Читать книгу Fesselnde Entscheidung 2 - Alissa Sterne - Страница 5
1. Kapitel – Wenige Wochen zuvor
ОглавлениеEs regnete sanft und leise. Wie feine Bindfäden fielen die Regentropfen im spärlichen Licht der Straßenlaternen geräuschlos vom dunklen Himmel.
In seinem schmucklos eingerichteten Büro bemerkte Philipp Stein davon nichts. Viel zu sehr war er in die Dokumente vor ihm vertieft. Er konnte nicht glauben, was er da las. Das war unfassbar! Er wusste nicht, was ihn mehr beunruhigte: der gedruckte Text oder die handschriftlichen Bemerkungen am Rand. Mit der einen Hand rieb er sich über die Augen, mit der anderen blätterte er ungläubig die rund hundert Seiten Papier erneut durch. Hatte er endlich einen Volltreffer gelandet? War es das, wonach er insgeheim gesucht hatte?
Er registrierte weder das penetrante Flackern der Neonröhre über ihm, das ihn vor ein paar Stunden noch fast den letzten Nerv geraubt hatte, noch die dramatische Szene, die einer der Monitore links neben ihm zeigte: Trotz der sparsamen Außenbeleuchtung war zu erkennen, wie ein klobiger Kerl mit brutaler Gewalt auf eine wehrlose Frau einschlug. Mitten ins Gesicht, bis sie taumelnd auf den Pflastersteinen zusammensackte und auf die Seite fiel. Mit einem letzten Tritt in die Magengrube ließ der Mann von seinem Opfer ab und verschwand in die anonyme Dunkelheit.
Philipp warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. 20:39 Uhr. Verdammt, schon so spät!, dachte er und lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Kopfschüttelnd vergrub er sein Gesicht in den Händen. Fast bedauerte er seine heutige Entdeckung. Wenn das wahr war, dann … Wieder schüttelte er ungläubig mit dem Kopf, als er sich schwerfällig erhob. Vom langen Sitzen schmerzte sein Rücken. Sport wäre jetzt vielleicht der richtige Ausgleich, zog er kurz in Erwägung, aber sein knurrender Magen hatte eine verlockendere Alternative parat. Also entschied er sich für Currywurst mit Pommes auf dem Heimweg. Hastig sortierte er die Dokumente wieder in die richtige Reihenfolge und verstaute sie da, wo er sie gefunden hatte: im Safe. Dann ließ er einen prüfenden Blick über das Büro schweifen, beobachtete kurz die Bilder der Überwachungskameras, zückte schließlich sein Smartphone und machte wie jeden Abend ein Foto von seinem Arbeitsplatz, um am nächsten Morgen sicher zu sein, dass noch alles an seinem Platz und nichts verändert war. Weder der Kugelschreiber noch die Maus oder die Armlehnen seines Sessels oder sonst irgendetwas. Mit einem lauten Knacken ließ er die schwere Tür ins Schloss einrasten. Reflexartig vergewisserte er sich, dass die Tür wirklich verschlossen war, erst dann schaltete er auf dem Flur das Licht an. Offenbar war er nicht nur der Erste, der morgens zur Arbeit erschien, sondern wieder mal der Letzte, der ging. Als er mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss fuhr, lockerte er seine Krawatte und betrachtete kurz sein müdes Spiegelbild. Augenränder hatten sich wie nachtragende Schatten seiner schlaflosen Nächte tief in sein Gesicht gegraben und sein ehemaliger Drei-Tage-Bart mutierte mehr und mehr zu einem dichten, dunklen Vollbart. Er fuhr sich durch seine dunkelbraunen Haare und ließ den Blick an sich hinabschweifen. Wenn das so weiter ging, würde er bald einen Bauch ansetzen. Kurz fühlte er sich an seine alte Eitelkeit erinnert. Früher mal war er sehr bedacht auf sein Äußeres gewesen, aber das war lange her, und seit er seine neue Arbeitsstelle angetreten hatte, vernachlässigte er es noch mehr. Nach der langen beruflichen Auszeit wollte er endlich einen guten Job machen, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, hungerte er vor allem nach Anerkennung. Mit einem Knopfnicken verabschiedete er sich am Empfang vom diensthabenden Wachmann und trat hinaus in die Kälte. Ein Schwall frischer Luft schlug ihm entgegen. Er atmete tief durch und blickte in den schwarzen Himmel über ihn. Wieder musste er an die Papiere denken, die er entdeckt hatte. Es war unfassbar! Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg zu seinem silberfarbenen Mercedes-Benz 300 SL Roadster, den er sich mit seiner ersten vielversprechenden Gehaltsabrechnung finanziert hatte. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass der Gehweg nass war. Offensichtlich hatte es geregnet, ohne dass er es mitbekommen hatte. Plötzlich hörte er ein leises Wimmern. Instinktiv stellten sich seine Nackenhaare auf. Er hielt inne und versuchte, die Quelle des Geräuschs zu lokalisieren. Seine Gedanken überschlugen sich. Was war das? Es klang wie ein Kind, das verzweifelt versuchte, nicht zu weinen. »Ist da jemand?«, rief er laut. Absolute Stille. Weder ein Wimmern noch ein Schluchzen war mehr zu hören. Er kratzte sich am Kopf und überlegte. Vielleicht war es auch nur eine Katze oder aber sein Tinnitus hatte ihm einen üblen Streich gespielt. Gerade als er sich abwenden und nach links zu seinem Auto gehen wollte, vernahm er ein gedämpftes, schmerzerfülltes Stöhnen. Es kam von rechts aus Richtung der Einfahrt. Alarmiert blickte er um sich und öffnete mit einem geübten Griff das Gürtelholster seiner Waffe. Zu dieser späten Stunde war der Parkplatz vollkommen verlassen. So weit die dürftige Beleuchtung es zuließ, hatte er freie Sicht. Sein Auto stand unweit links von ihm. Er aber ging im Schutz des Bürokomplexes langsam nach rechts. Fast hatte er das Ein- und Ausfahrtstor erreicht, als er wieder ein Wimmern hörte. Jetzt laut und deutlich. Das war keine Katze und kein Tinnitus, sondern ein Mensch. Keine Frage. Schnell tippte er den Zahlencode in das Tastenfeld an der Tür neben dem Tor ein, dann führte er seine Chipkarte vor das Lesegerät. Surrend öffnete sich die Tür. Er verließ das Firmengelände und blickte um sich. Stumm verfluchte er die spärliche Straßenbeleuchtung, als er einer Eingebung folgend nach rechts abbog und die Straße und den Gehweg so gut es ging nach etwas Verdächtigem absuchte. Abrupt beschleunigte sich sein Herzschlag, als er im Halbdunkel plötzlich Beine entdeckte, die aus einem Gebüsch ragten. Mit schnellen Schritten eilte er zu der Person, die versuchte, sich aufzurichten. »Oh Gott! Was ist denn mit Ihnen passiert?«, fragte er und half der Frau in eine sitzende Position. Zu mehr war sie offensichtlich nicht in der Lage. »Was ist passiert? Sind Sie überfallen worden? … Warten Sie, ich rufe einen Krankenwagen.« »Nein, bitte nicht!«, hörte er sie mit zittriger Stimme sagen. Verständnislos musterte er die junge Frau. Auf Anfang 20 schätzte er sie. Ihr linkes Auge war blutunterlaufen und dick angeschwollen. Sie konnte es kaum öffnen. Ihr ganzes Gesicht war verschmiert. Er war sich nicht sicher, ob mit Blut oder Schminke. Wahrscheinlich aus beidem, schlussfolgerte er. »Aber Sie sind verletzt! Sie bluten … Sie müssen in ein Krankenhaus!« »Nein, bitte nicht!«, sagte sie immer noch sehr leise, »das sieht schlimmer aus, als es ist.« »Das wage ich zu bezweifeln. Auf jeden Fall rufe ich die Polizei! Hat man Ihnen etwas gestohlen?« »Nein, bitte auch keine Polizei!« Ihre Stimme wurde lauter. »Aber …« »Das war mein Freund … Beziehungsweise mein Exfreund.« »Ein Grund mehr zur Polizei zu gehen!« »Nein, ich will das nicht! Bitte lassen Sie mich einfach in Ruhe. Das ist nicht Ihr Problem!« »Aber ich kann Sie hier doch nicht einfach liegen lassen!« »Mir geht es gut … also, es ging mir schon mal besser, aber … wird schon wieder.« Erneut versuchte sie aufzustehen, doch ihre zitternden Beine versagten ihr den Dienst. Tränen der Verzweiflung sah er in ihren Augen aufblitzen. Er kniete sich vor sie und redete mit sanfter Stimme auf sie ein, in der Hoffnung, sie zur Vernunft zu bringen. Wahrscheinlich befand sie sich in einem Schockzustand, befürchtete er. »Wo wollen Sie denn jetzt hin? Kann ich Sie vielleicht irgendwo hinbringen? … Auch wenn ich finde, dass Sie in ein Krankenhaus gehören.« »Danke, das ist echt nett von Ihnen, aber …« Sie brach ab und wischte sich mit dem Handrücken ihre Tränen weg. »Würden Sie mich bitte einfach allein lassen?« »Mein Auto steht gleich hier hinten auf dem Parkplatz. Ich werde Sie sicherlich nicht hier liegen lassen. Kann ich Sie vielleicht zu … zu einer Freundin fahren, oder so?« »Das geht nicht.« Nach einer kurzen Pause fügte sie leise hinzu: »Er würde mich überall finden.« »Sie müssen zur Polizei gehen. Da sind Sie vor diesem Kerl sicher!« Die junge Frau schüttelte müde mit dem Kopf. »Sie verstehen das nicht! … Beim nächsten Mal bin ich tot … Bitte lassen Sie mich einfach in Ruhe! Gehen Sie jetzt bitte nach Hause und leben Sie Ihr Leben!« Vollkommen perplex beobachtete Philipp, wie sie sich voller Entschlossenheit aufrichtete, als wenn sie ihren Beinen unmissverständlich klarmachen wollte, dass sie es nicht wagen sollten, ihr erneut den Dienst zu quittieren. Nur ihr schmerzverzerrtes Gesicht ließ erahnen, wie es tatsächlich in ihr aussah. Besorgt fing er ihren Blick auf. Aber sie wandte sich von ihm ab, angelte mühsam nach ihrer Handtasche, die irgendwo im Gebüsch verborgen lag, und machte schließlich einen Schritt weg von ihm. Plötzlich taumelte sie und versuchte mit rudernden Armen im letzten Moment irgendwo Halt zu finden. Bevor sie wieder im Gebüsch landete, fing Philipp sie auf. Ohne etwas zu sagen, hob er sie hoch und war für den Bruchteil einer Sekunde überrascht, wie leicht sie war. Sie leistete keinen Widerstand, sondern schien fast dankbar zu sein, als er sich mit ihr in Bewegung setzte und sie zurück zum Eingangstor trug. »Ich kann nicht ins Krankenhaus, die würden mir zu viele Fragen stellen. Und zur Polizei will ich auch nicht«, sagte sie bestimmt, und doch wirkte ihre Stimme kraftlos. »Habe ich schon verstanden. Und ich hoffe, du verstehst, dass ich dich hier irgendwie auch nicht stehen … beziehungsweise liegen lassen kann.« Ohne sie abzusetzen, tippte er an der Tür, die das Firmengelände vom Rest der Welt trennte, schnell die Zahlenkombination ein und öffnete mit der Chipkarte die Tür. Erst vor der Beifahrertür seines Wagens setzte er sie sanft ab und ließ sie auf den Sitz rutschen. »Ist das Ihr Auto?«, fragte sie mit einem Hauch von Bewunderung in der Stimme. »Nein, ist geklaut.« »Ach so.« Er traute seinen Ohren nicht und beugte sich zu ihr hinab, um in ihrem Gesicht zu lesen, ob ihre gleichgültige Reaktion gespielt oder ernst war. Er war sich nicht sicher. »Natürlich ist das mein Auto. Was denkst du denn?« »Welches Baujahr?« »1963. Du interessierst dich für Autos?«, fragte Philipp überrascht. »Nein, eigentlich nicht. Aber ich habe noch nie in so einem tollen alten Auto gesessen.« Gefühlvoll schloss er die Beifahrertür. Während er um den Wagen herumging, überschlugen sich seine Gedanken. Was für ein Abend! Was für ein Tag! Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich auf den Fahrersitz fallen und reichte ihr die Hand. »Philipp.« Sie lächelte zaghaft. »Sarah. Wo bringst du mich hin?« Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung … Vielleicht in eine Notfallambulanz?« »Nein! Bitte nicht! Sonst steig ich sofort aus!« Auch wenn er nicht glaubte, dass sie weit kommen würde, wollte er es nicht auf einen Versuch ankommen lassen. »Und wenn ich dich zu deinen Eltern bringe?« »Für meine Eltern bin ich gestorben.« Philipp zog die Stirn kraus. Da saß eine Frau in seinem Auto, die offenkundig nicht nur zusammengeschlagen worden war, sondern noch viel mehr Probleme am Hals hatte. »Wo wohnst du? Sonst fahre ich dich auch nach Hause.« Sah er da so etwas wie Panik in ihren Augen aufblitzen? »Du willst mich zu ihm bringen?« »Nein. Natürlich nicht. Ich wusste nicht, dass ihr zusammenwohnt … also zusammengewohnt … äh … ist ja auch egal ...« Philipp brach ab, kratzte sich an der Stirn und dachte nach. Was sollte er jetzt machen? Er konnte sie doch nicht einfach mit zu sich nach Hause nehmen, aber andererseits? Allerdings … was, wenn sie innere Verletzungen oder sogar eine Hirnblutung hatte? Sie gehörte in ärztliche Obhut! Plötzlich hatte er eine Idee und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Ein Kumpel von mir ist Sportmediziner. Der soll sich zumindest mal dein Auge ansehen. Er wird auch keine Fragen stellen, okay?« »Ich habe keine Krankenversicherungskarte dabei.« »Er wird’s überleben.« Kaum hatte er es ausgesprochen, zog er auch schon sein Smartphone aus der Tasche und betätigte das Display. Während er sich das Handy mit der linken Hand ans Ohr hielt, startete er mit der anderen den Motor und fuhr los. »Hey Markus, ich bin’s. Alles klar bei dir? … Du eine Freundin von mir ist in eine Schlägerei geraten und will partout nicht ins Krankenhaus. Aber ihr Auge ist fast zugeschwollen. Könntest du dir das einmal anschauen? … Prima, danke! Bis gleich!« Nachdem er die Pin eingegeben und die Zutrittskarte vor das Lesegerät gehalten hatte, öffnete sich das imposante Firmentor und sie fuhren hinaus auf die menschenleere Straße, vorbei an dem Gebüsch, in dem er diese ramponierte und jetzt am ganzen Körper zitternde Frau gefunden hatte. »Alles okay?«, erkundigte er sich. »Ja. Mir ist nur auf einmal entsetzlich kalt.« »Kein Wunder! Deine Klamotten sind ja auch total durchnässt. Im Büro hatte ich es gar nicht mitbekommen, aber es muss ganz schön geregnet haben. Wie lange hast du da schon gelegen?« »Nicht so lange. Glaube ich ...« Ihre brüchige Stimme erstarb. Philipp warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. Ihre langen blonden Haare hingen wirr an ihr herab. Sie wirkte vollkommen aufgelöst. Innerlich wie äußerlich. Einem Impuls folgend hätte er am liebsten ihre Hand genommen, um sie zu beruhigen, aber er tat es nicht, sondern konzentrierte sich wieder auf die Straße vor ihm. Keiner sagte etwas. An einer roten Ampel stoppte er den Wagen und schaute wieder zu ihr hinüber. Er folgte ihrem Blick auf seine rechte Hand, die das Lenkrad fest umschloss. Vielleicht suchte sie einen Ehering oder fragte sich, woher die Narbe stammte, die quer über seinen Handrücken verlief. Vielleicht hatte sie auch Angst vor ihm. Er konnte ihren Blick nicht richtig deuten und fragte sich, was er sagen sollte, um das bedrückende Schweigen zu brechen. Als sich ihre Blicke trafen, zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen. Tränen standen in ihren Augen und drohten mit ihrem nächsten Wimpernschlag über ihre geschundene Wange zu laufen. Tiefes Mitgefühl legte sich wie eine schwere Last auf seine Schultern. Ihre dünne Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich dachte, er würde mich lieben«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Wart ihr schon lange zusammen?« Sie wich seinem Blick aus und starrte wie paralysiert auf die rote Ampel vor ihnen. »Ja.« Ihre knappe Antwort sagte ihm, dass sie keine weiteren Fragen wollte. Also konzentrierte er sich auch auf die rote Ampel und war erleichtert, als sie endlich auf Grün umsprang. Schweigende Minuten später bog Philipp in eine verkehrsberuhigte Seitenstraße und parkte seinen Wagen vor einem Häuserblock aus roten Backsteinen. »Im Erdgeschoss hat Markus seine Praxis. Oben wohnt er«, erklärte er, als er die Beifahrertür geöffnet hatte und ihr heraushalf. Er sah, wie sie die Zähne zusammenbiss. Ihr Körper musste ein Meer aus Schmerzen sein. »Soll ich dich …?« Doch bevor er seine Frage beenden konnte, hakte sie sich bei ihm ein. An der anderen Hand hielt sie ihre Tasche fest, die sie während der gesamten Fahrt auf ihrem Schoß fest umklammert hatte. Kaum hatten sie die Eingangstür erreicht und Philipp den Klingelknopf gedrückt, ging die Tür auf und ein durchtrainierter Mann, der sein weißes T-Shirt fast mit seinen imposanten Oberarmen zu sprengen drohte, lächelte ihnen gut gelaunt entgegen. »N’Abend Philipp! Wen bringst du mir denn da?« »Das ist Sarah. Ähm … ich habe ihr versprochen, dass du keine Fragen stellst.« »Was du nicht alles so versprichst. Dann kommt mal rein.« Fünf Minuten später fand sich Philipp im Wartezimmer wieder. Markus hatte ihn freundlich, aber bestimmt aus dem Behandlungsraum verwiesen und Philipp war seiner Aufforderung nur zu gerne nachgekommen. Zwar hatte er kein Problem damit, Blut zu sehen, aber als Markus anfing, an ihrem Auge herumzudrücken, stieg ein Schwall Übelkeit in ihm auf. Nun saß er da, wartete und versuchte, einen Sinn in den farbenfrohen abstrakten Bildern an der Wand zu erkennen. Gleichzeitig hoffte er, dass Markus die Vernunft sprechen lassen und Sarah in ein Krankenhaus einweisen würde. Die Last auf seinen Schultern wog schwer. Er wollte nicht die Verantwortung für einen anderen Menschen tragen und für einen fremden schon gar nicht. Um sich abzulenken, griff er nach einer Zeitschrift vom fein säuberlich aufgereihten Stapel vor ihm, nur um sie im nächsten Moment wieder zurückzulegen. Er konnte sich nicht aufs Lesen von Illustrierten konzentrieren. Sarah beherrschte seine Gedanken. Mit was für einem üblen Kerl war sie zusammen, der sie an den Rand der Bewusstlosigkeit niedergeschlagen hatte? Was hatte sie verbrochen, dass sie keinen Unterschlupf bei ihren Eltern finden konnte? Ruckartig ging die Tür auf und Philipp schaute überrascht auf. Sarah sah zwar immer noch mit ihrem blauen, geschwollenen Auge ramponiert aus, aber jetzt verdeckten keine blutigen Überreste mehr ihr hübsches feingliedriges Gesicht. Vielleicht lag es auch an ihrem schüchternen Lächeln, das seinen Herzschlag beschleunigte. Er räusperte sich und stand auf. »Äh … du siehst … viel besser aus.« Sie lächelte. »Danke! Ich fühle mich irgendwie auch schon besser. Markus hat mir eine Spritze gegen die Schmerzen gegeben.« Wie eine Seifenblase zerplatzte Philipps Hoffnung, Markus könnte Sarah in ein Krankenhaus einweisen. »Ist denn so weit alles mit ihr … okay?«, wandte er sich an Markus, der hinter Sarah zum Vorschein kam. »Ich denke, dass nichts gebrochen ist. Innere Verletzungen kann ich aber natürlich nicht ausschließen. Außerdem bin ich kein Augenarzt.« »Meinst du nicht, es wäre …«, als er Sarahs entsetzen Blick sah, brach er ab. »Diese junge Frau hier hat mir glaubhaft versichert, dass du dich gut um sie kümmern wirst.« »Hat sie das?« »Ja, das hat sie. Also pass gut auf sie auf! Kühlen ist das Beste, was sie jetzt machen kann.« Dann drehte er sich zu Sarah um und ergänzte: »Und wenn dir irgendwie komisch wird oder du nicht mehr richtig sehen kannst, muss Philipp sofort einen Notarzt rufen. Alles klar?« Sie nickte und hakte sich wie selbstverständlich bei Philipp ein, der irritiert erst sie ansah und dann Markus einen Hilfe suchenden Blick zuwarf. Aber Markus wollte oder konnte ihn nicht als solchen deuten, sondern sagte stattdessen: »Trotz allem wünsche ich euch noch einen schönen Abend.« Damit entließ er sie hinaus in die Kälte der Nacht und Philipp fragte sich, was an diesem Abend schön sein sollte. Der Abend hielt nur das für ihn bereit, was der Tag versprochen hatte: eine Katastrophe nach der nächsten.
*
Es hatte wieder zu regnen angefangen. Die Scheibenwischer kratzten über die Windschutzscheibe, schweigend saßen sie nebeneinander, während Philipp ziellos durch die Stadt kurvte und sich dabei ertappte, wie er krampfhaft versuchte, aus der scheinbar verfahrenen Situation doch noch einen für beide Seiten angenehmen Ausweg zu finden.
»Hast du wirklich keine Idee, wo ich dich hinbringen könnte?«, wagte er einen vorsichtigen Vorstoß.
Einen flüchtigen Blick warf sie ihm zu, schüttelte leicht mit dem Kopf und schaute dann wieder gedankenverloren zum Seitenfenster hinaus. Die Stadt zog an ihnen vorüber. Er biss sich auf die Unterlippe und wollte gerade etwas sagen, doch sie kam ihm zuvor.
»Würdest du mich bitte am Bahnhof absetzen? Ich werde mal schauen, wohin der nächste Zug fährt.«
»Zum Bahnhof?«
Philipp rang mit sich. Auf der einen Seite klang das sehr verlockend. All seine Sorgen und Bedenken wären von einem Moment zum nächsten vom Erdboden verschwunden. Außerdem war sie alt genug, um zu entscheiden, was gut für sie war. Aber andererseits verspürte er nicht die geringste Erleichterung bei dem Gedanken, sie sich selbst zu überlassen, sondern sah vielmehr den unüberwindbaren Berg der Verantwortung vor sich. Irgendetwas an ihr hatte seinen Beschützerinstinkt geweckt. Er musterte sie kurz.
»Angenommen, du könntest eine Nacht bei mir auf dem Sofa schlafen. Was würdest du morgen machen?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Ausschlafen.«
»Und dann?«
»Etwas essen.«
Auf dieses Spielchen hatte er keine Lust, aber Essen war ein gutes Stichwort. Wenn er so in sich hineinhorchte, hing sein Magen mittlerweile in den Kniekehlen. »Hast du Hunger?« »Ein bisschen.« Wieder überlegte er und auf einmal wurde ihm bewusst, dass er schon viel früher eine Entscheidung gefällt hatte. Und zwar in dem Moment, als er sie zu seinem Auto getragen und nicht ins Krankenhaus gebracht hatte. Wieder schaute er zu ihr, und als sich ihre Blicke trafen, wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. »Also, pass auf. Du kannst eine Nacht bei mir schlafen. Eine Nacht … Und falls du auch so einen Riesenhunger hast wie ich, können wir uns vielleicht eine Pizza bestellen«, sagte er mit einem Lächeln und hoffte, dass sie es erwidern würde. Aber es blieb aus. Stattdessen sah er, wie dicke Tränen über ihr Gesicht liefen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich danke dir von ganzem Herzen!«, schluchzte sie. Philipps Herz machte vor Rührung einen Sprung. Er hatte das Gefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben, und hoffte, dass diese vielleicht seine schlechte Tat von heute auf der Arbeit ein klein wenig wieder ausgleichen würde. Vor einem modernen Mehrfamilienhaus mit einer imposanten Glasfront hielt Philipp an, drückte den Knopf eines kleinen Gerätes unterhalb des Lenkrads und fuhr langsam hinab in die Tiefgarage. Das schwere Tor öffnete sich mit einem lauten Quietschen. In drei Zügen manövrierte er seinen Wagen rückwärts in die Parklücke, dann stieg er aus und half Sarah aus dem Auto. »Glaubst du, es geht? Hier um die Ecke ist der Fahrstuhl. Wir müssen in die 3. Etage.« »Ich denke, es geht schon …« Aber es ging nicht. Offensichtlich wollten ihre Beine nicht so, wie sie wollte, und sie verfluchte sich leise dafür. So blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit einer Hand an ihm festzuhalten und mit der anderen ihre Tasche fest zu umklammern. Wie ein gebrechliches altes Ehepaar gelangten sie zum Fahrstuhl und fuhren hinauf zu seiner Wohnung. Plötzlich wirkte sie ganz schüchtern und nervös auf ihn, als sie sich neugierig in seiner durch schlichte Eleganz glänzenden Wohnung umschaute, sich dann die Schuhe auszog, ihren durchnässten Mantel an die Garderobe hängte und Philipp mit großen Augen unsicher ansah. Es war offensichtlich, dass sie sich in dieser Umgebung, die ohne Protz einen gewissen Wohlstand suggerierte, unwohl fühlte. Mit einer einladenden Handbewegung deutete er ihr den Weg geradeaus ins Wohnzimmer an. Dankbar registrierte er, dass heute Donnerstag und somit Putztag war. Frau Sommerfeld hatte alles sauber und penibelst aufgeräumt hinterlassen. Während sie ins Wohnzimmer wankte, hielt sie sich an der Wand fest und Philipp folgte ihrem interessierten Blick. Nachdenklich betrachtete sie ein Foto, das im Flur auf der Kommode stand. Es zeigte ihn mit Bea und er bedauerte in diesem Moment, es noch nicht weggeräumt zu haben. Bevor sie ihrem fragenden Blick Worte verleihen konnte, schob er sie vor sich ins modern eingerichtete Wohnzimmer. Es bestand nur aus einem großen Fernseher an der Wand, der von einer schwarz-weißen Wohnwand eingerahmt war, und einem kleinen schwarzen Tisch vor einem gemütlich aussehenden Lounge-Sofa. Vollkommen erschöpft von dem kurzen Weg durch seine Wohnung ließ sie sich auf das graue Sofa fallen. »Darf ich vorstellen? Das ist deine Herberge für heute Nacht.« »Ich bin dir unendlich dankbar!« »Du kennst mich doch gar nicht. Was, wenn ich ein …« Er beendete den Satz nicht. Ihren ängstlichen Augen nach zu urteilen, war sie genauso wenig zu Scherzen aufgelegt wie er. Mit der Aufforderung: »Fühl dich einfach wie zu Hause!«, versuchte er seine entgleiste Bemerkung in die richtige Bahn zurückzulenken. »Danke!« Vom Handy aus hatte er im Handumdrehen in der Küche die Pizzen bestellt. Leider bemerkte er erst, als sich eine genervte Frauenstimme am Telefon meldete, dass er Sarah gar nicht nach ihrem Wunsch gefragt hatte. Da die ungeduldige Dame am anderen Ende der Leitung aber nicht den Anschein erweckte, noch länger warten zu wollen, bestellte er einfach zwei große Vier Jahreszeiten, in der Hoffnung, dass etwas dabei sein würde, was Sarahs Geschmack traf. Als er wieder ins Wohnzimmer zurückkehrte, zuckte Sarah sichtlich zusammen. »Entschuldigung! Ich wollte dich nicht erschrecken.« »Du musst dich nicht entschuldigen. Ich war nur gerade in Gedanken.« Philipp sah auf ihre zitternden Hände, die sich wieder an ihrer Handtasche festklammerten, und reichte ihre eine Bierflasche. Sie kam ihm mit ihren zerzausten Haaren, ihrer nassen Jeans, an der noch traurige Reste von Blättern und Erde hingen, und ihrem lädierten Gesicht an diesem Ort, der ordentlich und aufgeräumt war, seltsam deplatziert vor. »Danke! … Oh, die ist ja noch zu …«, stellte sie irritiert fest. Philipp musste schmunzeln. »Die war jetzt auch ehrlich gesagt nicht zum Trinken gedacht … sondern eher zum Kühlen!« »Oh … natürlich!«, sagte sie und drückte die kühle Flasche vorsichtig an ihre geschwollene Wange. »Hab leider keine Kühl-Akkus oder so. Ich hoffe, es hilft trotzdem ein bisschen … Äh, möchtest du vielleicht einen … Jogginganzug von mir? Kein Wunder, dass dir kalt ist. Deine Klamotten sind ja total … nass.« Sie schien einen kurzen Moment über sein Angebot nachzudenken und nickte dann. »Das wäre wirklich klasse, aber ich will dir nicht noch größere Umstände machen.« »Schon okay! Warte kurz …« Schnell war er wieder da, hielt ihr einen dunkelblauen Trainingsanzug vor die Nase und sah sie unschlüssig an. »Darf ich vielleicht mal kurz in dein Bad?« »Ja klar. Ist gleich hier nebenan. Wenn du magst, kannst du auch gerne baden gehen. Das wärmt dich vielleicht am besten wieder auf.« Er drehte sich um und zeigte auf den Flur. »Das ist wirklich unglaublich freundlich von dir. Vielleicht lasse ich ein bisschen warmes Wasser über meine Füße laufen. Ich spüre sie kaum noch.« Wie eine Hundertjährige wirkte sie auf Philipp, als sie sich durch das Wohnzimmer zum Bad schleppte. Während er hörte, wie die Dusche lief, zog er sich im Schlafzimmer rasch den Anzug und das Hemd aus, streifte sich einen grauen Kapuzenpullover über und stieg in eine verwaschene Bluejeans. Schließlich kehrte er ins Wohnzimmer zurück, setzte sich aufs Sofa, beugte sich nach vorne und vergrub den Kopf in seinen Händen. Was für eine skurrile Situation! Ihm würde niemand glauben, dass ausgerechnet er eine wildfremde Frau mit zu sich nach Hause genommen hatte. Nachdenklich fuhr er sich durch die Haare und lehnte sich zurück. Sein Blick fiel auf ihre Handtasche, die halb geöffnet neben ihm lag. Wieso hatte sie sie nicht mitgenommen? Für den Bruchteil einer Sekunde war er versucht, hineinzuschauen. Aber im nächsten Moment schalt er seine Neugier und machte das Radio an, um sich abzulenken. Doch die Musik erreichte ihn nicht. In Gedanken war er ganz weit weg. Vollkommen vertieft in wüste Vorstellungen. Was, wenn sie eine drogensüchtige Kriminelle war, die nur darauf aus war, ihn auszunehmen? Aber andererseits … wirkte sie so schüchtern und auf eine sympathische Art und Weise noch mit einer jugendlichen Naivität gesegnet. Dennoch entschied sich Philipp, ihr gegenüber die nötige Vorsicht walten zu lassen. Seit jeher war Philipp ein skeptischer Mensch, der nichts und niemandem vertraute. »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser« war sein gelebter Leitspruch. Die Zuverlässigkeit seiner Reinigungskraft, Frau Sommerfeld, hatte er auf Herz und Nieren eingehend geprüft, bevor er ihr seinen Haustürschlüssel anvertraut hatte. In jede Schublade – abgesehen von den Schränken in Küche und Bad – hatte er ein Haar geklemmt, mit dem Wissen, dass es unbemerkt zu Boden fiel, wenn jemand die Schublade öffnete. Frau Sommerfeld hatte den Test bestanden. Aber würde Sarah es auch? Innerlich ging er seine Wohnung durch. Gab es irgendetwas von Wert, das sie vielleicht nachts, wenn er schlief, mitgehen lassen konnte? Was für ein überflüssiger Gedanke, fand er im nächsten Moment. Wenn es etwas von Wert gegeben hatte, dann hatte Bea es bereits mitgenommen. Allen anderen Ballast hatte sie dagelassen. Ihn inbegriffen. »Ist nur ein bisschen groß, aber sehr gemütlich. Vielen Dank!« Schon stand Sarah wieder im Zimmer und holte ihn zurück in die Gegenwart. Er konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Sein Jogginganzug war ihr nicht ein bisschen zu groß, sondern viel zu groß. Er schlabberte überall an ihr herum, obwohl sie ihn an den Ärmeln schon umgekrempelt hatte, und er fragte sich, wie sie den Hosenbund befestigt hatte, damit die Hose nicht runterrutschte. Da klingelte es an der Tür. »Oh, das ging aber schnell. Sind bestimmt die Pizzen!«, sagte Philipp und eilte an Sarah vorbei zur Eingangstür. Als er mit zwei Pizzakartons beladen ins Wohnzimmer zurückkehrte, war Sarah verschwunden und mit ihr die Handtasche. Im Augenwinkel registrierte er die verschlossene Badezimmertür. Offensichtlich war sie wieder im Bad. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit. Auch wenn sie nicht unbedingt wie eine Drogensüchtige aussah, fragte er sich, ob sie sich vielleicht schnell etwas einwarf oder sogar einen Schuss setzte. In diesem Moment bereute er seine Entscheidung, sie mit all ihren Problemen zu sich genommen zu haben, anstatt sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Mitleid – oder was auch immer sie in ihm ausgelöst hatte – hin oder her, mit Drogen wollte er partout nichts zu tun haben. Achtlos ließ er die Pizzen auf den Tisch knallen. Dann stellte er sich vor die Badezimmertür. »Was auch immer du da drinnen machst, ich will damit nichts zu tun haben! Es ist am besten, wenn du verschwindest. Nimm dir meinetwegen noch eine Pizza für den Weg mit, aber bitte verschwinde!« Gerade wollte er gegen die Tür klopfen, um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen, als die Tür aufging und er in Sarahs vor Angst geweiteten Augen sah. »Was ist auf einmal passiert? Wieso soll ich verschwinden?« Fester, als er es eigentlich wollte, packte er ihr Handgelenk und zog sie hinter sich her. »Aua! Du tust mir weh! Warum in alles in der Welt müsst ihr Männer immer so brutal sein?« Ihre Worte hallten wie ein Echo in seinem Kopf. Er ließ sie los und zwang sich, die Vernunft walten zu lassen und ruhigere Töne anzuschlagen. »Ich möchte nichts mit Drogen zu tun haben und daher bitte ich dich, zu gehen.« »Drogen?« Sie sah ihn ungläubig an. »Wie kommst du auf Drogen? Ich nehme keine Drogen!« »Was hast du dann im Bad gemacht? Wofür brauchtest du dann deine Tasche?« Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Ich … Ich wollte mich ein bisschen … herrichten … die Haare bürsten … und … sieh doch selbst nach!« Demonstrativ hielt sie ihm ihre Tasche hin. Auch wenn er wusste, dass Handtaschen für Frauen ein Heiligtum waren, siegte sein Misstrauen. Er nahm sie ihr ab, warf erst einen flüchtigen Blick hinein und kramte sie dann durch. Keine Drogen, kein Fixerbesteck, nur eine Bürste, ein Handy, ein Portemonnaie, Taschentücher, mehrere Nagellacke und Lippenstifte, Kondome, Tampons und ein lila Büchlein fielen ihm in die Hände. Mit einem hochroten Kopf reichte er sie ihr beschämt zurück. »Entschuldigung!« »Willst du mich vielleicht auch noch abtasten?« Philipp schüttelte schuldbewusst den Kopf. Sie senkte ihren Blick und sackte von einer Sekunde zur nächsten weinend in die Knie. Ein Blinder hätte ihm seine Überforderung angesehen. Er hockte sich zu ihr, legte unsicher eine Hand auf ihre Schulter und wusste nicht, was er sagen sollte. Wie Bäche stürzten Tränen aus ihren Augen. Am ganzen Körper zitterte sie. Ohne nachzudenken, nahm er sie in den Arm und drückte ihren Kopf sacht an seine Brust. Nach einer Weile brach sie das Schweigen. »Ich bin schwanger und habe den riesengroßen Fehler gemacht, laut darüber nachzudenken, es vielleicht zu behalten«, sagte sie nach einer Weile mit tränenerstickter Stimme. Unvermittelt fiel sein Blick auf ihren flachen Bauch, den auch der übergroße Trainingsanzug nicht runder erscheinen ließ. »Ich weiß es erst seit drei Tagen. Heute war ich beim Arzt … Bin in der fünften Woche.« Philipp wusste nicht, was er denken sollte. Nach und nach tröpfelten die neuen Erkenntnisse in sein Bewusstsein. »Du wirst das jetzt wahrscheinlich nicht hören wollen, aber gerade dann musst du ins Krankenhaus! Ich habe keine Ahnung, was da alles passieren kann! Hast du das Markus erzählt?« Aus verheulten Augen schaute sie ihn traurig an und schüttelte mit dem Kopf. »Wenn es tot ist, dann soll es so sein. Und wenn ich daran sterben sollte, dann hat es auch so sein sollen.« »Was sagst du da? Du musst zu einem Arzt, einem Frauenarzt, am besten ins Krankenhaus!« Wie elektrisiert erhob er sich und griff nach dem Telefon auf der Kommode. »Ich rufe einen Krankenwagen.« »NEIN!«, schrie sie, sprang auf und riss ihm den Hörer aus der Hand. »Warum hast du so Angst davor? Ich verstehe das nicht! Erklär es mir, sonst …« »Ich kann dir das nicht erklären«, sagte sie leise, reichte ihm den Hörer zurück und ging an ihm vorbei zur Haustür, zog sich Mantel und Schuhe an, warf sich ihre Handtasche über die Schulter und drehte sich zu ihm um, bevor sie die Türklinke hinunterdrückte. »Tu, was du nicht lassen kannst. Aber bevor die hier sind, bin ich weg.« Philipp fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und wischte sich über die Augen. »Scheiße! Ich kann dich doch so nicht gehen lassen! Wo willst du hin? Lebt deine Familie hier in der Nähe? Kannst du da hin?« »Meine Mutter hatte mich von Anfang an vor ihm gewarnt. Zu der geh ich bestimmt nicht!« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Es ist kurz vor elf. Wo willst du denn jetzt hin?« »Das ist nicht dein Problem! ICH bin nicht dein Problem!«, ihre verzweifelte Stimme überschlug sich. »Noch vor ein paar Minuten hätte ich nicht gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber ich BITTE dich, hierzubleiben … Morgen sieht die Welt vielleicht schon wieder besser aus.« Er ging langsam auf sie zu und hielt ihr die Hand hin. »Kein Krankenwagen? Keine Polizei?«, fragte sie skeptisch. Er schüttelte mit dem Kopf. »Auch wenn ich hoffe, dass ich das nicht bereue.« Schließlich nickte sie, ignorierte seine Hand und blieb unschlüssig vor ihm stehen. »Pizza?«, fragte er mit einer hochgezogenen Augenbraue. Ein Hauch von einem Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Ja, gerne.« Obwohl die Pizza noch annähernd warm war und sich seine Verärgerung von vorhin in Luft aufgelöst hatte, wollte die Anspannung nicht von ihm abfallen. Sie war schwanger! Das änderte alles! Er hatte nicht nur quasi für sie die Verantwortung übernommen, sondern auch noch für ein ungeborenes Etwas in ihrem Bauch. »Wann kommt eigentlich deine Freundin nach Hause? Ich möchte nicht, dass sie irgendetwas missversteht.« »Meine Freundin?« Er sah sie fragend an und konnte ihr im ersten Moment nicht richtig folgen. Dann fiel der Groschen. »Ach so, du meinst meine Frau. Nein, sie wird nichts missverstehen, weil sie nicht nach Hause kommen wird … Wir leben getrennt.« »Oh, ich dachte nur … das Foto … und die zwei Zahnbürsten.« »Ja, das Foto muss ich mal entsorgen … und … die Zahnbürste auch.« Sarah nickte nachdenklich. »Willst du noch was essen?«, erkundigte sich Philipp freundlich. »Nein, danke. Aber wenn du vielleicht noch ein Bier für mich hättest?« »Zum Kühlen oder zum Trinken?« »Zum Trinken.« »Du bist schwanger!« Sein vorwurfsvoller Ton war nicht zu überhören. »Ich werde es ohnehin abtreiben.« »Das ist deine Entscheidung. Solange du aber schwanger bist, wirst du von mir keinen Alkohol bekommen. Wie alt bist du eigentlich?«, fragte er, während er aufstand und eine Flasche Wasser und für sich ein Bier aus der Küche holte. »21. Und du?« »33. Willst du ein Glas oder …« Sie nahm ihm die Wasserflasche ab und trank in durstigen Zügen. »Wie lange wart … seid ihr verheiratet? Habt ihr Kinder?«, fragte sie interessiert, als sie die Flasche halb leer getrunken und auf dem kleinen Couchtisch abgestellt hatte. Obwohl Philipp diese persönlichen Fragen einen Tick zu weit gingen, antwortete er, nachdem er einen kräftigen Schluck aus seiner Bierflasche genommen hatte. »Drei Jahre sind wir verheiratet. Nein, wir haben keine Kinder.« »Wolltet ihr keine?« Das reicht!, dachte er, sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Instinktiv schien Sarah zu spüren, dass ihn diese Frage unangenehm berührt hatte. »Entschuldigung! Es geht mich nichts an!« Er kratzte sich am Ohr und sagte, während er ihr direkt in die Augen sah, als wollte er ihre Reaktion nicht verpassen: »Ich bin zeugungsunfähig. Also … so gut wie.« Das schlug ein wie eine Bombe. Sarah starrte ihn mit offenem Mund an. Kopfschüttelnd vergrub er sein Gesicht hinter den Händen und konnte auf einmal selbst nicht mehr verstehen, wieso er ihr um alles in der Welt das gerade anvertraut hatte. »Das weiß so gut wie niemand, aber ich erzähle es dir!« Dann schaute er wieder zu ihr. »Keine Ahnung, warum ich dir das erzählt habe. Am besten du vergisst es ganz schnell wieder.« Sie schluckte hörbar. »Habt ihr euch deswegen getrennt?« Ein Themenwechsel wäre jetzt wirklich angebracht, dachte er und versuchte, sich seine aufkommende Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. »Es gibt immer viele Gründe und einen Auslöser. Es war sicher ein Grund von vielen«, antwortete er so beiläufig wie möglich, auch wenn sich ein trauriger Schatten über seine Seele legte. Natürlich wusste er den wahren Grund, aber das gehörte hier nun wirklich nicht hin. »Du verurteilst mich sicher, weil ich abtreiben will.« »Nein. Das ist deine Entscheidung und es steht mir nicht zu, über dich zu urteilen. Jeder muss das tun, was er für richtig hält.« Er räusperte sich. Paradoxerweise war er erst durch die Trennung von Bea auf diese Erkenntnis, mit der es sich wesentlich entspannter lebte, gekommen. So sanft wie möglich fügte er hinzu: »Aber mal was anderes, wie genau bist du da eigentlich im Gebüsch gelandet? Was ist überhaupt passiert?« Jetzt war es Sarah, die seinem Blick auswich und mit einem Schlag sämtliche Gesichtsfarbe verlor. »Wie gesagt, ich war beim Arzt und habe … ihn … dann angerufen.« Philipp fühlte einen flüchtigen inneren Triumph, weil er erfolgreich das Thema gewechselt hatte, und hörte ihr aufmerksam zu. »Er klang ganz normal, als ich ihm sagte, dass ich schwanger sei … Also er war schon überrascht, aber ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass er ausflippen würde. Deswegen hatte ich es ihm auch am Telefon gesagt. Er sagte, dass er gerade unterwegs sei und mich abholen könne. Das hat er dann auch gemacht und im Auto fingen die Beschimpfungen an. Ich solle es wegmachen lassen, es sei ohnehin nicht von ihm … bla, bla, bla. Ich hätte einfach nicht sagen sollen, dass ich es vielleicht behalten möchte! Dann wäre das alles wahrscheinlich gar nicht passiert!« Wieder liefen Tränen über ihre Wangen. Philipp stand auf, um aus dem Bad eine Rolle Toilettenpapier zu holen, und reichte sie ihr. Obwohl ihr wahrscheinlich nicht zum Lachen zumute war, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. »Ich denke, die Rolle reicht.« »Habe leider keine Taschentücher. Sorry!« Mit ein paar Blättern tupfte sie sich vorsichtig die Tränen weg, wohl darauf bedacht, nicht zu nah an ihr geschwollenes Auge zu kommen. »Auf jeden Fall ist er dann ausgerastet und hat mir eine geknallt.« »Hat er dich schon öfters geschlagen?« Betreten schaute sie auf die Hände in ihrem Schoß. »Na ja … auf jeden Fall noch nie so.« »Wie ging es dann weiter?« »Ich bekam Angst. Richtig Angst. Wie wild fuchtelte er um sich und achtete überhaupt nicht mehr auf die Straße. Ich habe ihn angeschrien und dann hatte ich die nächste sitzen … An einer roten Ampel bin ich aus dem Auto gesprungen. Ich wollte nur noch weg von ihm.« Sarah wirkte wie in eine andere Welt versunken. Wieder hielt sie sich an ihrer Tasche fest, aber ihre Hände zitterten trotzdem. Philipps Herz wurde schwer, auch wenn er es nicht zulassen wollte, ließen ihn ihre Erlebnisse nicht kalt. Am liebsten hätte er sie erneut in den Arm genommen, aber er wusste, dass er damit eine Grenze überschreiten würde. Eine Grenze, die er nicht überschreiten sollte. In einem Zug exte er seine Bierflasche und verspürte zugleich Lust auf noch eins, aber er wagte nicht, aufzustehen und in die Küche zu gehen, aus Angst, ihren Redefluss zu unterbrechen. »Und dann ist er dir gefolgt? Wo wolltest du hin?« Kurz schaute sie zu ihm und versank dann wieder in ihren Erinnerungen. »Ich bin nur gerannt, war schon völlig außer Atem und hatte gedacht, dass ich ihn los bin. Ich wollte zu einer befreundeten Kollegin, aber er muss irgendwo sein Auto abgestellt und mir hinterhergelaufen sein. Auf Höhe von PHARMASchulte hat er mich von hinten gepackt und wie verrückt auf mich eingeschlagen, mich wild beschimpft und gedroht, mir das Kind notfalls selbst aus dem Bauch zu prügeln, wenn ich es nicht abtreibe …« Ihre brüchige Stimme verstummte. Philipp hatte das Gefühl, einen dicken Kloß tiefer Betroffenheit im Hals zu haben. »Das ist echt furchtbar, was du erlebt hast. … Was für ein Arsch! Du MUSST ihn anzeigen!« »Bitte versteh doch, dass das nicht geht. Der hat seine Freunde überall. Die bringen mich um und lassen es wie einen Unfall aussehen.« Sanft strich er über ihre Schulter und hoffte, dass sie diese vertraute Geste nicht falsch verstand. Sein Gehirn ratterte auf Hochtouren. Irgendwie musste dieser Kerl seine gerechte Strafe kriegen! Aber er sah ein, dass es keinen Sinn machte, jetzt mit Sarah darüber zu diskutieren, stattdessen fragte er: »Du wolltest zu einer Kollegin? Was arbeitest du denn?« Mit einem zarten Lächeln auf den Lippen drehte sie sich zu ihm und sagte leise: »Gegenfrage. Was arbeitest du? Offensichtlich bist du ja bei diesem Pharmariesen beschäftigt. Als was?« »Ich arbeite im Sicherheitsmanagement.« »Oh, das ist bestimmt spannend! Da lief es ja vor gar nicht allzu langer Zeit drunter und drüber. Hat nicht irgendjemand auf die Firmenchefin geschossen?« Auch wenn Philipp ihren abrupten Themenwechsel durchaus bemerkte, kamen ihm das Interesse und die darauffolgende Sensationsgier, wann immer er erwähnte, bei PHARMASchulte zu arbeiten, wie alte Bekannte vor. »Ja, aber das ist alles Vergangenheit und jetzt ist die Firma wieder auf dem Weg nach oben«, war seine Standardantwort, die er auch für Sarah parat hatte. »Die war doch vorher irgendwann mal entführt worden und hatte dann später was mit ihrem Entführer, oder?« Auch das war eine der üblichen Spekulationen, die in seinen Augen eigentlich durch die bekannten Tatsachen für die Allgemeinheit so interessant wie kalter Kaffee sein sollten, aber allem Anschein nach so unglaublich klangen, dass die Leute sie einfach nicht für bare Münze nehmen konnten, sondern sie wie Unkraut weiter verbreiteten, aber nicht, ohne sie vorher individuell ausgeschmückt zu haben. »Da musst du die Klatschpresse fragen und nicht mich.« »Aber du weißt, wie es ihr geht, oder?« Ein wenig freute sich Philipp über Sarahs offensichtliche Neugier an seinem Arbeitgeber, weil er spürte, wie ihre Lebensgeister wieder erwachten, und sie nicht mehr an die schrecklichen Ereignisse des heutigen Abends dachte. Aber andererseits wollte er sich auch nicht dazu hinreißen lassen, zu viel zu erzählen. Abgesehen davon, dass er bei Weitem nicht alles wusste, was vor seiner Zeit in der Firma passiert war, nahm er sich vor, seiner Linie treu zu bleiben und nur das preiszugeben, was die Zeitungen ohnehin schon gedruckt hatten. »Ich denke, es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Sie ist in Südfrankreich und erholt sich dort. Aber nun zu dir. Was arbeitest du?« Sarah schaute stur auf ihre Handtasche, biss verlegen auf ihre Unterlippe und sah ihn dann wieder an. »Das willst du nicht wissen. Bitte frag nicht.« Irritiert schaute er sie an. Was sollte das jetzt wieder heißen? »Hallo? Ich habe dir gerade meine intimsten Zeugungsunfähigkeits-Geheimnisse anvertraut und du willst mir nicht verraten, was du arbeitest? Komm schon! So schlimm kann’s schon nicht sein!« »Es war seine Idee«, räumte sie kleinlaut ein. »Was?« »Er sagte, dass wir uns ganz schnell erst einen tollen Urlaub, dann ein neues Auto und bald auch eine große neue Wohnung leisten könnten.« Langsam dämmerte es Philipp und er wollte nicht, dass sie das aussprach, was er befürchtete. Das konnte alles nicht sein! »Sag mir jetzt nicht, dass du …« Sie holte tief Luft, senkte ihren Blick auf ihre Hände, die wieder anfingen zu zittern, und schwieg. »Er schickt dich doch nicht etwa auf den Strich, oder?« »Nein … Nicht auf den Strich. Es fing mit irgendwelchen ... Bekannten von ihm an, vor denen ich mich ausziehen sollte. Erst ohne Anfassen, dann … mit und irgendwann …« Der blanke Zorn erwachte in Philipp und er musste sich mit aller Macht zusammenreißen, um nicht vor Wut laut zu schreien. Was war das nur für ein widerlicher Kerl, der seine Freundin verprügelte und zu allem Überfluss auch noch anschaffen schickte? Philipp war fassungslos. Das Blut kochte in seinen Adern. Verzweifelt suchte er nach einem Ventil, sprang auf und ballte seine Hand zu einer Faust. »Wenn ich dieses Schwein in die Finger kriege!« Sarah schaute ihn ängstlich an und sagte in einem versöhnlichen Tonfall: »Er hat auch seine guten Seiten.« »Aha. Hat er die? Verdammt noch mal! Du MUSST ihn anzeigen!«, schrie er vollkommen außer sich. Erschrocken zuckte Sarah zusammen. »Er hat mich nicht gezwungen … Ich habe es freiwillig gemacht.« Niemals würde er die Frauen verstehen. Warum nahm sie diesen Wichser auch noch in Schutz? »Und er denkt jetzt wahrscheinlich, dass ich nicht aufgepasst habe und das Kind von einem … Kunden ist. Deswegen will er es nicht. Er hat sicherlich Angst, für ein fremdes Kind irgendwann zahlen zu müssen.« Philipp starrte sie fassungslos an. Vor seinem geistigen Auge erschien plötzlich seine Schwester. Wie oft hatte sein Schwager sie krankenhausreif geschlagen? Wie oft war sie wieder zu ihm zurückgekehrt? Jedes Mal! Es kam ihm vor, als wäre Sarah auf einmal Lichtjahre von seiner Denkweise entfernt und eine böse Vorahnung lief wie ein kalter Schauer über seinen Rücken. Sie würde wieder zu diesem Kerl zurückkehren. In seine Arme. In sein Bett. Zurück zu ihren Freiern und seinen Schlägen. Egal, was er sagen würde. Egal, was er machen würde. Sie würde wieder gehen. Übertrieben lange schaute er auf seine Armbanduhr und sagte dann resigniert: »Es ist spät geworden. Ich muss morgen wieder früh raus. Brauchst du noch irgendetwas?« »Ist alles okay? Du bist auf einmal so …« »Müde«, beendete er ihren Satz. Vor allem war er müde, sich über anderer Leute Probleme den Kopf zu zerbrechen. Davon hatte er schließlich selbst genug. Mehr als das. »Eine Decke wäre toll.« »Ja, natürlich. Kriegst du.« Als er mit einer schwarzen Fleecedecke in der Hand wieder ins Wohnzimmer zurückkam, sah er sofort, dass Sarah geweint hatte. Sein Herz wurde wieder weich. »Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum du dich für ihn einsetzt.« »Ich bin doch selbst schuld. Ich wollte genauso wie er das Geld … Und seine Idee mit der Homepage war klasse. So konnte ich mir immer aussuchen, mit wem ich … und mit wem nicht. Ich hätte nur nicht schwanger werden dürfen.« »Homepage?« »Ich habe eine eigene Seite, auf der ich meine … Dienstleistungen anbiete.« »Aha.« Kurz überlegte er, ob er die Frage stellen sollte, die sich förmlich aufdrängte. Er hatte das Gefühl, ein unbekanntes, aber durchaus reizvolles Terrain zu betreten. »Wie heißt deine Homepage?« Sarah senkte den Blick. Vermutlich aus Scham. »Das möchte ich nicht sagen. Ich will nicht, dass du mich so siehst.« Auf Philipps Kopfkinoleinwand sah er sie in verführerischer Unterwäsche mit obszön gespreizten Schenkeln vor sich. Ein Hauch von Erregung durchströmte seinen Körper. Er räusperte sich und versuchte, dieses Bild zu verdrängen, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen, was sich als äußerst schwierig erwies. Sarah hatte ihre Reize. Keine Frage. Lange blonde Haare, ein hübsches, wenn auch momentan etwas demoliertes Gesicht und einen wohlgeformten Busen, der im Vergleich zu ihren übrigen Proportionen auffallend groß erschien, und sich weich unter seinem Jogginganzug abzeichnete. Erschwerend kam der Gedanke hinzu, dass sie eine Professionelle war. Eine Professionelle, die wahrscheinlich sehr gekonnt mit dem männlichen Geschlecht umzugehen wusste. »Guck mich bitte nicht so an.« Mit diesem Satz verteilte sich schlagartig sämtliches Blut wieder gleichmäßig auf seinen Körper. »Wieso, wie gucke ich denn?« »Keine Ahnung. Auf jeden Fall werde ich dir meine Homepage sicher nicht verraten.« »Musst du ja auch nicht. Aber du hast sicher Verständnis dafür, wenn ich deinen vollständigen Namen wissen möchte. Schließlich kenne ich dich erst kurz und lasse dich hier schlafen.« »Du willst meinen Ausweis sehen?« Das wäre am besten, ging ihm kurz durch den Kopf. Aber dann dachte er wieder an seine unangemessene Handtaschen-Durchwühl-Aktion. »Dein vollständiger Name würde mir reichen.« »Sarah Küppler. K…Ü…P…P…L…E…R«, buchstabierte sie und ergänzte, »unter diesem Namen wirst du meine Homepage aber nicht finden. Möchtest du noch etwas wissen? Vielleicht meine Schuhgröße oder lieber meine Körbchengröße?« Er ignorierte ihre spitze Bemerkung und war im Begriff zu gehen, als ihm noch ein Gedanke kam. »Versprich mir, dass du dich morgen noch persönlich von mir verabschiedest. Persönlich. Nicht auf einem Zettel oder so.« »Wenn du mir versprichst, niemandem zu sagen, dass ich hier bin.« Philipp nickte. »Wann musst du denn morgen früh los?«, fragte Sarah »Spätestens gegen acht.« »Würdest du mich bitte rechtzeitig wecken?« »Ja klar. Gute Nacht! Versuch, ein bisschen zu schlafen«, sagte er und schloss die Wohnzimmertür hinter sich.
*
Unschlüssig stand Philipp im Flur. Sollte er die Haustür abschließen, damit sie sich nicht sang- und klanglos auf und davon machen konnte? Eine innere Stimme sagte ihm, dass Sarah vielleicht mit diesem Gedanken spielte. Aber wäre es schlimm, wenn sie morgen einfach weg wäre? Gedankenverloren verstaute er das Foto von Bea und sich in der obersten Schublade der Kommode und ging ins Bad. Sofort fielen ihm Sarahs schwarzer BH und das dazu passende Spitzenhöschen ins Auge. Sie hatte ihre Wäsche zum Trocknen über die Heizung gelegt. Wieder regte sich eine flüchtige Erregung in ihm, als er sie sich nackt in seinem Jogginganzug vorstellte. Wann hatte er das letzte Mal Sex gehabt, fragte er sich. Es war eindeutig zu lange her! Kopfschüttelnd putzte er sich die Zähne. Obwohl ein anstrengender Arbeitstag hinter ihm lag, ließ ihn Sarah keine Ruhe finden. Unruhig wälzte er sich hin und her und beobachtete hin und wieder die Wolken, die den Vollmond mal mehr, mal weniger verdunkelten. Immer wieder fragte er sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte, sie mit zu sich nach Hause genommen zu haben. Er hätte sie ins Krankenhaus bringen müssen, da war er sich inzwischen sicher. Obwohl ihn jeden Morgen beizeiten seine innere Uhr von alleine weckte, stellte er sich seinen Radiowecker auf fünf Uhr. Viel zu früh, aber er wollte nachschauen, ob Sarah dann noch da war. Die Wohnungstür hatte er bewusst nicht abgeschlossen. Nach zahllosen Versuchen, irgendwie doch noch in das Reich der Träume abzutauchen, gab er sich seiner Neugier geschlagen, griff unters Bett und zog sein Notebook hervor. Viel fand er nicht über Sarah Küppler. Aber erleichtert entdeckte er diesen Namen unter einem Jahrgangsfoto, auf dem er sie erkannte. Ein misstrauischer Teil seines Gehirns hatte es durchaus für möglich gehalten, dass sie ihm irgendeinen Namen genannt hatte, nur nicht ihren. Vor sechs Jahren hatte sie die Hauptschule verlassen. Dann verlor sich ihre Spur. Einer Eingebung folgend gab er Begriffe wie »Sexy Sarah« oder »Sex mit Sarah« in die Suchmaschine ein. Erfolglos. Zwar gab es unglaublich viele Einträge, aber nichts, was eindeutig mit der Sarah auf seinem Sofa in Verbindung stand. Nach einer gefühlten halben Ewigkeit klappte er das Notebook entnervt zu und gab sich seinen Gedanken hin. Weshalb fühlte er sich ausgerechnet für eine Frau, die wahrscheinlich wesentlich mehr Probleme als Schamhaare besaß, irgendwie verantwortlich?
*
Irgendwann hatte die Müdigkeit über seine Gedanken gesiegt und er war in einen traumlosen Schlaf gefallen. Ein Geräusch weckte ihn schlagartig. Alarmiert riss er die Augen auf. Einen Moment brauchte er, um Herr seiner Sinne zu werden. Wieder ein Geräusch. Sofort dachte er an Sarah, warf die Decke zur Seite, stand auf und schaute im Vorbeigehen auf seinen Wecker. 4:46 Uhr. So leise wie möglich öffnete er die Schlafzimmertür und hörte plötzlich Stimmen. Gedämpfte Stimmen, die aus dem Wohnzimmer kamen. Sein Herzschlag beschleunigte sich abrupt. Vorsichtig trat er hinaus auf den Flur. Seine erhöhte Reaktionsbereitschaft entlud sich von einer Sekunde zur nächsten in ein erleichtertes Durchatmen, als er unter dem Türschlitz sich schnell abwechselnde Lichtspiele entdeckte. Sarah schaute fern. Zumindest musste der Fernseher eingeschaltet sein. Behutsam drückte er die Türklinke hinunter und spähte ins Wohnzimmer. Die bunten Bilder vom Fernseher warfen unstetes Licht in den Raum. Sarah lag auf dem Sofa und schlief. Er lauschte ihren regelmäßigen Atemzügen und betrachtete sie still. Friedlich sah sie aus. Wie ein schlafender Engel. Ihre Haare umrahmten ihr Gesicht und verdeckten dabei ihr lädiertes Auge. Auf dem Tisch entdeckte er die Fernbedienung – das Ziel seiner Begierde. Plötzlich stieß er mit dem Fuß gegen etwas Hartes. Leise in sich hinein fluchend, hopste er vor Schmerz auf einem Bein durchs Wohnzimmer. Wie von der Tarantel gestochen saß Sarah kerzengerade auf dem Sofa.
»Was ist passiert?«, fragte sie mit Panik in den Augen.
»Entschuldigung! Ich wollte dich nicht wecken, sondern nur den Fernseher ausmachen.«
»Aha. Und dabei einen Affentanz aufführen?«, sagte sie schmunzelnd.
»Ich bin gegen deine blöde Tasche gelaufen. Wieso steht die hier auch mitten im Weg?«
»Damit Leute, die nachts zu mir schleichen, darüber stolpern.«
Nach einem Moment der Stille mussten beide lachen. Laut und losgelöst. Es hatte etwas Befreiendes, als würde die ganze Tragik und Anspannung des Abends in diesem Augenblick von ihnen abfallen.
Sarah fand zuerst die Sprache wieder und fasste sich an die Wange.
»Aua! Lachen ist noch nicht so gut!«, sagte sie, während sie weiterhin übers ganze Gesicht strahlte und krampfhaft versuchte, nicht wieder loszuprusten.
»Und? Was hast du über mich herausgefunden?«, hakte sie nach einer Weile nach.
Philipps Lächeln erstarb.
»Hä?«, mehr brachte er nicht über die Lippen und war froh, dass sie im Dämmerlicht nicht sehen konnte, wie er sich ertappt fühlte und errötete.
»Du wirst mich doch sicherlich gegoogelt haben, nicht wahr?«
Um etwas Zeit zu gewinnen, räusperte er sich. Sollte er lügen oder die Wahrheit sagen? Vermutlich würde sie ihm eine Notlüge ohnehin nicht abnehmen.
»Hab nicht viel über dich rausgefunden«, gab er ehrlich zu.
Das neugierige Interesse stand Sarah förmlich ins Gesicht geschrieben. Sie brachte sich mit einem schmerzverzerrten Gesicht in eine bequemere Position, kuschelte sich in die Decke, zog ihre Beine eng an ihren Körper und umschlang sie mit ihren Armen. Das Kinn bettete sie behutsam auf ihren Knien.
»Was denn?«
Wieder räusperte sich Philipp. Er fühlte sich unwohl, kam sich fast wie in einem Verhör vor. Und wer wurde schon gern nur in T-Shirt und Shorts verhört? Sarah schien sein Unbehagen zu spüren, deutete auf den Platz neben ihr und sagte: »Setz dich doch zu mir. Ich beiße nicht.«
Das wollte er auf keinen Fall. Ihre unmittelbare Nähe wäre ihm noch unangenehmer gewesen. Stattdessen schüttelte er mit dem Kopf, knipste den Fernseher aus, stibitzte sich ein Kissen vom Sofa und ließ sich im Schneidersitz hinter dem Tisch nieder, sodass nur sein Oberkörper in Sarahs Sichtfeld fiel.
»Wie gesagt, ich habe nicht viel über dich im Internet gefunden. Nur ein Foto von deiner Abschlussfeier.«
»Darauf hast du mich wiedererkannt?«
»Ja. Sehr verändert hast du dich nicht, finde ich.«
»Das alles kommt mir so vor, als wäre es eine Ewigkeit her.«
»Zum Beispiel habe ich nichts darüber gefunden, was du nach der Schule gemacht hast.«
»Eine Ausbildung zur Zahnmedizinischen Fachangestellten. Also Zahnarzthelferin wollte ich werden.«
»Wolltest du werden?« »Ja. Bis ich Daniel …«, erschrocken brach sie ab und starrte Philipp mit großen Augen an. Dieser Mistkerl hat also einen Namen!, dachte er bitter. »Du hast ihn bei der Arbeit kennengelernt?« Schneller als erwartet, hatte sich Sarah wieder gefasst und fuhr fort: »Ja, er war ein Patient. Wir haben uns verabredet und ich war hin und weg.« »Und dann hast du deine Ausbildung abgebrochen?« Unbewusst hatte Philipp den Spieß umgedreht. Auch wenn er sie nicht verhören wollte, wollte er mehr über sie erfahren. Über ihr Leben, ihre Gedanken und Gefühle. Zu seiner eigenen Schande musste er sich eingestehen, dass sie eine gewisse Faszination auf ihn ausübte. Er beobachtete, wie sie mit ihren Augen sprach und ihren Worten mit den Händen Nachdruck verlieh. Sein sexuelles Interesse rückte in den Hintergrund, vielmehr zog ihn ihr Wesen in seinen Bann. »Im Nachhinein würde ich sagen, dass das der größte Fehler meines Lebens war. Aber es war meine Entscheidung, kurz vor der Abschlussprüfung hinzuwerfen. Ich hatte Angst, dass ich die Prüfung nicht bestehe und Daniel …« Sarah war wie in eine andere Welt versunken. Mit der linken Hand sammelte sie gedankenverloren Fussel von der Decke, drehte sie zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger zu kleinen Kügelchen, ließ sie dann von ihrer Hand fallen und begann von Neuem. »Wir träumten von einer gemeinsamen Zukunft, in der wir uns alles leisten, reisen und in Luxus schwelgen konnten. Das wäre mit meinem mickrigen Angestelltengehalt nie drin gewesen.« »Was arbeitet er denn?« »Mechatroniker ist er. Eigentlich verdient er gar nicht sooo schlecht, aber von dem, was man mit Sex verdienen kann, ist er meilenweit entfernt.« »Wenn ich mir vorstelle, dass meine Freundin mit anderen Kerlen … Also ich könnte sie nicht teilen, glaube ich.« Für den Bruchteil einer Sekunde schaute sie ihm in die Augen und dann wieder auf das Fussel-Kügelchen in ihrer Hand. »Es ist nur ein Job. Ohne Gefühle. Ich stelle nur meinen Körper zur Verfügung, nicht mich, wenn du verstehst, was ich meine.« »Wann hat er dich das erste Mal geschlagen?« Im nächsten Moment bereute er, diese Frage gestellt zu haben, als er sah, wie sich Sarahs Gesichtsausdruck verfinsterte. Dunkle Erinnerungen schienen in ihr zu erwachen. »Ich möchte nicht darüber sprechen. Genug von mir! Wann habt ihr euch getrennt?« Touché, dachte Philipp. »Vor einem halben Jahr.« »Liebst du sie noch?« Nachdenklich fing er Sarahs bohrenden Blick auf. »Liebst du ihn noch?« Betretenes Schweigen. »Wie spät ist es eigentlich?« Innerlich dankte er Sarah für den übergangslosen Themenwechsel, denn er sprach nie gerne über seine Gefühle, auch wenn er zu gerne ihre Antwort gehört hätte, obwohl er sie eigentlich schon kannte. Natürlich liebte sie ihn noch. Würde sie ihn sonst so in Schutz nehmen? »Kurz nach fünf.« Ihr ungeniertes Gähnen mit offenem Mund steckte Philipp unwillkürlich an. Im Gegensatz zu ihr nahm er die Hand vor den Mund. »Am besten lasse ich dich jetzt in Ruhe und wir versuchen beide noch ein bisschen zu schlafen. Hast du schon eine Idee, wo du morgen … äh heute hinwillst?« Kurz vergrub sie ihr Gesicht hinter ihren Händen und schien zu überlegen, ob es jetzt der richtige Zeitpunkt war, ihm die Wahrheit zu sagen. Philipp kam ihr zuvor: »Du gehst wieder zu ihm zurück, oder?« Unverwandt sah sie ihm in die Augen und zuckte kraftlos mit den Schultern. »Wie gesagt, er hat auch seine liebevollen Seiten …« Wieder erwachte Wut in Philipp und brachte sein Blut in unkontrollierte Wallungen. Dieser Frau ist nicht zu helfen! Genauso wenig wie meiner Schwester! Auch wenn er damit gerechnet hatte, traf ihn die selbsterfüllende Prophezeiung wie ein Schlag. »Weißt du was? Vielleicht ist es besser, wenn du dich jetzt schon auf den Weg machst!« Auf einmal hatte er das Gefühl, ihre Nähe nicht länger ertragen zu können. Irritiert schaute sie ihn an, als wollte sie in seinem Gesicht lesen, ob er es ernst meinte oder einen Scherz gemacht hatte. »Jetzt?«, fragte sie, offensichtlich vollkommen perplex. »Ja. Dann kann ich heute früher bei der Arbeit anfangen und auch früher Feierabend machen.« »Aber eben sagtest du doch noch, wir sollten versuchen, noch ein bisschen zu schlafen …« »Ich habe es mir anders überlegt.« »Weil ich ... weil ich zu ihm zurückgehe?« Damit traf sie den Nagel auf den Kopf. Philipp kratzte sich an der Nase, stand auf und sagte auf dem Weg zur Tür, ohne sie eines Blickes zu würdigen: »Reisende soll man nicht aufhalten.« Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich im Schlafzimmer wieder Hemd und Anzug anzog. Mit genau den gleichen Worten hatte er damals Bea verabschiedet. Reisende soll man nicht aufhalten, hallte wie ein mahnendes Echo in seinem Kopf. Nach zwei missglückten Versuchen, die Krawatte in der richtigen Länge zu binden, pfefferte er sie entnervt aufs Bett. Es war eigentlich nicht nur viel zu früh, um zur Arbeit zu gehen, sondern auch der perfekte Tag, um ungeduscht und ohne Krawatte dort zu erscheinen! Wie ein Häufchen Elend kam ihm Sarah vor, als er sie im Flur erblickte – wieder in ihren alten, inzwischen getrockneten Klamotten, mit ihrer Handtasche über der Schulter und einem unendlich verletzten Gesichtsausdruck. Es versetzte ihm einen kurzen Stich ins Herz, sie so zu sehen. Reisende soll man nicht aufhalten. Zum Abschied reichte sie ihm förmlich die Hand. »Vielen Dank, dass ich hier schlafen durfte, und für alles, was du für mich getan hast.« »Habe ich gerne gemacht. Mach’s gut und pass auf dich auf!« Mit einem Kloß im Hals begleitete er sie zur Tür. Während sie die Klinke hinunterdrückte, zog er eine Visitenkarte aus seiner Sakkotasche und gab sie ihr. »Wenn irgendetwas ist, kannst du mich anrufen. Immer. Okay?« Sie nickte und biss sich verlegen auf die Unterlippe. »Danke!« Dann drehte sie sich um und ging. Im Zwiespalt mit sich selbst schaute er ihr nachdenklich hinterher. Sein Bauchgefühl rief stumm: »Geh nicht zu ihm zurück! Bleib hier.« Doch sein Verstand wünschte ihr Glück und ließ sie gehen.