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Stella

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Schon von weitem sah man den Kirchturm des unteren Dorfes. Daneben stand eine große Tanne. Der Kirchturm und die Tanne waren gleich hoch. Sie sahen aus, von der Ferne gesehen, wie zwei stolze, schlanke Menschen, die nebeneinander hergehen, ohne sich zu berühren, aber für alle Zeiten zueinandergehörig.

Die Tanne stand im Garten des Posthalters. Sie war sein Ruhm. Selten sah man eine so gerade gewachsene, ebenmäßige und hohe Tanne. Der Posthalter hatte Tisch und Bank unter dem Baum anbringen lassen. Dort saß er, wenn man vorbeiging, und las.

Er war früher im Land drunten Lehrer gewesen. Erst in seinem Alter war er mit seiner Tochter Stella ins Tal zurückgekehrt. Die Frau war ihm gestorben. Neben der Post betrieb er einen kleinen Spezereiladen. Seine Tochter half ihm. Sie besorgte den Haushalt und den Garten, sie bediente im Laden.

Stella war nicht mehr ganz jung. Groß und schlank gewachsen, mit ruhigen, weiten Bewegungen, war sie eine schöne Er­schei­nung. Auffallend an ihr war das übermäßig reiche, sehr schwarze Haar und die dunkeln Augen. Sie ging angezogen wie die andern Mädchen im Dorf, aber ihre Haltung hob sie aus allen hervor. Man hätte denken können, sie sei stolz. Das stimmte aber nicht. Eher war sie scheu. Sie mied Gesellschaft und liebte es, für sich zu sein. Nur ihre Tante Fiorina, die im oberen Dorf wohnte, besuchte sie öfters.

Sie war eine der wenigen Frauen im Tal, die weben konnte. Diese Kunst hatte sie bei ihrer Mutter gelernt, die Italienerin gewesen war, aus dem Süden, wo die Frauen das Weben noch verstehen. Ihr Webstuhl stand in einem hellen, niederen Raum mit Holzboden und großen Schränken an den Wänden, in denen sie die Wolle aufbewahrte, die sie für ihre Arbeit benötigte. Die Fenster waren verstellt mit über und über blühenden Geranien. Sie pflegte sie mit Freude und Stolz und behielt sie auch im Winter in der Stube. Jede freie Minute saß Stella an ihrem Webstuhl. Sie verstand es, Stoffe in verschiedenen Mustern zu weben, doch konnte sie auch Teppiche knüpfen, und das brachte ihr einen guten Verdienst ein. Sie webte auf Bestellung. Was sie verdiente, lieferte sie dem Vater aus. Er verlangte es so. Ja, sie bekam das Geld gar nicht in die Hand, er zog es ein. Kleidete und ernährte er sie nicht, hatte sie nicht alles, was sie brauchte? Das Geld legte er auf die Seite. Er führte darüber ein Buch. Mit schmaler, spitziger Schrift trug er Zahl für Zahl hinein. Dieses Geld, es war schon eine hübsche Summe, würde er am Tage der Hochzeit der Tochter aushändigen. Vorher nicht. Und bis dahin hatte es Zeit.

Wohl war Stella nicht mehr ganz jung. Sie war sicher schon fünfundzwanzig Jahre alt. Ihr dunkel überschattetes Gesicht bekam um die Nase einen harten Zug, der Mund wurde schmal und der Nacken steif. Aus dem unergründlichen Dunkel ihrer Augen brach manchmal ein seltsamer Glanz, der sich nur langsam in sich zurückzog, und die Brauen schienen zusammenzuwachsen.

Die Sciora, welche oft bei Stella Stoffe oder Teppiche anfertigen ließ oder für Geschäfte bestellte, fand das Mädchen ungewöhnlich wortkarg. Es kostete sie Mühe, mehr als das Notwendigste von ihr zu erfahren. Stella führte ihre Rede biblisch, mit Ja und Nein. Kam ihr Vater etwa herein, verstummte sie vor ihm ganz. Sie neigte den schweren Kopf nach vorn und stimmte im Voraus allem zu, was er anordnen mochte.

Dieses Verhalten fiel bei einem Mädchen ihres Alters und ihrer Eigenschaften auf. Die Sciora machte sich jedenfalls ihre Gedanken darüber. Etwas musste da nicht stimmen. Der hell­äugige, heitere Mann passte nicht zu der dunkeln, stummen Tochter. Man müsste sie zum Reden bringen, dachte die Sciora, es ist schade um das Mädchen. Sie versuchte es bei einem nächsten Besuch mit einigen scherzenden Fragen. Stella schaute sie groß und verwundert an und wendete den Kopf ab. So ging es also nicht.

Da frug sie bei Gelegenheit den Vater, ob der Tochter etwas fehle, sie sei so still. Er sah über seine Brille, die er zum Nach­prüfen einer Teppichrechnung aufgesetzt hatte, die Sciora an, abwehrend und misstrauisch.

Etwas Stechendes stand in seinem Blick. Doch gleich wurde er wieder wasserklar und freundlich. Nein, die Stella sei gesund, es fehle ihr nichts. Sie arbeite vielleicht etwas zu eifrig, sie habe eben Freude am Weben. Das mache sie nervös. Aber sonst fehle ihr nichts.

Über Stellas Geranien waren die Frauen doch ins Gespräch gekommen. Diese Geranien waren eine Sehenswürdigkeit. Oft blieben Fremde draußen vor den Fenstern stehen und staunten. Da waren alle Sorten von Geranien wie in einer großen Auslage beieinander. Altmodische und neue, einfache und gefüllte, weiße mit einer roten Flamme im Herzen, seidenblätterig und fast durchsichtig, zartrosenrote, anzufühlen wie warme Haut, da­zugehörig das große wollige, grüne Blatt, zuckend rote, Trost und Versprechen den Liebenden, büschelige weinrote und fransige violette, die an der Sonne verblassen. Die Stube duftete von Blüten und Blättern. Die Sciora hätte gerne gewusst, was Stella den Pflanzen zuliebe tat, dass sie so reich blühten. Stella wusste nicht, was es sein könnte, sie pflege sie wie andere Leute. Sie lächelte aber und brach einige Schösslinge ab, die sie der Sciora reichte: «Vielleicht ist der Stock so kräftig.»

Diese Schösslinge waren der Beginn ihrer Freundschaft. Ob sie angewachsen seien und Wurzeln treiben, ob sie blühen würden und wann, das wollte Stella wissen. Die Sciora vergaß nie da­r­über zu berichten. Auch bewunderte sie jedes Mal neu die schönen Pflanzen in Stellas Fenstern und bemerkte ihre Fortschritte in Wachstum und Blüte.

Die gemeinsame Freude an den Geranien machte das Mädchen zutraulicher. Es kam nun vor, dass Stella auch über andere Dinge sprach, und die Sciora wunderte sich, wie klug sie war und wie viel sie gedacht hatte. Sie sagte es ihr einmal und fragte, ob sie viel lese.

«Das Weben gibt einem Gedanken», meinte sie. «Mir kommt manches in den Sinn, wenn ich webe und sehe, wie aus dem festen Zettel und dem freien Einschlag etwas entsteht. Der Zettel ist nichts für sich allein und der Einschlag auch nicht. Aber zusammen verkreuzt wird daraus ein guter Stoff. Darüber muss ich dann nachsinnen und da kommen die Gedanken von selbst.»

Seit die Sciora sich für das Mädchen interessierte, schien ihr, man spreche nur von ihm. Früher war es ihr nicht aufgefallen. Vielleicht dass wirklich erst seit kurzem das Geschwätz auf ­Stella kam. Man hörte ihren Namen mit demjenigen von diesem oder jenem Burschen zusammen genannt. Es hieß, sie möchte gerne heiraten und mancher junge Mann denke an sie. Es hieß auch, es sei Streit im Hause des Posthalters. Das freundlich sorgende Wesen des Vaters und die Ergebenheit der Tochter seien nur ein Schild, hinter dem die Wahrheit sich verberge. Und diese Wahrheit sei nicht schön.

«Warum soll denn Stella nicht heiraten?», fragte die Sciora einst die Tante des Mädchens, Fiorina, die ihre Nachbarin war. «Sie ist jung und gesund, auf was will denn ihr Vater warten?» Fiorina zog ihre fetten Achseln in die Höhe und legte die Hände ergeben ineinander, wie sie es auf den Heiligenbildern in der Kirche gesehen haben mochte: «Er ist zu fromm, mein Bruder», seufzte sie, «einen Frömmern gibt es nicht mehr –, und einem weniger Frommen kann er das Mädchen nicht geben. Was würden unsere Alten dazu sagen, wenn sie noch da wären?»

Dagegen war nichts einzuwenden.

Tatsächlich galt der Alte für einen der treuesten Diener der Kirche, den man weit im Land herum kenne. Gegen Andersdenkende war er hart und verfolgte sie, wenn es in seiner Macht lag. Mancher murrte deswegen. Für den Pfarrer aber und die Kirche wäre er durchs Feuer gegangen. Er verkehrte nur mit jenen Menschen, die der Pfarrer empfahl, er wählte an den Wahlen so, wie der Pfarrer vorschlug, er beichtete jede Woche, hielt jeden Feiertag ein und ging am Sonntag viermal in die Kirche, wie es dem Pfarrer gefiel. Er war ein frommer Mann und mochte das un­­klare, aber beglückende Gefühl haben, zu Füßen seines Pfarrers zu sitzen, wie die Jünger zu Füßen ihres Herrn gesessen hatten. Der Pfarrer lohnte es ihm mit einer auszeichnenden Freundschaft. Er war oft im Hause, wo er nicht nur an den wichtigen Dingen der Seele, sondern auch an allen kleinen häuslichen Sorgen teilnahm. Vor allem wurden die verschiedenen Heiratspläne der Stella mit ihm besprochen. Er erwog, ob dieser oder jener, der hatte verstehen lassen, dass Stella ihm gefalle, für sie passe. Nach genauer Prüfung bestimmte er, der Mann passe nicht. Eigentlich war es stets der Vater, der bestimmte, er passe nicht. Der Pfarrer hatte von Zeit zu Zeit etwas von der natürlichen Bestimmung der Frau fallen lassen, doch gegen die Einwände des Alten, der Betreffende gehe nur selten zur Beichte und er wähle nicht, wie die Kirche es für wünschenswert halte, oder er sei überhaupt ein Moderner, dagegen fand er nichts zu erwidern. Gewiss, der Mann passte nicht für Stella.

Vor kurzem hatte der Posthalter den Schmerz erleben müssen, seinen Pfarrer und Freund fortziehen zu sehen. Der alte Pfarrer wurde pensioniert und ein junger kam an seine Stelle. Der Posthalter übertrug bald seine verehrungsvolle Liebe auf den Jungen und eine späte Zärtlichkeit dazu, die seinem früh verstorbenen Sohne zugekommen wäre, den er zum Geistlichen bestimmt hatte. So kam es, dass auch der junge Pfarrer häufig im Hause des Posthalters war und sich dort wohl fühlte.

Es wurde im Tal manches über den jungen Pfarrer des untern Dorfes erzählt. Man fand ihn ungewöhnlich. Die Leute wollten wissen, er sei aus vornehmen Haus, seine Mutter habe ein Gelübde getan, ihr Sohn, der mit zwölf Jahren schwer erkrankt war, werde Priester, wenn Gott ihn errette, und er habe die Mutter nicht betrüben wollen und die Weihen genommen. Er sei fast ein Heiliger … Die Sciora hatte von dem jungen Menschen einen anderen Eindruck. Sie hatte einst, ohne zu wissen, dass er es sei, eine Begegnung mit ihm. Sie saß oben auf ihrer Gartenmauer und schaute hinunter. Ein Geistlicher kam des Wegs hinauf. Sie kannte ihn nicht und schaute ihn darum genauer an. Er war sehr groß und schlank, mit einem überaus feingeschnittenen Gesicht, das sich weiß gegen das schwarze Haar und die schwarze Kleidung abhob. Sie wunderte sich über die Erscheinung, die so wenig aufs Land passte. Als der Mann unter ihr war, schaute er herauf, gerade in ihr Gesicht. Er tat, erschreckt, einen kleinen Schrei. Dieser Schrei wiederum erschreckte die Sciora, denn das war nicht der Laut eines Menschen gewesen, sondern der eines Tieres, eines überraschten scheuen Tieres. Sie zog sich verwirrt von der Mauer zurück. Die Köchin Marta erzählte nach Tisch, der neue Herr Pfarrer vom unteren Dorf sei heute zum ersten Male zum hiesigen Herrn Pfarrer, seinem Kollegen, gekommen, ihm einen Besuch abzustatten. So wusste sie, wer der Priester war. Sie musste lange an ihn denken. Wie kann ein Mensch so schreien, und nur, weil er eine Frau erblickt?

Der Tag von Maria Himmelfahrt rückte heran. Dieses Jahr sollte das Fest im oberen Dorf besonders schön werden. Es wurden Gaben gesammelt, die nach der feierlichen Prozession, an welcher sich die heilige Jungfrau selbst, ganz aus Gold, um die Kirche herumtragen ließ, versteigert werden sollten. Der Erlös ge­hörte ihr. Man dachte daran, ihr einen neuen Baldachin anzuschaffen. Der alte würde nicht mehr manche Prozessionen überstehen.

Kleine und große Mädchen gingen von Haus zu Haus die Ga­­ben sammeln. Ein jeder schenkte etwas, denn wem hat die Muttergottes nicht schon geholfen? Da waren Handarbeiten, Hä­kelspitzen, gestickte Deckchen, aber auch Lebensmittel, Eier, Hühner und Kaninchen. Es war noch zu bestimmen, wer in diesem Jahr die Jungfrau würde tragen dürfen. Nicht jeder war dazu berufen. Es musste ein ehrbarer und frommer Mensch sein, der fleißig zur Beichte ging. Es hatten sich vier italienische Holzfäller anerboten. Sie arbeiteten jenseits der Grenze im Wald, doch kamen sie jeden Sonntag ins obere Dorf zur Messe, da es der nächste Kirchort war. Man kannte sie als rechte Leute. Die ­Mädchen schauten ihnen am Sonntag nach. Besonders der eine, Renzo, gefiel. Er war nicht schön, aber dunkelbraun und stark wie ein Bär. Im linken Ohrläppchen trug er einen goldenen Ring. Wenn er die Frauen aufmerksam ansah, erröteten sie unter ihrem Kopftuch. Alle freuten sich, dass der Pfarrer einverstanden war, Renzo und seine Freunde die heilige Jungfrau tragen zu lassen.

Der Festtag brach an. Am frühen Morgen war die Kirche mit den schönsten frischen Blumen aus den Gärten geschmückt worden. Um zehn Uhr, nach der Messe, begann unter großem Glockengeläut der Rundgang um die Kirche. Voran trippelten die weißgekleideten kleinen Mädchen, von ihren eigenen Schleiern verwirrt und entzückt. Die größeren Mädchen beteten fromm und neigten den Kopf unter ihren Papierblumenkränzen. Hoch darüber schwankte, auf blumenbestreutem Podium und unter dem alten Baldachin mit Goldfransen, die Muttergottes heran, von den vier Holzfällern auf den Schultern getragen. Sie glänzte und gleiste … Die Männer schauten ernst und ergriffen drein. Besonders Renzo sah mit innig schwerem Blick immer wieder an der Jungfrau empor, halb verzaubert. Der nachfolgende Zug der Frauen und Männer wollte nicht enden. Er staute sich und die heilige Jungfrau musste bei der Kirchentür warten, bis sie wieder Eingang fand. Unter den Frauen war auch Stella mit ihrer Tante Fiorina zu sehen. Am Nachmittag begann der heitere Teil des Festes. Die Besucher hatten sich auf dem Kirchenplatz eingefunden, darunter der Posthalter mit Stella. Er ging unter den Leuten freundlich plaudernd herum und hielt dabei seine Tochter an der Hand wie ein Kind. Stella war städtisch gekleidet, was sie fremd und auffallend wirken ließ. Alle kehrten sich nach ihr um. Auch die vier Holzfäller starrten sie an. Renzo blieb stehen. Doch Stella schien nichts zu bemerken.

Da läutete der Küster Maurilio mit einer alten Hausschelle. Er stand hinter dem Tisch, auf welchem die Gaben ausgelegt waren, und begann die Versteigerung. Die vier Italiener waren am eifrigsten dabei. Zuerst schaute man ihnen verwundert zu, wie sie sich überboten, doch dann steckte ihr Beispiel an und bald war unter Lärm und Gelächter eine wilde Steigerung im Gang. Der Brauch wollte, dass die erlangten Gegenstände nicht behalten, sondern gleich weiterverschenkt werden müssen. Da die Männer das Geld hatten und steigern konnten, wurden die Mädchen und Frauen beschenkt. Sie standen beladen mit Dingen und glücklich neben ihren Männern.

Maurilio holte die Hühner auf den Tisch. Sie waren bis jetzt im Schatten darunter gestanden, jedes in einem kleinen breitsprossigen Korb. Eine junge weiße Henne wurde ausgeboten. Renzo wollte sie haben. Er steigerte verbissen und sie fiel ihm um sechs Franken zu. Er nahm den Korb vom Tisch weg und schaute hinein. Doch im Überschwang seines Gefühls reichte er ihn so­fort wieder Maurilio, er spende die junge Henne nochmals der heiligen Jungfrau. Maurilio bot sie wieder aus und wieder begann ein heftiges Wettsteigern um sie. Renzo gab nicht nach, bis die Henne ihm ein zweites Mal zufiel. Er jubelte, berauscht von einem Glück, das er wohl schwerlich hätte genauer benennen können. Und doch, vermutlich war er seiner Regungen nicht so unbewusst, dass er himmlische und irdische Sterne verwechselt hätte. Jedenfalls sah die Sciora später, als die Versteigerung zu Ende war und sich alles verlief, dass der Korb mit der jungen Henne an Stellas Arm hing.

Von da an war Renzo oft im Dorf, obschon er einen weiten Weg von seinem Arbeitsplatz her hatte. An manchen Abenden sah ihn die Sciora auf einem geliehenen Fahrrad ohne Nummer den Weg hinuntersausen. Der Weg führte nirgends anders hin als ins untere Dorf. Man sprach davon, er lungere dort auf dem Dorfplatz herum in der Hoffnung, etwas von Stella zu erspähen. Er wolle sie zur Frau, habe er gesagt, und sie wäre schon einverstanden, er sehe es ihren Augen an, aber da sei der Alte. Er wage nicht ihn zu fragen. Die Leute meinten, er wäre fromm, einen Frömmeren als Renzo könne der Posthalter nicht finden, und auch sonst höre man nur Gutes von ihm. Er sei einer der Auf­seher bei den großen Arbeiten im Wald drüben, und also nicht der erste Beste … Man fragte sich, ob Renzo sein Ziel erreichen werde. Fast begann man darüber zu wetten.

An einem Sonntag kam Renzo, das Fahrrad stoßend, den Weg hinauf. Er trug eine rote Geranienblüte hinter dem Ohr. Der Sciora, die ihn bemerkt hatte, schien, sie kenne die Blüte und wisse, wo sie gewachsen war. «Schau», dachte sie, «die Sache geht doch vorwärts.»

In den nächsten Tagen hatte sie Stella eine Bestellung zu übergeben und ging zu ihr hinunter. Sie fand das Mädchen am Webstuhl, blass und in sich gekehrt. Sie wollte es nicht stören und stand bei den Blumen, um dort zu warten, bis Stella einen guten Unterbruch fände. Sie sah nach den weißen mit den roten Flammenherzen, nach den zartroten und dann nach den flammenden Geranien. Und da, an dem einen Stock, stand ein abgebrochener leerer Stängel. Die Sciora lachte ein wenig und wies auf die Narbe. Stella hielt inne im Weben, saß da wie ein kleines Mädchen und begann zu weinen. Erschrocken ging die Sciora zu ihr hin und nahm sie um die Schultern. «Was ist denn», fragte sie, «geht es nicht mit Renzo?»

Stella wischte sich die Augen und schüttelte den Kopf. «Es ist aus», sagte sie, «der Vater will nicht.» Die Sciora scheute sich, mehr zu fragen, und wartete bestürzt, ob Stella von sich aus etwas erklären würde. Das Mädchen versenkte sein Taschentuch in die Schürzentasche und sagte: «Nicht, dass ich den Renzo absolut haben wollte – wenn ich nur von hier fortkönnte.»

«Das ist doch nicht unmöglich», meinte die Sciora, «es ist auch nicht unnatürlich, wenn ein Mädchen etwas anderes sehen will als Dorf und Berge.» Und sie fragte Stella, ob sie in die Stadt kommen möchte. Sie wüsste ihr eine Möglichkeit. In dem Ge­schäft, das Teppiche bestelle, suche man eine hübsche Weberin, die gewillt wäre, im Schaufenster zu weben, damit die Leute sehen, was Weben sei. Ob ihr das nicht gefallen würde? Stellas Au­gen leuchteten auf. Sie nahm die Hand der Sciora und drückte sie ungeschickt und leidenschaftlich. «Ich könnte Ihnen nicht genug danken, wenn Sie mir helfen würden, ein wenig in die Stadt zu kommen. Ich habe ja noch nichts kennengelernt.» Sie lachte und die Sciora war verblüfft zu sehen, wie schön das Mädchen war, wenn es lachte. Bis jetzt hatte sie Stella nur ernst gesehen, kaum ein Lächeln war über ihr Gesicht geflogen.

«Und der Vater?», fragte die Sciora. Stellas Gesicht erlosch. «Er wird nichts dagegen haben können, er ist ja nur gegen die Heiraten. Ich bin erwachsen, ich kann mein Brot verdienen, wenn man mir zu einer Stelle verhilft. Was kann er dagegen haben?», sprach sie sich zu.

«Gehen wir ihn gleich fragen», schlug die Sciora vor, um die Sache ins Rollen zu bringen, über deren Ausgang sie nicht so si­cher war.

Der Posthalter saß im Postbureau und rechnete. Die Frauen entschuldigten sich, ihn zu stören, aber es sei wegen etwas Wichtigem. Und die Sciora brachte den Vorschlag vor. Während sie noch sprach, fiel ihr der böse Glanz seiner Augen auf, der im Widerspruch stand zu seinem freundlichen Lächeln, das ihn nicht verlassen hatte.

Er strich sich den weißen, vollen Schnurrbart zurück, dass man seine Lippen sah, und räusperte sich, bevor er sagte: «Stella bleibt hier.»

Voll Bedauern schaute die Sciora nach dem Mädchen, doch wie erschrak sie, als sie dessen Gesicht sah. Es war wie aufgerissen, der Mund verzogen, die Nasenflügel gebläht und die Augen – ja, das waren Tieraugen!

Einst war die Sciora dazugekommen, wie Knaben mit Stöcken eine Katze zu Tode schlugen. Das Tier konnte nicht mehr gehen, aber in seinen Augen hatte sich alles Leben zusammengepresst, das noch in ihm war. Es hatte die Sciora angesehen: Lebenswut und Todesangst waren im Blick gelegen. Das stand auch in den schwarzen Augen der Stella. Und nun stürzten die Worte aus ihr. «Ich bleibe hier … ich bleibe hier … meint Ihr? Nein, ich gehe. Seit Jahren sitze ich hier und arbeite für Euch. Was tut Ihr den ganzen Tag? Nichts. Ich arbeite, bis mir die Hände weh tun. Was kümmert es Euch? Wenn Ihr nur das Geld bekommt.»

«Schweig sofort», sagte der Alte. Er stand zitternd hinter seinem Stuhl, an dessen Lehne er sich hielt. Die Sciora hob angstvoll die Hände, wie um die beiden auseinanderzuhalten. Doch Stella fuhr fort:

«Das Geld für meine Aussteuer, wollt Ihr sagen? Aber gönnt Ihr mir denn einen Mann? Etwa den Pietro, der mich schon vor sechs Jahren genommen hätte, als ich noch wenig verdient hatte, oder den Benno … den Eugenio …» Sie schrie einen Namen nach dem andern immer lauter und kreischender, bis sich die Stimme in ein Lachen überschlug: «Etwa den Renzo, den jede Frau haben möchte, vor dem jede zittert – und der mich gewählt hatte … Welchen gönnt Ihr mir?»

«Schweig!», keuchte nochmals der alte Mann, dessen Unterkiefer auf und ab schlug. Die Sciora fand, dass er aussehe wie ein Nussknacker. Sie war so erregt, dass sie nicht mehr wusste, ob der Moment komisch sei oder tragisch. Sie versuchte etwas zu sagen, das die zwei hätte beruhigen sollen, aber diese hörten gar nicht zu.

Unter Lachanfällen und trockenen Schluchzern schrie Stella weiter: «Wenn Ihr nur’s Geld habt, das Übrige ist Euch gleichgültig, wie ich mich quäle, nachts, allein im Bett, wie ich mich wälze und der Leib mir brennt …»

«Schweig», brüllte der Alte und schlug schnell ein Kreuz. Mit der gleichen Hand holte er weit aus und hieb der Stella damit ins Gesicht. Diese wimmerte auf und stürzte langsam und weich zu Boden. Sie hatte das Bewusstsein verloren. Die Sciora rannte in die Küche, die danebenlag, und holte Wasser. Damit begoss sie das arme schöne Gesicht, das mitten in der Unordnung der langen Haare still und blass dalag.

Stella kam bald zu sich. Sie hielt sich den Kopf und klagte: «Wie kam das nur?»

Da erschien der Vater auf der Schwelle mit einem großen Schlüssel. «Marsch», herrschte er das Mädchen an. Stella stand gehorsam auf, ging dem Vater voraus, die Treppe hinauf. Die Sciora hörte, wie oben eine Türe aufgemacht und dann mit dem Schlüssel abgeschlossen wurde.

Der Alte kehrte freundlichen Gesichtes zurück. Er bat die Sciora, sie möge entschuldigen, Stella habe oft solche Anfälle. In der letzten Zeit häufiger. Er schließe sie dann ein, bis es besser ge­he. Man wisse im Dorf nichts davon und er bitte, die Sciora möge auch schweigen. Diese Anfälle seien der Grund, warum er sie hierbehalten müsse und nicht heiraten lasse.

Die Sciora war von dem Erlebten mitgenommen. Sie ging rasch fort. Unterwegs überdachte sie, was sie gesehen und gehört hatte, und mit Schrecken begriff sie, dass ein großes Unrecht an dem Mädchen seit Jahren geschehe. Das war wohl nicht nur Frömmigkeit, was den Alten verhinderte, seine Tochter zu verheiraten, das sah viel mehr aus wie Habsucht und Eigennutz. Das Märchen vom bösen Vater, da stand es lebendig vor ihr. Sie kam in Zorn gegen diesen alten scheinheiligen Fuchs, sie wollte ihn anzeigen, ihm die Polizei ins Haus schicken, etwas musste doch geschehen, man konnte das Mädchen diesem hartherzigen Menschen nicht überlassen.

Aber wen gingen diese Dinge etwas an? Das Mädchen war volljährig. Es brauchte ja nur fortzugehen.

Und hatte sie sich nicht heute schon in die Sache gemischt, die nicht die ihre war, und damit Unheil heraufbeschworen? Zudem – wusste man alle Hintergründe, alle? Gab es nicht noch etwas hinter dem, was sie heute miterlebt hatte?

Bis sie zu Hause war, hatte sie sich beruhigt und sich vorgenommen, sich nicht um diese Angelegenheit zu kümmern. Sie ging von da an selten ins Haus des Posthalters und vermied es, mit ihm zusammenzutreffen. Mit Stella sprach sie nur mehr über ihre Weberei. Das Mädchen war wieder still und schweigsam wie früher. Es arbeitete fleißig und schien ruhig. Renzo sah man nicht mehr.

Im nächsten Sommer fiel der Sciora eine große Veränderung an Stella auf. Sie staunte über ihre Schönheit. Unter der dunkeln Haut schimmerte das Blut, der Mund war weich und voll, die Schläfe gerundet. In ihrem Blick glänzte etwas Neues. Sie sah zum ersten Mal, dass Stellas Augen nicht schwarz waren, sondern dunkel achatfarbig getupft und dass ihr Nacken ebenso stolz war wie sanft. Sie sagte sich, es sei vielleicht wirklich das Richtige für das Mädchen, hier still im Hause des Vaters zu leben. Stella, danach gefragt, meinte, ja, sie sei zufrieden. Der Vater habe recht. Es sei für sie am besten hier. Im letzten Jahr sei sie nur müde gewesen von zu vielem Weben. Jetzt gehe sie oft in den Weinberg und das bekomme ihr gut. Bewegung.

Wenn es nur das war, dachte die Sciora, so war ja das Theater damals wirklich überflüssig. Nie mehr wolle sie sich auf Mädchenlaunen einlassen und sich in dumme Dinge mischen, die sie nichts angehen. Was in der Stadt gelte, gelte eben hier nicht. Stella sehe schöner aus denn je und sage, sie sei zufrieden. Mehr kann man nicht wollen.

Die Rebberge liegen draußen vor dem Dorf. Es sind die letzten des Tales. In Terrassen steigen sie den Berg hinan, durch Mauern ge­stützt, voneinander getrennt und erwärmt. Etwa geht ein schmaler Weg tief zwischen zwei Mauern in vielen Windungen durch die Weingärten und führt weiter oben in den niederen Wald von Haselbüschen und Birken. Es wird nicht viel gearbeitet und auch nicht viel geerntet in diesen Rebbergen. Sie liegen zu hoch, der Sommer ist zu kurz und die Mühe bringt keinen Lohn. Nur die Reben des Posthalters waren von jeher gepflegt, denn er liebt seinen eigenen Wein zu trinken. Bis jetzt hatte er selbst die Reben besorgt, nun tat es also Stella.

Wenn die Sciora auf Gängen an diesen Rebbergen vorbeikam, musste sie an sie denken. Sie wunderte sich nicht, dass die Arbeit ihr geholfen hatte, ihren schwermütigen Zustand zu überwinden. Sie wusste, nicht nur die Bewegung und die frische Luft wa­ren es, aber die Arbeit am Boden selbst und das Leben der Erde, das ruhevoll in Wellen auch den Menschen durchdringt und kräftigt, der sich zu ihr neigt. Und doch, sie fühlte, das war nicht alles … In einem der engen, krummen Wege der Rebberge, ferne vom Dorf, erblickte sie einst im Vorübergehen zwei Gestalten. Sie standen hoch nebeneinander, aufrecht und ohne sich zu berühren, aber doch einander innig zugewandt. In dem kurzen Augenblick spürte die Sciora, dass die beiden Menschen sich gehörten.

Da haben sich zweie lieb, dachte sie, aber unter dieser freundlichen Feststellung stieg in ihr die ängstliche Frage auf, ob denn die Frau nicht Stella gewesen sei … und der Mann? Das war doch der junge Pfarrer! … Was soll denn daraus werden?, dachte sie beklommen.

Einige Zeit später sprang im unteren Dorf die große Glocke zum Glockenstuhl des Kirchturms hinaus. Zum Glück hatte sie niemanden erschlagen. Sie lag, beschädigt, vor dem Brunnen auf dem Kirchplatz. Es war fraglich, ob sie an ihren alten Ort würde verbracht werden können. Bis die Experten darüber entschieden hätten, konnte nur die kleine Glocke geläutet werden. Sie tönte hart, wie ein Armensünderglöcklein, man hörte sie bis ins obere Dorf hinauf.

Ein Unglück kommt selten allein. Bald darauf hieß es, der junge Herr Pfarrer vom unteren Dorf habe plötzlich nach Rom verreisen müssen und in seiner Kirche dürfe keine Messe gelesen werden, bis der Bischof sie neu geweiht habe. «Warum?», fragten die Kinder. Sie bekamen keine Antwort.

«Und was sich zweiet, dreiet sich», prophezeite Ermano, der die Gabe der Voraussicht besitzt. Eines Morgens hörte die Sciora im Nachbarhaus der Fiorina schreien. Es waren Schreie wie von einem Kind, das gezüchtigt wird. Sie horchte hin und hörte auch wirklich Schläge. Das befremdete sie, denn es war am Ort nicht Brauch, die Kinder zu schlagen, auch wohnte Fiorina ganz allein im Haus. So ging die Sciora hinüber, um zu sehen, was da vor sich gehe. Sie fand die alte Fiorina in ihrer Küche auf niederem Stuhl am Herd sitzen und Schreie ausstoßen, die mit ihrer sonstigen Stimme keine Ähnlichkeit hatten. Dazu schlug sie die Hände heftig zusammen und warf den Kopf nach hinten. Tränenströme liefen aus ihren Augen, das eine Augenlid war schon ganz verschwollen und verklebt und hing auf ihre Wange herunter. Er­schrocken fragte die Sciora, was los sei, warum sie klage. Die Alte wiederholte zwischen spitzigen Schreien ununterbrochen dieselben Worte.

«Barmherziger Gott, mein Bruder, barmherziger Gott … barmherziger Gott, mein armer Bruder, barmherziger Gott …»

«Was denn, was denn?», drang die Sciora in sie, «ist etwas geschehen?»

Und sie erfuhr stückweise, es sei der Fiorina eben berichtet worden, man habe Stella tot im Bach aufgefunden … Sie sei in der Nacht nicht nach Hause gekommen, man habe sie gesucht. Bei der hohen Brücke müsse sie einen Fehltritt getan haben … man sehe, dort sei sie ausgeglitten und abgestürzt.

Tessiner Erzählungen

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