch mit Meerblick sozusagen. Ein Träumchen!

Nach unserer Ankunft wurden wir in Gruppen eingeteilt und hatten dann mit unserer kleinen Truppe an Leuten jeden Tag aufs Neue wunderschöne Erlebnisse. Das fing schon damit an, dass ich endlich auch mal eine Zimmernachbarin hatte. Hier hat mir endlich mal jemand auf mein »Hallo, ich bin Aline, und du?« geantwortet, und zwar mit: »Schön, dich kennenzulernen!« Das kannte ich vorher nicht.

Dort in Wyk hatten wir außerdem einen sehr geregelten Tagesablauf: Wir alle standen morgens um sieben Uhr auf, dann gab es ein gemeinsames Frühstück mit unglaublich viel Gelächter und Freude. Wir hatten Ernährungsberatung, wo ich zum ersten Mal die klassische Gesundheitspyramide gesehen habe – was für ein Sch***! –, und teilweise auch Schulunterricht in den Kernfächern. Am Nachmittag gab es so viele unterschiedliche Freizeit- und Sportangebote, wie man es sich als kleines Mädchen echt nur wünschen kann. Hinter dem Hauptgebäude war ein riesengroßer Streichelzoo mit Meerschweinchen, Kaninchen und Ziegen. Ein kleiner brauner Hase mit knuffigen Hängeohren hatte es mir besonders angetan – ich taufte ihn Schlappohr und kam jeden Tag mindestens einmal zum Kuscheln vorbei. Zusätzlich gab es eine Sporthalle mit Swimmingpool und einer Saunaanlage sowie Gymnastikräume, in denen wir Bewegungsspiele spielten. Komischerweise fand ich es in dem Kinderkurheim gar nicht blöd, mich zu bewegen. Im Gegenteil, es machte Spaß, mit den anderen Fangen oder Völkerball zu spielen. »Wir nehmen Aline ins Team!« Hier war ich auch nie die Letzte, die ausgewählt wurde. Während der Zeit im Sommer, in der ich im Kinderkurheim war, fand auch immer der Stadtlauf Wyk auf Föhr statt, für den wir alle zusammen trainierten. Das hieß: Jeden Tag stand mindestens eine Runde schnelles Gehen auf dem Tagesprogramm. Kein Problem, dann gehen wir eben! Kein Vergleich zu den furchtbaren Wanderausflügen mit der Familie. Wir Kinder badeten zusammen im Meer, durften reiten gehen und kochten am Abend gemeinsam – eine herrliche Zeit!

Es war auch eine spezielle Begegnung auf Föhr, die mein Leben nachhaltig bereichert hat. Das erste Aufeinandertreffen fand damals sogar noch in Freudenstadt statt, kurz bevor ich in den Bus stieg. Wir saßen in der Bäckerei am Busparkplatz, meine Mama trank Kaffee, ich eine Tasse Tee. Dicke Abschiedstränen kullerten mir die Wangen hinunter. »Mein Sonnenschein, du wirst sehen, es wird dir ganz viel Spaß machen«, versprach mir meine Mutter. »Wir können ja telefonieren!« In diesem Moment sah ich ihn. Ich glaube, er war der erste Mann mit dunkler Hautfarbe, den ich in meinem ganzen Leben überhaupt gesehen hatte. Ich war hin und weg! Auf diesem Parkplatz standen ja einige Busse herum, doch er lief tatsächlich zu meinem Bus. Dieser tolle Mann fährt auch bei mir mit – wie cool! So fiel mir der Abschied von meiner Mama gar nicht mehr ganz so schwer. Schnell wollte ich auch einsteigen. Da war er also – und lächelte mich direkt an. »Ich bin Schola. Ich bin dein Betreuer auf Föhr«, erklärte er mir strahlend. »Wenn du irgendwas brauchst, frag mich, ich bin für dich da.« Wow! Anschließend hörten wir die ganze Busfahrt über zusammen Michael-Jackson-Songs, denn er war riesengroßer Fan. Von dem Moment an, in dem ich im Bus diesen tollen Menschen kennenlernte, wusste ich: Die nächsten sechs Wochen werden super!

Dank Schola entdeckte ich die Musik von Michael Jackson, die mich in meinem Leben bis heute nachhaltig beeinflusst hat. Mein Lieblingsbetreuer und ich haben oft zusammen gesungen. Ich sehe uns noch draußen im Hof auf den Steinen sitzen, wie wir gemeinsam Heal the World schmetterten. Immer mehr Kinder umringten uns staunend. Sie fingen an zu klatschen und sich im Takt der Musik langsam mitzubewegen. »Du siehst wie ein Engel aus mit deinen langen blonden Haaren, und du singst wie ein Engel!« Das war eins von Scholas Komplimenten, das ich mir damals sogar aufgeschrieben habe, um es immer wieder lesen zu können.

Dann gab es da noch die Kinderdisco. Freitagabends machten wir immer Karaoke in dem kleinen Discoraum mit noch kleinerer Bühne. Es gab bunte Lichter und sogar eine Nebelmaschine. Dort stellte ich mich einfach auf die Bühne und sang und tanzte – ganz ohne Hemmungen und ganz ohne mir Gedanken um mein Aussehen zu machen. Zu Billy Jean, zum Beispiel, oder Man in the Mirror. Die anderen Kinder jubelten mir zu und klatschten. An einem Abend nahm Schola mich beiseite, kniff mir lieb in die Taille und sagte: »Du bist echt süß! Aus dir wird mal eine tolle Frau!« Wie geschmeichelt ich mich fühlte! An diesem Ort und umgeben von so lieben Menschen stand ich gern auf der Bühne und konnte es wahrhaft genießen, wenn alle Blicke auf mich gerichtet waren. Wenn alle wussten: Jetzt kommt Aline auf die Bühne, und die kann echt gut singen und tanzen, das dürfen wir nicht verpassen! In diesen Momenten fühlte ich mich wie ein kleiner Star. Also ein klitzekleiner. Hier leckte ich zum ersten Mal Blut in Sachen Rampenlicht. Ich erlebte, wie berauschend es sich anfühlen konnte, wenn man im Mittelpunkt stand und alle einen toll fanden.

Schola war schließlich auch meine treibende Kraft, als gegen Ende meines ersten Aufenthalts der Wyk-auf-Föhr-Lauf stattfand. Immerhin mussten wir ganze fünf Kilometer durchhalten. Das war zu dem Zeitpunkt mit meinem Übergewicht von fast zehn Kilogramm schon wirklich hart. Nach gefühlt einem Kilometer hatte ich schon keine Luft mehr zum Atmen und wollte mich am liebsten einfach rechts am Wegesrand ins Gras plumpsen lassen und aufhören. Sollten die anderen doch ins Ziel sprinten! Doch da kam Schola zu mir gerannt, nahm meine Hand und rief mir motivierend zu: »Du schaffst das, Aline! Los, weiter, weiter, weiter!« Er zerrte und zog mich, bis ich schließlich auch durch die Ziellinie kam. Mit hochrotem Kopf, zitternd vor Anstrengung – aber überglücklich, dass ich es geschafft hatte. Ich, Aline, war fünf Kilometer gelaufen! Wo war der Pokal, bitte schön?

Auf Föhr konnte ich mit meiner Persönlichkeit punkten, mein Gewicht war nur zweitrangig. Das war eine echt besondere Zeit, in der sich meine Leidenschaft für Musik sehr stark weiterentwickelt hat. Schola bestärkte mich einfach wieder und wieder darin, dass ich nicht nur die dicke, komische Aline war – weder auf der Bühne noch sonst irgendwo. Er war wie ein Vater für mich, jemand, zu dem ich aufschauen konnte. Deshalb waren die Abschiede von ihm, wenn dann jedes Mal der Bus für die Heimreise schon bereitstand, auch besonders schlimm. Ich hing in seinen Armen und fühlte beinahe einen körperlichen Schmerz, so weh tat es mir, Schola bald nicht mehr an meiner Seite zu wissen. »Wir sehen uns wieder, mein Engel«, versprach er. Irgendwann ging er aber leider nach Afrika zurück. Ich schrieb ihm noch eine ganze Weile Briefe, aber letztendlich verloren wir leider den Kontakt zueinander. Einer meiner größten Träume ist es noch heute, nach Afrika zu fliegen, um Schola wiederzusehen.

Rückblickend erlebte ich in diesem Kinderkurheim auf Föhr die schönste Zeit meines Lebens. Dort war ich von Schola und anderen Gleichgesinnten umgeben, Freunde, dicke Kinder oder eben andere junge Menschen mit irgendeinem Defizit oder Problem. Leute, die mich in meinem Anderssein verstanden und mich so annahmen, wie ich war.

Das Problem war nur: Der Abnehmerfolg, also der eigentliche Grund, weswegen ich überhaupt den Sommer in Wyk verbringen durfte, war leider nie von Dauer. Ich nahm zwar im Kinderkurheim jedes Mal zehn Kilo ab, aber kaum war ich wieder zu Hause, fing alles wieder von vorn an. Meine positive Energie schwand in dem Moment, in dem ich zu Hause durch die Tür ging. Der Jo-Jo-Effekt holte mich schneller ein, als ich überhaupt »Jo-Jo« sagen konnte. Zehn Kilo runter, dafür fast zwanzig Kilo rauf. Mein hässlicher Alltag überrollte mich regelrecht. Der Unterschied zwischen diesen beiden Leben war einfach zu krass: So schön das Leben mit meinen Freunden auf Föhr gewesen war, so trostlos und leer wirkte mein »echtes« Leben in Freudenstadt auf mich.

Nie wieder Opfer

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