Читать книгу Kojas Wanderjahre - Alois Theodor Sonnleitner - Страница 5
Rückschau.
ОглавлениеÜber dem Osthang der Wienerwald-Berge steht die Herbstsonne. Die Silberfäden des Altweibersommers leuchten und flimmern auf der Bergheide, die vom Waldrande ostwärts niederstreicht zum Weingelände; das ist tief unten, wo die Ebene beginnt, gesäumt von Ortschaften mit spitzen Kirchtürmen und schlanken Fabrikschlöten.
Ein hochgewachsener Mann steigt oberm Perchtholdsdorfer Steinbruch sacht die kurzberaste Heide hinan. Es ist Dr. Kajetan Lorent. Ein breitkrämpiger Hut beschattet seine Stirne. Er trägt den langgestielten Geologenhammer in der Rechten. Von seiner linken Schulter hängt an breitem Riemen eine rindslederne Tasche nieder. Ein lauer Windhauch spielt mit seinem kastanienbraunen, sanft gewellten Haupthaar, das zu den breiten Schultern niederwallt; er spielt mit seinem rotbraunen üppigen Vollbart, der an den Seiten mit grauen Fäden durchzogen ist. Der Wanderer schaut zum Waldrand empor und dann südwärts, wo vom Giesshübler Höhenrücken die neue Kirche zum Himmel ragt. Wie jedesmal, wenn er diesen Weg geht, lässt er auch heute die Augen von der Kirche links hinabschweifen am Kamm der Hochleiten; dort hinter der grell weiss schimmernden Friedhofs-Kapelle weiss er das kleine Anwesen, das einst seine gute Schwester Agi als bescheidenes „Haus der Sehnsucht“ erworben hatte. Lang ist es her. Er dreht sich um und sucht das rote Ziegeldach seines eigenen Hauses im Perchtholdsdorfer Villenviertel. Lächelnd setzt er seinen Weg fort. Wie hat sich doch alles zum Bessern gewendet! Während er vorgebeugt den steileren Hang emporsteigt, fällt ihm ein gelblicher Kalkstein auf, der sich vom grauen triassischen Dolomit des Feldweges abhebt. Ein Schlag mit dem Hammer spaltet den Stein. Da kommen auf den Bruchflächen die feinstrahligen Schalen einer Pilgermuschel zum Vorschein. Es ist Leithakalk. „Der rührt doch aus der Strandzone des tertiären Meeres her, die sich tief unten am Rande des Wiener Beckens hinzieht. — Den Stein muss ein Fuhrmann verloren haben.“ Der Doktor verwahrt die Bruchstücke mit der Muschel in seiner Ledertasche. Gelbschwarzsamtene Erdhummeln und graubepelzte Bienen lenken die Aufmerksamkeit des Naturfreundes auf die schon blütenarmen, blassvioletten Sommer-Enziane und die zartweissen Blüten des Augentrostes, in denen die Immen ihre Mahlzeit suchen.
Am Waldrand angekommen, rastet Dr. Lorent auf einer Bank und betrachtet behaglich die Gegend; er lässt sich von allem willig ansprechen, was sich seinen Augen darbietet; er geht den Gedanken nach, wie sie in ihm von den Dingen angeregt werden.
Im Nordosten, unterhalb des Kahlengebirges, liegt das Häusermeer der Wienerstadt, der matt leuchtenden Donau vorgelagert; dort hat er als armes Studentlein gehungert, bis er, von der Not gezwungen, seine vielbewegte Hauslehrerwirksamkeit begann und als Tierpräparator in nächtlicher Arbeit Geld verdienen lernte. — Ein kleiner, lichtblauer Falter flattert über den Pfad und lässt sich auf der rosigen Gipfelblüte einer Hauhechel nieder. War’s nicht ein Bläuling, dessen Atlaskleidchen die Agi bewunderte, als ihr das Leben neu geschenkt war nach langer Krankheit? Da, am Rand des halbgemähten Wiesenflecks kriechen zwei der grasgrünen Räupchen des Bläulings an einer Hauhechel empor, die wohl demnächst unter der Sense fallen wird. „Nein, die sollen nicht verhungern!“ Der Doktor streift die Raupen von ihrer Futterpflanze und versorgt sie in seiner Ledertasche. — Und wieder lässt er die Blicke in die Ferne schweifen. Da drüben, jenseits der grünen Ebene des weitgedehnten Wiener Beckens, schimmern die Neudorfer Sandlehnen vom Westhang der Kleinen Karpathen gelblich herüber und fernher leuchten die Kalksteinbrüche des Leithagebirges als weisse Wunden aus den bewaldeten Hängen. Dort hat er als Vierzehnjähriger die ersten versteinerten Pilgermuscheln, Kegelschnecken, Haifischzähne und Seesterne gesammelt; aus denen hat er erkannt, dass dort die östliche Strandzone des Meeres war, das die weite Mulde ausgefüllt hat, entstanden durch den Niederbruch der Ostalpen. Wie lange das wohl her sein mochte? Jahrmillionen. Und wo das Meer hergekommen war? Von Nord und West her. Er hat auf seinen Reisen die Tierreste des tertiären Meeres in Frankreich gefunden, in Bayern, die Donau entlang, und er hat Belegstücke der tertiären Strandfauna aus Mähren, Galizien, Südrussland. Heute fruchtbare volkreiche Länder, waren sie einst bedeckt von den Fluten des warmen Meeres, das seinen Muschelund Korallenkalk absetzte auf die älteren, in noch früheren Erdperioden aufgelagerten Gesteinsmassen. Länger als auf anderen Stellen der Landschaft haften des Doktors Augen am hellen Steinbruch von Mannersdorf, der als mattweisser Fleck aus der fernblauen Masse des Leithagebirges herüberschimmert. Dort hat Agi für die Bauern Janker und Wäsche genäht, um dem Koja nach Wien wöchentlich einen Laib Brot und einen Gulden Kostbeitrag senden zu können. Agi und Mutter! Heldinnen der opferfreudigen Liebe! Ihr habt mitsammen getreulich alle Sorgen getragen, dass nur Kojas Wesenswert, dass nur seine Anlagen nicht verkümmern sollten!
Des Doktors Blick gleitet über die grüne Ebene herüber und bleibt haften am hohen Perchtholdsdorfer Glockenturm, der die Kirche überragt und die Ruinen der Burg. Von den Türken eingeäschert, ist sie nie wieder aufgebaut worden. In ihrem Gemäuer aber hat sich im vorigen Jahrhundert der greise Anatom Hyrtl sein Laboratorium eingerichtet, der gütige „Weise von Perchtholdsdorf“. — In ernster Stimmung setzt Doktor Lorent seinen Weg fort. Ein schmaler Waldpfad führt ihn im Schatten der Föhren südwärts, hügelauf und talab, bis er auf einer Lichtung anlangt, deren Grasboden hell von der Sonne beschienen ist. Hier ist die Luft warm wie an einem Sommertag; und sie ist durchsättigt vom Dufte des Thymians, der die Bodenwellen polsterig überwuchert hat. Und dieser Duft bemächtigt sich der Seele des alten Waldläufers. Wo war es nur, dass er diesen Wohlgeruch in solcher Stärke zum erstenmal eingeatmet hat? Er lagert sich in die duftenden Stauden und hängt der Frage nach. Da fällt sein Auge auf eine Kolonie silbergrauer Katzenpfötchena mit pinseligen Fruchtbüscheln, dann auf verblühtes Heidekraut, das einen flechtenbedeckten Steinblock überragt. Und auf dem Steine sonnt sich eine graue Zauneidechse. Sie hat den Leib flach ausgebreitet und die Augenlider wie im Schlummer geschlossen. Auch das muss er schon wo gesehen haben? Und plötzlich wird es ihm klar: Auf dem Kunietitzer Berg war es, unter der Burgruine, am Rande des Föhrenwaldes; da blühten rosig und weiss die Katzenpfötchen und fleischfarben die Heidekrautbüsche; da sonnte sich die Eidechse, da duftete der Thymian im hellen Sonnenschein. Tief unten aber in der Ebene schlängelte sich die Elbe von Königgrätz her nach Pardubitz und weiter nach Kolin zwischen saftgrünen Wiesen, bunt blühenden Mohnfeldern und gelben Kornbreiten, von deren Boden die Grossmutter sagte, dass er so überschwänglich fruchtbar wäre, weil er Blut getrunken hätte von vielen Tausenden gefallener Krieger. — Und wer war damals bei ihm am Waldrand, bei ihm, dem fünfjährigen Koja? Es war der rothaarige Peter aus der Ziegelei, unter dessen Führung Koja Waldläufer geworden war. Wie mit einem Zauberschlage ist die versunkene Welt der Kindheit vor dem reifen Manne erstanden, farbenreiche Landschaftsbilder, lieblich wie tauglitzernde Gärten und mitten darin erschütternde Erlebnisse von wuchtigen Schicksalsschlägen; Muttertränen. Dann wieder das lächelnde Kindergesicht der kleinen Julie Niederle, deren Augen so blau waren wie die Blüten der Wegwarte. In allem aber ein Faden, der aufwärts führt aus den Niederungen der Hilflosigkeit und Armut zu kraftvoller Selbsthilfe und Wohlhabenheit. Eine Geschichte, fast zu reich an Ungewöhnlichem, eine Geschichte, die zeigt, wie Menschen innerlich reich werden dank der äusseren Armut, wert niedergeschrieben zu werden für andere, damit sie nicht verzagen in herber Zeit. Im Entschluss zum Werke erhebt sich Doktor Lorent mit einem Ruck und schreitet quer durch den Föhrenstand auf dem kürzesten Weg heimzu. Heut will er noch zu schreiben beginnen.
Daheim angekommen, trägt er die Bläulingsraupen zu den Hauhechelbüschen in den wilden Teil seines Gartens, wo die Futterpflanzen der Schmetterlingsraupen auf gutem Grunde üppig aber in zwanglosen Gruppen stehen. Der grossgewordene Koja zieht sich eine Auswahl harmloser Schmetterlinge auf, die er nicht tötet, weil sie als schwebende Blüten den Garten schmücken sollen. Es ist eine Sammlung lebender Schönwesen, deren Gewohnheiten der Doktor beobachtet. Er geht an die Vorbereitungen zum Schreiben. Erst macht er seinen Schreibtisch leer von allem, was ihn ablenken könnte. Weg mit den unerledigten Briefen, die sollen auf einem Nebentisch warten, bis sie daran kommen; auch Agis letzter Brief ist dabei. Ihr will er erst im Perfektum berichten: „Ich habe ein gutes Kapitel geschrieben. Weg mit den Entwürfen zur Lebensgeschichte des Melker Schulkameraden Robin, von dem ja ohnehin noch eine Menge Einzelheiten fehlen. — Jetzt steht sein eigenes Leben so klar vor ihm, dass er es fassen muss. Heute will er nur Dinge vor sich haben, die seine Gedanken festhalten bei seiner eigenen Jugendzeit. Mit den rückständigen Korrespondenzen beladet er einen anderen Tisch. Hinter dem Schreibzeug legt er ein schmales Tragbrett auf und stellt als senkrechte Wand dahinter einen grossen, mit grüner Leinwand bezogenen Karton, der ihm die Aussicht auf die gegenüberliegende Wand und die Glasschränke mit dem zerstreuenden Vielerlei verdecken soll. Dann ordnet er auf dem Tragbrett einige Dinge, die ihm in Kindheitstagen des Betrachtens wert waren: Das goldgerändete Überfangglas aus dem Glaskasten der Grossmutter, die silberig glänzende Daguerotypie mit dem Bildnis der Urgrossmutter, den perlengestickten Uhrbehälter, den Agi in Altpaka am Südabhang des Riesengebirges dem Vater zum Christkind gegeben hat, eine Amethyst-Druse, welche der Vater dem Koja von der Sprengung des Tannwalder Tunnels gebracht hat, der Mutter porzellanene Zuckerdose, auf deren Deckel eine brütende Glucke sitzt, den fast zahnlosen Dachsschädel, den Koja als Neunjähriger im Rerapointer Wald bei Pöchlarn gefunden hat. Und er legt sich das abgegriffene Buch vor die Augen, in das Agi seit ihrem elften Lebensjahre ihre Lesefrüchte eingeschrieben hat; in der Auswahl der Denksprüche und Gedichte hat sich die fortschreitende Selbstbildung der Mädchenseele geoffenbart, und innersten Erlebens Spuren sind in diesem Andachtsbuch. An dem grünen Karton hinter dem Tragbrett aber befestigt er mit Reisnägeln Bilder, die manches darstellen aus der alten Heimat: ein Mohnfeld in bunter Farbenpracht, eine Schmiede mit rotleuchtender Esse, einen Bauernhof mit prächtigem Hühnervolk, ein Stoppelfeld mit weidenden Gänsen, einen schilfumbuschten Elbearm mit weissen Seerosen und darüber aufragend den Kunietitzer Phonolitkegel mit der von den Hussiten zerstörten Burg: und er vergisst auch nicht den nadelspitzen „Grünen“ Turm vom Pardubitzer Stadttor. Vom Garten herauf holt er sich einen Strauss Astern. Astern waren es, auf denen Agis Augen ruhten, während sie wieder das Lächeln lernte, als sie genas von schwerer Krankheit.
Erst nach dem Abendmahl kommt Doktor Lorent zum Schreiben. Während Klara, seine Frau, unten in der schönen Stube auf dem Harmonium ihre geliebten Schubertschen Weisen spielt, ist er oben in seinem mit Büchern und naturgeschichtlichen wie kulturgeschichtlichen Sammlungen fast überfüllten Studierzimmer. Der Schirm der Petroleumlampe wirft das warme Licht hernieder auf die Schreibfläche und nur noch auf die auserkorenen redenden Dinge, die den Schreibenden ansprechen, so oft er aufschaut; alle anderen Gegenstände aber, die Büchergestelle und die Glasschränke mit ihren Sehenswürdigkeiten aus nahen und fernen Ländern und Zeiten, sie sind in Dämmerung gehüllt, sie drängen sich nicht auf, sie reden dem Schaffenden nicht darein. Der ist ganz gesammelt, ganz eingesponnen in das Wiedererleben von Ereignissen, die ein halbes Jahrhundert tief in der Seele lagen und nun heraufgekommen sind und zur Gegenwart geworden.
So wächst das Werk Abend für Abend, Seite um Seite, den Herbst hindurch, und es macht grosse Fortschritte an den langen Winterabenden, wo es draussen stürmt und schneit, während im Ofen die Scheiter knistern und die graue Hauskatze im Lehnsessel schnurrt, den ihr der Schreibende zum Ofen gerückt hat. Doktor Lorent lässt sie gerne ein, wenn sie Einlass begehrt in seine Schreibstube. Etwas vom Behagen dieser Lebenskünstlerin geht auf ihn über und auf seine Arbeit. War nicht immer eine Katze da oder ein Kätzchen, um in das Leben der verarmten Lorent-Familie etwas Behagen und Frohsinn zu bringen, als es übervoll war des herben Ernstes und qualvoller Unrast?