Читать книгу Die Lichtschreiberin - Almut Adler - Страница 9
ОглавлениеKAPITEL 1
REISEFIEBER 1966-1975
Fotografie ist eine Illusion von Realität,
mit der wir unsere eigene kleine Welt erschaffen.
Arnulf Newman
Als Wunschkind und Atheistin brauchte ich mir nie die Frage zu stellen, ob ich ein Resultat des Zufalls bin oder durch Gottes Willen das Licht der Welt erblickte. Aber eines könnte sich bewahrheiten; ich bin das Abziehbild meiner Mutter, welches fotografisch betrachtet, mit einer Langzeitbelichtung von 92 Jahren rechnen darf. Das zumindest weissagte mir ein alter Inder im Zug nach Bombay. Demnach habe ich noch ganz schön viel Zeit.
Oldenburg
In meiner Kindheit erbte ich die meisten Kleidungsstücke von meinem drei Jahre älteren Bruder Eckhard. Das fand ich toll, weil ich lieber ein Junge sein wollte. Mein absolutes Lieblingsstück war seine speckige Lederhose. Die Jungs in der Nachbarschaft machten die spannendsten Spiele: Cowboy, Indianer, Ritter und Straßenbande. Puppenspiele mit den Nachbarmädchen lösen bei mir nur ein müdes Gähnen aus. Meine Mutter nähte bunte Bordüren und Wollfransen an alte Hosenbeine und fertigte eine Indianerhaube mit Federn an. Arnulf, mein 11 Jahre älterer Bruder pinselte mit Wasserfarben eine Kriegsbemalung auf meinen Oberkörper, schnitzte ein Tomahawk und Klein Adlerauge war geboren. Später schlug ich mich dann auf die Seite der Bleichgesichter und wünschte mir zu Weihnachten eine Cowboyausrüstung mit Hut, Pistole und Sherif-Stern. Von da an herrschte Recht und Ordnung in unserer Straße. Bald darauf war die Ritterzeit angesagt. Mit den Nachbarjungen schnitt ich mir aus riesigen Pappkartons Helme und Brustpanzer, auf die ich akribisch Nieten und Schweißnähte pinselte. Furchtlos drosch ich mit meinem selbstgebauten Holzschwert drauf los - mit dem Ergebnis, dass meine Ritterrunde Reißaus nahm. Wir kehrten zu den friedlicheren Indianerspielen zurück und rauchten Friedenspfeife mit Wiesengras bis uns schlecht wurde. Als ich mir mit 11 Jahren Boxhandschuhe wünschte, streikten meine Eltern. Sie befürchteten, ihre Tochter würde dann womöglich KO geschlagene Jungs im Nachbargarten auszählen. Stattdessen nähte meine Mutter mir lieber ein hübsches Indianerkostüm. Ich war enttäuscht, denn es sah mir zu sehr nach Squaw aus, anstatt nach einem Krieger. Mit 13 bekam ich meine Menstruation und Klein Adlerauge verdrückte sich still und heimlich in die ewigen Jagdgründe.
Noch vor meinem Interesse für die Fotografie, trat ich dem Oldenburger Schwimmverein bei. Unsere Nachbarin Uta Frommater war Deutsche Meisterin im Brustschwimmen, Europa-Meisterin und Kandidatin für die Olympischen Sommerspiele 1968 in Mexico City. Ihr Trainer Frank sah auch in mir ein Nachwuchstalent und nahm mich unter seine Fittiche. Schon bald zog ich mit Uta meine Trainingsbahnen. Es dauerte nicht lange, da hatte ich meine erste Medaille als Bezirksmeisterin um den Hals hängen und bereits ein Jahr später wurde ich 3. Deutsche Meisterin in 100 Meter Freistil. Bei 50 Metern konnte ich sogar mit den Jungs mithalten, doch diese Wettkampfdisziplin gab es leider noch nicht, denn auf dieser Distanz schwamm ich Bestzeiten. Weil mein Kraulstil so perfekt aussah wurde der Deutscher-Schwimm-Verband aufmerksam. Der DSV drehte einen Schulungsfilm mit mir – über Wasser und unter Wasser. Und die Reporterlegende Harry Valerien interviewte Uta und mich am Beckenrand. In der Nord-West-Zeitung stand geschrieben:
„Oldenburger Nachwuchstalent schwimmt in Frommaters Kielwasser!“
Sogar der Trainer von Mark Spitz zeigte Interesse an Uta und wollte sie nach Kalifornien holen. Aber Uta trainierte lieber in heimischen Bahnen weiter. Hätte er doch nur mich gefragt! Meine Wasserkarriere schlug weiterhin keine hohen Wellen, denn mein Schwimmehrgeiz bezog sich eher auf das Herumreisen von einem Wettkampf zum nächsten. Uetrecht, Berlin, Grenoble, München und Nizza. Dort traf ich bekannte Schwimmer wie Werner Lampe, Heike Hustede und Walter Kusch. Ich trainierte mit Weltmeistern und Olympiasiegern. Einmal verpasste ich vor lauter Reden drei Lautsprecheransagen um an den Start zu gehen. Als alle bereits auf den Startblöcken standen kam mir der Gedanke, dass ich wohl gemeint war! Im Laufen zog ich meinen Trainingsanzug aus und stand in letzter Sekunde doch noch auf dem Startblock – mit Socken! Immerhin wurde ich zweite. Wenn ich zu lange unter der Dusche stand, schimpfte mein Trainer Frank jedes Mal und rief laut in die Kabine.
“Almut, du sollst nicht 1000 Meter duschen, du sollst t r a i n i e r e n!”
Frank sah mich schon mit Uta nach Mexico City reisen, aber bei den olympischen Auswahlkämpfen ging meine Leistung baden. Damit beendete ich meine Schwimmkariere.
Fotografische Gehversuche
Wie eine aufblühende Blume im Zeitraffer baute sich das Bild langsam auf. Dunkle Striche und Punkte bildeten sich plötzlich auf dem weißen Blatt. Nach und nach fügten sich neue Graustrukturen und Bildteile hinzu. Dann erkannte ich das Gesicht meiner Mutter. Eckhard schwenkte die wuchtige Entwicklerschale aus Emaille mal links und mal rechts, das Fotopapier stieß klackend an die Ränder. Sein Kopf senkte sich Richtung Schale. Er nahm das Schwarzweiß-Foto aus dem Entwickler, hauchte es an und rieb einzelne Stellen mit den Fingern nach. Ich konnte seine Unzufriedenheit spüren.
“Scheiße, die Lichter bauen sich nicht auf”, murmelte er wie im Selbstgespräch.
Der Entwickler tropfte in die Schale, der Rubbeleffekt zeigte keinerlei Wirkung.
“Das erzeugt Wärme”, erklärte er und rubbelte weiter auf dem Papier herum, „diese Stellen entwickeln sich jetzt stärker.“
Jetzt spuckte er auf diese Stelle und rieb sie erneut. Mit der Entwicklerzange zog er das Foto durch ein Wasserbad, schwenkte es kurz darin herum und ließ es in ein streng riechendes Fixierbad gleiten. Die Metallzange ließ er auf dem Auge meiner Mutter liegen. Ein Fehler wie ich später lernte, weil das Metall die aufgeweichte Emulsion der Bildoberfläche verkratzen konnte. Ich fand das Bild gelungen und beim Betrachten des Fotos kam mir meine hübsche Mutter in den Sinn.
Die sportliche Frau mit den großen blauen Augen hatte schöne Beine, wie meine Freunde immer bemerkten. Ihre mütterliche Nähe und unser liebevolles Miteinander vermittelten mir ein großes Geborgenheitsgefühl. Sie konnte gut zuhören, aber vor allem bestärkte sie mich, mir etwas zuzutrauen. Damit konnte sie alle ihre Adlerkinder beflügeln! Wenn sie wütend wurde, konnte sie auch richtig aus der Haut fahren. Sie wäre gerne Kindergärtnerin geworden und hätte ihren Führerschein gemacht, aber mein Vater ging nie darauf ein. In dieser Hinsicht war er konservativ und irgendwie ein Macho.
Anfangs war die Schwarzweißfotografie mit dem Rotlicht in der Dunkelkammer ein Rätsel für mich, doch Vergrößerungsgerät, Chemikalien, Papiersorten und Entwicklungstechnik fand ich faszinierend. Fotos entwickeln, das wollte ich auch lernen. Immer öfter stand ich in dieser winzigen, zur Dunkelkammer umfunktionierten Toilette und sah Eckhard beim Vergrößern zu. Das Rotlicht empfand ich anfangs beklemmend, weil alles nicht so deutlich erkenntlich war wie bei Tageslicht. Aber mit der Zeit gewöhnten sich meine Augen daran.
“Gegen Rotlicht ist das Fotopapier unempfindlich, das nennt man orthochromatisches Material”, verriet mir Eckhard.
Als wir beim nächsten Mal in der Dunkelkammer standen fragte ich Eckhard, ob er wüsste wie Unempfindlichkeit für Farbfilme hieß. Überrascht sah er mich an.
“Ist mir egal, Farbfotos entwickle ich sowieso nicht, viel zu aufwendig, viel zu teuer und man braucht mehr Platz.”
Er fragte mich auch nicht weiter danach. Ich konnte mir jedoch nicht verkneifen was ich im Fotomagazin meines Bruders Arnulf gelesen hatte.
“Panchromatisches Material heißt das”, preschte ich mit meinem jugendlichen Halbwissen hervor.
“Ja und? Was nützt mir das?” blaffte er zurück.
Dieses Verhaltensmuster zog sich wie ein roter Faden durch unser buntes Geschwisterleben. Es gab nichts, worüber wir nicht stritten. Einmal zankten wir uns am Mittagstisch so heftig, dass ich mit Messer und Gabel auf ihn los ging. Vor Schreck ließ er sich mit seinem Stuhl rückwärts fallen. Einmal legte er mich sogar übers Knie und versohlte mir den Hintern. Die Demonstration seiner körperlichen Überlegenheit verursachte ohnmächtige Wut in mir. Jahrzehntelang schwelten Konflikte, nie wurde offen thematisiert was uns gegeneinander so aufbrachte. Ich konnte Eckhard beneiden, zwischendurch bewundern und danach hassen, um dann heimlich vor Wut seine Briefmarkensammlung durchzureißen, oder ihm meinen Pisspott ins Gesicht zu kippen. Unsere Beziehung schwankte immer zwischen Gunst und Rivalität, Liebe und Hass. Vielleicht resultierte unser Verhältnis von meinem Schockerlebnis am Wilhelmshavener Baggersee. Gerade hatte ich meinen Freischwimmer absolviert und war erstmals im tiefen Wasser als Eckhard mich untertauchte. In dem glasklaren See konnte ich seinen Körper vor mir sehen. Vor Verzweiflung kniff ich ihm in den Bauch, ohne Wirkung. Ich hatte Todesangst, doch Eckhard zeigte sich gnädig.
Die Dunkelkammertechnik begeisterte mich, deshalb lernte ich schnell und wollte so viel wie möglich über die Fotografie wissen. Doch alles gehörte Eckhard, das Vergrößerungsgerät, Entwickler, Fixierbad, Belichtungspapier und sämtliches Zubehör. Dafür musste ich ihm kleine Gefälligkeiten erweisen, wie sein Zimmer aufräumen, Lakritze teilen oder Zigaretten holen. Um mehr zu lernen, brauchte ich eine Kamera, die war aber mit 16 Jahren unerschwinglich.
Mein Vater überließ mir schließlich seine Agfa Silette, eine Kleinbild-Sucherkamera aus silbernem Alu, mit manueller Belichtungseinstellung und fest verbautem Objektiv. Er mahnte mich, nicht die braune Lederschatulle zu entfernen und vorsichtig damit umzugehen. Die fand ich spießig, sie sah mir zu sehr nach Vatis Urlaubsknipse aus. Für meine ersten fotografischen Experimente war die Kamera ideal und simpel zu bedienen. Jedes Foto überlegte ich mir sehr genau, denn Filme kaufen riss ein großes Loch in meine Taschengeldkasse.
Schon früh schien meine visuelle Wahrnehmung ausgeprägter als bei Menschen in meinem Umfeld. Ich bemerkte, dass ich die Dinge um mich herum differenzierter betrachtete. Überall sah ich in Gegenständen Motive, Figuren oder Buchstaben. Farben, Formen und Fotos faszinierten mich, kein Wunder also, dass ich zweimal einen visuellen Beruf ergriff. Mit 16 Jahren stand mein Wunsch fest, ich will Grafikerin werden. In Sport und Kunst glänzte ich mit einer Eins, in Mathematik glich ich eher einer runter gedimmten Leuchte. Meine Schulzeit verlief glatt, ich blieb nie sitzen und kam aufs Gymnasium. Doch Mathe und Physik waren mir zu abstrakt. Für ein Grafik-Studium brauchte ich Abitur, dieses Ziel verfehlte ich allerdings schon im Ansatz. Mit mittlerer Reife und einer Lehre im grafischen Gewerbe war es dennoch möglich Grafik zu studieren. Danach benötigte ich nur noch ein praktisches Berufsjahr. Dem Wunsch seiner Tochter entsprechend nahm mich mein Vater von der Schule und suchte eine Lehrstelle im grafischen Gewerbe. Lieber hätte der Oberamtmann von der Post eine Beamtin aus mir gemacht, aber er respektierte meinen Wunsch. Bei allen seinen Kindern bemühte er sich um die Förderung ihrer Fähigkeiten. Mein großer, schlanker Vater gehörte eher zu den stillen Männern, aber er besaß einen feinen ironischen Humor. Er war großzügig in großen Dingen und geizig in kleinen Dingen. Ich mochte seine liebevollen, dunklen Augen und seine Hände. Er verbrachte mit seinen Kindern für die damalige Zeit ausgefallene Urlaube. Ganz früher an der Ostsee, dann auf Norderney und später in Italien und Frankreich. Wenn das SPD-Mitglied seine Meinung vertrat, hörte ich ihm aufmerksam zu. Als älterer Mann war er sehr in sich gekehrt, fast ein wenig autistisch.
Im Oldenburger Stalling-Verlag begann ich meine Ausbildung als Reproduktions-Fotografin. Dort wurde das 20-bändige Bildlexikon „Der große Brockhaus“ produziert. Für das Werk mussten etwa 40.000 Vorlagen fotografiert oder reproduziert werden. Meine 3-jährige Fotolehre bestand aus Dunkelkammerarbeit, Studio- und Reproduktionsfotografie. Besondere Freude machte mir das fotografieren von Eric Carles Originalzeichnungen für das wunderbar zeitlose Kinderbuch „Die kleine Raupe Nimmersatt“. Ich träumte davon, später auch mal Zeichnungen und Fotos zu reproduzieren – für mein Buch.
Die vor mir liegenden Lehrjahre erscheinen unendlich lang und hart, denn damals wurde ein Lehrling “Stift” genannt, mit dem man alles anstiften konnte. Meine zwei Ausbilder waren zwar stets bemüht dem einzigen Lehrling möglichst viel beizubringen, aber ich war auch immer ihren Launen und derben Späßen ausgesetzt. Einmal beauftragen sie mich die weißen Laborkittel in ein violettes Bad zu legen und sie unterzutauchen, damit die braunen Entwicklerflecken verschwinden. Danach waren meine Hände violett gefärbt.
Als ich die Farbe mit Wasser abwaschen wollte, ging zu meinem Entsetzen nichts davon ab. Dafür erntete ich schadenfrohes Gelächter und meine Ausbilder meinten dass dies nun so bis zum Ende der Lehre bleiben würde. Immer wieder versuchte ich meine Hände mit Seife zu säubern, aber die Farbe löste sich nicht auf. Dann rieten sie mir, die Hände in ein grellgelbes Bad zu tauchen, damit die Farbe verschwindet. Ich wurde skeptisch, nun würde ich gelbe Hände bekommen dachte ich, machte aber was mir geraten wurde. Wie von Geisterhand verschwand das Violett, meine Hände waren blitzsauber. Ich hatte keine Ahnung wie die Chemikalien hießen, aber die Wirkung blieb mir in ewiger Erinnerung. Wahrscheinlich diente das Zeug zum entwickeln von Druckplatten. Nachdem meine Hände sauber waren, musste ich alle Laborkittel meiner Kollegen in gelbe Farbe tauchen. Sämtliche Entwicklerflecken verschwanden, die Kittel strahlten so weiß wie neu.
Meine erste eigene Kamera wog doppelt so viel wie die Agfa Silette meines Vaters, aber sie machte auch zweimal mehr her. Die Exakta mit Aufsichtssucher kaufte ich Eckhard ab. Doch die unhandliche Kamera mit dem irritierenden Aufsichtssucher nervte mich bald, Eindruck schinden war mir zu mühsam. Ich wünschte mir lieber eine coole Spiegelreflexkamera wie Arnulf sie besaß. Und ich schwärmte von einem Teleobjektiv, das die Motive so schön nah ran holen konnte. Von meinem mickrigen Lehrlingsgehalt konnte ich aber nur davon träumen. Es langte gerade, um Eckhard seine noch schwerere, zweiäugige 6x6 Rolleiflex abzukaufen. Dieser Kameraklotz war wegen seiner Parallaxenverschiebung sehr umständlich zu handhaben. Der Bildausschnitt im Aufsichtssucher entsprach nicht dem tatsächlichen Bildausschnitt der Aufnahme was ich als äußerst nachteilig empfand. Schon bald kaufte ich mir von den Ersparnissen meines Lehrlingsgeldes eine gebrauchte Spiegelreflexkamera, die handliche Ashai Pentax ES II mit Schraubgewinde. Zu dieser Zeit war ich vom Fotografieren noch weit entfernt, ich knipste. Der Horizont hing schief, Füße, Hände und Finger wurden angeschnitten, den Portraits fehlte Augenglanz oder den Menschen wuchsen im Hintergrund Papierkörbe und Lichtmasten aus den Köpfen. Mein jugendliches Fotointeresse beschränkte sich darauf Erinnerungen festzuhalten. Aber das sollte sich bald ändern. Aus dem Mädchen das knipste, wurde eine Frau die fotografierte!
Die Welt begeisterte sich 1969 für die Mondlandung der Apollo 11 Mission und Neil Armstrongs Schritte auf dem Mond. Doch mich faszinierte wo Arnulf gelandet war und welche Schritte er machte. Seine Fotos sahen schon verdammt künstlerisch aus. Da wollte ich auch landen! Mit Arnulf verbindet mich die längste Beziehung meines Lebens, mein großer Bruder beschützte mich sogar vor Eckhard. Arnulf brachte mir das Laufen bei, er begeisterte mich für die Fotografie, fürs Reisen und fürs Schreiben. Er war mein Vorbild, ihn liebte ich seit meinen ersten Schritten. Als Erwachsene hatten wir einmal ernsthaft Streit. Worum es dabei ging haben wir beide vergessen, nie waren wir nachtragend miteinander. Als Arnulf dann noch mit seiner Frau Ilse nach hause kam, machte er mein Glück perfekt. Mit Ilse bekam ich die große Schwester die ich mir immer wünschte.
Meiner ersten großen Liebe begegnete ich in der Kantine vom Stalling-Verlag. Lutz machte dort eine Ausbildung als Drucker. Der 21-jährige war für mich schon ein erfahrener Mann. Er spielte als Schlagzeuger in der Band Four percent, einmal sogar als Vorgruppe von Drafi Deutscher. Lutz trug gerne lässige Wildlederjacken, Hosen mit Aufschlag und er hatte eine Vorliebe für Rollkragenpullover. Mir gefiel der große Blonde mit dem schlaksigen Gang. Ich liebte sein kullerndes Lachen und verguckte mich in seine graugrünen Augen. Nur seine Beine waren mir etwas zu dünn. Lutz war ein zielstrebiger Typ, er plante nach seiner Lehre auf der Druckereifachschule seinen Ingenieur zu machen. Manchmal träumten wir beide davon, irgendwo gemeinsam zu studieren und zusammen zu wohnen. Von ihm bekam ich meinen ersten Heiratsantrag und Lutz animierte mich zu spannenden Fotoexperimenten. Verliebt wie ich war musste er ständig als Modell herhalten. Auch in der Dunkelkammer wurde ich experimentierfreudiger und tüftelte am Effekt der Solarisation. Während der Entwicklungsphase knipste ich für ein paar Sekunden das Deckenlicht an. Daraus kristallisiert sich ein Bild mit negativen und positiven Komponenten heraus. Doch bis endlich ein akzeptables Ergebnis dabei heraus kam, produzierte ich viel Entwicklungspapier für die Tonne. Das Endresultat konnte sich sehen lassen - natürlich war es ein Portrait von Lutz. Beide waren wir ein glückliches junges Liebespaar, bis der regelmäßige Wochenendsex mich unglücklich machte. Ich nahm die Pille, geriet aus den Fugen und meine Libido blieb auf der Strecke. Zudem fehlte mir die Fantasie im Bett, alles verlief nach dem gleichen, vorhersehbaren Muster. Wie konnten wir beide ahnen, dass die in den 60er-Jahren eingeführte Pille der Lustkiller war? Liebe ohne Spaß am Sex fand ich nicht lustig! Ich stellte meine erste Beziehung in Frage, Lutz wird noch nicht der Richtige sein. Nach drei Jahren trennten wir uns und blieben lebenslang befreundet. Jahrzehnte später habe ich von seinem Freitod erfahren.
Bei der Fotografen-Gesellenprüfung hatte ich einen Blackout. Für meine Note in Mathe sah sie schwarz. Doch zum Schluss sah es dann doch rosiger aus als ich dachte. Mit einem Gesellenbrief in der Tasche wollte ich dem kleinbürgerlichen Oldenburg so schnell wie möglich den Rücken kehren. Das behagliche Adlernest wurde mir zu eng, ich war flügge für meinen Freiflug. Richtung Süden schwebte mir vor.
Über Bekannte meines Vaters kam ich nach Heidelberg. Bei Fotowerbung Rockland trat ich eine Stelle als Fotografin an. Mit einem vollgepackten, mausgrauen VW-Käfer fuhr ich zuhause los. Meine Mutter stand weinend auf der Straße und winkte ihrem ausfliegenden Adlerkind lange hinterher. Schon zwei Tage später habe ich mein Herz in Heidelberg verloren. Als ich spielende Kinder fotografierte stolperte Roger über mich. Sein sympathisches Lachen und seine Ausstrahlung ließen mein Herz sofort höher schlagen. Auf sein intellektuelles Aussehen fuhr ich voll ab, Cordjacke, halblange, braungelockte Haare, Schnauzbart, modische Brille und dieses Lachen mit den Grübchen! Ich schmolz dahin, mein Herz machte einen Schnellstart. Gleich am ersten Tag versackten wir beide im Weinloch, eine Studentenkneipe par exellence. Später zeigte mir Roger das Heidelberger Schloss, die Pizzeria Pop, den Jazzkeller Cave und vieles mehr. Mit Roger machte ich meine ersten Nächte durch, lernte seine Freunde kennen und auch seine intellektuelle Mutter, eine Anwältin. Ich bewunderte die selbstbewusste, allein erziehende Frau, die so ganz anders lebte, als ich es von meiner Familie kannte. Sie war mit dem Fotografen Harlan Feltus befreundet, dem Vater von Barbara Becker. Die ersten drei Monate glichen einem Rausch an neuen Eindrücken und anderen Lebensarten. Wegen meiner schmalen Taille und dem weiblichen Becken nannte Roger mich Geige – ich ließ es zu. Leider konnte er seiner Geige keine wohligen Töne entlocken und schon bald kamen die Noten unseres Liebesliedes abhanden. Wir lösten unser Duett auf.
Meine Arbeit im Rockland-Studio gefiel mir von Tag zu Tag weniger. Ich stand häufiger in der Dunkelkammer, als im Fotostudio hinter der Kamera. Auch meine zwei Kolleginnen litten zunehmend unter den Profilneurosen unseres kleingewachsenen Studio-Chefs. Er gängelte seine Mitarbeiterinnen wo er nur konnte. Weil meine Kollegin ihm freche Antworten gab, schmiss er sie raus. Als ich mich einmischte flog ich ebenfalls. Gerne wollte ich in Heidelberg bleiben oder in das ähnlich mittelalterliche Freiburg ziehen, doch adäquaten Stellen für Fotografen gab es dort nicht.
So landete ich in der schwäbischen Kleinstadt Esslingen. Heidenei!
Marokko und 120 Kamele
Im Bechtle Verlag bekam ich eine Anstellung als Studiofotografin. Dort arbeitete ich mit Kollegen Nestle, Häberle und Bauchle und wohnte zur Untermiete bei Witwe Buschle im Ländleweg. Die umsichtige Frau lief am liebsten in Gummistiefeln herum und führte in ihrem Haus das Regiment. Ständig lag Frau Buschle auf der Lauer, überprüfte meine Kehrwoche und mahnte mich regelmäßig “um Goddes Wille ned zu viel Wasser zu verbrauche!” Die Umsichtige kontrollierte sogar wenn meine Besucher zur Toilette gingen. Dann klopfte sie laut an die Tür.
“Ihr Sausäckl, jetzt hen ihr drei Mol gschpült”, kreischte sie aufgeregt, “da langt doch au nur oimol!”
Schon bald ging mir diese Spießigkeit aufs Weckerle - die Kehrwoche, das Spare-spare-Denken und das Überkorrekte. Ich kündigte mein Zimmer und suchte mir eine andere Bleibe. Ein holzgetäfeltes Zimmer unter dem Dach, mit separatem Eingang und eigenem Kühlschrank. Aber auch hier herrschte schwäbische Disziplin, Geiz und Schaffe-schaffe-Mentalität. Der Hausherr pflegte seinen Garten so lange, bis er alles penibel gestutzt hatte. Wehe es schlug etwas aus, dann pirschte Herr Enderle mit der Schere durch den Garten und schnippte gnadenlos zu. Ich nannte ihn ihn heimlich den Stutzer. Nur der Wein aus dem Remstal fand meinen uneingeschränkten Zuspruch.
Mit meinen Kollegen Bernd und Dieter entwickelte sich bald eine kumpelhafte Freundschaft, sie waren die coolsten Typen vom Verlag. Wir drei besaßen einen ähnlich schrägen Humor und hatten schließlich die gleiche Idee. Wir planten gemeinsam eine Auto-Tour durch Marokko - eine ungewöhnliche Reise sollte es werden. Bernd besaß einen rot-weißen VW-Bus aus den 60er-Jahren, mit Schiebedach und geteilter Frontscheibe. Jedes Wochenende beschäftigten wir uns damit das gute Stück auf Vordermann zu bringen. Bernd und Dieter kümmerten sich um das Technische, ich konzentrierte mich auf das optische Erscheinungsbild, pinselte und nähte Blümchengardinen für unseren Hippiebus.
Im Sommer musste der Bechtle-Verlag mit drei Mitarbeitern weniger auskommen – wir kündigten. Im Juni startete unsere viermonatige Reise mit dem Ziel Marokko. Über Frankreich und Spanien ging es nach Portugal. An der Algave glaubten wir das Paradies gefunden zu haben. Nicht weit vom Fischerdörfchen Albufeira standen wir zwei Wochen wild campend am Meer. Bernd und Dieter schliefen im VW-Bus, ich in einem Hauszelt. Dann kam etwas womit ich nicht rechnete und auch nicht damit rechnen wollte, was in diesem Fall nichts mit Mathematik zu tun hatte. Bernd gestand mir am Strand der wunderschönen Algave seine Liebe und Dieter wurde eifersüchtig. Worauf nur, fragte ich mich? Drei schien eine schlechte Konstellation, das wurde mir schon in der Geschichtsstunde durch die Eselsbrücke „drei, drei, drei, Issos Keilerei“ eingebläut. Es schien etwas Wahres dran zu sein, obwohl die Keilerei ausbleibt. Bernds Liebesgeständnis erfreute mich keineswegs, ich dachte meine Gefühlsneutralität beruhte auf Gegenseitigkeit. Doch das Problem löste sich schliesslich von selbst. Bald kreuzte ein deutsches Ehepaar auf und würfelte unseren unflotten Dreier gehörig durcheinander. Dana und Frieder wurden Zeltnachbarn. Nach diversen fröhlichen wie feuchten Nächten fand Dana Gefallen an Dieter, sie wollte sich von Frieder trennen. Dieter entfachte die Flamme ihrer Lust so stark, dass sie mit uns dreien weiterreisen wollte. Wir einigten uns sofort - im Morgengrauen machte sich unser Trio aus dem Staub, ohne Da Da Dana. In Algeciras setzten wir Flüchtigen mit der Fähre nach Ceuta über, der spanischen Enklave an Marokkos Küste. Doch dort verweigerte ein engstirniger Grenzbeamter dem langhaarigen Bernd die Einreise nach Marokko.
“Wir wollen hier keine Hippies”, lautete seine schroffe Begründung.
Um einreisen zu können, musste Bernd seine Haare opfern, was bei ihm einer Kastration gleichkam. Bernd litt, er wollte schnurstracks umkehren. Beschwichtigend redete Dieter auf ihn ein, ich griff zur Schere.
“Drecksbande“, jammerte Bernd, „als ob es nichts Wichtigeres gibt, schaut doch, wie verhunzt ich jetzt aussehe!”
Etwas beleidigt war ich schon, schließlich gab ich mein Bestes - mit der Schere meines Schweizer Taschenmessers. Die ersten hundert Kilometer in Marokko zogen eindruckslos an Bernd vorbei. Er sah nur in den Spiegel und zupfte missgelaunt an seinen Haarstoppeln herum.
“Jetzt freu dich doch, dass die Wolle endlich ab ist bei dieser Hitze!” motzte Dieter ihn an. Am Abend beruhigte sich Bernd. Er wusste dass er mit dem Thema Haare bei uns beiden keinen Schnitt mehr machen konnte.
Am Wüstenrand von Merzouga versuchte ein Kameltreiber mit meinen Reisepartnern ins Geschäft zu kommen und offerierte sein Angebot.
“120 Kamele für diese Frau!”
Diese Frau war ich!
„Eine Frechheit, 120 Kamele!“, echauffierte ich mich. „Wie viele Kamele ist wohl ein Mann wert, kann man auch einen Kerl kaufen?“
Auf mich wirkten die Landessitten, als sei die Zeit 1000 Jahre stehen geblieben. Immerhin war Marokko landschaftlich ein Traum. Manche Bilder blieben mir unvergesslich als biblische Szenen in Erinnerung.
Die erotischen Gelüste unseres fahrenden Dreigespanns liefen nach den amourösen Portugal-Eskapaden auf Sparflamme. Das Gefühlskarussell leierte lustlos seine Runden. Bernds Gedanken rotierten um die technischen Probleme seines Bullys, durch Dieters Kopf ondulierte sich Danas lockende Lust und meine Welt drehte sich nüchtern um den Umzug nach München. Jeder kurbelte seinen eigenen Film im Kopf.
Von dieser Reise brachte ich typische Urlaubsbilder mit nach hause. Ich wollte alles festhalten, um möglichst viel zu zeigen. Es waren eingefrorene Erinnerungen, der künstlerische Aspekt blieb außen vor. Spanien-Portugal-Marokko im Knipsmodus. Zu weit weg, viel zu viel drauf, zu lange Belichtungszeiten, verwackelte Bilder und immer wieder ein schiefer Horizont. Ich sah, aber ich sah nicht wirklich hin. Bildgestalterisch steckte ich noch in den Kinderschuhen. Doch schon bald sollte ich ihnen entwachsen.
München und die Gabelsberger Gang
Dieter sah ich nach unserer Marokkoreise nie wieder. Mit Bernd pflegte ich eine jahrzehntelange Freundschaft. Wir beide zogen nach München, wohnten im selben Haus und hatten gemeinsame Freunde. Die Weltstadt mit Herz, wie die Münchner gerne sagten, wurde mein neuer Lebensmittelpunkt. Hartnäckig blieb ich bei meinem Berufswunsch Grafikdesign zu studieren. Mein praktisches Jahr lag hinter mir, als ich von der U5 hörte. Dieser Grafikschule in München eilte ein ausgezeichneter Ruf voraus, doch die Privatschule kostete viel Geld. Ich bettelte meinen Vater an, mir diese monatlichen Studiengebühren von 500 DM zu bezahlen. Ich argumentierte, dass ich als Fotografin jeden Monat dazu verdienen könnte, um mich selbst zu versorgen und die Miete zu bezahlen. Das zog, mein Vater willigte ein, übernahm die Studiengebühren und legte noch 100 DM obendrauf. Damit legte er die Beamtin in mir endgültig ad acta. Nach der bestandenen Aufnahmeprüfung und einem Probesemester gehörte ich endlich zu den Grafik-Studenten! Durch meinen Nebenjob kaufte ich mir die lang ersehnte Kamera – eine Ashai Pentax Spotmatic II - die mit dem schnelleren Bajonett-Verschluss. Und sie war handlich klein, die ideale Reisekamera!
Zum Semesterbeginn bezog ich die erste eigene Wohnung in Schwabing - dort wo in den 70er-Jahren die Post abging. Die Möbel schreinerte ich mir selbst, hauptsächlich weiße Kastenelemente, die sowohl als Regale, als auch als Sitzflächen dienten. Meine 2-Zimmerwohnung im Hinterhof gestaltete sich mit dem großen Berberteppich aus Marokko zu einer topchicen Studentenbehausung. In dem uralten Haus der Gabelsbergerstraße lagen die Toiletten noch auf dem Zwischenstockwerk und mussten mit einem Nachbarn geteilt werden. Den gusseisernen Schüsseln haftete der Gestank öffentlicher Latrinen an, der sich oft bis ins Treppenhaus flüchtete. Die ausgelatschten Holzstiegen knarrten und das Treppengeländer wackelte wie die Zähne eines Erstklässlers. Der Putz im Treppenhaus blättert von den Wänden wie Mandelplättchen vom Mürbeteig. Manchmal lag ein Stück vom Deckenputz auf den Stufen so dass die Strohdecken durchschimmerten. Das Haus war ungepflegt und baufällig. Wenn auf unseren Partys wild getanzt wurde, dann schwang der Boden wie auf einem Trampolin. Ein Wunder dass die Hütte dabei stehen blieb. Alle Mängel nahmen wir gerne in Kauf, denn die Mieten waren spottbillig, nur das zählte. Als Studenten liebten wir dieses Haus, wir konnten tun und lassen was wir wollten. Bernd fand eine neue Liebe. Er bewohnte mit seiner türkischen Freundin Aynur das Dachgeschoß. Amüsiert fragte ich sie:
„Wie kommst du als Türkin zu dem Namen 1-Uhr?“
Im ganzen Haus gab es Wohngemeinschaften, manche teilten sich zu dritt eine 3-Zimmer-Wohnung. Ich lebte im flachen Hinterhaus über einer Garage - Tür an Tür mit der schrulligen Frau Bauer und ihrem Papagei Ari, der immer Arschloch rief, wenn jemand sie besuchte. In meiner 2-Zimmerwohnung fühlte ich mich wie die Queen. Doch am Monatsende fehlte meinem Königinnenhaushalt oft das Geld. Dann stieg ich von meinem Thron und sammelte Pfandflaschen – natürlich nur die mit dem Kronkorken. Das uralte Vorderhaus wurde zu unserem eigenen Kosmos. Uns gehörte die Welt, wir lebten nicht weit vom Englischen Garten, unserem zweiten Wohnzimmer!
Mein Grafiksemester bestand aus einer bunt gemischten Gruppe Studenten. Bald bildeten sich Cliquen, Freundschaften und Beziehungen. Wolfgang zog alle in seinen Bann und so schnappte er sich das hübscheste und reichste Mädchen. Ein Schönling war etwas anderes, er hatte eine hässliche Knollnase und ein birnenförmiges, rot vernarbtes Gesicht. Doch Wolfgang trumpfte mit einem sympathischen Lachen, makellos weißen Zähnen und einer wunderbaren Seele, die Jungs und Mädels gleichsam berührte. Alle lagen ihm zu seinen extrem großen Füßen. Der versoffene Lebemann schmiss oft Runden oder lud uns zum Essen ein. Wolfgang konnte sich das leisten, er ließ schon ein Leben hinter sich, mit Kindern, Scheidung und einer eigenen Band. Er war mit Abstand der Älteste in unserem Semester und hatte sich als Sänger sogar einen Namen gemacht. Er gab uns mal Kostproben seiner sonoren Schmusestimme. Wir schmolzen dahin.
Eines Abends rief mich Wolfgang an. Es war schon sehr spät, er fragte ob ich um diese Zeit noch mit ihm ausgehen würde, in einen Jazzclub. Diese Musik gehörte zwar nicht so in meine Tonwelt, aber wer konnte Wolfgang schon etwas abschlagen? Weit nach Mitternacht holte er mich mit dem Mercedes-Cabrio seiner Freundin ab. Er hatte getrunken, es lagen grenzwertige Promille in der Luft. Beim Losfahren knallte er im Rückwärtsgang gegen ein Verkehrsschild.
“Du wirst dich wundern, mit wem ich heute Abend singe, lasse dich überraschen”, freute er sich.
Wolfgang entführte mich in einen mir bis dahin unbekannten Jazzclub, „Das kleine Rondell“ ist ein Geheimtipp sagte er. Vor der winzigen Bühne wies er mir einen Tischplatz zu, stellte mir eine Flasche Schampus vor die Nase und verschwand. Ich wurde nervös, ich fühlte mich als arme Studentin im Kreise eines ausgewählten Münchner Schickeria Publikums etwas deplatziert. Dann ging der rote Vorhang auf und mir stockte der Atem, am Klavier saß Ray Charles! Das Publikum jubelte vor Begeisterung und mir schoss vor Aufregung oder vom Alkohol eine prickelnde Röte ins Gesicht. Gleich darauf erschien Wolfgang und stellte den Meister und sich vor. Dann sangen sie gemeinsam. Die beiden gingen mir wirklich unter die Haut, jeder Ton war eine subkutane Injektion. Diese Stimme! Nein nicht die von Ray Charles, die von Wolfgang! Das glaubt mir kein Mensch, dachte ich. Wolfgang zwinkerte mir zu und ich platzte vor Stolz ihn zu kennen.
Viele Jahre später lief Wolfgang mir zufällig in Schwabing über den Weg. Er sah nicht glücklich aus. Die schwarzen Haare fielen ihm strähnig auf die Schultern und sein Gesicht ähnelte der Farbe eines gekochten Hummers. Die Beziehung mit Lady-Cabrio hatte er an die Wand gefahren, sein Lachen war auf der Strecke geblieben und der Alkohol schien sein bester Freund zu sein. Wir verbrachten den Abend in einer verrauchten Kneipe, in der wir bis zum Morgengrauen an einem dicken Kopf arbeiteten. Anschließend gingen wir gemeinsam frühstücken, bevor sich unsere Wege wieder trennten. Viele Freunde und auch ich haben ihn als Philantrop bezeichnet, einen Menschenfreund. Ich habe Wolfgang nie wieder gesehen.
Arnulf besaß alles was gerade angesagt war - einen knallorangen BMW, eine moderne Wohnungseinrichtung, eine Beaulieu-Filmkamera und zwei Ashai Pentax-Kameras mit sehr vielen Objektiven. Kameras machen Leute! Vor allem aber machte Arnulf supertolle Fotos. Er war mittlerweile verheiratet und lebte mit Ilse in Bremen. Wir sahen uns nur alle paar Wochen, wenn sie gemeinsam nach hause kamen. Die temperamentvolle, schwarzhaarige Ilse eroberte die Herzen der Familie Adler im Sturm. Sie glaubten eine zweite Tochter gefunden zu haben und ich liebte Ilse von der ersten Sekunde an. An Weihnachten öffnete Arnulf im familiären Kreis sein großes Überraschungspaket.
„Ilse und ich machen eine Weltreise im VW-Bus, so für 1-2 Jahre!“
Meine Ohren begannen zu glühen und meine Augen zu leuchten. Was für ein Vorhaben, ein Abenteuer, ein Traum. Sofort entspann sich mein Wunsch mit dabei zu sein, mit jedem Satz stieg das Reisefieber. Als Studentin konnte ich mir die Globetrotterin abschminken, aber träumen durfte ich ja. Dafür benötigte ich nur einen Reisepass. Den besorgte ich mir schon mal, rein prophylaktisch versteht sich. Arnulf und Ilse zogen von Bremen nach Stuttgart. Das hatte den Vorteil, dass ich meinen Mut nicht mehr so weit zusammen nehmen musste. Mit erhobenem Daumen stellte ich mich mutig an die Autobahn und trampte von München nach Stuttgart. Schnell hielt ein Opel-Fahrer an. Sein braves Aussehen, der korrekte Scheitel, die spießige Kleidung und die biedere Brille ließen mich beruhigt einsteigen. Jeder Popel fährt Opel dachte ich belustigt. Der Unscheinbare Schwabe stellte sich als Egon vor und legte mir bereits nach fünf Minuten die feuchte Hand aufs Knie.
“Do hesch abere a Glick, dass I au uff Stuargart fahr!”
Zu meiner Verwunderung nahm er die nächste Abfahrt von der Autobahn. Führten alle Wege nach Stuttgart?
“I muß no gschwind was abhole, sorge brausch di net!”
Doch ich sorgte mich, denn Egon bog in den nächsten Feldweg ab, der geradewegs in einen Wald führte. Erneut ruhte seine Hand auf meinem Knie. Ich assoziierte ein Dampfbügeleisen.
“Des wilsch doch au, des spühr i doch”, hauchte er in meine Richtung.
Egon ruckelte nervös an seiner Brille und betätigte versehentlich die Scheibenwaschanlage. Mein Herz schlug bis zum Hals, ich suchte nach einer diplomatischen Antwort.
“Egon”, begann ich meinen Satz sehr bedacht, „du bist doch ein netter Kerl und du siehst gut aus,… ich bin sicher, du kannst viele Frauen haben, die das bestimmt mit dir wollen…, aber sei mir bitte nicht böse, wenn ich nicht mit dir…”
Eine innere Stimme mahnte mich ruhig zu bleiben. Blitzschnell zog Egon seine Hand zurück und trat auf die Bremse.
“Bidde, denn äbbe net, wenn de net willsch,…aber dann bring i di gschwind zurück, i hen nemlich no andres zum do”, sagte Egon beleidigt.
Er wendete zackig und tat so, als hätte ich gerade die Nummer meines Lebens verpasst. Ich konnte mein Glück kaum fassen, sah ich mich doch noch vor Sekunden geschändet und tot in einem Waldstück liegen - auf einem Polizeifoto. Tatsächlich hielt Egon sein Wort, er setzte mich exakt dort ab, wo er mich aufgelesen hatte, an der Autobahnausfahrt München. Ich schätzte seine schwäbische Korrektheit. Nun traute ich mich nicht den Daumen erneut zu heben. Aber was sollte ich machen, wie kam ich sonst von der Autobahn weiter? Meine Knie zitterten, als ein schwarzhaariger, unrasierter Mann anhielt. Er kurbelte die Scheibe herunter und fragte wo ich hin möchte. Da gingen mir die Nerven durch.
„Ich bin gerade einem Vergewaltiger entkommen“, heulte ich ihm entgegen. Der Unrasierte stieg aus.
“Sieh misch an! Sehe isch aus als ob isch dir etwas tun will? Du musst keine Angst haben, isch verschpresche dir, dieser Mann hier, Mesut“, dabei zeigte auf sich, „wird dir nischts tun, isch bin Türke, isch halte immer was isch verschpresche Mann”, beruhigte er mich.
Mesut brachte mich in Stuttgart bis vor die Haustür meines Bruders. Dort konnte ich endlich meine Frage über eine mögliche Mitreise loswerden. Arnulf und Ilse sahen sich verwundert an. In ihren Köpfen hörte ich es förmlich knacken, ich hoffte zu meinen Gunsten. Im Gegenzug dachte ich mit Grauen an meine Rückreise. Die Überlegungszeit der beiden wurde zur längsten Sekunde meines Lebens. Nach gefühlter Ewigkeit ging plötzlich ein Strahlen über ihre Gesichter. Ilse stand auf und umarmt mich.
“Wir freuen uns auf eine gemeinsame Reise mit dir!”
Schon lange vorher hatte ich mir Gedanken gemacht, wie sich diese Reise in puncto Studium und Geld vereinbaren ließe. Ich musste nebenbei mehr arbeiten, 600 DM sollten reichen. Damit konnte ich das fünfte Semester aussetzen und die Indienreise finanzieren. Von dort aus wollte ich dann wieder heimzufliegen. Seit meiner Kindheit war Indien das Land meiner Träume. Vielleicht lag es an Filmen wie, Das Dschungelbuch, oder Der Tiger von Eschnapur? Bis in die Nacht reisten unsere Finger über Landkarten, planten unsere Köpfe Reisehighlights und zeichneten mit Farbmarkern den Tourenverlauf. Ungefähr 6.000 Fahrkilometer bis zur indischen Grenze lagen vor uns. INDIEN, ich konnte es kaum glauben! Arnulf und Ilse planten danach auch noch Afrika zu bereisen.
Im Laufe des Abends beichtete ich den beiden meine Autostopp-Erfahrungen mit Egon und Mesut. Das veranlasste Ilse mir ein Rückfahrticket mit der Bahn zu spendieren. Reisen per Autostopp verging mir endgültig, schade eigentlich, es war verdammt preiswert.
An der U5 belegte ich auch das Lehrfach Fotografie. Die Dunkelkammertechnik beherrschte ich bereits perfekt, aber fotografisch war ich bisher nur mit der Studiofotografie vertraut. Kenntnisse über kreatives Fotografieren musste ich mir erst aneignen. Das begann in der Analogfotografie mit dem manuellen Modus M, die Vollautomatik war tabu. Nun lernte ich meine Bilder zu manipulieren und so zu belichten, wie ich es wollte. Im Modus M konnte ich meinen Aufnahmen eine Individualnote verpassen. Nach und nach begriff ich, wie und warum gute Bilder entstehen. Bisher knipste ich auf niedrighohem Niveau, jetzt experimentierte ich mit Perspektiven, Zeit und Blende. Das sind die wichtigsten Zutaten der Bildgestaltung und das beste Rezept für gute Aufnahmen. Aber vor allem machte ich mir zur Gewohnheit nur dann auf den Auslöser zu drücken, wenn ein Motiv mich dazu aufforderte - das ersparte mir zudem Filmmaterial. Ich lernte nicht nur viel über die Fotografie, ich las auch eine Menge darüber. Endlich begriff ich die Zusammenhänge von Technik und Kreativität.
Indienreise – los geht`s
Der Sommer ging zu ende und die große Abenteuerreise begann. In mir jubilierte ein unbeschreibliches Glücksgefühl, ich erfüllte mir meinen Traum. Arnulf wurde von unseren Eltern die Verantwortung für mich aufgebürdet, aber was sollte uns denn schon passieren? Seit Kindesbeinen an war Arnulf mein großer Beschützer!
Nach Istanbul bewegte ich meine ersten Schritte out of Europe – ich war in Asien! Die Gastfreundlichkeit der Türken überraschte uns, gab es doch viele Gründe die Deutschen nicht zu mögen. Ehemalige Gastarbeiter sprachen Arnulf auf seinen VW-Bus an und oft wurden wir eingeladen.
“Volkswagen gut, isch vier Jahre Wolfsburg, Deutschland schön, gut.” Aber wir hören auch oft “Hitler gut, Deutschland gut!”
Überall auf dem Land brachte man uns aufrichtige Herzlichkeit entgegen. Doch dann, im Südosten Anatoliens schlug die Stimmung plötzlich in aggressive Feindseligkeit um.
Wir wurden mit Steinen beworfen und angeschrien. Dyabakir und der See Van Göli gehörten zu den Gegenden, die derzeit wenige mit dem Auto bereisten, mit einem Campingbus schon gar nicht. So etwas hatten die meisten noch nie gesehen. Uns Frauen riet man bereits in Istanbul, sich im östlichen Anatolien die Arme zu bedecken und auf keinen Fall in kurzen Hosen herum zu laufen. Arnulf hatte schon in Deutschland vom Zorn der Anatolier gehört und ließ sich vorausschauend ein Frontscheibengitter schmieden. Das machte es den Steinwerfern schwer. Auf dem Armaturenbrett lag eine silberne Luftpumpe. Arnulf hatte plötzlich den Einfall die Pumpe wie ein Gewehr anzulegen. Panik erfasste die jugendlichen Steinwerfer, sie warfen ihre Steine weg und rannten um ihr Leben. Doch diese angsteinflößende Maßnahme entsprach nicht Arnulfs pazifistischer Einstellung. Er musste sie aber auch nicht wieder anwenden.
Bald darauf überquerten wir die Grenze nach Persien, dem heutigen Iran. Ab Teheran gabt es dann nichts mehr zu lachen - zumindest für Ilse und mich. Frauen - dieses Geschlecht schien sich plötzlich in Luft aufgelöst zu haben, die Welt bestand hier nur aus Männern. Ilse und ich wurden übersehen, so als wären wir nicht vorhanden. Arnulf reiste mit zwei Frauen, diesen “Besitz” wusste man dort zu schätzen. Dem blauäugigen Blonden wurde der Stuhl zurückgezogen, ihm hielt man die Tür auf, ihm gab man Feuer, er wurde als Mann hofiert.
Auf der Toilette einer Tankstelle wurde ich von dem Tankwart begrapscht, aber Gott sei Dank mit so wenig Nachdruck, dass ich mich losreißen konnte. Als ich Arnulf die Begebenheit erzählte, stürmte er das Kassenhäuschen. Fluchtartig suchte der Triebgesteuerte durchs Hintertürchen das Weite und ließ sich nicht mehr blicken. Schamlos nutzten wir die Gelegenheit um unseren Bully kostenfrei aufzutanken. Die negative Gastfreundschaft Persiens veranlasste mich nur ein einziges Foto zu machen. Der Blick des fotografierten Mannes (S. 33) drückt deutlich aus, was ich als reisende Frau zu spüren bekam – Missachtung. Aus meiner Sicht war der Iran kein Wohlfühlland, jedenfalls nicht für mich als Frau. Shiraz, das Highlight des Landes ließen wir rechts liegen, weil wir noch vor dem ersten Schneefall den Khyberpass überqueren mussten. Mit dem Grenzübertritt nach Afghanistan wurde es dann noch frauenverachtender.
Durchs wilde Afghanistan
In den Hochlagen Afghanistans hatte bereits der Herbst Einzug gehalten. Erste Eindrücke vermittelten mir ein wildkarges, wunderschönes Land mit stolzen, zurückhaltenden Männern. Die wandelnden Zelte entpuppten sich erst bei näherer Betrachtung als Frauen. Durch die Burka, einem bis zu den Füßen reichenden Stoffsack, war nichts, aber auch gar nichts von einer Frau zu sehen, nicht einmal ihr Gesicht. Im Augenbereich befand sich eine Art Stoffgitter als Sichtfenster so dass sie ihre Umwelt nur eingeschränkt wahrnehmen konnten. Ein Wunder dass die Frauen es schafften lebend eine Straße zu überqueren. Ob man für sie gebremst hätte hielt ich für fraglich. Auch hier bestimmten Männer das Straßenbild und wenn eine Frau zu sehen war, dann war sie nicht zu sehen! In Afghanistans Hochland gab es keine Stadt die unter 900 m lag. Die teilweise sehr kühlen Temperaturen erleichterten Ilse und mir, dass wir uns landesgesittet kleideten - eingepackt. Kabul lag immerhin auf 1.800 m Höhe. In den Straßen wehte noch ein Hauch der alten Hippiezeit, als diese Route nach Indien oft befahren wurde. Hier erschienen uns die Menschen aufgeschlossener als in den kleineren Städten wie Herat, Kandahar oder im Hindukush.
Ilse notierte in einem Buch alle Ausgaben unserer Reise. Jede Woch teilten wir den Gesamtbetrag durch drei. Seit Persien kam es zwischen uns immer häufiger zu Streitereien. Wir gingen uns gegenseitig auf den Reisewecker, was wir auf den engen Lebensraum zurückführten. Seit Wochen schliefen wir zu dritt im Bully, ich oben im Hubdach. Es war zu gefährlich alleine in der Wildnis zu campen. Natürlich störte ich damit das Intimleben der beiden, was einige Frustrationen auslöste. Oft musste ich als Prellbock herhalten. Mich wiederum nervte Arnulfs Faulheit. Bully putzen, einkaufen und abwaschen schienen nicht sein Ding zu sein. Außer fahren machte er nichts. Er hatte sich gemütlich in seiner Pascharolle eingerichtet und in Herat eskalierte die Geschichte schließlich. Ilse schickte mich morgens zum einkaufen, um frisch gebackene Hefefladen vom Feuerofen zu holen. Arnulf versprach derweil den Bullys innen zu putzen. Solche Äußerungen machte er oft, vergaß sie aber meistens. Auch dieses Mal. Ilse übertrug den unverrichteten Job an mich, da platzte mir der Kragen und ein Wort ergab das andere. Ich mußte meinem Unmut Luft machen. Dann fielen beide über mich her, sie waren sich einig wie ein Paar sich nur einig sein kann. Ein unschönes Wort folgte dem anderen. Arnulf entzog sich der weiteren Diskussion und verschwand einfach. Wir Weiber zickten weiter. Dann flog bei mir der Deckel hoch, es platzte einfach heraus.
„Ich habe keinen Bock mehr, ich reise alleine weiter.“
Ilse schluckte. Eine bedrückende Stille machte sich breit, Ilse fing leise an zu weinen. Trennung, daran hätten wir im Traum nie gedacht, das stand so nicht auf unserem Plan. Wie sollte das auch gehen, alleine weiterreisen? Arnulf hatte schließlich die Verantwortung für mich, das musste er unseren Eltern versprechen. Am nächsten Tag schienen die Wogen geglättet, doch wir saßen immer noch im selben Boot. Mit guten Vorsätzen reisten wir gemeinsam weiter ins Bamiyan-Tal im Hindukush Gebirge.
Ralfs Bully konnten wir schon von Weitem sehen. Er parkte seinen VW-Bus in einer geschützten Biegung am Fluss und hängte gerade Wäsche auf. Er war mir auf Anhieb sympathisch und seinen Hund Sid schloss ich sofort ins Herz. Ralf freute sich über die deutschsprachigen Reisenden, doch er schien besorgt. Sid kränkelte weil er irgendwo etwas gefressen hatte. Jetzt quälten ihn ernsthafte Magenprobleme.
Der beginnende Herbst hatte die Bäume des 2.500 m hoch gelegene Bamiyan-Tals knallgelb gefärbt. In der kargen Berglandschaft leuchteten die bunten Farbkleckse wie Blumenblüten, die der Wind über das Land verteilte. Ein stahlblauer, wolkenloser Himmel bescherte eine atemberaubende Weitsicht.
Die in Felsnischen gemeißelten Buddha-Statuen waren der absolute Höhepunkt im Bamiyan-Tal. Die beiden Steinkolosse maßen eine Höhe von 53 und 35 Metern. Im Inneren der höheren Statue führte eine Felsentreppe bis zum Kopf hinauf. Hunderte von unebenen Stufen stieg ich hoch. Dort oben genoss ich einen überwältigenden Ausblick in das weitläufige Tal. Der kleine Fluss glitzert im Sonnenlicht und die zwei VW-Busse sahen aus wie trinkende Tiere am Wasserlauf. In der Luft lag ein herbes Aroma von Feuerrauch das sich mit dem frischen Wohlgeruch des Hochgebirges mischte. Nie werde ich diesen Ausblick in die Weite vergessen. Die friedliche Atmosphäre und die Stille dort oben vermittelten mir das glückselige Gefühl eine Weitgereiste zu sein. Wie konnte ich ahnen dass Taliban-Extremisten 2001 diese Buddha-Statuen in die Luft sprengten - ein Weltkulturerbe der UNESCO! Damit wurde der Frieden in diesem Tal für immer zerstört.
Jeder von uns hatte bereits von Band y Amir gehört. Die sechs verschieden farbigen, dicht beieinander liegenden Seen auf unterschiedlichen Höhen waren nicht weit vom Bamiyan-Tal entfernt. In den Bergen gab einen Punkt, von dem alle Seen gleichzeitig in ihren ungewöhnlichen Farben sichtbar wurden - in türkis, orange, grün, grau, blau und gelb. Dieses Naturschauspiel wollten wir uns nicht entgehen lassen, doch keine Straße führte dort oben hinauf. Nur mit Pferden war es möglich dorthin zu gelangen. Was tun? Niemand von uns konnte reiten!
“So schwer wird das schon nicht sein, lasst es uns doch wenigstens versuchen”, ermunterte uns Ralf.
Afghanen vom Stamm der Hazara besaßen Pferde die sie vermieteten. Das schiitische Volk lebte in einem überwiegend sunnitischen Land, was die Hazara schon immer zu Außenseitern abstempelte. Wegen ihrer asiatischen Gesichtszüge galten sie bei vielen Afghanen als minderwertig. Aus diesem Grund dienten sie dem sunnitischen Volk oft zum verrichten niederer Arbeiten, für die sich sonst keiner hergeben würde. Die Pferde der Hazara besaßen weder richtige Sättel noch anständiges Zaumzeug. So hingen wir wie Kartoffelsäcke auf den Rücken der gedungenen, struppigen Pferde. Die Hazara ritten voran ohne sich um ihre Ausflügler zu kümmern, sie lachen nur höhnisch über uns. Der steinige Pfad führte haarscharf an einer Felsklippe entlang, wo es geschätzte 50 Meter abwärts ging. Ich durfte gar nicht hinschauen. Mein mulmiges Gefühl verwandelte sich in nackte Angst, als Ilses Hengst sich an meiner Stute rieb, an der er sichtlich Interesse zeigte. Die Stute machte schnelle kleine Hüpfer und schlug mit den Hinterhufen aus. Auf ihrem schaukelnden Rücken blickte ich in eine tiefe Schlucht. Meine Schenkel pressten sich um den Pferdeleib, krampfhaft hielt ich die zerschlissenen Taue des Zaumzeugs in den Händen und versuchte das Pferd vom Abgrund zu bewegen. Ilses Hengst führte ähnliche Tänzchen auf. Arnulf rief laut nach den beiden Hazara, die unserem Schauspiel von Weiten amüsiert zusahen. Einer der beiden wieherte vor Lachen, seine Augen waren nur noch Schlitze. Sie fanden die ungeübten Reiteinlagen der Frauen zu komisch. Ralf hatte sein Pferd besser im Griff und war den beiden Hazara dicht auf den Fersen. Der Wind pfiff uns auf 3000 Metern Höhe schneidend kalt um die Ohren. Arnulf glaubte, sein Rufen nach Hilfe sei einfach überhört worden. Die Ignoranz der Hazara machte ihn wütend. „Fuck Afghanistan“, schrie er und ballte die Faust. Der Lachende rammte seinem Pferd die Stiefel in die Flanken und galoppierte auf Arnulf zu. Schlagartig wurde aus seinem Gesicht eine wutverzerrte Fratze. Er spuckte vor Arnulf auf den Boden.
„Fuck Afghanistan?! I kill you, I swear, you never will leave Afghanistan, you will be dead, I will find you everywhere, I kill you!“
An der Ernsthaftigkeit seiner Worte zweifelte niemand. Ehrlich gesagt wusste ich in diesem Augenblick nicht wovor ich mehr Angst haben sollte, um mein Leben, oder um das von Arnulf. Aufgebracht zerrte der Hazara am Zaumzeug meiner Stute und bewegte sie von der Felsklippe weg. Ilses Hengst folgte, wir waren erst einmal in Sicherheit. Wie ernst meinte der Hazara seine Drohung? Konnten wir ihm noch vertrauen? Die Freude am Ausflug war uns schlagartig vergangen und Ilse bat die zwei Hazara umzukehren. Der andere bemühte sich nun wenigstens um Ilses Hengst und hielt ihn von meiner Stute fern. So konnten wir im ruhigen Trab zurückreiten. Meine Kamera habe ich nur einmal ans Auge genommen. Den Rest hat mein fotografisches Gedächtnis festhalten können. Nach Sonnenuntergang wurde es schlagartig eiskalt. Ein Englisch sprechender Afghane kam an unseren Bus.
„Es wird sehr kalt heute Nacht, minus 20 Grad. Wir laden euch ein, wir haben Feuer gemacht, es ist warm. Es gibt auch eine Suppe!“
War das eine Falle? Wollten sie uns Fremde ausrauben oder Arnulf vielleicht ans Messer liefern? Wir waren angespannt und ratlos. Keiner von uns besaß eine Heizung im Bus. Ob unsere Schlafsäcke den 20 Minusgraden trotzen würden… ? Ein zweiter Afghane kam vorbei, Mohammed, ein Tourist-Guide. Er sprach sogar ein paar Brocken Deutsch und wiederholte das Angebot.
„Kommt in Hütte, ist warm für alle, ist zu kalt hier…, gibt lecker Suppe!“
Mohammed erschien uns Vertrauen erweckender, vielleicht weil er etwas Deutsch sprach. Die Dunkelheit brachte eine klirrende Kälte mit sich. Jeder nahm seinen Schlafsack und folgte Mohammed im Schein seiner Taschenlampe zur Hütte. In dem großen Raum vermischten sich Essensgerüche mit den Ausdünstungen wild lebender Kerle. Mohammed schaute in den Topf, er zuckte mit den Schultern. Die Suppe war alle. Sid musste die Nacht in einer winzigen Kammer schlafen. Mohammeds verächtlicher Blick verriet, dass er nur geduldet wurde. Der islamische Glaube verbietet mit unsauberen Kreaturen wie Hunden oder Schweinen unter einem Dach zu schlafen.
Der Hüttenraum war ein riesiges Matratzenlager. Dort lagen etwa zwanzig Männer, die teilweise schon laut schnarchten. Es roch wie in einer Pumafalle, Ilse verdrehte die Augen, sie und ich waren die einzigen Frauen. Mohammed wies uns am Rande des Matratzenlagers die Plätze zu. Ralf und Arnulf legen sich abgrenzend vor uns bevor Mohammed das Licht ausmachte. Es wurde stockfinster und über unseren Köpfen staute sich eine stickige Wärme die das Atmen schwer machte. Mitten in der Nacht weckte mich Ilses erschrockener Ausruf.
„Igitt, mir ist da was über mein Gesicht gelaufen“
„Was denn, ein Tier?“ fragte Arnulf. Es folgte eine längere Pause.
„Irgendwas Komisches, es fühlte sich an wie…, wie ein Stück Schlauch!“ Aus der Dunkelheit gluckste Ralfs Lachen.
„Wie ein Stück Schlauch, hihihi!“
Auch Arnulf fing an zu lachen, dann ich. Das Lachen wirkte ansteckend, nach und nach gab es immer mehr Mitlacher, bis schließlich das ganze vermiefte Matratzenlager lachte. Bald ebbte die Heiterkeit in ein vereinzeltes Kichern ab und verstummte schließlich ganz. Am nächsten Morgen kratzten wir uns alle. Waren das etwa Flöhe?
Wie Gebetsfahnen flatterten unsere Schlafsäcke an der Leine zwischen Baum und Bully im Wind. Es kostete viel Überwindung im eiskalten Flusswasser ein Bad zu nehmen doch es half. Durch Wind und Kälte wurden wir die lästigen Tierchen mittags schon wieder los. Doch weiterhin verbreitete die Drohung des Pferde-Hazara unterschwellige Angst. Wir beschlossen das wilde Bamiyan-Tal zu verlassen und Richtung Kyberpass zu fahren, über die pakistanische Grenze. Auch Ralf brach mit uns auf, Indien und Nepal waren ebenfalls seine Ziele. An der pakistanischen Grenze trennen sich dann unsere Wege. Ralf wollte in den Norden Pakistans, nach Gilgit. Wir verabredeten uns 6 Wochen später, um gemeinsam in Nepal Weihnachten zu feiern. Als Treffpunkt vereinbarten wir den Campground im Zentrum von Kathmandu.
Die Grenzformalitäten nach Pakistan brachten mich beinahe um. Irgendwo hatte ich mir etwas eingefangen. Nicht mal der bunte Stempel im Reisepass konnte mich erfreuen, mir war speiübel. Oft musste ich mich übergeben und bekam gleichzeitig Durchfall. Nirgendwo gab es ein menschenwürdiges Klo, überall sah ich nur Menschen, Menschen, Menschen. Diesen Zustand empfand ich weitaus schlimmer als meine Übelkeit. Noch ein Formular ausfüllen, noch ein paar Fragen beantworten, hier einen Stempel holen und dort eine Ausreisebestätigung abgeben. Die Büros quollen über mit Stapeln verschnürter Papierbündel. Mir war kotzerbärmlich schlecht, ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten, ich wollte einfach nur liegen und keine Menschen sehen. Gerade noch rechtzeitig konnte ich das Office verlassen, dann brach es aus mir heraus. Im hohen Bogen kotzte ich einem Grenzbeamten direkt auf die Stiefel. Der Uniformierte trug es mit Fassung, er brachte mich zur ersten sauberen Toilette seit Persien. Was für eine Grenzerfahrung - es war das Beamtenklo!
Schon auf dem Campground in Kabul lernten wir das deutsche Ehepaar Hilde und Robert kennen. Beide lebten in Pakistan und arbeiteten dort in Hilfsorganisationen. Der unterhaltsame Abend bescherte uns eine Einladung in die Hauptstadt der Provinz Khyber - nach Peshawar. Nach dem Grenzübergang erreichten wir noch am selben Abend die Stadt und folgten dem Angebot des deutschen Paares. Zwei Tage wurden wir fürstlich verwöhnt. Wir schliefen in richtigen Betten, ich bekam mein eigenes Zimmer, wir aßen lecker und tranken köstliche Weine. Robert arbeitete als projektleitender Grafiker der UNESCO und Hilde im GTZ-Büro, Organisationen von denen ich bis dato noch nicht einmal gehört hatte. Jahre später sollte ich genau damit in Berührung kommen.
Ladakh – das Dach der Welt
Robert und Hilde schwärmten in den höchsten Tönen von Ladakh.
„Wunderbar freundliche Menschen, beeindruckende Landschaften, geheimnisvolle, buddhistische Klöster und Fotomotive ohne Ende.“ Hilde stimmte ihrem Robert nickend zu.
„Ihr müsst unbedingt dort hinfahren! Aber beeilt euch, im Oktober kann es schon schneien und dann sitzt ihr ein halbes Jahr fest und müsst auf 4.500 Meter Höhe in Eiseskälte ausharren!“
Keiner von uns kannte diesen Himalaya-Staat im Norden Indiens. Wir wurden aufgeklärt - Ladakh grenzt an Kashmir und ist der höchst gelegene Bundesstaat Indiens. Als die Volksrepublik China das Land 1959 annektierte und die Hauptstadt Lhasa mit dem Potala-Palast des Dalai Lama besetzte, wurde Ladakh zum Flüchtlingsgebiert vieler Tibeter. Deswegen wird Ladakh auch „Klein-Tibet“ genannt. Der Mount Everest, der Anapurna und weitere nah gelegene Achttausender brachten Ladakh bezeichnenderweise den Beinamen „Das Dach der Welt“ ein. Infolge des Krieges mit China blieb Ladakh seit den 50er-Jahren für Ausländer gesperrt. Erst Ende 1974 wurden die Grenzen der Passstraße aufgehoben. Das Militär zog ab und die Region wurde wieder frei zugänglich. Arnulf, Ilse und ich beschlossen am nächsten Morgen dorthin aufzubrechen. Fotomotive ohne Ende, dieser Satz hallte in meinen Ohren.
Seit den 50er-Jahren waren wir die ersten Touristen die Ladakh mit dem eigenen Auto bereisten. Schon die Fahrt dorthin grenzte an pures Abenteuer. Passstraßen so eng wie die Gassen von Heidelberg und immer knapp am Abgrund. Es gab keine Leitplanken und sollte man auch nur etwas vom Weg abkommen so ging es steil abwärts - mit Sicherheit tödlich. In langen Convoys kamen uns wuchtige Militärfahrzeuge entgegen, die indische Armee rückte ab. Irrwitzige Ausweichmanöver forderten Arnulfs vollste Aufmerksamkeit.
Manche Soldaten weinten hinterm Steuer vor Angst, beteten oder mussten sich am Straßenrand übergeben. Mit Fahrkünsten dieser Art waren die Inder absolut überfordert, das machte die Sache noch gefährlicher. Im Bully herrschte ängstliches Schweigen. Davon erzählten Robert und Hilde nichts - sie sind mit einer Cessna geflogen. Tief unten im Tal grub sich der wildfließende Indus ein weißgrünes Bett durch glatt geschliffene Felsschluchten. Auf dem 4.200 Meter hohen FotuLa-Pass machte unser Bully schlapp. Er zog nicht mehr und fing an zu dampfen. Die Luft war so dünn, das dem Doppelvergaser die Puste ausging. Arnulf gönnte seinem Bully eine Pause. Selbst das Atmen fiel uns schwer und schränkte jede Bewegung ein.
Tibeter besitzen genetisch bedingt eine erhöhte Atemfrequenz, so dass ihnen die dünne Luft nichts ausmachte. Im Nu umringten uns neugierige Kinder. Endlich konnte ich fotografieren, denn die Ladhakis sind Buddhisten und somit nicht fotoscheu. Mittags waren es geschätzte 0 Grad. Auf 4.500 Metern Höhe ließen nächtliche Minustemperaturen von 20 Grad die Eisschicht auf den Pfützen nicht schmelzen. Die meisten Kinder liefen barfuß und trugen löchrig-zerlumpte Kleidung. Ihre dreckverklebten Haare standen wie Bretter vom Kopf ab und an vielen Kindernasen klebte gelber Rotz. Wegen der Kälte auf Kargils Hochebene übernachteten wir zu dritt im Bully. Von der Stadt Srinagar in Kashmir hatten wir die halbe Strecke bis Leh geschafft.
Am Morgen wurden wir von herannahendem Hufgetrappel und aufgeregtem Stimmen geweckt. Sechs Männer auf zotteligen kleinen Pferden umrundeten unser ungewöhnliches Auto und gafften die Reisende staunend an. Kerle die nicht wilder aussehen konnten, ihre wettergegerbten Gesichter waren so faltig wie die Bergrücken des Hindukush. Schwere Ohrringe mit bunten Steinen zogen ihre Läppchen lang und in ihren Bauchbinden trugen sie beeindruckende Krummdolche. An ihren Stoffstiefeln bogen sich die Fußspitzen hoch und auf dem Kopf trugen sie seltsame Mützen mit wegstehenden Ohrlappen aus Fell. In ihren zusammengekniffenen Schlitzaugen waren keine Emotionen zu lessen, sie wirkten furchteinflößend. Misstrauisch beäugten sie uns Fremde wie umgekehrt. Zuerst begannen die Reiter zu lächeln, dann zu lachen. Das gegenseitige Misstrauen war mit einem Mal verflogen, nun fingen alle an zu lachen. „Die freundlichsten Menschen überhaupt!“, klangen mir die Worte von Robert im Ohr. Ja, das waren die Ladakhis wirklich. Dies konnten wir die nächsten zehn Tage erleben.
Wir machten Bekanntschaft mit dem charismatischen Sikh Damodhar Singh. Er lud uns Reisende in sein bescheidenes Zuhause ein, kochte für alle und musizierte auf einem fremdartigen, kastenförmigen Klapp-Akkordeon. In einem leer stehenden Schulgebäude konnte er mir einen Schlafplatz verschaffen. Endlich bekam ich einen Raum für mich ganz alleine! Das entspannte unser Zusammensein erst einmal. In der Nacht fielen die Temperaturen auf eisige -15 Grad, das bekam ich sogar in meinem Daunenschlafsack unangenehm zu spüren. Ladakh mit der 3.500 Meter hoch gelegene Hauptstadt Leh gestaltete sich im wahrsten Sinne zum Höhepunkt meiner Reise. Selbst von dort sah der Mount Everest mit seinen 8.848 Metern immer noch gigantisch hoch aus und wirkte Ehrfurcht einflößend. Die Vegetation war karg, die Luft dünn, das Klima rauh und die Lebensbedingungen hart. Und doch zog uns das Land alle gleichermaßen in seinen Bann. Niemals habe ich so viele lachende und herzliche Menschen wie die buddhistischen Ladakhis erlebt.
Uns wurde das Privileg zuteil, Kloster Tikse von innen zu besichtigen. Mönche baten uns hereinzukommen. Großzügig öffneten sie uns ihre fremde Welt und erlaubten uns sogar das Fotografieren ihrer buddhistischen Heiligtümer.
Im Inneren des Klosters tauchte ich in ein geheimnisvolles Halbdunkel. Meine Augen brauchten eine Weile um sich an das schummerige Licht zu gewöhnen. Überall brannten kleine Öllampen und es roch merkwürdig tranig. In der Luft lag ein monotones Brummen, das sich wie ein Maschinengeräusch an hörte. Der eintönige Om-Laut meditierender Mönche ließ mich eine mir bis dahin unbekannte Spiritualität spüren. Einen friedlicheren Ort gab es kaum auf der Welt. Der Rundgang durchs Kloster verzauberte mich, ich schwebte durch ein unbekanntes Universum und tauchte ein in eine Welt, die ich mit Worten nicht beschreiben kann. Ich spürte eine Leichtigkeit, die mich durch Zeit und Raum wirbelte. Sie gewährte mir zu erkennen wie unsinnig es ist, sich im Hier und Jetzt über die Zukunft zu sorgen. Vieles konnte ich damals noch nicht einordnen. Erlebtes musste sich setzen, musste verinnerlicht werden, damit ich es später begreifen konnte.
In den Straßen von Leh machte ich eine meiner schönsten Schwarzweißaufnahmen im Gegenlicht (S.44). Menschen strömten aus ihren Dörfern in die Provinzhauptstadt, um die Ansprache der Indischen Staatspräsidentin Indira Gandhi zu hören (S.42). Ich sah Menschen, wie ich sie nie wieder vor die Linse bekam. Faltige, wettergegerbte Männergesichter, Mädchen mit windzerzausten Haaren, zahnlose Greise, dreckig zerlumpte Kinder, Frauen, mit schwerem Steinschmuck behängt und Mönche, die weltentrückt ihre Gebetsmühlen drehten. Eines hatten alle gemeinsam – glückliche und lachende Gesichter. Dies alles erleben zu dürfen, dafür bin ich Ilse und meinem Bruder bis an mein Lebensende dankbar.
Heilige Städte und das Grabmal
Der Weg zum Goldenen Tempel von Amritsar war leicht zu finden, Arnulf fuhr den Pilgerströmen einfach hinterher. Wir sahen die goldene Kuppel schon von weitem leuchten. Das Heiligtum der Sikhs lag mitten in dem rechteckigen Becken - dem Nektarsee. Auf der Oberfläche des Wassers spiegelte sich das goldene Licht der Kuppel. Vor dem Einlass in den Tempel mussten wir alle unsere Schuhe ausziehen. Ich befürchtete in dem Meer von Tretern meine Sandalen nie wiederzufinden. Am Eingang wurden wir genötigt unsere Füße zu waschen und im Inneren der heiligen Räume eine Kopfbedeckung zu tragen. Dann wurden wir von der Menschenmasse einfach mitgerissen. Drei Mal umrundeten wir das Tempelinnere, bekamen ein Schälchen mit goldenem Reispudding in die Hand gedrückt und wurden mit einem roten Punkt auf der Stirn markiert. Jeder der den Tempel besuchte, wurde von den gläubigen Sikhs wie Schwester oder Bruder behandelt, alle Gläubigen empfanden sich als Familie. Ich fühlt mich mit den Sikhs sehr verbunden, sie zeigten mir wie aufgeschlossen man Fremden gegenüber sein kann.
Vom Fluss Yamuna stieg Abendnebel auf. Zuerst sah ich vier Minarette, die wie spitze Bleistifte in den verhangenen Himmel ragten. Das Tadj Mahal am Stadtrand von Agra war nahezu verhüllt und von weitem kaum sichtbar. Der Großmogul Shah Jahan ließ 1631 das Tadj Mahal bauen - zum Gedenken an seine verstorbene große Liebe Mumtaz Mahal. Deshalb wird es auch als das Grabmal der Liebe bezeichnet. Über Nacht parkten wir unseren Bully direkt vor dem Tadj Mahal. Das imposanteste Bauwerk der Moghul-Herrschaft verzauberte uns und machte demütig. Diese Stätte war mehr als ein Grabmal der Liebe, für mich zählte es zu dem schönsten Gebäude das ich jemals gesehen habe.
Wir betraten das Gelände des Tadj Mahal in einer hellen Vollmondnacht. Vor dem Eingang saß ein alter Sikh-Wächter, den wir um Einlass ins Grabmal baten. Als einzige Besucher ließ er uns zu später Stunde herein. Unter der gewaltigen Kuppel spielte Arnulf Blockflöte und seine Melodie tanzte zum Gewölbe empor und schwebte wie ein Echo durch den Raum. Die Atmosphäre hinterließ bei mir eine Gänsehaut und trieb mir Tränen in die Augen. Es war ein unvergessliches Erlebnis, Harmonie pur. Genau in der Mitte der Kuppel befand sich in völliger Symmetrie des Raumes das Grabmal von Mumtaz Mahal.
In diesem Raum konnte ich die Liebe förmlich spüren und ich bewunderte die bunten und filigranen Marmorintarsien in winzig floralen Mustern. Über 20.000 Handwerker und Architekten aus vielen Teilen Süd- und Zentralasiens waren an dem Bau beteiligt gewesen. Persische Architektur verschmolz mit indischen Elementen zu einem einmaligen indo-islamischen Bauwerk. Noch nie hatte mich ein Grabmal so ergriffen. Holy shit, es war zum sterben schön.
Der chaotische Verkehr Indiens stellte Arnulf täglich vor neue Herausforderungen, aber in Benares hatte das Chaos Vollversammlung. Das Fahren verursachte selbst uns Mitfahrern puren Stress. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus, die Stadt nahm ich wahr wie im Traum, dann wie im Schock. Benares schien Alptraum und Wunder zugleich. Schon 100 Kilometer vorher waren die schrägsten Pilger dorthin unterwegs, angemalt, bunt gekleidet oder gar nackt. Ein Pilger streckte sich der Länge nach aus, mit den die Füßen Richtung Benares. Zu seinen Zehen platzierte er einen Stein, um seinen Kopf beim nächsten Ausstrecken dorthin zu legen. So pilgerte er Körperlänge um Körperlänge in die Heilige Stadt, wahrscheinlich, um sich dann dort einäschern zu lassen. Das höchste Glück eines jeden Hindus ist, seine Asche dem Ganges zu opfern, um schneller ins Nirwana zu gelangen. Der rücksichtslose, oder wie Arnulf sagte, hirnlose Fahrstil der Inder, das Gewimmel an Menschen, Riksha-Fahrern, Mopeds, Autos und Ochsenkarren erforderten jede Sekunde seine volle Konzentration. Wie oft dachte ich, "jetzt kracht´s", aber immer kamen wir heil aus der Sache raus. Täglich strömten x-tausende Pilger in die Stadt, oder Menschen mit der Asche ihrer Verstorbenen, die sie dem Ganges opferten. Dieses hinduistische Glaubensritual besagte, dass es sie aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten erlösen werde. Um die Toten an die Verbrennungsstätten am Ganges zu bringen, wurden sie mit allem fahrbaren durch die Stadt transportiert. An der Ampel neben unserem Bully hielt eine Riksha. Auf dem Rücksitz steckte eine in weißes Leinen verschnürte Leiche, die steil wie ein Brett in die Luft ragte. Ein ganz normales Straßenbild, für mich gewöhnungsbedürftig. Die ganze Stadt glich einem Ameisenhaufen, ein Gewusel von Menschen die es von hier nach dort trieb, besessen von Glauben, Tod und Nirwana.
Hier war das Sterben ein florierendes Geschäft von dem alle zu leben schienen. Jeder Hindu wollte hier verbrannt werden, um seine letzte Reise im Ganges Richtung Meer anzutreten.
Die Fahrt auf dem flachen Holzboot entlang der Ghats, den Verbrennungsstätten, war ein Ausflug in eine andere Welt - unwirklich, unglaublich, unfassbar. Der breite Ganges war ein gemächlich dahin fließender Strom, ein geduldiges Sammelbecken für Abfälle und Fäkalien einer Millionenstadt. Darin trieben tote Tieren, halb verbrannte Menschen und Undefinierbares. Unserem Boot trieb ein Tisch entgegen, der sich bei näherer Betrachtung als Kuhkadaver entpuppte. Aufgebläht und alle viere nach oben gestreckt zog er stinkend am Boot vorbei. Fassungslos beobachtete ich, wie sich die Menschen am Ufer mit dem Gangeswasser ihre Zähne putzten, sich einseiften und nach dem Reinigungsritual drei Mal untertauchten. So beichteten die Hindus - reingewaschen von allen Sünden. Unser Bootsführer redete nicht viel, er hatte verräterisch rote Augen.
„Rashid, würdest du auch das Gangeswasser trinken und dich hier einäschern lassen?“ fragte Ilse.
War sein marionettenhaftes Kopfwackeln nun als ja oder als nein zu deuten? Er lächelte milde. Ilse hatte seine Kopfbedeckung nicht registriert, Rashid war Moslem. Damit hatte sich die Frage beantwortet. Dicke Rauchschwaden schwebten gen Himmel und verhängten das Flussufer mit einem nebelig-milchigen Vorhang. Seltsamerweise roch es nirgendwo nach Verwesung oder Leichenverbrennung, ich konnte nur Holzgeruch wahrnehmen. Das tropische Sandelholz verbreitete sogar einen wunderbaren Duft. Auch stank es nirgendwo auf dem Ganges, nur stellenweise roch es ein wenig brackig.
An den Ufern der Ghats lagen die Leichen zur Verbrennung nebeneinander aufgereiht. Man hatte sie zwischen zwei Holzstangen gebunden, um sie schneller auf den Scheiterhaufen zu legen. Einäscherungen im Schnellverfahren. Wohlhabende Hindus kauften für die Verbrennung viel Holz, arme Hindus konnten nicht einmal vollständig verbrannt werden. Doch der Ganges ist gnädig, er ist die letzte Ruhestätte für arm und reich. An diesem Ort fühlte ich mich wie auf einen fernen Planeten gebeamt. Ich sah Dinge die ich nie für möglich hielt und es faszinierte mich, wie selbstverständlich die Inder mit dem allgegenwärtigen Tod umgingen. Auf den Ufertreppen der Gahts saßen heilige Saddhus und asketische Fakire. Die faszinierendsten und fotogensten Inder waren für mich die Sadhus. Die in Askese lebenden Männer widmeten ihr Dasein ausschließlich dem Streben nach Erleuchtung. Die Anhänger Shivas entsagten dem weltlichen Leben, sie pilgerten auf ständiger Wanderschaft mit dem Ziel nach göttlicher Erlösung, ohne Wiedergeburt. Sadhus trugen oft drei waagerechte Streifen auf der Stirn, andere waren von Kopf bis Fuß mit Asche eingerieben. Einer konnte sämtliche Eingeweide in seinen Oberkörper pressen, der sich wölbte wie der Vorbau eines Busenwunders. Dort wo sich sonst die Eingeweide befanden, hing nun ein schlaffer Hautsack. Tagelang konnten die Sadhus oder Fakire regungslos auf einem Bein stehen. Plötzlich sah ich am Flussufer nur Köpfe aus der Erde ragen. In tiefen Erdlöchern harrten dort Männer in wochenlanger Meditation aus. Ich bewunderte nackte Fakire die auf Glasscherben lagen, Sadhus, die ihre Wangen mit Speeren durchstießen oder ihre Zungen durchbohrten, und ich bestaunte körperlich verrenkte Menschen, die nicht mehr menschlich aussahen. Yoga für Zauberer.
Das Gassenlabyrinth der Altstadt hinter den Ghats machte den Eindruck, als stünde es kurz vor dem Zerfall. Alles bröckelte vor sich hin, nichts wurde restauriert und jede Straße wirkte wie im tiefsten Mittelalter. Es grenzte an Wunder, nicht von herabstürzenden Hausfassaden, zierlichen Statuen oder Mauerverzierungen getroffen zu werden. Die Kanalisation floss über offene Kanäle die Gassen entlang, es stank bestialisch nach Pisse und Exkrementen. Überall saßen Inder in Hockstellung über den Kanälen und erledigten ungestört
Pilger an den Ghats (oben) und eine Bootsfahrt auf dem Ganges
ihre Notdurft. In den Gassen vegetierten Leprakranke mit entstellten Gesichtern, ohne Nasen, Hände oder Füße, Menschen mit monströsen Elefantenbeinen hielten stumm die Hand auf. Ich taumelte am Rande der Hölle. Frauen streckten mir ihre Babys zum kaufen entgegen, verkrüppelte Kinder zerrten an meiner Kleidung und Blinde bettelten um Almosen. Das indische Kleingeld wurde in quadratische, achteckige oder sternförmige Münzen aus verschiedenen Metallen geprägt, so dass Analphabeten ihren Wert erkannten. Uns wurde geraten nie mehr als diese Münzen an Bettler zu verteilen, weil man sie sonst nicht mehr los wurde.
Von herabhängenden Stromleitungen schwangen sich Paviane von Haus zu Haus. Sie sprangen vor mir auf die Straße und rissen zornig an meiner Tasche, weil ich nichts Essbares verteilte. Nach einem Tag fühlte ich mich von Eindrücken erschlagen, 1000 Bilder in 1/1000 Sekunde.
Die Stadt war überfrachtet mit Motiven, das Ghatviertel ein eigener Planet, das Leben tobte in einem Fremdkosmos. Soviel Armut, Elend, Leid und Tod konnte ich nicht aufnehmen, ich wurde überfordert im Sehen und Verarbeiten. Seit jeher rebellierte mein Schamgefühl, voyeuristisch mit der Kamera draufzuhalten um reißerische Fotos zu machen. Das hielt ich für pietätlos, da sträubte sich etwas in mir. Am Abend waren auch Arnulf und Ilse sprachlos. Jeder stierte vor sich hin und bekam die Bilder dieser Parallelwelt nicht aus dem Kopf. Niemand der dieses Leben nicht mit eigenen Augen erlebte, wird sich auch nur annähernd vorstellen können was dort abging. Diese Bilder hinterließen Reliefabdrücke in meiner Erinnerung. Sie machten aus mir eine Berührbare! Indien ist nichts für schwache Gemüter, aber Indien faszinierte mich. Indien ist Himmel und Hölle, anziehend und abstoßend, lärmend und göttlich zugleich.
Mein motivbeschränkter Blick von zuhause bekam hier die Möglichkeit in eine fremde Welt einzutauchen und Exotisches aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Fotografie und Reisen lagen für mich auf der gleichen Visierlinie, diese Kombination übte einen besonderen Reiz aus. Ich stellte fest, dass Reisen die effektivste Schule für die Weiterentwicklung meiner Persönlichkeit war – von der visuellen Wahrnehmung ganz abgesehen.
Von Kathmandu nach Goa
Das weihnachtliche Treffen mit Ralf in Kathmandu gestaltete sich als Wendepunkt unserer gemeinsamen Reise. Nach fünfmonatigem Zusammensein nahmen Arnulf, Ilse und ich tränenreich Abschied voneinander. Am Neujahrsmorgen trennten sich unsere Wege friedlich. Arnulf schrieb einen langen Brief nach hause und erklärte, dass er mich mit Ralf ruhigen Gewissens ziehen lassen kann. Arnulf und Ilse wollten danach Südindien Kerala und Trivandrum bereisen und später mit dem Bully nach Mombasa/Kenia übersetzen, um von dort das südliche Afrika zu bereisen.
Leider erholte sich der arme Sid nicht von seinen Darmproblemen. Er hatte so viel Gewicht verloren, dass Ralf beschloss nach Deutschland zurück zu fahren, um seinen Sid zu retten. Kein Tierarzt in Indien konnte dem Hund helfen. Ralf setzte mich in Neu Delhi ab. Nun war ich auf mich alleine gestellt. Als erster Gedanke sauste mir durch den Kopf - wenn das meine Eltern wüssten!
In Neu Delhi lernte ich den indischen Stoffhändler Harisch kennen und durch ihn Margot und James, ein schwedisch-indisches Paar. Margot designte Kleidung für den europäischen Markt und ließ die Sachen in Delhi schneidern. James flog regelmäßig nach Frankfurt, um ihre Entwürfe an diverse Boutiquen zu verkaufen. Da James am nächsten Tag nach Frankfurt reiste, vertraute ich ihm ein Päckchen mit allen Diafilmen unserer Reise an, auch die von Arnulf. In tropischen Ländern reagierten Positivfilme empfindlich, sie sollten nach dem Belichten schnell entwickelt werden. Als Travellerin geizte ich mit Gewicht, nun hatte ich ein Teil weniger im Rucksack. Von Delhi aus reiste ich alleine mit Bahn und Bus weiter. Mein Ziel war die ehemalige portugiesische Kolonie Goa, ein damaliges Hippieparadies. Da Indiens öffentliche Busse und Bahnen mit Frauenabteilen ausgestattet waren, verlief die Reise in den ladys compartments problemlos. Noch nie zuvor musste ich mich alleine durchschlagen. Diese Art zu reisen fing an mir zu gefallen, ich spürte zum ersten Mal in meinem Leben eine Verantwortung – für mich selbst! Diese Erfahrung bereicherte mich ungemein. Die kleine Schwester machte sich auf den Weg. Ich lernte wie gut mein Bauchgefühl funktionierte, wem ich vertrauen konnte und wem nicht.
Vor allem aber lernte ich eigenständig zu handeln, Entscheidungen zu treffen und meine Reisekasse zu verwalten. Und erfreut stellte ich fest, dass ich leichter mit Menschen in Kontakt kam weil ich mich mehr bemühte. Ich erprobte mein Schulenglisch, das bis dato nicht wirklich zum Einsatz kam. Und ich merkte, das Alleinreisen mutiger machte, aber nicht leichtsinniger. Im Bus nach Goa traf ich junge Traveller aus Amerika, Brasilien, England und der Schweiz. Ich genoss meine Unabhängigkeit, entdeckte meine Freiheitsliebe, entwickelte Willensstärke, machte eigene Pläne und gewann täglich an Selbstbewusstsein. Ich reiste mit einer Erfahrung im Herzen die pure Lebensfreude durch meinen Adern pumpte. Ich fühlte mich so frei wie nie zuvor. Je weiter ich reiste, desto näher kam ich mir! Aus diesen Erlebnissen entwickelte sich mein sehnlicher Wunsch – ich möchte eine Weltreise machen - alleine!
In Goa wurde ich beklaut, das meiste der verbliebenden Reisekasse war weg. Mit den letzten lumpigen Rupies bezahlte ich ein Zugticket dritter Klasse nach Delhi. Zwei Tage lang zuckelte der Bummelzug von Panjim nach Bombay, dem heutigen Mumbai. Dort stieg ich nach Neu Delhi um. Frauenabteile gab es in der dritten Klasse nicht, man nannte die spartanischen Abteile auch Holzklasse. Ich saß auf harten Bänken zwischen Maissäcken und Hühnerkäfigen, zahnlosen Greisen und stillenden Müttern. Müde Kinder legten den Kopf auf meinen Schoß und alte Frauen schliefen an meiner Schulter. Berührungsängste waren den Indern fremd. Im Gepäcknetz über mir schaukelten Kinder zwischen Paketen und Stoffballen. Der Boden glich einem bunten Teppich aus Papierabfällen, Bananenschalen, Essresten und Palmblättern - ohne Plastik. Durch die Abteile wehte ein penetranter Latrinengeruch - das WC besaß keine Tür. Irgendwann neutralisierte sich der Gestank, ich roch nichts mehr. Um den Gang auf die Toilette zu vermeiden, aß und trank ich nichts. Der permanente Geräuschpegel wurde zeitweise durch das Krähen eines Hahns, dem Quieken eines Ferkels, oder dem Pfeifsignal der Dampflock stimmungsvoll untermalt. An Schlaf war gar nicht zu denken. An jeder Station hatte ich das Gefühl in den Schleudergang einer Waschmaschine geraten zu sein. Menschen krabbelten über mich hinweg, Gepäckstücke wurden durch schmale Eisenstäbe offener Fenster rein oder rausgezerrt, aus dem Gepäcknetz fiel das Kind auf mich herab, Pakete wurden mir an den Kopf geknallt, man trat mir auf die Füße, oder plumpste mir in den Schoß. Das ständige Stoßen, Schubsen und Schieben zermürbte mich zunehmend. Ich spekulierte auf den ruhigen Fensterlatz und hoffte er möge bald frei werden. Als ich ihn bekam blieb ich eisern sitzen.
Fröhliche Mitreisende in der Holzklasse
In Bombay stieg eine blonde junge Frau ein, sie war höchstens 16. Strahlend kam sie auf mich zu. Wo kein Platz war wurde Platz geschaffen, man bot der jungen Blondine neben der weißen Memsahib einen Sitzplatz an. Sie stellte sich als Lena Malmquist vor und redet non stopp auf mich ein. Ihre Mutter sei Siw Malmquist, eine schwedische Schlagersängerin, die mit „Liebeskummer lohnt sich nicht“ in Deutschland erfolgreich war. Um ihr davongelaufenes Töchterchen zu suchen, hatte sie Lena über Interpol suchen lassen. In Goa wurde sie aufgegriffen. Dem Wunsch der Mutter folgend schickte Interpol sie nach Delhi auf die schwedische Botschaft. Von dort sollte Lena ihren Heimflug antreten. Die Abteile des Zuges waren nicht voll sondern hoffnungslos überfüllt. Die Reisenden saßen auf den Puffern zwischen den Waggons und auf den Dächern der Abteile. Man konnte ihre Beine in die Fenster baumeln sehen. Der Zug fuhr so langsam, dass unterwegs immer Leute auf- oder absprangen, sie reisten umsonst. Er war das Beförderungsmittel für Arme und deshalb so überfüllt. Im Laufe der Reise entwickelte sich in allen Abteilen ein bestialischer Gestank. Die letzten Stunden saß ich mit Lena auf der offenen Waggontreppe, um uns frischen Wind um die Nasen wehen zu lassen. Dafür nahmen wir in Kauf, je nach Windrichtung vom schwarzen Qualm der Dampflok eingehüllt zu werden. In Delhi angekommen, waren meine Haare um einige Nuancen dunkler. Sie standen mir so steif vom Kopf ab, als hätte ich eine Tube Haargel superstrong darauf ausgedrückt. Amüsiert über mein äußeres Erscheinungsbild, baten mich Margot und James in ihr Haus. Frisch geduscht und hübsch gekleidet erschien ich am nächsten Tag in der Deutschen Botschaft. Der erste Sekretär fragte mir Löcher in den Bauch. Nebenbei telefonierte er mit der Lufthansa. Er wollte wissen wo ich bestohlen wurde, wie ich wohnte und ob ich alleine reiste. Vor allem aber fand er Gefallen an meinen Geschichten. Um mir weiter zuhören zu können lud er mich zum Essen ein. Schon am Nachmittag drückte er mir ein Lufthansa-Ticket in die Hand. Innerhalb von sechs Monaten musste ich den Betrag von 650 DM und 50 DM Taschengeld an die Deutsche Botschaft zurück überweisen.
In einer nur halbvollen Lufthansa-Boing von Delhi nach Frankfurt flog ich 1975 das erste Mal meinem Leben. Die mittlere Sitzreihe war leer, ich konnte mich der Länge nach ausstrecken und schlafen. Fliegen fand ich einfach himmlisch, es hatte einen Hauch von Luxus! Über Europa zog eine dicke Kaltfront hinweg, meine Landung in Frankfurt fühlte sich an wie das Betreten der Antarktis. Meine erste Anlaufstelle war Oldenburg, es zog mich zu meinen Eltern. Mein Vater hatte Geburtstag, ich wollte beide überraschen. Die Vorfreude machte mich schon im Zug hibbelig, endlich bald die Diafilme unserer Reise zu sehen. Im Stillen hoffte ich, dass meine Eltern die Filme schon entwickeln ließen. Nicht im Traum hätte ich gedacht, dass mich zuhause eine böse Überraschung erwarten würde.