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I.

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„Das ist aber eine Überraschung!“ sagte die junge Frau, als sie die Tür öffnete und ihre Freundin gewahrte. „Kannst du denn so einfach deine Praxis im Stich lassen und fortgehen?“

„Aber gewiß kann ich das, Elsbeth!“ erwiderte die Freundin, „Und außerdem ist heute Mittwoch nachmittag, du solltest eigentlich wissen, daß ich heute keine Sprechstunde mehr habe!“

Inzwischen hatte die Hausfrau die Tür freigegeben und ihre Freundin eintreten lassen.

„Bitte, leg doch ab, Margot! Komm herein, ich habe bereits eine gute Tasse Kaffee aufgeschüttet!“

Fräulein Doktor Fuhrmann legte Hut und Mantel ab und ging mit der Freundin ins Wohnzimmer.

„Wo steckt denn Karin?“ fragte das Fräulein Doktor. „Etwa im Kindergarten?“

„Nein, Karin ist heute bei der Großmutter. Ich wollte sie heute nachmittag nämlich nicht mitnehmen“, gab Elsbeth Haurand Auskunft.

„Ach, du hattest etwas vor? Ich komme also ungelegen? Bitte, Elsbeth, keine Ausflüchte! Sag mir ruhig, wenn es so ist!“

Elsbeth schaute nach ihrer Armbanduhr, dann lächelte sie schwach.

„Wir trinken erst einmal in aller Ruhe Kaffee!“ erklärte sie dann mit Bestimmtheit. „Es ist sowieso erst drei Uhr. Und was ich vorhabe, das schaffe ich schon. Ich will nämlich zum Friedhof, weißt du!“

Margot Fuhrmann schaute betroffen auf.

„Aber da komme ich doch ungelegen, Elsbeth!“ sagte sie mit leisem Vorwurf in der Stimme. „Ich komme gern am Samstag oder am nächsten Mittwoch noch einmal her. Ich wollte dich doch nureinmal wiedersehen!“

„Das is lieb von dir, Margot! Ich freue mich ja so darüber! Und darum bleibst du jetzt auch ein Stündchen bei mir!“

Die Ärztin war zwar nicht ganz davon überzeugt, daß sie recht daran tat, wenn sie jetzt bliebe, aber sie wollte auch nicht weiter widersprechen, denn die Freude Elsbeths über den Besuch war echt, das sah sie sogleich. Elsbeth war ein viel zu unkompliziertes Menschenkind, um sich verstellen zu können.

Margot nahm also Platz und sah sich im Zimmer um. Und da entdeckte sie auch den Blumenstrauß, der ein wenig versteckt auf dem Büfett stand. Es war ihr sofort klar, daß er nicht dazu diente, das Zimmer zu verzieren.

„Du wolltest die Rosen zum Friedhof bringen, Elsbeth?“

„Ja, das wollte ich, Margot! Heute vor zwei Jahren ist das mit Walter passiert!“

„Heute vor zwei Jahren?“ wiederholte die Ärztin voller Anteilnahme. „Mein Gott, wie doch die Zeit vergeht!“

„Ich kann es auch kaum fassen“, erwiderte Elsbeth. „Mir ist immer noch so, als sei es erst gestern gewesen. Noch immer sehe ich den Polizisten vor mir stehen, der mir die Nachricht von dem Unfall überbrachte.“

„Ja, es gibt Dinge, die man so schnell nicht vergißt! Und wenn man bedenkt, wie groß die Liebe zwischen euch war, dann kann man es gar nicht fassen, daß das Schicksal hier so brutal zuschlagen konnte.“

„Das Schicksal ist immer brutal, Margot!“ sagte Elsbeth düster. „Man muß für alles im Leben bezahlen, und das Glück hat einen sehr hohen Preis!“

„Aber du hast ja Karin!“ versuchte die Freundin zu trösten. „Das Kind ist doch der Sonnenschein in deinem Leben! Sie macht dir doch nur Freude und gibt deinem Leben einen wirklichen Inhalt!“

Elsbeth sah schweigend vor sich hin, erwiderte aber nichts. Da merkte Margot, daß sie hier ein Thema angeschnitten hatten, das besser unerörtert blieb. Wenigstens vorläufig und auf jeden Fall an diesem Tage, der sowieso schon voll trüber Erinnerungen war. Heute vor zwei Jahren war Walter Haurand mit seinem Wagen tödlich verunglückt und hatte seine Frau und sein kleines Töchterchen schutzlos zurückgelassen.

„Und wie geht es deiner Mutter, Elsbeth?“ fragte die junge Ärztin, um die Freundin auf andere Gedanken zu bringen.

„Danke, ausgezeichnet, Margot! Aber du weißt ja, Mama hat ihre eigenen Ansichten vom Leben. Nicht immer verstehen wir uns, und es kommt schon mal vor, daß wir uns streiten. Aber dann vertragen wir uns auch wieder und alles ist vergessen.“

„Früher hast du dich doch so gut mit ihr verstanden, Elsbeth! Ich erinnere mich sehr deutlich daran, daß du mir gegenüber stets ihre Lebensklugheit hervorgehoben und bewundert hast.“

„Und nun bist du erstaunt, daß ich meiner Mutter in ihren Ansichten nicht immer folgen kann? Ja, Margot, ich bin eben älter und reifer geworden. Da bildet man sich seine eigenen Ansichten vom Leben!“

„Und die stimmen mit denen deiner Mutter nicht mehr überein? Das wundert mich, offen gestanden.“

„Ach, es ist doch müßig, sich darüber aufzuregen“, sagte Elsbeth müde. „Mama gehört eben einer anderen Generation an. Sie versteht manches nicht, und vieles, das sie selbst für richtig hält, ist heute längst überholt!“

„Mag sein, daß du recht hast, Elsbeth. Wir alle müssen ja unser Leben selbst in die Hand nehmen. Im Grunde genommen kann uns da wohl keiner helfen!“

„In den grundsätzlichen Dingen nicht, da muß ich dir beipflichten, Margot!“

„Eigentlich ist das schade“, sagte die Ärztin langsam. „In meiner Praxis versuche ich es auch immer wieder, meinen Patienten zu helfen, sie seelisch zu beeinflussen und ihr Handeln in eine bestimmte Richtung zu lenken. Aber ich habe fast immer die Erfahrung machen müssen, daß alle Anstrengungen vergebens waren. Wenn es mir gelang, ihnen wenigstens den Anstoß zu eigenem Handeln zu geben, war das schon ein großer Erfolg!“

„Und woran mag das liegen, Margot?“

„Was meinst du, Elsbeth?“

„Daß sich die meisten Menschen nicht helfen lassen!“

„Am Eigensinn gewiß nicht! Aber bedenke, jeder Mensch geht seinen eigenen Weg. Und wenn er erst einmal erwachsen ist, gibt es nichts mehr umzumodeln. Es ist beinahe wie ein Gesetz, daß sich seine Entwicklung in einer ganz bestimmten Richtung vollziehen muß!“

„Und die Menschen handeln nach diesem Gesetz?“ fragte Elsbeth ein wenig skeptisch.

„Im Grunde genommen ja, trotz aller Umwege! Aber meistens kennen sie ihr eigenes Gesetz nicht. Sie sind die armen Opfer, die zwischen Gefühl und Verstand hin- und herpendeln. Ihr Gefühl, oder besser noch ihr Instinkt, weist ihnen den Weg, den sie ihrer Natur nach gehen müßten, aber ihr Verstand glaubt es besser zu wissen.“

Elsbeth zupfte an ihrem Taschentuch und schau te sinnend zum Fenster hinaus. Es war, als dächte sie über die Worte der Freundin nach. Dann warf sie verstohlen einen Blick auf die Uhr.

Im gleichen Moment hatte auch die Ärztin bemerkt, daß es jetzt an der Zeit war, aufzubrechen.

„Wir fahren also zum Zentralfriedhof, nicht wahr, Elsbeth?“ fragte sie wie selbstverständlich.

Erstaunt sah die Freundin auf.

„Ja, ich habe meinen Wagen unten. Da wirst du mir wohl erlauben, daß ich dich an dein Ziel bringe. Aber keine Angst, ich gehe nicht mit hinein, ich setzte dich vor dem Tor ab!“

„Du kannst ruhig mit mir zum Grab gehen, Margot!“

„Nein, bitte nicht!“ sagte die Ärztin. „Ich habe eine unüberwindliche Abneigung gegen Friedhöfe. Ich habe schon oft versucht, dagegen anzugehen, aber bis heute ist es mir nicht gelungen!“

Ihr Lächeln bat um Nachsicht, und Elsbeth merkte nicht, daß die Freundin diesen Grund nur vorgeschoben hatte. In Wirklichkeit wollte sie Elsbeth mit ihrer Erinnerung allein lassen. Vielleicht wollte diese am Grabe stumme Zwiesprache halten mit dem Toten. Und da mußte jeder andere störend wirken, selbst wenn es die beste Freundin war.

Elsbeth nahm die Rosen aus der Vase und wikkelte den Strauß ein. Dann gingen sie nach draußen, wo Margots Wagen parkte.

„Wie sollen wir fahren, Elsbeth?“ fragte die Ärztin. „Oben herum über Alsterdorf und Ohlsdorf oder über die Alsterbrücke nach Barmbeck?“

„Das ist mir gleich, Margot! Es kommt ja nicht darauf an, wann ich eintreffe.“

„Dann fahren wir erst einmal die Rothenbaum-Chaussee hinunter zum Dammtor-Bahnhof!“ entschied die Ärztin und setzte den Wagen in Gang.

Ihre Aufmerksamkeit wurde vom Verkehr in Anspruch genommen, so daß sie keine Zeit fand, die Unterhaltung mit Elsbeth fortzusetzen. Diese aber saß zurückgelehnt in den Polstersitz und hing ihren Gedanken nach.

Das Verteilerkreuz vor der Lombardsbrücke zeigte rotes Licht, Margot ließ den Wagen auslaufen und hielt an. Plötzlich sagte die Freundin an ihrer Seite:

„Meinst du wirklich Margot, man müsse seinem Gefühl mehr gehorchen als dem Verstand?“

Elsbeth hatte offenbar das in der Wohnung geführte Gespräch noch nicht vergessen. In Gedanken beschäftigte sie sich noch mit dem, was Margot darüber gesagt hatte.

„Darauf könnte ich dir jetzt mit einem Gemeinplatz antworten“, sagte die Ärztin, „aber das wäre keine erschöpfende Antwort. Viele halten es für den Gipfel der Lebensweisheit, wenn man zwischen Verstand und Gefühl genau die Mitte hält und weder dem einen noch dem anderen den dominierenden Einfluß überläßt.“

„Und wie denkst du selbst darüber, Margot?“

Die Ärztin wurde einer Antwort enthoben, denn das grüne Licht gab die Straße frei, sie mußte wieder auf den Verkehr achten. Erst als sie an der Außenalster entlangfuhren und auf die Hamburger Straße zusteuerten, fand sie Muße, das Gespräch wieder aufzugreifen.

„Du möchtest wissen, wie ich selbst darüber denke? Nun, Elsbeth, das kommt immer auf den einzelnen Fall an! Es gibt keine Universalmethode, die überall anzuwenden wäre. Wenn ich dir eine klare Antwort geben soll, mußt du mir schon sagen, worum es sich handelt!“

„Um meine Mutter und mich!“

„Und worin seid ihr verschiedener Meinung?“

„Sie will, daß ich wieder heirate!“

Der Wagen machte plötzlich einen Sprung vorwärts. Das Fräulein Doktor war so überrascht von dieser Antwort, daß sie ein wenig zu heftig auf den Gashebel getreten hatte.

Und weil sie so überrascht war, wußte sie auch nicht sofort eine Antwort zu geben. Daß sich Elisabeth gegen eine Wiederverheiratung sträubte, war für die junge Ärztin eine solche Selbstverständlichkeit, daß sie es einfach unglaublich fand, wie jemand hier anderer Meinung sein konnte. Und noch dazu Elsbeths eigene Mutter. Jetzt glaubte sie die Freundin plötzlich zu verstehen. Wenn solche Meinungsverschiedenheiten Vorlagen, mußte ja das gute Einvernehmen zwischen Mutter und Tochter getrübt sein. Aber dürfte sie Elsbeth jetzt darin bestärken?

Nein, das ging wohl nicht an, wenn sie eine wahre und aufrichtige Freundin war. Sie mußte sich erst ganz allmählich vortasten und dann versuchen, die aufgerissene Kluft zwischen den beiden Menschen, die sich nahestanden, wieder zuzuschütten.

„Deine Mutter wünscht, daß du dich wieder verheiratest?“ setzte Margot nach einer Pause das Gespräch fort. „Ich weiß natürlich nicht, welche Gründe sie dazu bewogen haben, einen solchen Wunsch auszusprechen, aber ich bin gewiß, deine Mutter will nur dein Bestes, Elsbeth!“

„Jetzt stellst du dich auf ihren Standpunkt!“ antwortete die Freundin bitter, und es zuckte bedrohlieh um ihre Mundwinkel.

„Aber nein, Elsbeth, das tue ich keineswegs!“ widersprach Margot lebhaft. „Ich bilde mir nur ein, daß eine Mutter immer nur das Beste für ihre Tochter im Auge haben kann. Ob das in diesem Falle aber auch das Richtige ist, sei dahingestellt! Ich möchte nur deiner Mutter nicht unrecht tun, weil sie sicher nur edle Bewegtgründe hat.“

„Ich will aber nicht bevormundet werden!“ sagte Elsbeth heftig. „Und darin schon gar nicht! Aber Mama versteht mich nicht! Sie will nicht einseben, daß ich das ganz allein entscheiden muß!“

„Und wie hast du dich entschieden, Elsbeth?“ fragte Margot leise, obwohl sie die Antwort doch schon wußte. Für Elsbeth Haurand kam kein anderer Mann mehr in Frage, denn sie war mit Walter sehr glücklich gewesen. Und wenn sie auch noch jung war, so würde sie doch nie wieder für einen Mann das empfinden können, was man Liebe nannte. So etwas gab es für Elsbeth nur einmal im Leben.

Die Antwort, die der Fragenden aber jetzt zuteil wurde, erschütterte diese dann doch, denn plötzlich schossen Elsbeth die hellen Tränen aus den Augen, so daß sie ihr Gesicht schleunigst mit dem Taschentuch bedeckte.

„Verzeih mir bitte, Elsbeth!“ bat die Freundin leise. „Ich hätte es eigentlich wissen müssen!“

„Schon gut!“ sagte diese, als sie sich mühsam gefaßt hatte, und lächelte Margot unter Tränen zu.

Mit einem Ruck hielt der Wagen an. Sie waren am Ziel. Noch einmal wischte sich Elsbeth über das Gesicht, dann öffnete sie die Tür und stieg aus. Das Fräulein Doktor war ebenfalls ausgestie gen, es nahm den Arm der Freundin und ging mit ihr auf das Friedhofsportal zu.

„Am liebsten würde ich jetzt mit dir gehen, Elsbeth!“

„Danke, Margot, es ist schon vorbei!“ sagte Elsbeth tapfer.

„Dann werde ich auf jeden Fall hier auf dich warten und später mit dir in die Stadt zurückfahren!“

Elsbeth nickte dankbar und schritt durch das Tor davon. Margot Fuhrmann sah ihr nach, bis sie hinter einer Koniferengruppe verschwunden war. Dann ging sie am Ufer des Großen Sees entlang und dachte nach über das soeben geführte Gespräch.

Das Menschenherz ist doch ein seltsam Ding, dachte die Ärztin, der das Geschick der Freundin sehr naheging und die noch nicht so schnell fertig werden konnte mit dem, was sie heute von Elsbeth gehört hatte. Sie kannten sich nun schon über zehn Jahre und waren immer miteinander befreundet gewesen. Und trotzdem: was wußte man denn schon voneinander?

Die Schulzeit hatte ihnen eine richtige Jungmädchenfreundschaft beschert mit allen Freuden und gemeinsam getragenen Sorgen. Zusammen hatten sie geschwärmt und gehofft, waren ihren Träumen nachgejagt und hatten die ersten kleinen Enttäu schungen des Lebens getragen. Dabei waren sie sich sehr nahe gekommen, so nahe, daß sie sich ewige Freundschaft schworen.

Aber wie das noch stets im Leben gewesen ist, so war es auch bei ihnen gekommen: als der Alltag in seine Rechte trat und sich ihre Lebenswege trennten, hatte sich auch in ihr herzliches Verhältnis eine zuerst kaum merkliche Entfremdung eingeschlichen. Margot, die Arzttochter, fuhr zum Studium nach München, um ebenfalls Ärztin zu werden; Elsbeth jedoch, die Tochter des Großkaufmanns Uwe Jakoibsen, die es nicht nötig hatte, einen Beruf zu ergreifen, folgte der Tradition ihrer Familie und ging für ein Jahr in ein Schweizer Pensionat.

So waren sie zwar räumlich auseinander gekommen, aber zu jener Zeit gingen noch regelmäßig ihre gefühlvollen Briefe hin und her. Bis Elsbeth dann eines Tages Walter Haurand kennen lernte. Auch jetzt schrieben sie sich noch in weiten Abständen, aber ihre Briefe atmeten nicht mehr die gleiche Herzlichkeit, sie wurden sachlicher, und das unter Freundinnen so stark ausgeprägte Mitteilungsbedürfnis schwand mehr und mehr dahin. Es war, wie es immer war mit Mädchenfreundschaften: sobald ein Mann dazwischentrat, war es aus mit ihnen.

Wer klug ist, findet sich damit ab und läßt den Dingen ihren Lauf. Wer aber glaubt, die Dinge nach seinem Geschmack zurechtbiegen zu können, verbrennt sich zumeist die Finger und bürdet sich viel Kummer und Enttäuschung auf. Margot Fuhrmann war klug und ließ alles treiben.

Zur Verlobung bekam sie dann eine Einladung und den Ehrenplatz an der Seite von Elsbeths Verlobtem, bei der Hochzeit war sie sogar Brautführerin, und die alte Vertrautheit kehrte für kurze Stunden zurück. Dann aber verloren sie sich fast aus den Augen, obwohl sie in der gleichen Stadt, wohnten. Elsbeth ging ganz auf in ihrem jungen Glück, und Margot mußte daran denken, ihre Arztpraxis einzurichten.

Und dann traf Elsbeth nach dreijähriger, überaus glücklicher Ehe der furchtbare Schicksalsschlag. Ihr Mann wurde am Steuer seines Wagens von einem betrunkenen Lastwagenfahrer gerammt und gegen eine Hauswand gedrückt. Er war sofort tot. Durch einen reinen Zufall erfuhr Margot von dem Unfall und fuhr noch in der gleichen Stunde zu Elsbeth, die völlig zusammengebrochen war. Und in dieser Stunde der Not wußte sie plötzlich, daß die alte Freundschaft nicht die geringste Einbuße erlitten hatte.

Von nun an kamen sie öfter zusammen, und immer fester schloß sich Elsbeth an die Freundin an.

So verschieden die beiden jungen Frauen schon äußerlich waren, so ungleich waren sie auch im Charakter. Die schlanke, schwarzhaarige Margot Fuhrmann war von auffallender, herber Schönheit. Aber seltsamerweise wirkte sie nicht allzu sehr auf Männer, weil sie den Herren der Schöpfung zu selbstsicher im Leben stand und mit überlegener Ironie alle Situationen zu meistern wußte. Die blonde Elsbeth dagegen, jetzt als Frau noch schöner als damals, da sie noch ein junges Mädchen war, neigte ein wenig zur Vollschlankheit, was ihrer Figur und ihrem ganzen Aussehen einen gewissen sinnlichen Reiz verlieh, der zwar den Männern gleich angenehm in die Augen stach, dessen sich Elsbeth selbst aber glücklicherweise keineswegs bewußt war. Als echte Frau war sie weich und anlehnungsbedürftig und nicht immer sicher in ihren Entschlüssen und Entscheidungen.

Die junge Ärztin die wieder auf die Straße zu ihrem Wagen zurückgekehrt war, überlegte angestrengt, wie sie der Freundin helfen konnte.

Mit ihrer Mutter schien sich Elsbeth also nicht mehr so gut zu verstehen wie in der Zeit ihrer Ehe, eine andere Freundin hatte sie nicht. Da war es wohl nicht mehr als recht und billig, wenn sie Elsbeth jetzt zur Seite stand und ihr half, die Schwierigkeiten des Lebens zu überwinden. Doch wie sollte diese Hilfe aussehen? Das war so schnell nicht zu entscheiden.

Sie war noch tief in Gedanken versunken, als sie Elsbeth mit hastigen Schritten auf sich zukommen sah.

„Entschuldige bitte, Margot, wenn ich dich warten ließ!“

„Aber Elsbeth, da gibt es doch nichts zu entschuldigen!“ wehrte die Ärztin heftig ab. „Ich habe gern auf dich gewartet. Und außerdem habe ich heute ausnahmsweise einmal sehr viel Zeit!“

„Du willst mich also wirklich in die Stadt zurückfahren?“

„Und bei dir noch ein Stündchen plaudern, wenn es dir recht ist!“

„Das ist lieb von dir!“ antwortete Elsbeth und wischte sich die letzten Tränenspuren vom Gesicht. „Voher müssen wir aber eben bei Mama vorbeifahren und Karin abholen! Das macht dir doch nichts aus?“

„Gut, fahren wir über Uhlenhorst zurück!“ stimmte die Ärztin sofort zu. „Das ist ja schließ lieh kein Umweg!“

Sie stiegen ein und fuhren den gleichen Weg zurück, bis sie am Osterbekkanal rechts abbiegen mußten, um zur Villa von Frau Jakobsen zu gelangen. Während der Fahrt war Elsbeth sehr schweigsam, und Margot störte sie nicht in ihren Gedanken. Die Ärztin hatte größtes Verständnis dafür, daß die Freundin sich erst wieder zurechtfinden mußte. Die Erinnerungen, die am Grabe ihres Gatten auf sie eingestürmt waren, mußten erst wieder abklingen.

Hin und wieder warf die Ärztin einen Blick nach rechts, wo sich Elsbeth in die Polster geduckt hatte und starr geradeaus sah. Die junge Frau tat ihr leid, zumal in ihrem jetzigen Stadium, wo sie anscheinend mit sich selbst nicht fertig wurde und bei ihrer Mutter auch keine Hilfe fand. Wenn Margot nur gewußt hätte, wie sie ihr helfen konnte!

Als sie vor der Villa Jakobsen vorfuhren, sagte Elsbeth:

„Kommst du mit hinein, Margot? Meine Mutter wird sich sicher freuen, wenn sie dich einmal wiedersieht!“

„Lieber nicht, Elsbeth! Wenigstens nicht heute. Wir würden uns nur zu lange aufhalten. Wenn du allein gehst, wird sie dich sicher bald wieder ziehen lassen.“

„Hast recht, Margot!“ sagte Elsbeth nach kurzem Überlegen und stieg dann aus. „Ich, werde mich auf jeden Fall beeilen!“

Schon nach knapp zehn Minuten kam sie zurück. An der Hand führte sie ihr Töchterchen Karin, das der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, nur daß die kindlichen Züge noch unausgeprägt und noch nicht vom Leben gezeichnet waren.

„Siehst du, Karin, jetzt fahren wir mit Tante Margot Auto! Freust du dich auch darauf?“

Ganz gegen ihre Gewohnheit nickte die Kleine nur. Elsbeth öffnete die Wagentür und sagte:

„Gib Tante Margot die Hand, Karin!“

Die Kleine reichte der Fahrerin ihr Patschhänd chen und sagte artig:

„Guten Tag, Tante Margot!“

„Du möchtest also mit uns Auto fahren, Karin?“ fragte die Ärztin und beugte sich weit vor. Dann hielt sie das Händchen der Kleinen für einen Augenblick fest. Sie stutzte und sah dem kleinen Fräulein aufmerksam ins Gesicht. Dann wandte sie sich an Elsbeth:

„Fühlt sich Karin nicht wohl, Elsbeth?“

„Wieso meinst du das, Margot? Die Kleine wird müde sein, sie hat den ganzen Tag bei der Omi gespielt!“

„Aha!“ sagte die Ärztin nur. Aber plötzlich war Elsbeth mißtrauisch geworden, hastig fragte sie:

„Oder meinst du ...?“

„Nein, nein, ich meine gar nichts!“ beruhigte sie Margot. „Ich dachte nur ..., mir fiel bloß auf, daß sie so ruhig ist. Aber ich irre mich wohl. Schließlich habe ich sie ja wochenlang nicht gesehen!“

„Monatelang!“ verbesserte Elsbeth mit leisem Vorwurf in der Stimme. „Du bist mindestens zwei Monate lang nicht bei mir gewesen, Margot!“

„Darum habe ich mir auch heute Zeit genommen, Elsbeth! Wir werden sicher eine ganze Menge zu erzählen haben!“

Als sie in Harvestehude ankamen, hatte Karin durchaus nicht den Wunsch, die Fahrt noch ein wenig auszudehnen. Sie wollte unbedingt ins Haus. Aber Elsbeth fiel das nicht weiter auf.

Elsbeth begab sich sofort in die Küche, um das Abendbrot zu bereiten und Tee aufzuschütten. Margot bekümmerte sich um die kleine Karin, die sich zutraulich zu ihr auf die Couch gesetzt hatte. Das Mädelchen wußte ganz genau, daß es noch ein Weilchen aufbleiben durfte, wenn die Tante zu Besuch gekommen war. Aber im Gegensatz zu früheren Unterhaltungen zwischen den beiden war Karin heute keineswegs gesprächig. Als die Ärztin wie zufällig noch einmal nach ihrer Hand griff, stellte sie fest, daß die Kleine Temperatur hatte. Und mit der kundigen Hand der Ärztin fühlte sie auch sogleich den Puls.

Da bin ich ja zur rechten Zeit gekommen, sagte sie zu sich selber, die Kleine muß sofort ins Bett! Sie wartete nicht ab, bis Elsbeth aus der Küche kam, sondern erhob sich und ließ Karin einige Augenblicke allein. Die Kleine blieb artig in ihrer Couchecke sitzen.

„Sag mal, Elsbeth“, fragte sie vorsichtig, „fällt dir an Karin heute wirklich nichts auf?“

„Nur das eine, daß sie müde ist! Oder glaubst du ...?“

„Ich halte es für richtiger, du steckst sie erst ins Bett, Elsbeth! Um das Essen werde ich mich inzwischen bekümmern!“

„Du meinst, weil sie sich müde gespielt hat?“ fragte Elsbeth. Der Ausdruck der Besorgnis in ihrem Gesicht verstärkte sich.

„Nein, nicht nur darum, Elsbeth!“ sagte Margot langsam. „Als wir vorhin ausstiegen, gefiel mir das Aussehen der Kleinen nicht, aber soeben habe ich festgestellt, daß sie erhöhte Temperatur hat. Das braucht natürlich kein Anlaß zur Sorge zu sein, aber klug wäre es, du bautest ein wenig vor!“

„Was kann es denn sein, Margot?“ fragte die Mutter ängstlich. „Etwas Ernstes?“

„Das glaube ich nicht! Aber das läßt sich heute noch nicht sagen! Bring sie zu Bett und mach ihr ein paar kühle Kompressen um die Waden! Oder hast du lieber, daß ich es tue?“

„Ich mache das schon!“ sagte Elsbeth und eilte hinaus.

Dann brachten sie die Kleine gemeinsam zu Bett, und die Ärztin überwachte das Anlegen der Kompressen. Karin war recht apathisch und ließ alles mit sich geschehen. Sie hatte der Tante und der Mutti kaum das Händchen gegeben, da schlief sie auch schon ein. Elsbeth löschte das Licht, und die beiden Frauen verließen das Zimmer.

„Ist es auch bestimmt nichts Ernstes, Margot?“ wollte die Mutter in ihrer Not wissen.

„Das wird es schon nicht sein, Elsbeth! Aber was es ist, kann ich erst morgen feststellen. Warten wir also in Geduld ab, mehr können wir jetzt sowieso nicht tun!“

Im stillen befürchtete die junge Ärztin, daß Karin die Grippe hatte, die gerade in diesem feuchten Frühjahr wieder stark in Hamburg grassierte. Aber sie war noch nicht sicher, ob ihre Diagnose stimmte, und darum wollte sie die Freundin auch nicht aufregen.

„Du kommst morgen noch einmal vorbei, Margot?“

„Das muß ich ja wohl, Elsbeth“, versuchte diese zu scherzen, „ich habe ja schließlich eine Berufsauffassung mit auf den Weg bekommen, die es nicht zuläßt, daß ich meine Pflichten vernachlässige! Aber nun komm und setz dich zu mir, wir wollen ein wenig plaudern wie früher!“

Dankbar schaute Elsbeth die Freundin an, dann sagte sie impulsiv:

„Ich freue mich ja so schrecklich, daß du endlich mal wieder bei mir bist, Margot! Es ist ja so furchtbar schwer, alles mit sich allein abzumachen!“

„Und ich freue mich, daß wir uns mal wieder aussprechen können! Zwei Menschen werden sicher einen Ausweg finden, wo einer ihn nicht finden kann!“

Und dann schüttelte Elsbeth ihr Herz aus. Margot war eine gute Zuhörerin und ließ die Freundin zu Ende sprechen. Sie unterbrach sie kaum mit Zwischenfragen, es sei denn, es geschah zu dem Zweck, Elsbeth zu beweisen, wie sehr sie sich mit ihrer Angelegenheit befaßte.

Die erfahrene Ärztin hatte sehr bald heraus, daß aller Kummer nur eine einzige Grundursache hatte: Elsbeth wurde nicht allein mit sich selber fertig. Bei ihrer Mutter fand sie keine Unterstützung, weil die alte Dame eine andere Lebensauffassung hatte als ihre Tochter. In Karins Erziehung sah Elsbeth keine Aufgabe, die sie ausfüllen konnte, und da sie sich lange Zeit mit niemand ausgesprochen hatte, verursachte ihr das Alleinsein seelische Qualen.

Margot Fuhrmann versuchte Elsbeth zu trösten, so gut sie es vermochte, sie nahm sich aber vor, ihr auch eine wirkliche Hilfe zuteil werden zu lassen. Nur wußte sie nicht sofort, welchen Weg sie beschreiten sollte. Spät am Abend erst fuhr sie über Blankenese nach Rissen zurück, wo sie nahe dem Elbufer, inmitten von Heide und Sand, eine vom Vater ererbte Villa besaß, die auch ihre Praxis beherbergte.

Mit dem Gedanken an Elsbeth schlief sie ein. Mitten in der Nacht fuhr sie aus dem Schlafe hoch, weil sie glaubte, daß ihr eine Lösung eingefallen sei. Und sofort begann sie, sich in aller Ruhe noch einmal mit dem Problem zu beschäftigen.

Wie wäre es, fragte sie sich, wenn sie Elsbeth und Karin einfach hierher nach Rissen holte? In ihrem Hause war Platz genug! Karin würde unter ärztlicher Aufsicht sein und Elsbeth könnte sich über alles, was sie bewegte, gründlich aussprechen.

Es war da noch ein weiterer Gedanke, der ihr keine Ruhe ließ, und das war die Einstellung der alten Frau Jakobsen zu ihrer Tochter. Margot konnte sich einfach nicht vorstellen, daß die alte Dame vom Eigensinn getrieben wurde, wenn sie der Tochter Vorhaltungen machte. Elsbeth als ihre Einzige war stets von ihr verwöhnt, wenn nicht gar verzagen worden. Margot hielt es nicht für ausgeschlossen, daß Elsbeths Mutter ihre Tochter vielleicht viel besser kannte als diese sich selbst.

Wenn das aber so war, dann wußte Frau Jakobsen auch, daß Elsbeth einen Menschen nötig hatte, an den sie sich anlehnen konnte. Und darum vertraute sie ihrem Verstande und erwartete von Elsbeth, daß sie wieder heiratete.

Elsbeth selbst aber war solchen Vernunftgründen nicht zugänglich, weil sie nur auf ihr Gefühl hörte, und dieses sagte ihr, daß sie dem Toten die Treue zu halten habe. Nur ihm hatte ihre große Liebe gehört, nur er sollte der einzige Mann in ihrem Leben bleiben.

Die Ärztin erkannte plötzlich sehr klar, in welcher Lage sich Elsbeth befand. Und weil sie es erkannte, glaubte sie auch, ihr helfen zu können. Bevor sie aber in dieser Angelegenheit die Initiative ergriff, mußte sie ganz sicher sein in ihrem Urteil. Und um diese Sicherheit zu gewinnen, mußte sie Elsbeth eine ganze Weile um sich haben. Nur so würde es möglich sein zu ergründen, ob Elsbeth den Verstandesgründen der Mutter oder aber ihrem eigenen Gefühl folgen sollte. Wenn sie hier Klarheit gewonnen hatte, wollte Margot die Freundin auf den rechten Weg bringen. Und wenn es sein mußte, gegen Elsbeths Willen! So wenigstens verstand sie ihre Freundschaft, und sie hatte längst die Erfahrung gemacht, daß viele Menschen gegen ihren Willen zu ihrem Glück gezwungen werden müssen, weil sie selbst nicht in der Lage sind, den Weg zu erkennen, der sie zu ihrem Glücke führt, und ihn aus eigenem Antrieb und aus eigener Kraft zu gehen.

Früh am nächsten Morgen rief sie Elsbeth an, und als ihr die Freundin sagte, daß es Karin nicht besser gehe, kündigte sie sofort ihren Besuch an. Noch vor der Sprechstunde fuhr sie nach Harvestehude hinein. Elsbeth empfing sie mit allen Anzeichen größter Aufregung und mütterlicher Besorgnis.

Entschlossenes Handeln würde jetzt das beste sein, sagte sich Margot, darum fiel sie auch sogleich mit der Tür ins Haus:

„Ich glaube, Elsbeth, es ist tatsächlich die Grippe. Aber damit werden wir schon fertig werden! Nur halte ich es für richtig, wenn du jetzt deine und Karins Sachen packst und mit mir fährst! In meinem Hause ist Platz genug für euch beide, und dann habe ich wenigstens meine kleine Patientin unter dauernder Aufsicht, und eine Pflegerin habe ich auch!“

„Ja, aber dann muß ich doch ...“

„Kein Aber, Elsbeth“, schnitt ihr Margot sofort die Rede ab. „Noch befindet sich Karin in einem Zustand, wo ich sie ohne Gefahr transportieren kann! Morgen wäre es vielleicht schon zu spät dazu. Also pack die Sachen zusammen, damit wir sogleich fahren können!“

„Ist es denn wirklich so ernst, Margot?“ fragte die Mutter ängstlich.

Margot befand sich in einem schweren Gewissenskonflikt. Sollte sie die Frage der Freundin verneinen? Dann bestand Gefahr, daß Elsbeth ihren Vorschlag rundheraus ablehnte. Sollte sie aber bejahen, dann würden die Sorgen der Mutter das Herz beschweren und sie das Schlimmste befürchten lassen, wenn eine solche Auskunft auch ihren eigenen Plan fördern würde. Sie entschloß sich nach kurzem Zögern zu einer diplomatischen Antwort, die beide Wege offen ließ.

„Heute ist darüber überhaupt noch nichts zu sagen, Elsbeth! Aber du sollst dir nicht später den Vorwurf machen müssen, etwas versäumt zu haben!“

Da ging Elsbeth hinaus, um ihr Kind für die Fahrt anzuziehen. Als das geschehen war, packten die beiden Frauen alles Nötige in einen Koffer.

„Wir wollen uns beeilen“, sagte die Ärztin, „damit ich noch rechtzeitig in die Sprechstunde komme. Wenn du morgen feststellst, daß dir etwas fehlt, holen wir es noch ab. Alles andere kannst du von meinem Hause aus telefonisch erledigen.“

Es war gut, daß Margot so resolut vorging und Elsbeth jede Entscheidung abnahm. Hätte sie das nicht getan und der Freundin anheim gestellt, ob sie ihren Vorschlag annehmen sollte oder nicht, wäre gewiß kein Resultat zustandegekommen. Elsbeth konnte ja nur handeln, wie es der Wirrnis in ihrem Inneren entsprach, und das wäre weder für sie noch für ihr Kind förderlich gewesen.

Eine halbe Stunde später saß die junge Ärztin wieder am Steuer ihres Wagens. Hinter sich wußte sie die Freundin, die Karin auf dem Schoße hielt. Das Kind war in Wolltücher eingewickelt und gut gegen die Witterung geschützt. Nach menschlichem Ermessen war alles getan, was getan werden konnte.

Nun mußte abgewartet werden, welche Entwicklung die Dinge nahmen.

Karins neuer Vater

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