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ОглавлениеWallfahrt, oder Werdegang und Lebenslauf
Als ich im Jahr 1974 von Saarbrücken nach Klagenfurt kam, einem Ruf auf den Lehrstuhl »Deutsche Philologie unter besonderer Berücksichtigung der Didaktik« an die junge Hochschule für Bildungswissenschaften folgend, suchte ich alsbald den Kontakt mit dem damaligen Hochschulseelsorger oder »Studentenpfarrer«, dem Theologen Karl Matthäus Woschitz, der später Ordinarius in Graz wurde und als hochgelehrter Mann mit bedeutenden Publikationen wie dem Buch »Elpis« (Hoffnung) heute großes Ansehen genießt. Der polyglotte, aus St. Margareten im Rosental gebürtige Kärntner Slowene wunderte sich ein wenig über den neuzugezogenen Germanisten und sagte lachend zu mir, ich würde als Neuling in Kärnten bald erfahren, daß in diesem Land ein starker Antiklerikalismus herrsche. Es gelte: »Religio pudendum est!«, Religion sei hier öffentlich »verpönt«.
Der 2011 verstorbene slowenische Dichter und Philosophielehrer am Slowenischen Gymnasium in Klagenfurt/Celovec Janko Messner wunderte sich übrigens, daß ein Schriftsteller wie ich nach Kärnten (und Österreich) übersiedelt und sich hier niederläßt, wo doch bekanntlich Autoren von Rang eher von hier wegstreben, nach Graz, Wien oder gleich ins Ausland, nach Deutschland wie Elfriede Jelinek, Italien wie Ingeborg Bachmann oder nach Frankreich wie der nunmehrige Nobelpreisträger Peter Handke. Messner nannte die entsprechenden bekannten Namen … Auf Gert Jonke, Josef Winkler und Egyd Gstättner, die hiergeblieben sind, hat er vergessen …
Für Religiosität müsse man sich also schämen? »Verschämtes« Christentum? Ratlose Religiöse? Religiosität gilt im Sinne Sigmund Freuds und der Psychoanalyse als »Wahn«, dem Marxismus-Leninismus war Religion bekanntlich »Opium des Volks« … Beim Wiener Philosophen Friedrich Kainz habe ich in Vorlesungen gehört, daß die unsterbliche Seele eine »katathyme Konzeption« sei, also eine unhaltbare Annahme, ein Wunsch vielleicht. In den Fremdwörterbüchern wird katathym mit »affekt-, vorstellungs- und wunschbedingt« erklärt. Bertolt Brecht schließlich ist sich sicher: »Ihr werdet sterben wie die Tiere, und es kommt nichts nachher.« Den Verhaltensforscher Konrad Lorenz habe ich im Saarländischen Rundfunk in einem Interview sagen gehört, die Vorstellung eines »persönlichen Gottes« halte er für einen »Frevel«! Frevel bedeutet »schweres Vergehen gegen ein ehernes Gesetz«, in der Sprachgeschichte konnotierte das Wort als Adjektiv aber einst durchaus auch positiv, als »kühn, mutig«. Ein Frevler ist ein schneidiger Draufgänger …
Dem Verhaltensforscher wird das an sich veraltete Wort wohl auch aus der Forstwirtschaft geläufig gewesen sein, die von Wald-, Wild- oder Jagdfrevel spricht … Konrad Lorenz war als Professor in Königsberg auch ein später Kollege des Immanuel Kant und wird wohl mit dem Aufklärer, dem Verfasser von »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, weitgehend übereingestimmt haben. Und über die Metaphysiker dachte Kant, sie seien Denker, die Ochsen melken und ein Sieb darunter halten! Aude sapere! Hab Mut zum Denken und begnüge dich mit dem, was man wissen kann: Bleibt letztlich wirklich nur der Ausweg, den die (irrtümlich) Quintus Septimus Florens Tertullian zugeschriebene Phrase »Credo quia absurdum est« nahelegt? Und: »Contra spem sperare«, »Gegen alle Hoffnung hoffen«? Soll man sich nach der Lektüre der reichen, umfangreichen, religions- und kirchenkritischen Literatur von Immanuel Kant über Baruch de Spinoza und seinen »Tractatus theologico-politicus« bis hin zu Ernst Topitsch, der mit seiner Weltanschauungsanalyse und Ideologiekritik, dem Buch »Vom Ursprung und Ende der Metaphysik«, großes Aufsehen und Widerspruch erregte, »einschüchtern« lassen?
Vor allem mein Freund Fridolin Wiplinger, Topitschs Kollege – und Konkurrent – am Philosophischen Institut der Universität Wien, Bewunderer von Martin Heidegger und von dessen Existenzialphilosophie, hat sich auf einer »Wallfahrt«, die wir gemeinsam mit dem Hochschulseelsorger Karl Strobl im Opel der Hochschulgemeinde unternommen haben und von der noch die Rede sein soll, in langen Monologen heftig gegen Topitschs Thesen ausgesprochen und Luft gemacht. Die Zeiten seien wohl so oder so vorbei, als man die Philosophie für eine »ancilla theologiae«, eine Magd der Theologie, gehalten hat. Diese Zumutung beantwortet der Philosoph mit »Non serviam«. Doch man muß deshalb nicht gleich an Luzifer und den Höllensturz denken!
Ich bin Ernst Topitsch einmal frühmorgens auf dem Weg zu meinem Rigorosum bei Erich Heintel begegnet, ohne gleich zu wissen, mit welcher Koryphäe ich es bei diesem immer ein wenig grinsenden, verschmitzten Mann mit rosigem, rundem Gesicht und sorgfältig gescheiteltem, spärlichem Haar zu tun hatte, der stets in altmodischer Kleidung und mit schwarzen Ärmelschonern auftrat. Ich hielt ihn für einen Pedell oder allenfalls einen Bibliothekar oder Beamten … Und natürlich wußte ich nicht, daß mein »Gesprächspartner« – es ging nur um Organisatorisches und Raumfragen für mein bevorstehendes Rigorosum – der Mann war, der als Assistent von Alois Dempf Ingeborg Bachmann ihr (erstes) Dissertationsthema vorgeschlagen und die Arbeit betreut hat: »Der Heilige bei Conrad Ferdinand Meyer, Friedrich Nietzsche und Jacob Burkhardt«. Daß sich Bachmann als ersten »Doktorvater« für Alois Dempf, den als katholisch-liberal geltenden Philosophen entschieden hat, hat neben theoretischen Gründen – der Sympathie für seine Philosophie in der Tradition des »logischen Empirismus« – aber auch mit der aufrechten, eben nicht »rechten« oder konservativen politischen Gesinnung Dempfs zu tun, der in der Zeit des Nationalsozialismus in der inneren Emigration lebte und Verbindung zur Widerstandsgruppe der »Weißen Rose«, vor allem zum 1943 hingerichteten Willi Graf hatte. Ernst Topitsch sah sich selbst durchaus auch in der Nachfolge des auf Ernst Mach zurückgehenden »Wiener Kreises«, auch Moritz Schlicks, der in der Universität von einem seiner Dissertanten wegen seiner antimetaphysischen Philosophie, die diesem Studenten sein geistiges Weltanschauungsfundament zerstört habe, erschossen wurde. Oft bin ich während meiner Wiener Studienzeit (1957–1962) auf der »Philosophenstiege« des Hauptgebäudes der Wiener Universität über jene Stelle hinweggeschritten, wo sich heute die Gedenktafel befindet, die an das unerhörte Ereignis des 22. Juni 1936 erinnert … Bei allem Abscheu für die fanatische Untat des Mörders Hans Nelböck aus Lichtenegg bei Wels in Oberösterreich hatte ich doch auch ein gewisses Verständnis für die weltanschaulichen Nöte eines jungen Menschen vom Land, dem an der Universität durch kalten Rationalismus und Positivismus sozusagen sein naiver Kinderglaube ausgetrieben wurde …
Alois Dempf hatte hochbegabte Studentinnen und Studenten – wie zum Beispiel Ingeborg Bachmann. Einer seiner geistesverwandten Studenten war Hermann Krings, Vertreter der sogenannten Transzendentalphilosophie, dessen Schüler und Assistent wiederum Hans Michael Baumgartner war. Hermann Krings war zu meiner Saarbrücker Zeit Rektor der Universität des Saarlandes. Einer seiner aus München mitgekommenen Studenten war Christoph Wild, später langjähriger Geschäftsführer des Kösel-Verlags, erfolgreicher Geschäftsmann mit christlich-sozialer Gesinnung. Ein begnadeter Rhetor, der etwa bei den Verleihungen des Geschwister-Scholl-Preises aufsehenerregende Reden gehalten hat.
Unter den bekannten Namensträgern des Taufnamens Alois ist nach Alois Alzheimer und anderen natürlich auch Alois Dempf angeführt. Nun weiß ich nicht, lieber Prinz Aloysius, ob Dempf mit seinem Vornamen zufrieden war oder ein Problem damit hatte. Man kann aus dieser Namenswahl auf ein christliches oder christkatholisches Elternhaus schließen. Denn der Name Alois ist gewissermaßen auch ein Programm und ein Bekenntnis. Er wurde nur im katholischen Süden nach deiner Heiligsprechung im Jahr 1726 oft als Taufname verwendet. Und er war in der Gegenreformation fast ein Kampfname gegen den Protestantismus. Man kann freilich aus Namen nicht immer linear auf die Weltanschauung oder Gesinnung des Namensträgers oder der Namensgeber schließen. Herbert Eisenreich erwähnt in einer Erzählung über den Spanischen Bürgerkrieg einen besonders brutalen Kombattanten und Kommandanten, der mit Vornamen Jesus heißt. Die Spanier und mit ihnen die spanischsprechenden katholischen Länder Südamerikas kennen oder kannten ja keine Scheu vor diesem »Namen, der über allen Namen« ist.
Ich habe einmal geschrieben, daß ich mit deinem, meinem Namen, lieber Namenspatron, schon deswegen zufrieden bin, weil im Dezember 1938 viele Adolfs und Hermanns getauft oder diese Namen von »Gottgläubigen« ohne kirchliche Taufe angenommen wurden. Im Monologdrama »Der Herr Karl« von Carl Merz und Helmut Qualtinger fragt der Magazineur Karl seinen fiktiven Gesprächspartner, den Lehrling, wann er geboren sei, und auf die Antwort (»1938«) legt der charakterlose Mitläufer und Opportunist los – und seine Sicht der damaligen Ereignisse dar. Dezember 1938?! Eh schon wissen! Neun Monate nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich. Damals hat sich ein Pichler Gastwirt am Straßenrand vor Begeisterung so heiser gebrüllt, daß er eine ganze Woche lang keine Stimme mehr hatte und seine Gäste wortlos und stumm bedienen mußte … Mich hat das Stück von Merz und Qualtinger auch darum so »angeheimelt«, weil ich während meiner Welser Gymnasialzeit oft meinen Kindheits- und Jugendfreund, den Lehrling oder »Lehrbuben«, heute muß man sagen Azubi, »Auszubildenden«, Josef Kaser an seinem Arbeitsplatz im Warenlager, im Gewölb der Großhandlung Unterholzer am Welser Stadtplatz, besuchte, später im Lager der Großhandlung Stadelbauer. Dort gab es nicht nur Ratten, die hinter den Regalen Nester bauten, dort gab es im Herrn Zeilberger auch einen alten, bramarbasierenden Magazineur, von dem ich meinte, Qualtinger müßte ihn gekannt und »nachgemacht« haben, was natürlich nicht der Fall war. Obwohl Qualtinger, wie sich herausstellte, bei der Niederschrift einen Kellner in einem Wiener Café im Auge gehabt hatte, der sich später selbst und von sich aus stolz als Karl-Vorbild öffentlich machte …
Auch bei der Lektüre des Buches »Soll und Haben« von Gustav Freytag, dem Klassiker von den tüchtigen deutschen Kaufleuten (mit antisemitischen Untertönen), wurde ich an das Milieu der Welser Großhandelskaufleute erinnert. Am Welser Stadtplatz gab es auch eine Gerberei und ein Lederwarengeschäft, wo mein Vater für seine Mühle die Lederriemen bezog. Dort war ein anderer meiner Jugendfreunde Lehrling, Josef Mühlberger. Im Roman »Die Mühle« habe ich eine kleine Riemen- und Lederkunde inseriert, die ich im Wesentlichen meinen Besuchen bei der Firma Reichardt am Welser Stadtplatz und meinem Jugendfreund Mühlberger verdanke, auch einen namenkundlichen Exkurs über die Personennamen Mühlberger und Müller, die die älteren, urgermanischen Namen Kürnberger und Kürner fort- oder ersetzen.
Ingeborg Bachmann, die zunächst begann, bei Alois Dempf und seinem Assistenten Ernst Topitsch, der sich Bachmann auch mit seiner philosophisch und politisch motivierten Abneigung gegen Martin Heidegger und den Existenzialismus verbunden fühlte, zu dissertieren, und an die am Tor der Ursulinen-Schule in Klagenfurt eine Tafel mit einem Satz aus ihrer Erzählung »Jugend in einer österreichischen Stadt« erinnert, war ja eigentlich Protestantin. Oft habe ich mich mit Elisabeth Reichmann-Endres, der 2016 verstorbenen Kärntner Landeskonservatorin, in ihrem Haus in der »Abstimmungsstraße« in Viktring oder bei mir in der Weihergasse in Klagenfurt unterhalten. Sie war Bachmanns Mitschülerin gewesen und wurde deshalb von den Medien immer wieder und besonders in »Bachmann-Jahren« befragt, wie es denn mit ihrer Freundin Ingeborg gewesen sei. Frau Reichmann-Endres war nobel zurückhaltend, auch wenn sie einiges in der Literatur über »die« Bachmann modifizieren oder korrigieren mußte, sei es auch manchmal Nebensächliches gewesen. So heißt es, sogar in der gediegenen Biographie von Hans Höller im Rowohlt Verlag, sie hätte bei ihren Kolleginnen und Freundinnen den Spitznamen »Elfchen« gehabt. Sie nannten sie aber nicht Elfchen, sondern Els-chen, weil sie von der Oper »Lohengrin« von Richard Wagner schwärmte und ihr der Name Elschen (nach Elschen von Brabant) gefiel …
Von Reichmann-Endres und anderen Klassenkameradinnen hat man erfahren, daß Ingeborg Bachmann sehr oft gefehlt hat und als abwesend ins Klassenbuch eingetragen wurde. Sie war wohl eigentlich nicht kränklich. Manche vermuten aber, daß sie vielleicht von zu Hause, also von ihrem Elternhaus und ihrem Vater her, traumatisiert war, worauf es im Kapitel 4 des Romans »Malina« gewisse Hinweise gibt.
Walter Wimmer, emeritierter Pfarrer von St. Konrad in Linz, nun in Pension und im Domherrenhof in der Linzer Rudigierstraße wohnhaft, ein Bauernsohn aus Gunskirchen bei Wels, jüngerer Bruder meines Kollegen Josef Wimmer im Kollegium Petrinum, der Bischöflichen Lehranstalt der Diözese Linz, der auch Priester wurde und schließlich Religionsinspektor und 2019 leider verstorben ist, Walter Wimmer also hat erzählt, daß Ingeborg Bachmann im sogenannten Germanikum, wo die Priesterstudenten aus Deutschland, Österreich und ursprünglich auch einmal aus Ungarn wohnten, die an der Päpstlichen Universität, der »Gregoriana«, Theologie studierten, Walter Wimmer also hat erzählt, daß Ingeborg Bachmann im Germanikum gewesen sei, dort auch eine Lesung gehalten und sich bei den jungen Theologen wohlgefühlt habe, mit denen sie später sogar Ausflüge unternommen habe.
Ich darf aus meinem Briefwechsel mit Walter Wimmer zitieren. Zuvor meine Anfrage vom 19. Juli 2016: »Sehr geehrter Herr Konsistorialrat Dr. Walter Wimmer, lieber Walter! Als Studienkollege Deines Bruders Josef und als Pichler bitte ich den Gunskirchner, mir das Du nachzusehen. Mich beschäftigt gerade jetzt, wo der 90. Geburtstag Ingeborg Bachmanns ›gefeiert‹ wird, die Erinnerung an etwas, was ich einmal von Dir gehört haben muß. Nämlich, daß Bachmann einmal oder öfter Kontakt zu den Theologen des Germanikums aufgenommen hat. Ich bin hier in Klagenfurt mit Frau Elisabeth Reichmann-Endres in Verbindung, die eine Mitschülerin der Bachmann war und immer wieder als Auskunftsperson für die Klagenfurter Zeit bemüht wird. Aber von Rom weiß sie wenig. Nun war Ingeborg Bachmann ja Protestantin und in einem eben erschienenen Fotoband ›Bachmanns Rom‹ steht, daß sie über eine Begegnung mit Papst Paul VI. geschrieben hat, sie habe ›den Antichrist von Angesicht zu Angesicht‹ gesehen! Sie ist also polemisch wie weiland Martin Luther … Und wenn von ihrem Unglück in Rom und ihrer Einsamkeit die Rede ist, dann hängt das vielleicht auch damit zusammen, daß sie in der »Heiligen Stadt« kaum integriert war. Der Besuch bei Euch Theologen war vielleicht der ein wenig hilflose Versuch einer Art Annäherung? Was meinst Du dazu? Ich hoffe, es geht Dir gut. Über einen Mangel an Reichgottesarbeit wirst Du Dich ja nicht gerade beklagen können, wenn man Deine Bio im Internet liest … Sei herzlich gegrüßt und grüße von mir auch Deinen Bruder Josef!
Dein Alois Brandstetter«
Darauf bekam ich von Walter Wimmer eine Antwort, aus der ich ebenfalls zitieren darf: »Da die Germaniker Ingeborg Bachmann kennenlernten, habe ich als Österreicher und Präfekt sie auch im Namen der Hausleitung zu einem Leseabend ins Germanikum eingeladen. Obwohl sie offenbar schon lange keinen öffentlichen Auftritt hatte und auch nicht wollte, ist sie der Einladung gefolgt und war am 10. Juni 1971 abends im Kolleg. Sie hat in der Sala de Gregorio aus ihrem kurz vorher erschienenen Buch ›Malina‹ gelesen. Ich habe ein Exemplar, das sie signiert hat und in das sie auch das Datum eingeschrieben hat. Meine Erinnerungen: Ich durfte sie begrüßen und willkommen heißen. In den ersten 20 Minuten hatte sie eine sehr leise Stimme und man hatte den Eindruck, daß ihr die Stimme versage. Dann aber wurde ihre Stimme immer kräftiger. Nach ihrer Lesung saßen wir, zwei Präfekten, der Rektor, der Spiritual und noch zwei Personen im Patreszimmer im ersten Stock beisammen und plauderten angeregt über dieses und jenes. Frau Bachmann erzählte z. B. von ihrer Doktorarbeit ›gegen‹ Martin Heidegger. Es war Mitternacht, als wir uns verabschiedet haben. Am Österreichischen Kulturinstitut, zu dem wir Österreicher guten Kontakt hatten (Direktor war Dr. Schmidinger, der Vater des jetzigen Rektors der Universität Salzburg), hörte man offenbar von Bachmanns Lesung bei uns, so daß man sie auch an das Institut eingeladen hat. Ich habe gehört, daß sie unter der Bedingung zugesagt hat, daß auch die Germaniker eingeladen werden. Wir waren auch einige dort. Ich weiß, daß nach ihrem traurigen Unfall, an dessen Folgen sie gestorben ist, noch zwei oder drei Germaniker für sie Blut gespendet haben …«
Bachmanns erster Ansprechpartner im katholischen Rom war als Kärntner Landsmann Helmut Gfrerer, ein Kollege Walter Wimmers, später Seelsorgeamtsleiter in Klagenfurt, nun Pfarrer in Weißenstein im Drautal. Er hat mir berichtet, daß der Fundamentaltheologe der Universität Münster in Westfalen, Harald Wagner, die jungen Theologen ermuntert hat, so wie er selbst es hielt, mit den bedeutenden deutschen Dichtern in Italien – Stefan Andres oder Luise Rinser oder eben Ingeborg Bachmann – in Kontakt zu treten, um daraus auch geistigen Nutzen für ihren priesterlichen, geistlichen Beruf als Seelsorger zu ziehen. Nach Helmut Gfrerer hat sich ein anderer aus Kärnten stammender Alumne solcher Kontakte mit Bachmann befleißigt. Er trug den in Kärnten bedeutend klingenden Familiennamen Perkonig. Er ist leider, wie die von ihm bewunderte und verehrte Dichterin, tragisch geendet.
Ich bin in Kärnten zwei katholischen Geistlichen begegnet, die zur Literatur und zu Literaten ein besonderes Verhältnis hatten. Der eine war Hans Duller, Religionsprofessor und langjähriger Präses der Kolpingfamilie. Er stammte wie die Dichterin Christine Lavant, mit der er lebenslang freundschaftlich verbunden war, aus dem Lavanttal, darum war er auch prädestiniert, als Priester und Freund die Grabrede zu halten, die im Buch »Steige, steige verwunschene Kraft. Erinnerungen an Christine Lavant« abgedruckt ist: Sie heißt »Am offenen Grabe« und beginnt mit einem Lavant-Gedicht: »Hab dich lange nicht gefunden, / Hilfe meiner Abendstunden; / hab nicht mehr gedacht, / daß ich soll getröstet werden / hier auf Erden. Kann die schwerste Nacht nun kommen, / so in deine Hand genommen, / bleib ich dennoch heil. / Wie am sichern Seil / klimm ich ins Gebirg der Gnaden, / trostbeladen.«
Ein anderer Beiträger der Erinnerungsschrift war der Pfarrer von Althofen im Gurktal, Johannes Pettauer, ein Priester nach altem Schlag, wohl auch ein Anhänger des konzilkritischen Bischofs Marcel Lefèbvre, der ebenfalls nach altem Ritus die lateinische Messe mit dem Rücken zum Volk gelesen hat. Pettauer, von Kirche und Staat hochverdient hochdekoriert, Träger des Goldenen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst, Gründer und Leiter des sogenannten »Zammelsberger Kulturkreises«, der sich selbst einen »Rilkomanen« nannte, weil er in vielen Veranstaltungen Rainer Maria Rilke auswendig und mit schöner baritonaler Stimme rezitierte, wie auch die Kärntner Lyriker Guido Zernatto und Johannes Lindner. Pettauer, der also nach dem Krieg als Kaplan in Wolfsberg in Kärnten mit Christine Lavant »viel zu tun« hatte, sah sie weniger positiv als Hans Duller in seiner Grabrede. De mortuis nil nisi bene? »Unser beider Beziehung litt aber, ehrlich gestanden, unter der Belastung völlig gegensätzlicher religiöser Anschauungen. Meine damals (wie heute) ungebrochene, fast naive kindliche Weltanschauung konnte ihre anklagenden, oft wie Vulkane ausbrechenden Jobsiaden keineswegs befriedigen. Ich mußte ihr doch, was ja die Wahrheit ist, sagen, daß sie eine aggressive, Gott-lose Person sei, welche sich seines Namens nur als Vorwand bediene.« Auch verglich er sie zu ihrem Nachteil mit seinem Favoriten Rilke. Pettauer dürfte ihr auch ihre Beschwerderede beim Gurker Bischof über die lärmende Katholische Jugend vor dem Fenster ihres über 30 Jahre älteren kranken Mannes, des naiven Malers Habernig, für die Pettauer ja wohl als Jugendkaplan verantwortlich war, übel genommen und nicht vergessen haben.
Dem aus Wuppertal-Elberfeld stammenden Maler Werner Berg, den Christine Lavant unglücklich liebte, verdanken wir ausdrucksstarke expressionistische Porträts der Dichterin, auch eine Briefmarke, nicht weniger eindrucksvolle Kohlezeichnungen dem Maler und Kunsterzieher Egon von Wucherer, der zu »Steige, steige, verwunschene Kraft« auch einen berührenden Erinnerungsaufsatz beigesteuert hat.
Ein besonderes Kapitel ist in diesem Zusammenhang Christine Lavants Verhältnis zu ihrem Arzt, dem Neurologen, Publizisten und Politiker des nationalen Flügels der Freiheitlichen Partei – und 1986 sogar deren Präsidentschaftskandidat – Otto Scrinzi. Ihren Krankheitszustand beschreibt er wie folgt: »Chronisches Augenleiden, das sie halb blind macht, Mittelohreiterungen rauben ihr Teile des Gehörs, Lungentuberkulose, Schilddrüsenüberfunktion, Asthma und ein hartnäckiges Magen-Darmleiden.« Christine Lavant hatte Bewunderer, Freundinnen und Freunde unterschiedlichster sozialer und politischer Herkunft, wie ihre vielen Briefe an Otto Scrinzi und an ihre Freundin, die Wolfsbergerin Ingeborg Ilse Teuffenbach in Innsbruck (verehelichte Capra und Mutter des 1939 geborenen Fritjof Capra), aber auch an Gerhard und Maja Lampersberg vom Maria Saaler Tonhof belegen, wo sich auch Thomas Bernhard mit ihr anfreundete, der auch eine postume Ausgabe ihrer Gedichte besorgte. Bernhard hat auch gemeint, er müsse sie vor dem Odium, für eine katholische Dichterin gehalten zu werden, schützen …
Thomas Bernhard selbst hat sich von seinen eigenen lyrischen Anfängen, etwa dem Gedichtband »In hora mortis«, und seiner Nähe zu Personen aus dem Umkreis des Otto Müller Verlags wie Otto Müller selbst, aber auch Ludwig von Ficker oder Ignaz Zangerle, bis hin zum letzten großen Roman »Die Auslöschung« und zum von Ignaz Hennetmair mitgeteilten Kirchenaustritt zunehmend kritisch über den österreichischen Katholizismus geäußert. Man erinnert sich auch an seine, im Zusammenhang mit dem Skandal um die Verleihung des Kleinen (!) Staatspreises geäußerte, heftige Verachtung für Rudolf Henz und Minister Piffl-Perčević, »den dummen Mann aus der Steiermark«. In einem Almanach des Residenz Verlages zum Thema »Feinde« hat er an erster Stelle den österreichischen Staat und gleich danach die Kirche genannt … Was hatte sie ihm angetan? Sicher dürfte sein, daß er auch von Christen respektiert und ernstgenommen wurde, nicht nur von sogenannten »Linkskatholiken«, die freilich oft mehr links als katholisch sind.
Ein außerordentlich verständnisvoller Intellektueller war im Sinne der Verständigung und Versöhnung von Sozialismus und Kirche Norbert Leser. Er war der Sohn der Schriftstellerin Jolanthe Leser, einer Frau, die in ihrem Werk, etwa »Die Pappelallee«, ein besonderes Verständnis für bedrängte, arme, aus der »Provinz«, im besonderen dem Burgenland, stammende Menschen in Wien, zeigt. Norbert Leser hat mir das erwähnte Buch seiner Mutter mit einer persönlichen Widmung nach meinem Vortrag in seinem Kreis im Juni 1983 geschenkt. Natürlich besitze ich auch sein eigenes Buch »Salz der Gesellschaft«. Vielleicht sollte man den österreichischen Sozialdemokraten etwas vom kritischen Geist Lesers wünschen und zur Lektüre seiner Schriften raten, damit sich nicht an ihnen das Wort der Schrift erfüllt: »Wenn das Salz schal geworden ist, wirft man es weg …«
Als ich nun am 5. Dezember 2018 80 Jahre alt geworden war und mit Ehrungen geradezu »überhäuft« wurde, unter anderem dem Franz Theodor-Csokor-Preis des Österreichischen PEN-Clubs, war neben öffentlichen Ehrungen auch ein besonderes privates Geschenk meiner Frau dabei, ein Reiseversprechen für einen Ausflug oder eine Wallfahrt nach Castiglione delle Stiviere und Mantua, jene Ortschaften, die in einem meiner Romane, »Aluigis Abbild«, Schauplatz und Thema sind. Wohl war ich bereits bei meinen Recherchen zu diesem, meinem letzten Roman über meinen Namenspatron Aloysius von Gonzaga und über den neun Jahre nach Aloysius, also 1577, in Siegen geborenen Hofmaler der Gonzagas Peter Paul Rubens an Ort und Stelle in der Lombardei gewesen. Unglücklicherweise war ich in Mantua an einem Montag gewesen, und am Montag sind in Italien die Museen und Palazzi bekanntlich geschlossen, weil sich die Kunstwerke und die Wärter und Wächter der Schätze von den Touristenscharen erholen müssen. Die Kirchen haben natürlich immer und vor allem auch am Sonntag geöffnet … Manche Geistliche, »Kultarbeiter«, nehmen sich gern, wie die Friseure, dann auch am Montag frei.
Diesmal freilich hat meine Frau im Internet alles genau untersucht und ausgesucht, was Quartiere in Schauplatznähe und Öffnungszeiten der Kultusstätten betrifft, so daß wir alles Großartige an Bildern von Andrea Mantegna, Peter Paul Rubens und Giulio Pippi Romano im Palazzo Ducale und im Palazzo del Te bewundern können würden. Die in Wien mit ihrer Familie lebende Italienerin Gabriella Telera, die in Turin studiert und sich als Germanistin mit meinen Romanen, vor allem mit »Die Abtei«, befaßt und sie teilweise ins Italienische übersetzt hatte, hat uns über das kirchliche Programm am 21. Juni, dem Todes- und Namenstag des Aloysius di Gonzaga, in Castiglione delle Stiviere informiert und uns den Termin der Festmesse um 10.30 mitgeteilt. Dort zog es mich hin. Im Zentrum von Castiglione an der Piazza San Luigi Gonzaga, am quadratischen Platz vor der Kirche mit seiner mächtigen Platane, gibt es leider kein Hotel, so daß wir am Rande der Stadt gegen Solferino hin in einem Hotel, das nach dem Gründer des Roten Kreuzes Henri Dunant benannt ist, übernachten mußten. Auf dem Platz vor der Kirche in Castiglione herrschte auf einem Wochenmarkt reges Treiben. Vor der Festmesse im Santuario di San Luigi Gonzaga besichtigte ich im Dom, der Chiesa dei Santi Nazario e Celso Martiri, noch das Grab, das heißt die Grabplatte über der Gruft vor dem Presbyterium, wo die Mutter des Aloysius und von sieben weiteren Kindern, Marta Tana di Santena di Chieri, 1804 – umgebettet vom Friedhof des Klosters Santa Maria vor den Toren Castigliones – ihre letzte Ruhestätte gefunden hat.
Da wir von Solferino aus und dem Hotel Henri Dunant mit unseren Koffern und Taschen unterwegs nach Mantua waren, wo wir im Hotel Gonzaga gebucht hatten, wußten wir nun in Castiglione, wo wir die für 10.30 angesetzte Festmesse besuchen wollten, nicht, wohin mit dem vielen Gepäck. Mutig und findig, wie meine Frau ist, erklärte sie dem Sakristan, einem Afrikaner in schwarzem Talar, einem »Kirchenschweizer«, unser Problem, der sich darauf mit dem Kirchenrektor besprach, der uns erlaubte, unsere Koffer und Taschen in einem der vielen Beichtstühle und zwar im mittleren Teil eines Beichtstuhls, auf dem Sitz des Beichtvaters, hinter einem Vorhang, abzustellen und abzulegen. Es war ja auch keiner der vielen wunderbar geschnitzten Beichtstühle von Priestern besetzt und von Sündern besucht … Ursprünglich hatte ich geplant, in dieser Kirche nach meinem 80. Geburtstag eine sogenannte Lebensoder Generalbeichte abzulegen und sozusagen einen Schlußstrich unter alle bedenklichen Handlungen, »Worte und Werke« (verba et opera), meines Lebenswandels zu ziehen und um Nachsicht (remissio) und Nachlaß (absolutio) zu ersuchen … Schon bei meinem ersten Recherchebesuch vor fünf Jahren hatte ich mich nach einem Geistlichen umgesehen, der Deutsch verstünde, aber keinen gefunden. Ein jesuitisch ernst und streng wirkender Priester schritt, Rosenkranz betend, im Mittelgang der Kirche auf und ab. Den wollte ich in seiner Andacht nicht stören, hatte aber ohnehin keine Hoffnung, daß ich mich verständlich machen könnte.
Während eines Gastsemesters an der Universität in Genua im Jahr 1980 stand mir auch einmal der Sinn nach Aussprache und Beichte. Dort behalf ich mir mit meinen Lateinkenntnissen … Confiteor Deo omnipotenti … apostolis Petro et Paulo … beatae Mariae virgini … quia peccavi nimis cogitatione verbo et opere … Es kann freilich sein, wenn man in einer Fremdsprache beichtet, daß man »läßliche« Sünden« nennt, die man eigentlich nicht begangen hat, nur weil man die Vokabeln kennt, während einem die Begriffe für die wirklichen Verfehlungen, vor allem für die sogenannten »Todsünden«, nicht einfallen wollen und fehlen … An die sogenannten »schweren« oder »Todsünden«, die nach der strengen alten Meinung in die Hölle als ewige Verdammnis führen, mag man ja gar nicht denken!
Im Religionsunterricht an der Volksschule in Pichl bei Wels habe ich von Pfarrer Alois Einberger, dem ich seinen, meinen Vornamen verdanke und der mir oft am 21. Juni, unserem Namenstag, ein sogenanntes Heiligenbildchen mit einem Aloysius-Gebet auf der Rückseite schenkte, aber aus heutiger religionspädagogischer Sicht bedenkliche, manche meinen verheerende Ansichten vermittelt bekommen. Ich erinnere mich an eine sogenannte »Höllenpredigt«, die dem Spezialisten aus dem 17. Jahrhundert auf diesem Gebiet, dem damals schier unvorstellbare 82 Jahre alt gewordenen Martin von Cochem, Kapuziner, Volksmissionar und Schriftsteller, »Ehre« gemacht hätte, in der Einberger davon sprach, daß in der Hölle eine Uhr »Immer – Nimmer« ticke, um die Ewigkeit und Ausweglosigkeit der Strafe anzuzeigen und bewußtzumachen. So etwas erzeuge, wie eine liebe befreundete evangelische Theologin und Germanistin in Saarbrücken, Ulrike Gräff, in einer »Personenbeschreibung« in »Das große Brandy-Buch« (Brandy war mein Spitzname) über mich schrieb, »ekklesiogene Neurosen« … Sie führte meine damaligen psychischen Probleme, Phobien, Panikattacken und Depressionen, auf anerzogene Schuldgefühle durch Eltern und Religionslehrer zurück, so daß mir auch unschuldige Vergnügungen und harmlose Freuden verwehrt seien, weil ich sie mir nun, nach den »beherzigten« internalisierten Ermahnungen der schwarzen Pädagogik, selbst verbieten würde …. Sie hatte in vielem recht, wenn auch ihre schlimmsten Befürchtungen hinsichtlich meiner Zukunft dann Gott sei Dank doch nicht ganz so eintrafen. Pfarrer Einberger jedenfalls beschwor und zitierte auch gern in seinen Predigten die »Nacht, da niemand mehr wirken kann«, obwohl der Evangelist Johannes (9/4) es nicht so infernalisch gemeint hat: »Ich muß das Evangelium am Tag verkünden, es kommt die Nacht, da niemand mehr wirken kann …« Das Evangelium ist doch eine frohe und keine rohe Botschaft, keine Drohbotschaft …
Heute hat sich der Teufel als Thema der Theologie verabschiedet, der Satan hat abgedankt. Eben macht ein Buch des Autors Gerhard Roth mit dem abgewandelten, auf William Shakespeare zurückgehenden Titel Furore: »Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier.« Die Teufel sind alle unter uns? In Shakespeares »Sturm« heißt es: »Hell is empty and all the devils are here.« Und wenn man bald täglich von abscheulichen Attentaten, Terroranschlägen und grauenhaften Massakern mit zahlreichen Toten, darunter immer auch Frauen und Kindern, von nichts als Krisen und Kriegen hört, möchte man dies bald als Erklärung gelten lassen.
James Joyce, der überragende irische Autor des »Ulysses«, der Revolutionär und Pionier des modernen Romans, hat in seinem Frühwerk »Porträt des Künstlers als junger Mann« seine Jugend als Internatsschüler in zwei der bekanntesten Jesuiten-Schulen Irlands, dem Kollegium Clongowes Wood und dem College Belvedere, beschrieben und »aufgearbeitet«. Im dritten Kapitel dieses »semiautobiographischen« Romans über Stephen Dedalus (als der Joyce dann auch im »Ulysses« erscheint) schildert er Exerzitien, also »geistliche Übungen«, die ein Pater Arnall leitet. Dort ist über viele Seiten eine der eindrucksvollsten Höllenpredigten »protokolliert«, die dem jungen Stephen besonders nahe und zu Herzen geht und ihn beunruhigt, da er eine venerische »Todsünde« begangen hat, die in die ewige Verdammnis führt. Und gerade hier ist auch von jener Uhr im Inferno die Rede, die »Immer-Nimmer« tickt, von der wortgleich auch Alois Einberger im Religionsunterricht an der Volksschule Pichl bei Wels gesprochen hat. Es gibt in diesem Roman des James Augustine Aloysius Joyce noch viele andere Stellen, die mir buchstäblich unheimlich vertraut sind und von denen noch zu reden sein wird, wie etwa die über seine Mutterbindung … Schon architektonisch gleicht das Linzer Kollegium Petrinum am Fuße des Pöstlingberges Clongowes Wood nahe Dublin in Irland. Das »Aloisianum«, die Jesuiten-Anstalt der Diözese Linz am Freinberg, hingegen kann sich, architektonisch gesehen, mit Clongowes Wood nicht messen …
Als ich in Castiglione bei meiner ersten Recherche keinen Beichtvater fand, der Deutsch gesprochen hätte, und da meine Lateinkenntnisse in der Zwischenzeit weitgehend reduziert, wenn nicht gar geschwunden waren, sagte ich mir, der Wille gilt für das Werk … Und: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich erinnerte mich aber natürlich an die Büßerlegende »Gregorius« des Hartmann von Aue aus dem späten 12. Jahrhundert, die ich in so vielen Sprachgeschichte-Proseminaren an den Universitäten in Saarbrücken, Klagenfurt und Salzburg als Lektüretext den Übungen zugrundegelegt hatte: Dort, im berühmten Prolog, macht sich Hartmann Sorgen und Vorwürfe, weil er viel gedichtet habe, was ihm den Beifall der Welt bringen sollte. »Dazu verführten ihn die jungen Jahre.« Jetzt aber weiß er, daß derjenige, der jung ist und im Hinblick auf seine Jugend »drauflossündigt«, weil er sich denkt, du bist noch ein junger Mann und deine Sünden wirst du schon im Alter noch Zeit haben zu büßen, gründlich falsch denkt, weil der Tod sein »Vorhaben« oder seinen »Vorsatz« (vürgedanc) mit einem plötzlichen Ende schlagartig zunichte machen kann.
Lieber Aloysius, mir ist, als hättest du Hartmann von Aue gelesen oder ein Proseminar bei mir besucht, weil ein Passus aus einem deiner Briefe aus Rom an deinen Bruder Francesco in Castiglione, der nach Rodolfo jene Stelle eingenommen hatte, die dir zugedacht war und zugestanden hätte, sich genau wie eine »Prosaauflösung« der Verse Hartmanns in der Gregorius-Legende liest. Du mußt nämlich wissen, daß sich meine Habilitationsschrift mit der Prosaauflösung befaßt hat, im Untertitel heißt sie »Studien zur Rezeption der höfischen Epik im frühneuhochdeutschen Prosaroman«. Du schreibst: »Und außerdem möchte ich, daß Sie des Abends nicht zu Bette gehen, bevor Sie nicht in Ihr Inneres geschaut, damit Sie, falls Sie sich einer schweren Sünde, wovor Sie Gott bewahren wolle, schuldig finden, den Vorsatz fassen, sie möglichst bald durch eine Beichte auszutilgen, die Sie immer dann für notwendig halten müssen, wenn Sie etwas zu bereuen haben. Deshalb warten Sie niemals bis auf eine bestimmte Zeit, wie etwa Ostern oder ähnliche Gelegenheiten, da Ihnen niemand die Gewißheit geben kann, daß Sie dann noch leben.«
Du warst also mit deinem Bruder per Sie! Und deiner Mutter sagst und schreibst du: Erlauchteste in Christo hochzuverehrende Frau Mutter, und dem Vater: Erlauchtester Herr Vater. Ist dir das nicht schwergefallen, da du doch erleben mußtest, wie dich dein Vater, ein Spieler und Trinker, der dich unbedingt von deinem Vorsatz abbringen wollte, Jesuit zu werden, und der seiner Familie viel Sorgen bereitet hat, behandelt hat? Ja, selbst deinen Bruder Rodolfo, den »Übeltäter«, den die Menschen in der Gegend wohl begründet einen Tyrannen nannten, dessen Ermordung sie gefeiert haben und der wohl so lange in einer sogenannten wilden Ehe oder Ehe zur linken Hand oder auch Friedelehe mit der bürgerlichen Elena Aliprandi lebte, bis du ihm gedroht hast, ihn nicht mehr als Bruder zu betrachten – sogar ihn sprichst du im Brief vom 6. Februar 1591 so an: »Erlauchtester in Christo hochzuverehrender Bruder«! Hochzuverehren?
Dieser Brief, den du aus Mailand, wohin du, deine Studien in Rom unterbrechend, gefahren bist, hat es in sich! Abgesehen davon, daß er ein stilistisches Kabinettstück und große Literatur ist, zeugt er von einer großen Entschlossenheit und einem ungewöhnlichen sittlichen Ernst. Du redest deinem Bruder Rodolfo ins Gewissen, er möge um Christi willen den Skandal seiner wilden Ehe aus der Welt schaffen, andernfalls du mit ihm brechen würdest. »Sollte mir dies nicht gelingen, so erkenne ich Sie als Bruder allein ›secundum carnem‹ nicht an und will Sie nicht anerkennen.« Aus den Anmerkungen zu diesem Brief erfährt man Erstaunliches, so zum Beispiel, daß Rodolfo eigentlich nicht in wilder Ehe lebte, sondern in einer geheim geschlossenen Ehe mit der nicht standesgemäßen Tochter des Münzmeisters Antonio Aliprandi, Elena Aliprandi. Geheimgehalten hat Rodolfo seine Ehe, weil er die Reaktion der Familie fürchtete, und »aus Scheu vor dem Unwillen seiner Verwandten«, und ganz besonders seines Onkels Alfonso, des Herrn von Castel Goffredo, dessen Besitz er erben und vor allem dessen Tochter er heiraten sollte. Aloysius, du erwähnst in diesem Brief auch das Beispiel des »Herrn Herzogs von Mantua« Vincenzo Gonzaga, Herzog nach seinem Vater Guglielmo Gonzaga, dessen Mutter Eleonora von Österreich war, der die Auflösung seiner Eheangelegenheit – die Ungültigkeitserklärung seiner nur ein Jahr dauernden Ehe mit Margerita Farnese, einer Prinzessin von Parma – auch durch Unterstützung des Mailänder Bischofs Karl Borromäus erreicht hat. Vincenzo Gonzaga hat in zweiter Ehe Eleonora Medici geheiratet, von ihr steht in den Anmerkungen zum Brief, sie sei die Gespielin der Brüder Aloysius und Rodolfo gewesen, als sie am Hof in Florenz Pagen waren. Nicht in den Anmerkungen zum Brief, aber in meinem Roman »Aluigis Abbild« steht, daß Vincenzo »der Prächtige« jener kunstsinnige Herzog war, der viele Künstler nach Mantua brachte, vor allem Peter Paul Rubens …
Man spricht ja auch in den Literaturgeschichten bei Autoren, die sozusagen klein angefangen haben und später groß »herausgekommen« sind, von »Jugendsünden« – also weniger im ethisch-moralischen Sinn, sondern im ästhetischen Sinn. Von Rainer Maria Rilke heißt es etwa, daß sein Frühwerk eher bescheiden gewesen sei und nicht erwarten ließ, zu welcher Größe er sich in seinem lyrischen Spätwerk »aufschwingen« würde. Es gibt das Sprichwort: Jugend hat keine Tugend. Es bedeutet, daß sich junge Menschen oft bedenkenlos über moralische Grundsätze hinwegsetzen. Du, lieber Namenspatron, bist der überzeugendste Gegenbeweis. Oder muß man sagen: Ausnahmen bestätigen die Regel? Auch in der Literatur bist du das – denn ich halte dich auch für einen begnadeten Schriftsteller, in gleich mehreren Sprachen, Latein zuvörderst, aber auch im Italienischen, und zwar im geschliffenen toskanischen Hochitalienisch, das zu lernen man euch Brüder, dich und Rodolfo, ja zu den Medici nach Florenz geschickt hat. Darum habe ich dich in meinem Roman auch mit dem aus Andes bei Mantua stammenden bedeutendsten lateinischen Dichter des Altertums verglichen, der von Haus aus, vom Elternhaus her, einen Dialekt gesprochen hat, in Rom aber wie du das sogenannte klassische Latein gelernt hat, Publius Vergilius Maro nämlich, der mit seinen Dichtungen, den Bucolica und Georgica, vor allem aber mit dem Jahrtausendwerk der »Aeneis« das Höchste an Sprachkunst geleistet hat.
Das Musterbeispiel eines zu äußerster Meisterschaft gelangten, jung verstorbenen Dichters ist Georg Büchner. Er starb wie du, Aloysius, mit 23 Jahren! Und hat mit »Dantons Tod«, »Woyzeck«, »Leonce und Lena«, der Novelle »Lenz« und dem »Hessischen Landboten« ein großartiges, revolutionäres Werk hinterlassen. Ich habe mich in meinem Germanistikstudium einmal an einer Arbeit über die Novelle »Lenz« versucht, aber buchstäblich aus Angst, panischer Angst vor dem bedrohlich dargestellten Leiden des Sturm und Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz, vor seiner »Dementia praecox«, seinen schizophrenen »Schüben«, meine Arbeit aufgegeben und »unterlassen« … Eine ähnliche Betroffenheit hat mich auch bei der Lektüre von Werken E.T.A. Hoffmanns und Franz Kafkas erfaßt. Es erging mir wohl ähnlich wie den vielen, von Goethes »Die Leiden des jungen Werthers« »verunsicherten«, zu Tode verängstigten jungen Menschen, die sozusagen dem »einladenden« Beispiel des Helden Werther in den Tod gefolgt sind … Die Todessehnsucht wird später ein großes Thema in der Romantik, die Goethe im Gegensatz zur »gesunden« Klassik als »krank« bezeichnet hat. Eigentlich spricht Goethe nicht von der Klassik und der Romantik, er sagt vielmehr: »Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke.« (Gespräch mit Eckermann am 2. April 1829)
Als hättest du, lieber Aloysius, Hartmann von Aue gelesen, was nicht anzunehmen ist, lautet einer der vom Castiglioner Dominikanerpater Claudio Fini, deinem Gesprächspartner, mitgeteilten Aussprüche, die in deinem Seligsprechungsprozess eine Rolle gespielt haben und an die ich mich vor deiner Kopfreliquie in der Kirche nach der Festmesse mit höchstem Respekt erinnerte: »Die freiwilligen Bußübungen des Leibes dürfen nicht bis auf das Alter verschoben werden, wenn die Kräfte dem nicht mehr gewachsen sind.« Und manches, was du gesagt und geschrieben hast, ist durchaus nicht ohne Humor gesagt. Ich denke etwa nur an deinen Ausspruch, daß man den Leib durch Hiebe wie einen störrischen Esel antreiben müsse …
Nichts war der alten Theologie schrecklicher als die mors repentina, der unvorhergesehene und »unversehene, plötzliche Tod«. Unvorbereitet hinüberzugehen galt als Gräuel. Sine viatico, »ohne Wegzehrung«! In einem solchen Fall wurde damals ins Sterbebuch der Pfarre »Non provideri potuit«, also: Er oder sie konnte nicht versehen werden, eingetragen. Versehen – welch merkwürdiges, vieldeutiges Wort! Eine der priesterlichen Obliegenheiten war in meiner Kindheit und Jugend auf dem Land der Versehgang, der Besuch der Kranken mit dem »Ciborium«, einem Behälter für die konsekrierten Hostien. Der Pfarrer wurde dabei meist von einem Ministranten begleitet, der von Zeit zu Zeit, wenn Leute vorbeigingen, mit einer kleinen Handglocke läutete. Fromme knieten sich manchmal nieder, wenn sie den Priester mit der Stola über dem Talar bekleidet kommen sahen. So wie sich viele Passanten, die die Brücke über den Innbach bei der Mühle und meinem Elternhaus in Pichl bei Wels überquerten, vor dem in der Mitte des Geländers angebrachten metallenen Kruzifix bekreuzigten. Ernst Jandl bringt mich zum Schmunzeln, ja Lachen, wenn er in einem »Gedicht« schreibt: »Immer, wenn ich an einer Kirche vorbeigehe, bekreuzige ich mich, bei einem Zwetschgenbaum aber bezwetschgige ich mich. Wie ich ersteres tue, weiß jeder Katholik, wie ich letzteres tue, ich allein.« Mein Freund Josef Winkler beschreibt, wie er den Pfarrer von Kamering im Drautal, den aus dem oberösterreichischen Offenhausen stammenden Franz Reintaler, auf ähnlichen »Versehfahrten« im Auto, das von den Smart Export, die der Pfarrer rauchte, »imprägniert« war, begleitete. Denn wenn ein Geweihter, ein Geistlicher, Zigaretten, Zigarre oder Pfeife raucht, erzeugt das ja auch nicht gerade Weihrauch …
Die Lektüre dieser Stelle in Josef Winklers Buch erinnerte mich wieder an den denkwürdigen und bereits erwähnten Ausflug von Wien nach Rom in der Karwoche 1962 mit dem Auto der Katholischen Hochschulgemeinde, das ich steuerte. Wir, die drei Insassen, der unvergessene Wiener Studentenseelsorger Monsignore Karl Strobl, von uns liebevoll »Monsi« genannt, Gott hab ihn selig, der Philosoph Fridolin Wiplinger – auch er lange tot und auf dem Friedhof in Haslach im oberen Mühlviertel beerdigt – und ich, wir waren alle starke Raucher, und dementsprechend hat der Innenraum des Opel Rekord bei unserer Ankunft in der Ewigen Stadt wie eine Selchkammer oder Rauchkuchl gerochen … Die Autos, die »Luxusautos«, wie man auch sagte, hatten damals ja auf dem Armaturenbrett ein eingebautes elektrisches Feuerzeug. Wenn man den äußeren Knopf über dem zylindrischen Corpus hineindrückte, begannen am anderen Ende, im Inneren dieses Anzünders, Drähte zu glühen. Man zog das Ding heraus und berührte mit der Zigarette den glühenden Draht. Aber nicht nur diese Anzündhilfe, auch ein herausziehbarer Aschenbecher gehörte zum Standardinventar dieser »Luxusautos«. Das gerät heute angesichts des neuverordneten Rauchverbots in den Gaststätten und der allgemeinen Ablehnung des Rauchens in geschlossenen Räumen sowie der Raucher langsam in Vergessenheit. Und einen »geschlosseneren«, engeren Raum als den Innenraum eines Autos gibt es ja wohl nicht.
Mich erinnert dies alles an den unvergeßlichen populären Kärntner Mundartdichter und Humoristen Wilhelm Rudnigger, der ein Kettenraucher war und im Auto, mit dem er seine Lesetouren, auch solche bis Hamburg, unternahm, oft oder immer vergaß, den Aschenbecher zu benützen, was an seiner braunen Trachtenjoppe aschgraue Spuren hinterließ … Ich wollte einmal zu ihm ins Auto steigen, er warnte mich aber und bat mich, davon Abstand zu nehmen. Seine Sitze waren nämlich nicht nur mit Asche imprägniert und besudelt, sondern auch von den Haaren seines Hundes Felix übersät, der ihn auf seinen Fahrten von Café zu Café immer begleitete … Mir hat Rudniggers bester Freund, der Goldschmied und Schmuckkünstler Sepp Schmölzer, einige Artefakte, Objekte und Fotos, aber auch viele »Rudniggeriana« vermacht. Ich habe sie, nachdem der Nachlaß Rudniggers, auch sein berühmter Spazierstock(!), ins Musil-Literaturmuseum gekommen ist, auch dorthin gebracht.
Etwas anderes bleibt mir von jener erwähnten Romfahrt ewig – oder »bis auf Weiteres« – im Gedächtnis: Im Dom von Bologna wollte Monsi auf der Hinfahrt eine Messe zelebrieren und bat mich, ihm zu ministrieren. Ich dachte, das wird wohl an einem Seitenaltar sein, und war wegen meiner Platzangst, der »Klaustrophobie«, bereits richtig in Panik, als ich sah, daß uns ein Sakristan zum hohen Hochaltar führte. Man hatte Monsignore Strobl also als Substituten und Einspringer für einen ausgefallenen ortsfesten Zelebranten »eingeteilt«, den sonntäglichen Hauptgottesdienst vor einer großen Gottesdienstgemeinde zu übernehmen. Ich war geradezu geschockt und habe mich bei den damals in der vorkonziliaren Zeit noch gebräuchlichen Psalmen des »Staffelgebetes« wohl einige Male vertan. Vor allem beim sogenannten »Confiteor«, das zwei Syntagmen hat, im ersten Teil vor dem »Mea culpa!« dominiert der Dativ: Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, den Aposteln Petrus und Paulus … und euch Brüdern und Schwestern … Im zweiten Teil, dem Schlußteil, aber herrscht der Akkusativ: Precor – »ich bitte« – beatam Mariam virginem … und euch Brüder und Schwestern, für mich zu beten bei Gott unserem Herrn. Ich habe mich aber im zweiten Teil wieder in den Dativ verirrt und so hat Monsignore Strobl meinem verbalen »Perpetuum mobile« ein Ende bereitet, indem er mir mit dem Schlußvers einfach ins Wort gefallen ist: Introibo ad altare Dei. Da wußte ich wieder, wie antworten: Ad Deum qui laetificat iuventutem meam – »Zu Gott, der mich erfreut von Jugend auf.«
An der Windschutzscheibe unseres Opel Rekord klebte natürlich jene SOS-Plakette – ein blaues Kreuz auf weißem Grund –, die bedeutete, daß der Fahrzeughalter und -lenker sich als Christ und Katholik versteht und bekennt und im Falle eines schweren Unfalls »versehen« werden und kirchlich von einem Priester betreut werden will. Christen haben damals, wie vielleicht heute die »Zeugen Jehovas«, die man ein wenig abfällig als »Bibelforscher« bezeichnete, die Religion wichtiger genommen als die Medizin. Und mehr als nach dem Arzt nach dem Priester gerufen. Wie auch das oben erwähnte »Versehen« wird auch das Sakrament der Krankensalbung kaum noch gespendet. Die im Volksmund als »Letzte Ölung« bezeichnete Krankensalbung, lateinisch Sacra unctio infirmorum, wurde freilich nicht nur ante, sondern auch post mortem, also vor oder nach dem Ableben gespendet, »verabreicht« … Ableben – welch merkwürdiges Wort …
Der alten Theologie und dem Volksglauben entsprechend und gemäß, wird wohl von älteren Geistlichen am 3. Februar, dem Namenstag des heiligen Blasius, der Blasiussegen gespendet, ein sogenanntes Sacramentale, also keines der sieben Sakramente. Blasius war ein frühchristlicher Märtyrer, der der Legende nach ein Kind, das zu ersticken drohte, von einer Fischgräte im Hals befreite, was ihn zu einem der vierzehn Nothelfer und hier insbesondere für HNO zuständig werden ließ. Und am Aschermittwoch wird das Aschenkreuz ausgeteilt: »Gedenke o Mensch, daß du Staub bist und zu Staub zurückkehren wirst.« Pulvris es, Pulver, Staub bist du … Das ist, naturwissenschaftlich gesehen, nicht richtig oder nur teilweise korrekt. Bei Georg Büchner, dem Dichter, Mediziner, Naturwissenschaftler und Revolutionär, könnte man nachlesen, woraus sich der Mensch wirklich zusammensetzt, in der Hauptsache wohl aus Wasser und Salzen. Und auch Gottfried Benn, den großen expressionistischen und pessimistischen Dichter und Arzt, könnte man zu dieser Frage konsultieren. Aber man sollte sich nicht deprimieren lassen! Schwimmt die Seele im Wasser? Der Geist Gottes schwebt jedenfalls über den Wassern …
Unsere Aloysius-Wallfahrt begannen wir, meine Frau Suchra und ich, in Desenzano am Gardasee, und da in Castiglione selbst kein passendes Hotel zu finden war, nahmen wir, wie gesagt, Quartier im benachbarten Solferino, in einem nach Henri Dunant, dem Gründer des Roten Kreuzes, benannten Hotel. Im Vestibül des Hauses, an der Rezeption, wo wir eincheckten, unsere Vouchers vorweisen und uns ausweisen mußten, neben einer Theke, die wie eine riesige, glänzend gelb schimmernde Plastikwurst oder ein aufgeblähter Dickdarm, sicher von einem ambitionierten Designer, gestaltet war, standen Gegenstände herum, ramponierte Tische und Sessel und durchgesessene Fauteuils, auch landwirtschaftliche Geräte, alles in einem malerisch beschädigten, desolaten Zustand. Der ästhetische und moralische Hintergedanke dieser zerrütteten Gegenstände war wohl, an den gräßlichen Krieg und das grauenhafte Gemetzel der Schlacht bei Solferino am 24. Juni 1859 zu erinnern, die mit der Niederlage Österreichs gegen das Königreich Sardinien und Frankreich unter Napoleon III. endete und den Namensgeber des Hotels zu seiner großen humanitären Anstrengung und Tat, der Gründung des Roten Kreuzes, bewogen hat.
Genau hundert Jahre vor dem Tod Jean-Henri Dunants im Jahr 1910 starb in der Lombardei und zwar in Mantua der Tiroler Freiheitskämpfer Andreas Hofer. Er starb aber bekanntlich keines natürlichen Todes, sondern er wurde hingerichtet, und ich wollte nach der eigentlichen Wallfahrt nach Castiglione auch der Spur Hofers folgen und jene Stelle aufsuchen, wo die grausame Prozedur der Exekution bei der Zitadelle an der »Porta nuova« im Norden Mantuas stattgefunden hat. Einige Zeit vor der Wallfahrt hat mir, seinem »Doktorvater«, ein ehemaliger Student und Dissertant aus Saarbrücken, der Luxemburger Pit Schlechter, der über das Luxemburger Volksstück, das triviale Theater, wie es von Laien, örtlichen Vereinen, gespielt und gepflegt wird, promoviert hatte, auf mein Buch »Lebenszeichen« hin, in dem unsere gemeinsame Zeit im Saarland in einigen Geschichten vorkommt, einen Brief geschrieben, aus dem ich zitieren darf: »Wiederholt war ich auch bei den Amischen in den USA, denen Sie in Ihrem Buch eine ›archaische‹ Landwirtschaft zuschreiben, was so nicht ganz zutrifft. Sie benutzen zwar immer noch Pferde statt Traktoren, entwickeln und benutzen aber hochmoderne Geräte und Maschinen für den Pferdezug. Ansonsten genieße ich das Landleben, übrigens nicht weit von dem Ort, aus dem einst der junge Mann kam, der als Offizier in französischen Diensten Ihrem Andreas Hofer in Mantua nach einem etwas stümperhaften Exekutionsversuch den Gnadenschuss geben musste.« Der zitierte junge Mann, der Andreas Hofer den Gnadenschuß geben mußte, hieß Michel Eiffes und stammte aus dem Ort Befort, wo er nach seinem Militärdienst noch dreißig Jahre lang als angesehener Gastwirt und Bürgermeister lebte.
Das Andreas-Hofer-Lied »Zu Mantua in Banden / der treue Hofer lag« wurde zur Tiroler Landeshymne. Und im viel beschworenen und besungenen »heiligen« Land Tirol, in der Innsbrucker Hofkirche, hat er – bzw. seine sterblichen »Überreste« – nach der Beisetzung in der Kirche San Michele in Mantua und nach der Odyssee seiner Leiche von Mantua mit Zwischenstationen unter anderem in Verona und Sterzing seine letzte Ruhestätte gefunden. Er ist hier der prominenteste Tote, da Kaiser Maximilian, der vor 500 Jahren in der Welser Burg gestorben ist, das für ihn gedachte Mausoleum mit den »Eisernen Mandern« nicht in Anspruch genommen hat und in Wiener Neustadt seine Grablege fand. Wie mag dieser Transport eines Toten vonstatten gegangen sein? Im Welser Museum gibt es ein anschaulich gestaltetes Diorama jenes Zuges, mit dem der tote Kaiser in seinem hölzernen Sarg auf dem von drei Pferdepaaren, also dreispännig gezogenen Paradewagen in die Welser Stadtpfarrkirche zu einer ersten Einsegnung und Exequie gebracht wird, begleitet und eingerahmt von einer Schar Ministranten und Akolythen, etliche mit Fahnen oder brennenden Kerzen, und zahlreichen hohen Klerikern und Geistlichen und Priesteramtskandidaten in Talaren und Chorhemden, sicher auch von Bischöfen aus den Erzdiözesen Salzburg und Passau und von Adeligen, vermutlich vor allem Aristokraten aus dem Geschlecht der Polheimer, in deren Stadtschloß, in einem Erkerzimmer, Maximilian am 12. Jänner 1519 verstorben war. Und weil, wie gesagt, Winter war, wird der weitere Leichentransport über Enns, St. Pölten und Wien nach Wiener Neustadt zumindest klimatisch keine Schwierigkeiten bereitet haben. Über diese Schwierigkeiten, im heißen Sommer eine Leiche – in diesem Fall jene Oswalds von Wolkenstein, des Diplomaten, Minnesängers und Spruchdichters – über Berg und Tal von Meran nach Brixen zu bringen, hat Dieter Kühn in seinem Buch »Ich Wolkenstein« ausführlich und eindrucksvoll geschrieben, auch Auskünfte verwendet, die er von einem Pathologen bekommen hat. Ja, selbst in der Bibel heißt es im Zusammenhang mit der Totenerweckung des Lazarus (Joh. 11,39), des Bruders von Martha und Maria, drastisch, daß Martha zu Jesus sagt: »Er ist schon vier Tage tot«, »Iam fetet« in der lateinischen Vulgata. Luther übersetzt: »Herr, er stinckt schon, denn er ist vier Tage gelegen«.
Die »letzte Ruhestätte« hat Oswald in Neustift, im Kloster der Augustiner Chorherren, eigentlich vorerst auch nicht gefunden. Nachdem sein Leichnam lange verschollen war und erst 1973 am alten Friedhof an der Außenmauer des Doms in Brixen entdeckt wurde, hat man die Knochen des Skeletts und den Schädel schließlich in Linz und Bern untersucht und anhand einer angeborenen Mißbildung des rechten Auges, wie auf dem bekannten Porträt ersichtlich, identifiziert. Erst dann konnte er wirklich und ein zweites Mal »beigesetzt« werden. Dann erst hat also der unruhige und streitbare Geist, der in viele Prozesse und Scharmützel und Händel verwickelte Baron, seine Ruhe und ewigen Frieden gefunden …
Im Fall von Kaiser Maximilian ist davon die Rede – nachzulesen etwa im Buch »Maximilian I.« von Hermann Wiesflecker, dem aus Lienz gebürtigen Grazer Historiker –, daß der Kaiser testamentarisch verfügt hat, daß er nach dem Ableben geschoren werden will, daß ihm die Zähne gebrochen werden sollen und daß er in seinem Eichendoppelsarg mit Asche und Kalk überschüttet werde. Die Redewendung »in Sack und Asche Buße tun« ist laut Lutz Röhrichs »Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten« bereits biblisch belegt (Ester 4,1). Und der fromme Kaiser hat sich nicht nur wegen eines venerischen Leidens als Sünder gefühlt. Er war demütig und »reumütig« …
Auch ich habe Exhumierungs- und Umbettungsvorgänge miterlebt: Die Mutter meiner Frau, also meine Schwiegermutter, wurde im Klagenfurter Hauptfriedhof in Annabichl beerdigt. Es war jedoch der Wunsch meines Schwiegervaters, eines gebürtigen Albaners und Moslems, daß sie ein Jahr nach dem Begräbnis in die Nähe seiner Wohnung in der Dag-Hammerskjöld-Siedlung auf den Friedhof Sankt Martin umgebettet werde, damit er sie sozusagen in seiner Nähe hat und ein Friedhofsbesuch im weit entfernten Annabichl nicht immer eine »Weltreise« mit den Stadtbussen und öfterem Umsteigen nötig machte. Umgebettet wird ganz diskret nachts oder im Morgengrauen, wenn die Einwohner der Stadt noch schlafen. Mein Schwiegervater Teka Selman – sein Name Suliman wurde im Krieg eingedeutscht – schlief in jener Nacht aber nicht, sondern begab sich aus einem gewissen Mißtrauen, das er sich wohl im Krieg und in Lagern in Exjugoslawien und Italien »zugezogen« hatte, und auch, weil ihm in seinem Flüchtlingsleben oft übel mitgespielt worden war, auf den Friedhof, um mit eigenen Augen zu sehen, daß nicht geschwindelt und der Sarg wirklich ausgegraben und erhoben und schließlich im neu angemieteten Grab im Friedhof Sankt Martin in die am Vortag ausgehobene Grube versenkt wurde. Er wollte nicht für nichts und wieder nichts die nicht unerheblichen Kosten und Gebühren bezahlen … Er wurde aber von den Arbeitern der Bestattung, den »Pompfüneberern«, die absolut kein Publikum duldeten, verscheucht und konnte nur aus der Ferne dem Geschehen folgen … Nun ruht auch er in diesem Grab, er ist zehn Jahre nach seiner Frau im zweiundneunzigsten Lebensjahr verstorben. Sein Begräbnis, den Kondukt, hat der brave, unermüdlich tätige und vielbeschäftigte Pater Anton Wanner, Kapuziner und Krankenhausseelsorger, freundlicherweise gestaltet und in seiner Grabrede von jenen Propheten, namentlich Abraham, gesprochen, die Christen, Juden und Moslems gleicherweise kennen, anerkennen und verehren. Es war wahrlich ein interkonfessionelles Begräbnis …
Als vor einigen Jahren ein Kind, die neunjährige Tochter eines albanischen Moslems in der erwähnten Dag-Hammerskjöld-Siedlung auf tragische Weise verbrannte und ums Leben kam und ebenfalls nach christlichem Ritus von einem katholischen Geistlichen auf ihrem letzten Weg »begleitet« wurde, hat der Betreffende Schwierigkeiten mit dem Seelsorgeamt der Diözese Gurk bekommen. In Leserbriefen wurde dann aber die Kaltherzigkeit des Kirchenrechts kritisiert, noch dazu, wo es sich nicht um einen Selbstmörder wie Werther, sondern um ein Kind, ein unschuldiges Mädchen, handelte … Begräbnisse von Anders- oder auch »Ungläubigen«, aus ihrer Kirche Ausgetretenen, zeremoniell und liturgisch zu moderieren, ist, um es ein wenig flapsig auszudrücken, zu einem bevorzugten »Geschäft« der Altkatholischen Kirche, der Markus-Kirche in der Klagenfurter Kaufmanngasse in der Nähe der Stiege, die nach einem der Gründer der Altkatholischen Kirche Johann Joseph Ignaz von Döllinger benannt ist, geworden. Der zuständige Ortsbischof der Altkatholiken wird vor allem für seine rhetorischen und spirituellen Fähigkeiten von vielen dankbar geschätzt und auch bewundert.
Altkatholisch wurde auch die Schriftstellerin Brigitte Schwaiger auf dem Wiener Zentralfriedhof beerdigt. Ein Ehrengrab, wie sie es verdient hätte, hat Brigitte Schwaiger nicht bekommen … Den Wunsch, den sie einmal geäußert hat, ein Grab zwischen den Grabstätten von Gerhard Bronner und Friedrich Torberg zu bekommen, hat man ihr auch nicht erfüllt. Gewünscht hätte sie sich vielleicht auch, daß der Wiener Erzbischof Kardinal Christoph Schönborn, für den sie eine große, unglückliche Sympathie empfand, sie auf ihrem letzten Weg begleitete … Mit ihrem surrealistischen, irrwitzigen Humor, hat sie sich ja brieflich an den Kardinal gewandt und vorgeschlagen, er und sie sollten aus der Kirche austreten, mosaisch werden und heiraten … Altkatholisch beerdigt wurde auch der eingangs erwähnte Dichter und Lehrer am Slowenischen Gymnasium Janko Messner, der sich, obwohl sein Bruder katholischer Priester war, über die Rolle der katholischen Kirche im Volksgruppenstreit und in der Minderheitenfrage oft geärgert und in geharnischten Briefen an das Ordinariat bitter beschwert hat. Katholisch geblieben, wenn auch in kritischer Distanz zum Klerus und zur Hierarchie und zum Bischof, wie die Erzählung »Das Kind« zeigt, ist Christine Lavant. Viel besucht ist das Grab Ingeborg Bachmanns auf dem Friedhof Annabichl in Klagenfurt, wohin man sie nach ihrem rätselhaften Tod in Rom überführt hat. Ihrer Grabstätte hat sich nachträglich ihre Heimatstadt Klagenfurt im Sinne eines Ehrengrabs angenommen, Kritiker sagen »bemächtigt« … Uwe Johnson hat in dem Buch »Eine Reise nach Klagenfurt« seinen Besuch von Bachmanns Grab und der kritisch gesehenen Landeshauptstadt Klagenfurt protokolliert. Werner Berg hat unter dem Eindruck des Buches »Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod« von Jean Améry, der in einem Salzburger Hotel freiwillig aus dem Leben geschieden ist, auch diesen Ausweg gewählt. Der Wunsch, auf dem Salzburger Kommunalfriedhof beerdigt zu werden, wurde Berg erfüllt. Die Welt der Unglücklichen ist eine grundsätzlich andere als die Welt der Glücklichen, heißt es sinngemäß bei Améry.
Der Psychiater und Suizidforscher Erwin Ringel, der in einem Hotel in Bad Kleinkirchheim in Kärnten in der »Bedürfnisanstalt« eines natürlichen (!) Todes gestorben ist, hat Profundes über die kranke »Kärntner Seele« geschrieben und die heimliche Landeshymne »Valosn valosn, valosn bin i« von Thomas Koschat, der im Eingangsbereich des Annabichler Friedhofs ein pompöses Ehrengrab erhalten hat, als Depressions-, ja Selbstmord-Hymne bezeichnet. Erwin Ringels makabres Ende erinnert an Josef Roths Geschichte »Die Rebellion«, in der eine männliche »Klofrau« – ein Invalide – in »seiner« Bedürfnisanstalt stirbt und im anschließenden Gericht seinem Schöpfer bitterste Vorwürfe macht. Ähnliche Vorwürfe hat in ihren Gedichten auch Christine Lavant gegen den »lieben« Gott herausgeschrien, weshalb sie ja, wie schon ausgeführt, der Priester Johannes Pettauer als »gottlos« bezeichnet hat. Hier darf man sich auch an den vom Protestantismus zum Katholizismus konvertierten Günther Nenning erinnern, der ein Buch mit dem Titel »Gott ist verrückt« geschrieben hat. Oder an Tilmann Mosers »Gottesvergiftung«.
Heute haben die Kirchen sich auch mit der Feuerbestattung abgefunden, die noch in meiner Jugend ein religiöses No-Go war, weil es, wie argumentiert wurde, zugleich eine Abkehr vom Beispiel Jesu war, der in ein Felsengrab gelegt wurde. »Der ist bei der Flamme«, war ein Satz über eine Ungeheuerlichkeit. Flamme hieß der Sterbeverein jener, die »sich verbrennen« lassen wollten. Heute ist alles anders. Die Pensionisten meiner Heimatgemeinde, und zwar sowohl diejenigen aus dem schwarzen, als auch die aus dem roten Verein, haben gemeinsam einen Ausflug nach Sankt Marienkirchen gemacht, um dort das neu errichtete Krematorium zu besichtigen, von dem es heißt, daß sich mit ihm kein anderes Krematorium in Österreich, was seine Kapazität und Leistungsfähigkeit betrifft, messen und vergleichen könne … Angeblich gibt es dort auch eine Kantine, wo die Besucher, wie in einer Brauerei im Bräustüberl, mit Freibier und Frankfurter Würsteln bewirtet werden. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil darf auch kein Pfarrer mehr Selbstmördern oder deren Hinterbliebenen ein christliches Begräbnis verweigern. In einer deutschen Satirezeitschrift erschien damals eine Karikatur, auf der ein geschwänzter und gehörnter Krampus oder Teufel vor einer langen Reihe von Verdammten stand, mit einer Sprechblase, in der es hieß: Alle Feuerbestatteten vortreten! Generalamnestie!
Es entspricht im übrigen einer religiösen Unsicherheit, einem Minderwertigkeitsgefühl als Reaktion auf das schon zitierte »religio est pudendum«, daß sich die »Konfessionellen« gerne nach prominenten Anhängern ihrer Kirche umsehen und auf berühmte Personen, am besten auf Literaturnobelpreisträger oder Stars und Spitzensportler berufen, die sich in »Testimonials« (»Zeugnis geben«) zu ihrer Kirche und einem entsprechenden Lebenswandel bekennen. Ein solches Idol war in meiner Kindheit und Jugend in der Katholischen Jungschar und der Katholischen Jugend der Schifahrer und Olympiasieger Toni Sailer, der in seiner Heimatstadt Kitzbühel wohl mit der Kirche, der »Ortskirche«, vertraut war. Wenn sich dann viel später, vielleicht sogar nach dem Ableben der »Bekenner«, gewisse moralische Mängel und dunkle Flecken in ihrer Biographie bzw. gewisse Prominente als Heuchler oder Frömmler herausstellen, ist das Ende der Fahnenstange und der Sympathie erreicht. Viele ehemalige Sympathieträger der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit wurden im nachhinein entzaubert. Viele Stars sind erloschen oder haben sich als Sternchen oder überhaupt als Sternschnuppen erwiesen … In meiner Mundart heißt übrigens stürzen, etwa beim Schifahren, einen »Stern reißen«. Es sind freilich auch schon manche »Entzauberer« und Enthüllungsjournalisten entzaubert und »enthüllt« worden … Der Mensch ist und bleibt ein »Mängelwesen«. Auch man selbst, in diesem Sinne: Me too. Viele »Gerechte« haben sich als Selbstgerechte erwiesen und herausgestellt.
»Bekenner« war übrigens der theologische Fachausdruck für heroische Menschen, die sich von ihrem Glauben nicht »abbringen« haben lassen. Auch nicht durch Folter. Ich glaube nicht, daß ich einer Tortur und einer »hochnotpeinlichen« Untersuchung, den »Daumenschrauben«, der »eisernen Halskrause«, der »Streckleiter«, aber auch nicht der Qual durch Schlafentzug, womit man neben anderen Brutalitäten wie der grellen Bestrahlung durch Jupiterlampen etc. den ungarischen Erzbischof und Primas von Ungarn József Mindszenty, den entschiedenen Kritiker des Kommunismus, gequält und zermürbt hat, standgehalten hätte … Auch nicht dem in der Strafanstalt auf der Insel Guantánamo praktizierten »Waterboarding«, der »modernen« Foltermethode des simulierten Scheinertränkens …
»Bekennen« führte in vielen Fällen zum Martyrium. Im Buch »Erotik und Enthaltsamkeit« des französischen Historikers Jacques Dalarun, eines Schülers des Historiker-»Papstes« Georges Duby, erfährt man über den Abt Robert d’Arbrissel aus dem Kloster Fontevraud in der Bretagne (das Werk heißt im Original »Robert d’Arbrissel et la vie religieuse dans l’Ouest de la France«), daß es neben dem sogenannten »roten Martyrium« der »Blutzeugen« auch ein »weißes Martyrium« gegeben hat. Im Falle des Robert d’Arbrissel bestand es darin, daß Mönche und Nonnen gemeinschaftlich lebten, ja, im selben Dormitorium schliefen. Die asketische Leistung bestand darin, daß sie der »fleischlichen« Versuchung und der Libido widerstanden, sich der Versuchung widersetzten und das Sprichwort falsifizierten: Wer sich in die Versuchung und Gefahr begibt, kommt darin um …
Viele Religionen und Konfessionen kennen das Märtyrertum, weil sich die Gläubigen sozusagen gegenseitig massakrieren und umbringen, wie Kritiker meinen. Im Gegensatz zum Islam, wo den »Märtyrern« (oft Terroristen und Selbstmordattentätern) im Jenseits 100 Jungfrauen versprochen werden, gilt im Christentum nach Markus 12,18–27: »Im Himmel wird nicht gefreit.« In der Vulgata heißt es, daß Jesus den Sadduzäern auf ihre spitzfindige Frage antwortet: Im Jenseits »neque nubent neque nubentur« … Luther übersetzt: »Sie werden nicht freien, noch sich freien lassen, sondern sie sind wie die Engel im Himmel.«
Als »Engel im Himmel« wurdest bekanntlich auch du, Prinz Aloysius von Gonzaga, bezeichnet, als du 1591 im Ruf der Heiligkeit als 23jähriger Jüngling beim Samariterdienst, der Pflege von Pestkranken in Rom, starbst, wie du auch auf vielen Bildern mit einem Pestkranken, den du auf Händen trägst, dargestellt wirst. Als du, Aloysius, starbst, war der französische Priester Vinzenz von Paul, der sich durch Großtaten der Nächstenliebe, der Armenfürsorge und der Krankenpflege ausgezeichnet hat und als Gründer und Patron der Caritas gilt, gerade zehn Jahre alt. Es waren Mönche und Nonnen, »Barmherzige Brüder« und »Barmherzige Schwestern«, die Spitäler und Sanatorien gründeten und betrieben, die heute zunehmend von der öffentlichen Hand übernommen und als allgemeine Kliniken und Krankenanstalten geführt werden. Nur die alten Bezeichnungen wie etwa »Elisabethinen-Krankenhaus« oder »Privatklinik Maria Hilf« in Klagenfurt erinnern noch daran, daß es sich einmal um kirchliche Institute gehandelt hat. Der gute Geist der Nächstenliebe wirkt auch noch in unserer, von vielen mit Recht als herzlos empfundenen Gegenwart, wenn man nur an die Friedensnobelpreisträgerin, die aus Skopje stammende Mutter Teresa in Kalkutta denkt. In Saarbrücken steht das »Evangelische Krankenhaus« in hohem Ansehen, wo ich meinen verehrten Lehrer Hans Eggers einmal kurz vor seinem Tod im Jahr 1988 besuchte. Nach seiner Einäscherung wurde seine Urne auf dem Friedhof Sankt Johann »beerdigt«. Mit dem Spital »Maria Hilf«, einst von Schwestern geführt, die sich nun, wenige und alt und in Pension, in eine an den Garten des Sanatoriums angrenzende Villa zurückgezogen und das Krankenhaus den Ärzten und Schwestern der Vereinigung »Humanomed« übergeben haben, habe ich nun leider – oder eigentlich Gott sei Dank – als Apnoe-Patient Bekanntschaft machen müssen – oder dürfen. Hier wurde mir durch den Neurologen und Psychiater Dr. Gustav Raimann, nach einer richtigen, sozusagen punktgenauen Diagnose und Therapie und nach der Untersuchung im Schlaflabor wunderbar geholfen, so daß ich wieder Lust bekam zu leben und zu schreiben …
Es gibt natürlich hier wie in vielen Krankenanstalten auch eine Kapelle, nicht nur einen allgemeinen interkonfessionellen »Andachtsraum« wie in neuen Spitälern. Die Kapelle in »Maria Hilf« stammt vom berühmten Architekten Clemens Holzmeister. Vor der »Rezeption«, der »Aufnahme«, beim Eingang erinnert noch eine traditionelle Marienstatue an die Geschichte des Hauses. Aber auch ein modernes Bild des großen slowenischen Kärntner Malers Valentin Oman kann man hier bewundern, das ähnlich wie Omans Fresken in der Kapelle auf dem Friedhof in Annabichl oder in der Kirche im Bischöflichen Internat und Gymnasium Tanzenberg – das Oman wie auch Peter Handke oder Engelbert Obernosterer besucht haben – »verblassende« Menschen und Gestalten zeigt, die schemenhaft und geheimnisvoll in die Gegenwart hervor- oder eigentlich in die Ewigkeit des Jenseits zurücktreten … In Tanzenberg zitiert Oman über seinen Bildern das Turiner Grabtuch, das auch stilistisch viel über seine Malweise aussagt. Es war mir eine Ehre, daß ich an der Universität Klagenfurt bei Omans Verleihung der Ehrendoktorwürde die »Festansprache« halten durfte. Schließlich kennen wir uns seit unserer Studienzeit, als wir beide im Studentenheim in der Wiener Ebendorferstraße wohnten, ich als Student der Germanistik, er als Student an der Akademie der bildenden Künste am Schillerplatz. Fast wären wir dort Kollegen geworden. Aber er hat im Gegensatz zu mir die Aufnahmeprüfung bestanden …
Viele Jahre später, nach meinen dreizehn Jahren in Saarbrücken und meiner Rückkehr nach Österreich, wollte mich der Maler Josef Mikl, der an der Akademie der bildenden Künste eine Meisterklasse leitete, als Nachfolger des verunglückten, zwanzig Jahre verschollenen und schließlich tot in einer Höhle in den Osttiroler Bergen aufgefundenen Kunstwissenschaftlers, des Jesuitenpaters Alfred Focke, als Kollegen und Freund an die Akademie berufen lassen. Daraus ist nichts geworden. Es hätte wohl auch nicht ganz meiner damaligen Lebensplanung entsprochen … Mit Focke hatte ich, kurz bevor er in die Berge aufgebrochen und dort umgekommen ist, bei einer Tagung in Millstatt eine kleine Auseinandersetzung, weil ich mich kritisch über Karl Rahner und dessen in einer Jubiläumsschrift des Otto Müller Verlags geäußerte Meinung, alles Kreative sei im Kern auch christlich, ausgesprochen habe. Julian Schutting hat in seinem Buch »Dem Erinnern entrissen« dem »einsamen Grenzgänger« Focke einen berührenden Nachruf gewidmet, im Bedauern auch, daß die Kirche keine Gestalten wie ihn oder Monsignore Otto Mauer mehr hat …
Ich habe mich einmal, auf Anfrage und Bitten der Diözesanfinanzkammer hin, bereiterklärt, mich als Kirchenbeitragszahler zu deklarieren. Daraufhin wurde ich von Bischof Alois Schwarz zu einem Mittagsmahl ins Palais der Kaisertochter Marianna eingeladen, in die Bischofsresidenz der Diözese Gurk-Klagenfurt. Der andere, im Gegensatz zu mir wirklich prominente Armin Assinger, der sich auch als Beitragszahler »geoutet« hat, hat die Einladung des Bischofs »nicht einmal ignoriert«. Heute, in der Zeit des übertriebenen und überbewerteten Datenschutzes, darf ja in keinem Formular das früher selbstverständliche r.k. oder AB oder HB, also die Konfession abgefragt werden. Es freut mich aber, wenn ich auf meinem Weg aus dem Zentrum entlang des Lendkanals an der Johanneskirche, die ich einmal in einem Essay irrtümlich als Lutherkirche bezeichnet habe – sie ist freilich auf dem Martin-Luther-Platz –, vorbeikomme und die Gedenktafel für den evangelischen Gert Jonke sehe … In der Stadtpfarrkirche Sankt Egid hat mich der leider schon verstorbene Monsignore Markus Mairitsch auf einen protestantischen Pastor auf dem Deckengemälde hingewiesen, erkennbar an dem charakteristischen Beffchen. Der Klagenfurter Dom war ursprünglich eine Kirche der Protestanten. Die ergreifendste Rede hat beim Requiem für den verstorbenen Generalvikar und Protonotar Olaf Colerus-Geldern der evangelische Bischof Herwig Sturm gehalten …
In der Kirche Sankt Egid, der Klagenfurter Hauptpfarre, historisch gesehen freilich eine Art Filiale der Mutterkirche in Maria Saal, »Maria in solio«, befindet sich neben dem rechten Seitengang in einer Nische das Grab des aus Texas stammenden »französischen« Dichters Julien Green. Er hat in seinem bewegten Leben mit vielen Ortswechseln und Reisen, über die er das umfangreichste Tagebuch der Literaturgeschichte – in der deutschen Ausgabe fünf voluminöse Bände – geschrieben hat, auch zwei Mal die Konfession gewechselt, vom Katholizismus zum Buddhismus und im Alter zurück zum Katholizismus. Als er zu einer Aufführung seines Theaterstückes »Süden« nach Klagenfurt kam, lernte er hier neben dem Intendanten Herbert Wochinz den erwähnten Markus Mairitsch, eine herausragende Priesterpersönlichkeit der Diözese Gurk-Klagenfurt, kennen. Bewogen durch die ihn tief berührende Marienverehrung in Kärnten – Mairitsch war geistlicher Assistent der Legio Mariae –, erwirkte er die Erlaubnis, in der Kirche St. Egid bestattet zu werden, weswegen es 14 Jahre nach seinem Tod in Paris 2012 zur Überführung nach Klagenfurt kam. Bischof Egon Kapellari zelebrierte vor einer großen Trauergemeinde das Requiem und hielt eine eindrucksvolle Predigt in französischer Sprache. Als Greens »Ziehsohn« und Erbe Jean-Eric Green starb, wurde er neben seinem »Vater« in St. Egid bestattet. Bei seinem Requiem gab es kaum Besuch. Wir waren vielleicht 10 »Gäste« … Es kann sein, daß manche diese Grablege an dieser Stelle als unpassend empfunden haben. Die Bestattungen in der Krypta der Stadtpfarrkirche bereiteten übrigens auch technische Schwierigkeiten, weil der Kirchenrektor vor Mairitsch die Gruft, den riesigen Keller der Kirche, ungeschickter Weise, angeblich aus statischen Gründen, mit Beton hat ausgießen lassen. Bestattungen waren nun nur mehr in dem einen noch freien Raum möglich …
Es gibt Gott sei Dank (!) in Europa viele Gotteshäuser, die von mehreren oder doch zwei Konfessionen genützt werden, in vielen katholischen Kirchen in Österreich hat die Kirchenleitung etwa den Orthodoxen – den Griechisch-orthodoxen, den Serbisch-orthodoxen oder Russisch-orthodoxen – Benützungsrechte eingeräumt. Natürlich bleiben die Christen unter sich. Es wäre kaum vorstellbar, daß Moscheen für Christen oder Kirchen für Muslime zur Verfügung gestellt würden … Ich habe einmal in der Klagenfurter Kreuzberglkirche einem griechisch-orthodoxen Gottesdienst »beigewohnt« und über die Schönheit und den ästhetischen Reiz der praktizierten Riten und der Liturgie gestaunt. Man hat vor dem Gottesdienst den Altarraum mit mitgebrachten Ikonen und anderen spezifisch orthodoxen Weihegegenständen und einer Art Ikonostase, einer Bilderwand, umgestaltet. Eigentlich schade, daß von der alten griechischen Liturgietradition in der katholischen Messe nur noch das »Kyrie eleison, Christe eleison« übriggeblieben ist. Wie herrlich aber klingt dieser Anruf in der »Krönungsmesse« Wolfgang Amadeus Mozarts, der »Missa solemnis« von Ludwig van Beethoven oder in Anton Bruckners »Windhaager Messe« oder auch Charles Gounods »Cäcilienmesse« … Man darf sich auch daran erinnern, daß das »deutsche« Wort Kirche etymologisch gerade auf dieses kyrios zurückgeht, auf das Griechische – wie auch das Wort Etymologie selbst …
Ich kann auch lange Predigten oder Psalmen oder Lesungen in einer mir nicht bekannten Sprache hören, schon gar, wenn sie im tonus rectus, also singend, vorgetragen werden. Neulich im Dom von Caorle habe ich am Fest Mariä Namen auch von der italienischen Predigt des lebhaft gestikulierenden Prädikanten nur hin und wieder ein Wort verstanden. Nur am lateinisch gebeteten Credo, dem Pater noster und dem Abschlußgesang, dem Salve regina, konnte ich mich beteiligen und »mithalten« … Im übrigen habe ich mich bei den frommen italienischen Marienverehrern – vor allem Marienverehrerinnen – sehr wohl und gut aufgehoben gefühlt – und ein aktuelles und akutes Gesundheitsproblem dabei vorübergehend vergessen … Gebetserhörung? Nein, nicht doch! Die Ausdauer der Orthodoxen beim Singen und Beten kann einen ungeduldigen Mitteleuropäer freilich überfordern. In diesem Sinn hab ich mich dann doch vor dem Ende der griechischen Liturgie in der Kreuzberglkirche entfernt … Freunde, die wiederholt den Berg Athos besucht haben, berichten von ungeheuer langen Andachten, namentlich in der Osterzeit, die halbe Nächte dauern oder auch im Morgengrauen stattfinden.
In Psalm 33/21 heißt es: »Gott beschützt die Gebeine der Gerechten.« Und bei Jesaias steht: »Es werden ihre Gebeine blühen wie Blumen.« Moritz Meschler – wie du, Aloysius, vom Orden der Gesellschaft Jesu – zitiert diese beiden Stellen in seinem Buch »Leben des hl. Aloysius von Gonzaga, Patrons der christlichen Jugend« (1819) im Schlußkapitel »Die irdische Hülle des entflohenen Engels«, wo von den fünf »Erhebungen«, das heißt Exhumierungen und Umbettungen, deines Leichnams die Rede ist, und von den vielen Reliquien, die durch Schenkungen an Kirchen gelangten, wie die Kinnlade nach Palermo, ein Schulterblatt nach Brüssel, von dem ein Teil später nach Antwerpen gelangte. »Der römische Provinzial, Pater Bernardin Rossignoli, teilte reichlich von den Reliquien aus … und so kamen Teile des Leibes nach Polen, ja nach Indien.« Das berühmte Kruzifix, vor dem du auf vielen Bildern in Betrachtung und Andacht dargestellt bist, gelangte nach Köln. »Am 2. August des Jahres 1626, vier Jahre nach der Heiligsprechung des Gründers des Jesuitenordens Ignatius von Loyola, legte der Kardinal Ludovico Ludovisi feierlich den ersten Stein zur neuen Kirche des hl. Ignatius und zwar an der Stelle der alten Annuntiatenkirche.« Dort also hast du, Aloysius, nach der fünften »Erhebung« eine eigene würdige Kapelle erhalten, in deren Altar der Rest der verbliebenen Reliquien und »Überreste« verwahrt liegt. Francesco Gonzaga, dein jüngerer Bruder, Markgraf nach dem verruchten »tyrannolo«, nach Rodolfo Gonzaga also, dem »unheiligen Bruder des Heiligen«, der von aufgebrachten Untergebenen erschossen wurde und außerhalb der Friedhofsmauern beerdigt worden war, wenn auch später auf Ersuchen der Mutter Marta Tana beim Papst umgebettet wurde, Francesco Gonzaga also, im Gegensatz zu seinem Vorgänger tüchtig und fromm und auch politisch bedeutend, bekam vom Jesuitenprovinzial Aquaviva schließlich für die Jesuitenkirche in Castiglione dein Haupt, das Haupt des 1605, vierzehn Jahre nach seinem Tod, selig gesprochenen älteren Bruders. (Die Heiligsprechung erfolgte ja erst 1726.) Es ist merkwürdig, wie Meschler mutmaßt und spekuliert, warum du, der Selige und dann Heilige, nicht wie andere Heilige unverwest geblieben bist. Ich habe mir in meinem Roman »Aluigis Abbild« einen etwas anderen Reim auf diesen Umstand gemacht … Meschler: »Gott hat dem Leib des hl Aloysius nicht wie den Leibern so vieler anderer Heiligen die Gabe der Unversehrtheit verliehen, die gewöhnlich als eine besondere Belohnung unentweihter Keuschheit angesehen wird. Man sollte denken, gerade Aloysius habe in Ansehung seiner außerordentlichen Reinheit und Jungfräulichkeit auch diese Auszeichnung zuteil werden sollen. Gott ist aber unerforschlich in der Verteilung seiner Gaben und Gunstbezeigungen. Vielleicht beabsichtigt er in seiner Vorsehung durch die Auflösung des heiligen Leibes vielen Orten die Ehre und die Segnungen der Gegenwart seiner Reliquien zuzuwenden …« Nun ja.
Solch unverweste Leiber gibt es in der Kirche in Castiglione delle Stiviere auch, und zwar jene der drei Töchter des verruchten Markgrafen Rodolfo, Cinzia, Gridonia und Olimpia, die sich nicht an ihrem bösen Vater, sondern an ihrem verstorbenen Onkel Aloysius ein Beispiel genommen und einen jesuitischen Frauenorden für adelige Mädchen gegründet haben. Obwohl sie weder selignoch heiliggesprochen wurden, hat ihnen Gott, um Meschlers Wortschatz zu verwenden, die »Gnade der Unversehrtheit des Leibes« geschenkt. Gott hat sich also nicht nach Rom und der Rota des Vatikans gerichtet, um es ein wenig frivol zu sagen. Mit wächsernen Gesichtern liegen sie in ihrer schwarzen Nonnentracht und mit Spangenschuhen in einer kleinen Seitenkapelle in gläsernen Särgen. Neben dem Santuario di San Luigi gibt es ein Museo storico Aloisiano in jenem Collegio Vergini Gesu, das die drei Schwestern, die frommen Frauen, die Töchter der bürgerlichen Elena Aliprandi, der Tochter des Münzmeisters Annibale Aliprandi, des »Finanzministers« Ferrante Gonzagas, des Vaters von Aloysius und Rodolfo, gegründet haben. Neben diesem lokal- und kirchengeschichtlichen Museum besitzt Castiglione delle Stiviere das vielbesuchte Museum des Roten Kreuzes, das – einer Bildergalerie im Internet unter »Sehenswürdigkeiten Castigliones« nach zu urteilen –, ein wenig wie die Wagenburg in Schönbrunn anmutet, nur eben nicht Prunkwagen für den Kaiser und seine Familie, sondern Rettungswagen für den Transport von Verwundeten jener Kriege, die die Potentaten Europas erklärt oder auch angezettelt haben, ausstellt. Es sei an Erich Frieds epigrammatischen Text über »Kriegserklärung« erinnert, wo es sinngemäß heißt, daß er sich die Kriege nicht erklären kann … Neben vorsintflutlichen, für den Sanitätsdienst umgebauten und adaptierten Kaleschen, Landauern oder Leiterwagen mit Holzachsen zeigt das Museum auch historische Tragbahren, auf denen man die Verwundeten von der Front zurück in die Lazarette gebracht hat.
In einem solchen Lazarett ist auch mein 1896 geborener, 1976 verstorbener Vater Martin Brandstetter gelegen, und zwar in Cavalese nach einer Verwundung in den Dolomiten im Ersten Weltkrieg. Er wurde trotzdem auch im Zweiten Weltkrieg wieder »eingezogen« und im sogenannten »Volkssturm« zwangsverpflichtet, obwohl er doch als älterer Vater von sieben Kindern eigentlich als »unabkömmlich« hätte gelten müssen. Dort hat er sich schließlich bei Schlägerungsarbeiten am »Westwall« ein schweres Bruchleiden zugezogen, was »Abrüsten« und das vorläufige Ende vieler Sorgen und Ängste bedeutete – zum Glück für ihn und uns, für seine Frau und uns Kinder. Über ihn habe ich in der letzten Nummer der Rieder Kulturzeitschrift »Bundschuh« geschrieben. Er stammte aus einer Bauernfamilie in Tumeltsham mit neun Kindern, von denen alle sieben Söhne im Ersten Weltkrieg Militärdienst leisten mußten, was einen Rekord in der Monarchie darstellte und wofür Kaiser Franz Joseph meine Großmutter mit einer kleinen Statuette, ihn in Uniform darstellend, »belohnte«.
Lange vor Henri Dunant ist bei seinem Sanitätsdienst an den Pestkranken der Gonzaga-Prinz Aloysius, zu dessen Schädel, dem »Haupt« des Heiligen, ich am 21. Juni 2019 nach der Festmesse hinter dem Hauptaltar der Jesuitenkirche über eine schmale Treppe hinaufgestiegen bin, »umgekommen«. Pestepidemien ereigneten sich im 14., 15. und 16. Jahrhundert viele, es waren Epidemien, denen reiche, adelige Familien oft in ferne Provinzen zu Verwandten ausgewichen sind, einmal auch Ferrante und Marta Tana Gonzaga mit ihren Kindern. Vielleicht hat sich Aloysius aber an seinem Verwandten Carlo Borromaio, dem Bischof von Mailand, ein Beispiel genommen, der nicht ausgewichen ist und in seiner Diözese in der Lombardei und im angrenzenden Gebiet der Schweiz für Kranke heroisch Messen zelebriert hat. Der Heilige Karl Borromäus, dem die Karlskirche in Wien geweiht ist, hat bei einer Visite oder Visitation in Castiglione dem zehnjährigen Prinzen Aloysius von Gonzaga Religionsunterricht gegeben und die Erstkommunion gereicht.
In der Wiener Karlskirche haben auch die oder zumindest einige der zahlreichen Kinder des Malers Ernst Fuchs die Erstkommunion empfangen, wozu es ein hinreißend von ihm und seiner Frau Eva Christina und ihren Kindern Emanuel, Angelika, Tilman und Marie gestaltetes »Kinderbuch« gibt: das »Album der Familie Fuchs«. Vorneweg sind vier Porträts der Kinder, wie nur er, Fuchs, sie malen konnte. Für mich ist Fuchs einer der ganz großen Maler von Kinderbildnissen und erinnert an den allergrößten, nämlich Peter Paul Rubens. In meinem Roman »Aluigis Abbild« habe ich einen Brief fingiert, den die Mutter Marta Tana an Rubens schreibt, um ein »ritratto« ihres (verstorbenen und seliggesprochenen) Sohns Aloysius von des Meisters Hand zu erbitten. Ein solches Bild des Hofmalers der Gonzagas in Mantua gibt es leider nicht, obwohl es hunderte, auch von bedeutenden Malern der Renaissance, des Manierismus und des Barocks gibt, etwa von Paolo Veronese und Jacopo Tintoretto. Doch kein Bild von Rubens und auch nicht von Tiziano Vecellio, der für den Hof in Mantua viel gemalt hat. Zeitlich wäre sich dies freilich für Rubens ausgegangen, Tizian hingegen ist hochbetagt acht Jahre vor der Geburt des Aloysius gestorben.
Den Text zum Bild der Erstkommunion der Tochter Angelika aus dem Fuchs-Album darf ich zitieren: »Aus dem Tor der Karlskirche kommen viele kleine Mädchen in weißen Kleidern, auch Angelika ist dabei. Ich sehe sie gleich, die langen dunklen Haare flattern im Wind und ihr Blick sucht uns in den Reihen der wartenden Eltern. In diesem Augenblick wünsche ich mir, daß unsere Familie durch das Opfer Jesu immer in Liebe zusammenhält.« Zum Schluß also ein Wunsch, der sich vielleicht nicht ganz erfüllt hat, ein frommer Wunsch?
Am Mittagstisch des Pfarrers Markus Mairitsch im Pfarrhof neben der Stadtpfarrkirche haben wir, Ernst Fuchs, Herbert Wochinz, Elisabeth Reichmann-Endres, Matthias Kralj und Andreas Mölzer, meistens an Freitagen uns eingefunden, als Fuchs oft kühne Ansichten und Geschichten aus seinem bewegten Leben erzählte, der Bühnenbildner Matthias Kralj über seine Arbeiten am Burgtheater, der Abgeordnete im Europäischen Parlament in Straßburg Andreas Mölzer über politische Interna, die pensionierte Landeskonservatorin Elisabeth Reichmann-Endres über Denkmalschutz und Restaurierungen. Alle unterhielten die bunte Runde, ich war aber der Schweigsame in dieser Mahlgemeinschaft. Es wurde Wein kredenzt, mir hat man, das heißt Mairitsch oder die Köchin, Frau Rieger, immer eine Flasche Weizenbier gebracht. Einmal habe ich meinen Sohn Andreas mitgenommen. Gerade an diesem Tag aber hat Fuchs sehr deftige und drastische, ein wenig unappetitliche Geschichten über den Tod Michelangelos und über Heilige wie Gandolf erzählt, die auf dem Abtritt »abgetreten«, also gestorben sind, so daß Andreas befremdet hinterher gesagt hat, er wisse nicht, was er von dieser unserer Versammlung im Pfarrhof halten soll. Ich solle ihn aber bitte mit solchen Einladungen in Zukunft verschonen! Fuchs und Wochinz erzählten meistens von ihrer gemeinsamen Pariser Zeit, wo Fuchs seine Bilder sogar aus Not auf der Straße Passanten angeboten hat, und Wochinz berichtete von seinen Begegnungen mit bedeutenden Theaterleuten wie Eugene Ionesco, Jean Genet und Julien Green, deren Stücke er später in seinem »Theater am Fleischmarkt« in Wien gespielt hat, oder mit dem Pantomimen Marcel Marceau. Fuchs war damals mit seinem wohl bedeutendsten Werk, der Ausgestaltung der ehemaligen Sakristei der Kirche Sankt Egid, des heute als »Fuchs-Kapelle« bezeichneten Raumes, mit Fresken zum Alten und Neuen Testament beschäftigt. Dort hat er auch den Auftraggeber Markus Mairitsch in der Gestalt des letzten alttestamentlichen Propheten Hosea verewigt.
Diese »Fuchs-Kapelle« ist heute eine vielbesuchte Fremdenverkehrsattraktion und die Ablehnung der Kunst des Hauptvertreters des Wiener Phantastischen Realismus ist wohl auch abgeklungen … Von der Fuchs-Kapelle als einer »Geisterbahn« war die abfällige Rede gewesen. Aufregung gab es freilich zuletzt wegen des riesigen Tafelbildes des »Letzten Abendmahls« im Presbyterium von Sankt Egid, das wohl nach einem Gemälde, das Fuchs für die Kapelle des Österreichischen Hospizes in Jerusalem gemalt hat, weniger von ihm als von Helfern »nachgemalt« scheint. Überkritische haben sogar geäußert, sie würden das Gotteshaus wegen dieses von ihnen als »gotteslästerlich« empfundenen Bildes in Zukunft nicht mehr betreten. Fuchs hat auf diesem Bild bekannte Kärntner Persönlichkeiten dargestellt wie den Bischof Alois Schwarz oder den Theologen Matthäus Woschitz. Ursprünglich hatte er auch eine junge Frau ins Bild gesetzt, die als Frau Sabel, die Mutter zweier Kinder von Fuchs, erkennbar war. Auf Ersuchen des Pfarrers hin hat er sie aber übermalt und ihr die Physiognomie seiner Mutter gegeben. An die Tür der Kapelle hat er das sogenannte »Heilige Haupt von Klagenfurt« gemalt, eine Kopie nach einer Kopie eines Guido-Reni-Bildes, vor dem, einem Gelübde aus vergangenen Zeiten folgend, bis heute in einer Woche in der Fastenzeit, vor der Karwoche, sogenannte Heilig-Hauptandachten gehalten werden.
Ich hatte mir vom »Besuch« der Kopfreliquie meines Namenspatrons vielleicht zuviel erwartet. Eine »Erscheinung«? Eine Vision? Eine »Erweckung«, wie sie Paul Claudel in der Kirche Notre-Dame in Paris erlebte, oder ein ähnlich intensives Erlebnis, wie es etwa Roman Brandstaetter hatte, der polnische getaufte Jude, den ich einmal als Verantwortlicher der Katholischen Hochschulgemeinde anläßlich seines Wien-Besuches zur Aufführung seines Stückes »Schweigen« im Kellertheater unter dem Cafe Landtmann begrüßen und dessen anschließendes Gespräch mit seiner Übersetzerin Gerda Hagenau über das Buch »Der Weg nach Assisi« ich moderieren durfte. Aber die Verweildauer vor dem Totenkopf war, obwohl ich nach dem Gottesdienst den ersten Andrang von Gläubigen vorübergehen ließ und als letzter zu ihm hinaufstieg, doch zu kurz, um beim Betrachten dieses Hauptes alles andächtig zu bedenken, was ich von ihm wußte, was er »Gläubiges« – und Unglaubliches – geleistet, gesprochen und auch geschrieben hat, wie er als 15Jähriger in Spanien in der Residenz Valladolid in klassischem Latein eine auch die Professoren der Universität Salamanca in Erstaunen versetzende Rede auf König Philipp II., den Sohn Kaiser Karls V., den ruhmreich als Sieger aus der Schlacht um Portugal Zurückgekehrten, gehalten hat. An die Briefe mußte ich denken, die er seiner Mutter geschrieben hat, aber auch seinem Bruder Rodolfo, den er rügt und ermahnt, von seinem liederlichen Lotterleben und dem Konkubinat mit Elena Aliprandi zu lassen. Warum, fragte ich ihn, bist du eigentlich nicht zum Begräbnis deines Vaters Ferrante, dem du durch deine Entscheidung gegen die Übernahme des Marchesats von Castiglione und für den Eintritt in den Jesuitenorden so viel Kummer bereitet hast, von Rom nach Castiglione gereist, wo du doch sonst viele Reisen und Ritte absolviert hast. Stimmen meine in »Aluigis Abbild« geäußerten Vermutungen, daß du es mit dem biblischen »Laßt die Toten die Toten begraben!« erklärt hast? Was, lieber Namenspatron, sagst du zu den beiden nackten, süßen Putti, die über dich die Himmelskrone halten? Sie scheinen doch ein wenig wie übermütige Lausbuben, wie du einer warst, als du im Heerlager, wohin dich dein Vater mitgenommen hat, eine Kanone abgefeuert hast. Später hast du das als deine größte Sünde bezeichnet. Da hast du vielleicht ein wenig übertrieben, es war doch eher eine Dummheit, ein unüberlegter Streich, aber keine Todsünde.
Die zwei spitzbübischen Engel, die halbnackt die Krone über dein Haupt halten, eine Krone, wie du sie als Kronprinz der Grafschaft, der Markgrafschaft Castiglione zur großen Enttäuschung deines Vaters und der Menschen des Landes verschmäht hast, wohl also eine vom Künstler phantasievoll abseits der feudalen Heraldik erfundene »Himmelskrone«, gaben und geben mir zu denken. Was würdest du dazu in deiner großen Abhandlung über Engel, über Engel im allgemeinen und die drei Erzengel, Michael, Gabriel und Raffael im besonderen, sagen? Leider hast du ja jedes Wort über die Ikonographie und die Kunst, die sich in deiner Zeit so prächtig entwickelt hat, wenn man nur an Tizian, Veronese, Tintoretto oder den bei deinen Verwandten, den Gonzaga-Herzögen in Mantua, tätigen Pippi »Romano«, den Raffael-Schüler, denkt, vermieden. Habe ich dich recht verstanden und richtig interpretiert, wenn ich konjiziert und vermutet und geschrieben habe, die Kunst deiner Zeit hätte dich mehr angewidert und abgestoßen als angezogen oder überhaupt interessiert? Stimmt es, daß du als Page bei deinem Verwandten Vincenzo Gonzaga den Herzog gebeten hast, er möge dir Dienste im Palazzo del Te, dem ehemaligen Liebesnest des Herzogs Fernando Gonzaga und seiner Hetäre Boschetta, ersparen und vor allem solche im Palazzo, wo in der Sala dei Sposi und der Sala di Psiche sehr freizügige erotische Szenen dargestellt sind, deren Anblick du unbedingt vermeiden wolltest? Die beiden Putti, Engel und ein wenig Bengel, passen wohl nicht ganz zu dir, wenn es heißt, daß die Putti auch eine Erinnerung an die Eroten der Antike sind, eine Zeit, als die »Knabenliebe« durchaus üblich war und alte Männer, ältere Philosophen, Umgang mit »Lustknaben« pflegten. Die Kirchen Italiens, ja Europas, sind reich an den dürftig gekleideten, halbnackten, geflügelten kleinen Engeln, die wie in Schwärmen auf Mauervorsprüngen, auf Gesimsen und Lisenen und vor den Bildern der Heiligen, ja auf Altären neben den Tabernakeln sitzen und sich fröhlich und wohlig räkeln, indem sie im Kontrapost oder mit einem angehobenen Beinchen das Gleichgewicht und die Balance suchen. Viele halten Fackeln oder Kerzen in Händen, oder sie musizieren und blasen pausbackig in Fanfaren oder Trompeten, Schalmeien oder Flöten.
Doch gibt es auch in der Gegenwart, fast 450 Jahre nach deinem Tod, ein sogenanntes »Engelwerk«, wo eine heute als »fundamentalistisch« bezeichnete Gruppe von Gläubigen – manche meinen »Abergläubischen« – sich auf all jene Stellen in den heiligen Schriften des Alten und des Neuen Bundes beruft, die auch du in deinem wunderbaren Latein zitierst. Sie nehmen alles wörtlich und lassen keinen Widerspruch oder eine freiere, eine freizügigere Auslegung oder Exegese gelten. Ich habe deinem Engel-Traktat entnommen, daß auch du dich genau an die Heilige Schrift und die patristische Literatur, an Hieronymus, Augustinus und Athanasius und Gregor und wie sie alle heißen, hältst. Du tust gut daran. Es ist viel blühende Phantasie, Vision, geistreiche Mystik und erlebnisvolle Spiritualität in den Gedanken. Und es wäre ein Fehler und ein großer Schaden und Verlust, wenn wir die Literatur und die Kunst und die Geistesgeschichte und die Sprache von den Engeln »säubern« wollten, sie aus tausenden Gemälden, Reliefs oder Plastiken, beispielsweise der Verkündigung durch den Erzengel Gabriel, um nur das zu nennen, wegretouchieren und streichen wollten. Der fromme Mensch ist niemals ein Bilderstürmer. Das wäre wahrlich ein Vandalenakt, wenn wir Bilder, auf denen ein Schutzengel ein Kind bei Sturm und Regen über eine Brücke führt, unter der ein reißender Fluß bedrohlich braust und tost, schwarz übermalen und unkenntlich machen würden … Und sprachlich muß natürlich auch weiterhin gelten: Angelus Domini nuntiavit Mariae …Und wenn jemand eine gefährliche Situation unversehrt übersteht, etwa einen Verkehrsunfall, werden wir weiterhin sagen dürfen: »Er hatte einen Schutzengel.«
Einmal hatte ich Glück oder einen Schutzengel, wie man will: Am 18. September 1987 mußte ich von Klagenfurt nach Linz fahren, um bei einer Benefizveranstaltung der Kinderkrebshilfe eine Lesung zu halten. Ich versäumte aber in Salzburg den Anschluß und somit jenen Schnellzug, der bei Lambach mit einem Eilzug kollidierte, wobei vier Passagiere getötet und 77 zum Teil schwer verletzt wurden. Den Veranstaltern jener Benefizveranstaltung hatte ich freilich auch kein Glück beschert. Es gab absolut keinen Besuch, nur die Leiterin jener Institution und ihr Mann bildeten das Publikum. Eigentlich gab es kein »Publikum«, was ja ins Deutsche übersetzt »Öffentlichkeit« bedeutet. Ich schämte mich natürlich ein wenig und entschuldigte mich bei der Veranstalterin, die meine Anziehungskraft so sehr überschätzt hatte. Über einen ähnlichen Flop in Kastelruth habe ich einmal eine Geschichte geschrieben, die ich ganz gern bei erfolgreicheren Lesungen vor zahlreichem Publikum, das es auch manchmal gab, vorlas, was man durchaus als Koketterie verstehen kann. In Hall in Tirol hielt ich einmal auf Einladung einer Buchhandlung eine sogenannte Signierstunde, in der ich mir auch die Finger nicht gerade wund schreiben mußte. Der treuherzige Buchhändler sagte aber trotzdem oder gerade deshalb, wir sollten einen neuen Termin für eine solche Signierstunde festlegen und besser bewerben. Da habe ich mich freilich »empfohlen« …
Es ist die Rede vom Schutzengel vielleicht doch etwas mehr und etwas anderes, als zu sagen: Ich hatte Glück. So wie wir im anderen, dem Unglücksfall, wenn jemand besonderes und ausgesprochenes Pech hat, sagen: Es ging mit dem Teufel zu, also mit Luzifer oder Satan, dem gefallenen Engel, den der Erzengel Michael mit seinem Flammenschwert in die Hölle gestürzt hat. Es muß jeder für sich ausmachen, wo er die Grenze zwischen Glauben und Aberglauben sieht und zieht. Und ob er den Philosophen und Kritikern zustimmen will, daß das Christentum unbarmherzig die alten »heidnischen« Mythen des Polytheismus bekämpft und »beseitigt« hat, den Olymp entrümpelt und ausgeräumt, also leergefegt, und mit den Göttern und Giganten aufgeräumt hat – und viele neue Mythen, deutsch »Märchen«, also auch Legenden »erfunden« hat. Schön ist der Gedanke einer anima naturaliter Christiana, wie es von Sokrates, aber vor allem von Vergil heißt, dessen riesiges Denkmal in Mantua ich am Tag nach der Festmesse in Castiglione wieder bestaunt habe. Ich hatte kurz vor meiner, unserer Reise nach Castiglione einen Vortrag des Wiener Fundamentaltheologen Jan-Heiner Tück über das Thema »Christus und Odysseus« gehört. Menschen, die in vorchristlicher Zeit Barmherzigkeit und Mitleid geübt haben, wird also eine »anima naturaliter Christiana« »zugestanden«. Das Christentum hat die Nächstenliebe ja nicht erfunden und patentiert. Sie haben also eine christliche Ethik des Mitleids und der Nächstenliebe vorweggenommen. Es gibt ja auch heute viele hochgemute und humane Atheisten, etwa in den sogenannten Serviceclubs oder in den Freimaurerlogen, die viel Karitatives und Gutes tun und sich auch mit altruistischen Christen verbinden, Atheisten, die sich also nicht im intellektuellen Kampf gegen den Theismus erschöpfen …
Das ist ja auch wohl die Message, also die Botschaft, die Moral der Geschichte vom barmherzigen Samariter, der wohl bekanntesten Erzählung Jesu, wie sie Lukas (10,25–37) berichtet. Ein Gelehrter will Christus auf die Probe stellen und fragt, was er tun müsse und wie er leben solle, um gerecht zu handeln. Christus fragt ihn, was er im Gesetz lese, worauf der Gelehrte die bekannte Regel zitiert: »Du sollst Gott aus ganzem Herzen und mit aller Kraft lieben. Und deinen Nächsten wie dich selbst.« Auf die Nachfrage: »Wer ist mein Nächster?«, erzählt Jesus diese tausendmal in Predigten zitierte und interpretierte, in der Literatur und in der bildenden Kunst dargestellte Geschichte vom Mann, der unter die Räuber fiel und halbtot liegen blieb und von vorübergehenden, selbstgerechten Priestern (sacerdos) und Leviten (levita) in seinem Elend liegengelassen wird, während ein Mann aus dem von den Orthodoxen geringgeachteten, ja verachteten Samarien sich rührend des Verunglückten annimmt. Quis est meus proximus? fragt der Gesetzeslehrer im lateinischen Text den Herrn. »Wer ist mein Nächster?« Daß die Geschichte so ungeheuer viel »Valenz« hat, also einlädt zum Nacherzählen und Ausdeuten nach dem sogenannten vierfachen Schriftsinn, beweist auch ihre Verwendung im Sprichwortgut. Große Maler von Rembrandt bis van Gogh haben sie »bebildert«, viele Komponisten bis hin zu Benjamin Britten haben sie »vertont«. Die vielen Darstellungen, die dich, lieber Aloysius mit dem Pestkranken, den du trägst und ins Hospiz bringst, zeigen, sind ja auch gewissermaßen ikonographisch von den Bildern des barmherzigen Samariters »präfiguriert«. Am gegenwärtigen Papst, dem Jesuiten Jorge Mario Bergoglio, der sich als Papst nach seiner Wahl zum Pontifex und 266. Bischof von Rom den programmatischen Namen Franziskus wählte, hättest oder hast du sicher deine Freude, weil er zum Leitmotiv seines Pontifikats »Misericordia«, also die Barmherzigkeit, wählte und das Jahr 2019 zum »Jahr der Barmherzigkeit« ausgerufen hat. Er ist der erste Südamerikaner auf dem Stuhl Petri und meines Wissens auch der erste Papst mit Namen Franziskus. Er hat seinen Namen wohl bewußt gewählt. Man hätte vielleicht denken können, daß ein Papst aus deinem Orden, dem Orden der Jesuiten, der Bischof von Rom wird, sich nach Ignatius von Loyola benennt, in dessen Kirche San Ignazio du deine letzte Ruhestätte gefunden hast, wo sich in einem goldenen Sarg dein Leichnam befindet, ohne den Schädel, vor dem ich stand, und anderen Teile des Skelettes, die als Reliquien bis Indien gekommen sind. In dieser Namenswahl liegt eine Sympathie und Hinwendung zu Franz von Assisi, ein wenig aber möglicherweise auch eine »Abneigung« gegen den eigenen Orden, der ja vielleicht nicht ganz unbegründet in vielen Ländern verboten war, zum Beispiel auch in der Schweiz, woher die Gardisten des Papstes kommen, die Nachfolger der »Sbirren« gewissermaßen, mit denen Goethe in Assisi unliebsame Bekanntschaft gemacht hat. Er hätte sich gut und gern auch deinen Namen nehmen und geben können, »Aloysius I.«, Aloysius der erste? Am jetzigen Papst hättest oder hast du sicher auch deswegen und ohnedies deine Freude, weil er wie du perfekt Spanisch und Italienisch, ja alle romanischen Sprachen spricht – und natürlich Latein und die neue »Lingua franca« Englisch. So ist Assisi wie schon unter seinem Vorvorgänger, dem Polen Johannes Paul II., noch einmal in den Fokus der Pastoral gekommen. Johannes Paul II. hat in Assisi eine Weltkonferenz von Führungspersonen aller Weltreligionen abgehalten, was ihm nicht nur viel Bewunderung von tolerant und liberal gesinnten Menschen aller Konfessionen beschert hat, sondern auch viel herbe Kritik von fundamentalistisch geprägten Gläubigen, etwa aus der »Bruderschaft Pius X.«, den Anhängern des verstorbenen konservativen Erzbischofs Joseph Lefebvres, des Gegners des »Aggiornamentos«, der Annäherung der Kirche an die moderne Welt im Zweiten Vatikanischen Konzil. Neuerdings hat sogar der versöhnliche Papst Franziskus aus dieser Richtung Kritik geerntet, weil er an Neuerungen denkt, die Konservative vehement ablehnen.