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II.

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Elsbeth und Karin wurden im oberen Stock der Villa gleich neben Margots Schlafzimmer einquartiert. Diese selbst konnte sich aber vorerst nicht um die Freundin bekümmern, denn im Wartezimmer saßen bereits mehrere Patienten, die auf den Beginn der Sprechstunde warteten. So war Elsbeth vorerst auf sich selbst angewiesen. Karin war zu Bett gebracht worden, und die Ärztin hatte ihr vorher noch Tabletten gegeben, damit sie nach gut überstandener Fahrt weiterschlafen sollte.

Nun ging Elsbeth daran, den Inhalt ihres Koffers im Schrank unterzubringen und sich für die Dauer von Karins Krankheit häuslich einzurichten. Sie hatte dabei das gleiche Empfinden, als wäre sie in der Sommerfrische und beziehe ihr Pensionszimmer. Und ebenso handelte sie jetzt auch, indem sie auf die große Liegeterrasse hinaustrat, um die nächste Umgebung zu betrachten und von der Landschaft Besitz zu ergreifen.

Selbstverständlich kannte sie das Haus ihrer Freundin von früheren Besuchen her. Aber noch nie hatte sie hier übernachtet. Heute, da sie als Dauergast eingezogen war, betrachtete sie alles mit ganz anderen Augen.

Das Haus lag inmitten einer ausgeprägten Heidelandschaft, Kieferngruppen wechselten ab mit Wacholder und vereinzelten Birken, dazwischen schlängelten sich schmale, mit Steinplatten ausgelegte Wege. Nur unterhalb der Terrasse gab es einen richtigen Blumengarten, schon wenige Meter vom Hause entfernt begann dann bereits die Wildnis, was aber nicht besagen will, daß es hier weniger gepflegt aussah. Man hatte lediglich die Ursprünglichkeit der Landschaft erhalten und ihren arteigenen Charakter noch durch entsprechende Bepflanzung unteristrichen. So gewann man den Eindruck, schon wenige Schritte hinter dem Hause mitten in der Heide zu sein. Die niederdeutsche Bauweise des Hauses, das mit einem breit ausladenden Strohdach gedeckt war, verstärkte diesen Eindruck noch.

Was Elsbeth aber besonders wohltat, das war die Stille ringsum. Obwohl man nur einen Steinwurf weit von Blankenese entfernt war, spürte man die Stadt überhaupt nicht mehr. Nicht einmal das Rattern der Stadtbahn war hier zu hören, nur hin und wieder tutete auf dem Strom ein Dampfer, der von Schleppern in den Hafen eingeholt wurde.

Elsbeth atmete tief und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Mit einem glücklichen und zufriedenen Lächeln schaute sie ins Land hinaus. Ein Gefühl unendlicher Dankbarkeit beschlich ihr Herz, und sie fühlte sich geborgen wie selten zuvor. Und im selben Augenblick wußte sie auch, daß sie hier ihre innere Ruhe und Karin ihre Gesundheit wiedererlangen würde. Als sie ins Zimmer zurückging, war Karin eingeschlafen. Da nahm Elsbeth ihre Handtasche und verließ das Haus.

Sie machte einen Spaziergang bis hin zum Elbufer, wo sie von hoher Böschung aus dem Leben und Treiben auf dem Strom zuschaute. Und es ging ihr wie allen, die schon einmal an dieser Stelle oder auf dem Süllberg bei Blankenese gesessen und den ausfahrenden Schiffen zugeschaut haben. Sie wurde vom Fernweh gepackt, und ihre Sehnsucht ging mit ihr auf die Reise, weit fort von hier, dorthin, wohin die Menschen nur in ihren Träumen zu fliegen vermögen.

Doch bald kam sie aus dem Traumland wieder in ihre Wirklichkeit zurück, und es konnte nicht ausbleiben, daß sie sich mit ihrer eigenen Lage beschäftigte. Je länger sie darüber nachdachte, desto froher wurde sie darüber, daß sie in Margot eine Freundin besaß, auf die sie sich in jeder Lebenslage verlassen konnte.

Früher, als sie noch ein junges Mädchen war, hatte sie niemals Sorgen gekannt, und als sie dann geheiratet hatte, löste Walter Haurand die Eltern ab und nahm sie unter seinen ritterlichen Schutz. Als Walter dann aber verunglückt war, stand sie plötzlich hilflos und allein da. Die Mutter tat zwar alles, um ihr das Leben zu erleichtern, aber dann lebten sie sich doch auseinander, weil sie sich nicht mehr verstanden. Das ging soweit, daß Elsbeth den Verdacht hegte, ihre Mutter wolle sich in alles einmischen und in ihr selbst jedes Eigenleben unterdrücken. Daß es die Mutter gut mit ihr meinte und weiter sah, weil sie ihre Tochter viel besser kannte als diese sich selbst, auf diesen Gedanken kam Elsbeth in ihrer Verblendung jedenfalls nicht.

Heute hatte sie zum ersten Male wieder das Gefühl, ganz geborgen zu sein. Und dies nur aus dem einen Grunde, weil Margot sich um sie kümmerte. Man kann nicht einmal sagen, Margot hätte ihr die Sorgen abgenommen, denn von Sorgen im eigentlichen Sinne konnte bei Elsbeth keine Rede sein. Es war wohl mehr die Tatsache, daß ihr Margot die Initiative abnahm und Entscheidungen für sie traf.

Plötzlich aber überkam sie der Gedanke, sofort zurück ins Haus zu müssen. Sie erhob sich von dem kleinen Hügel, auf dem sie gesessen, und lief den Weg zurück, den sie gekommen war. Kaum fünf Minuten später war sie wieder daheim. Dort lief sie die Treppe hinauf, um nach Karin zu sehen.

Die Kleine lag in ihrem Bettchen, aber sie war noch nicht wieder erwacht. Das Mittel, das ihr die Ärztin gegeben, schien von nachhaltiger Wirkung zu sein. Aber sie hatte ihr Deckbett völlig durcheinandergewühlt, und als die Mutter das gerötete Gesicht Karins sah, wurde sie von Angst ergriffen. Schon machte sie sich Vorwürfe, weil sie überhaupt fortgegangen war. Ganz ohne Zweifel fieberte Karin wieder.

Die Freundin hatte noch Sprechstunde, im Wartezimmer saßen immer noch Leute, und in dem anderen Zimmer sprach die Ärztin mit einem Patienten. In ihrer Sorge wartete Elsbeth aber nicht ab, bis die Freundin frei war, sie klopfte an die Tür und stand davor mit pochendem Herzen.

Die Freundin kam sofort und öffnete.

„Ist was, Elsbeth?“ fragte sie besorgt, als sie das Gesicht der jungen Mutter sah.

„Ich glaube, Karin geht es nicht gut, sie hat einen ganz roten Kopf und fiebert!“

„Einen Augenblick, Elsbeth, ich komme sofort!“

Elsbeth ging wieder die Treppe hinauf. Doch war sie noch nicht an der Schlafzimmertür angekommen, als Margot sie schon eingeholt hatte. Gemeinsam gingen sie hinein und traten an das Kinderbett.

„Sieht nicht sehr erfreulich aus“, sagte Margot, die genau wußte, daß sie der jungen Mutter nichts vormachen konnte. Ein Ausweichen oder gar eine Lüge hätte diese nur stutzig gemacht. „Aber das ist kein Grund zur Aufregung. Ich werde gleich einmal die Temperatur messen!“

Sie holte auch sogleich ein Thermometer hervor, bevor sie es ablesen konnte, sprach sie auf Elsbeth ein:

„Es wird vielleicht ganz gut sein, wenn die Grippe zum Durchbruch kommt. Karin hat eine kräftige Natur, sie wird schon damit fertig werden. Wenn ich ihr jetzt etwas eingäbe, das die Krankheit unterdrückt, würde vielleicht die Kraft des Übels sehr schnell gebrochen, aber dann bleibt meistens etwas zurück. Und das könnte für später gefährliche Auswirkungen haben.“

„Ich bitte dich, Margot, tu, was du für richtig hältst! Ich will Karin ja gerne pflegen! Mir wird bestimmt nichts zuviel sein!“

Die Ärztin nickte vor sich hin, dann nahm sie das Thermometer wieder an sich. Die Kleine hatte fast vierzig Grad Fieber. Sofort schüttelte sie die Quecksilbersäule wieder nach unten, das Ergebnis brauchte Elsbeth nicht zu sehen, sie würde sich nur unnütz beunruhigen.

„Und was machen wir nun, Margot?“ fragte Elsbeth unsicher.

„Abwarten! Ich werde ihr inzwischen noch etwas zur Beruhigung geben. Weiter können wir jetzt nichts tun!“

„Sie hat heute aber noch nichts gegessen!“

„Das ist auch nicht nötig, Elsbeth! Aber wenn sie Durst bekommt, gibst du ihr Zitrone oder Fruchtsaft. Ich schicke dir sogleich das Mädchen mit einem Tablett.“

Die Ärztin nickte ihrer Freundin aufmunternd zu und strich ihr liebevoll über die Schulter.

„Es wird schon alles gut werden!“ tröstete sie. Dann ging sie wieder nach unten, um ihre Sprechstunde fortzusetzen.

Aber es wurde nicht alles gut. Es folgten Tage, die das Schlimmste befürchten ließen, denn zu der Grippe hatte die Kleine noch eine Lungenentzündung bekommen. In den Nächten wechselten die beiden Frauen mit der Nachtwache einander ab. Margot schien das nichts auszumachen, aber Elsbeth magerte in diesen zwei Wochen, die die Krankheit anhielt, sichtlich ab. Es stand schon beinahe zu befürchten, daß sie selbst die nächste Patientin sein würde.

Inzwischen hatte sich die Großmutter wiederholt gemeldet, die sich natürlich auch Sorgen machte und unbedingt nach Rissen herauskommen wollte, um sich an Ort und Stelle von dem Zustand ihrer beiden Angehörigen zu überzeugen. Aber die Ärztin wußte es zu verhindern, daß dieser Besuch stattfand. Sie fürchtete nicht nur, daß sich die alte Dame anstecken würde, sondern mehr noch, daß sie Elsbeth Vorwürfe machte, weil sie mit der kranken Karin nicht in der eigenen Wohnung geblieben war.

Als dann endlich die Gefahr vorbei war, hielt Margot den Zeitpunkt für gekommen, sich einmal mit Elsbeths Mutter zu unterhalten. Aber das sollte nicht in ihrem Hause geschehen, denn bei dieser Aussprache konnte sie Elsbeth nicht gebrauchen. Besser war es, sie fuhr einfach zu Frau Jakobsen nach Uhlenhorst. Um ihr Vorhaben zu verschleiern, sagte sie zu ihrer Freundin:

„Jetzt, wo es Karin besser geht, ist es deine Pflicht, dich zu erholen, damit du wieder zu Kräften kommst! Ich muß heute nachmittag in der Stadt Besorgungen machen, dir aber verordne ich ein paar Stunden unbedingte Ruhe! Du sollst weder lesen noch handarbeiten, sondern du wirst dich einfach mit dem Faulenzer in den Garten legen!“

„Also eine ärztliche Anordnung!“ fügte sich Elsbeth mit süßsaurem Lächeln. „Da kann man wohl nichts machen. Ich verzichte also auf jeden Protest!“

„Und was soll ich dir aus der Stadt mitbringen?“

„Ich wüßte wirklich nichts! Ich halbe hier ja alles. Dank deiner schwesterlichen Fürsorge!“ fügte sie leise und voller Dankbarkeit hinzu.

„Gut, dann erwarte mich bis zum Spätnachmittag zurück! Du kannst ruhig solange draußen liegenbleiben, das Mädchen wird zwischendurch nach Karin sehen. Wenn sie es für nötig hält, wird sie dich schon rufen!“

Da war es wieder, das verantwortungsvolle Handeln der Freundin, die ihr jede Initiative abnahm und sogar für sie zu denken schien. Elsbeth fühlte sich unendlich wohl dabei und lächelte mit geschlossenen Augen vor sich hin. Margot sah es mit stiller Genugtuung, und einer großen Sorge ledig stieg sie in ihren Wagen und fuhr zur Stadt.

Das Haus der Familie Jakobsen in Uhlenhorst war eine vornehme Villa und in einem Stil gebaut, der um die Jahrhundertwende üblich war. Es wirkte hier alles so unendlich gediegen und solide, wie man es heute, in unserer schnellebigen Zeit, kaum noch kennt. Als die Ärztin an der Haustür klingelte, erschien ein Mädchen in weißer Servierschürze und mit einem Häubchen auf dem Kopf. Es fragte, wen es der gnädigen Frau melden dürfe.

Wer sich hier nicht auskannte und etwa geglaubt hätte, in der Hausfrau nun einem Überbleibsel aus dem vorigen Jahrhundert zu begegnen, der würde sich sehr geirrt halben. Die alte Dame nämlich, die sogleich an die Tür kam, um ihren Gast zu begrüßen, war alles andere als eine vertrocknete und in ihrer Vornehmheit verknöcherte Hanseatin. Lebhaft schritt sie auf die Ärztin zu und streckte ihr die Hand hin.

„Das ist fein, Margot, daß du mich auch einmal besuchst! Wie geht es denn den beiden Patienten, die du dir so leichtsinnigerweise ins Haus geholt hast?“

„Den Umständen nach recht gut, Frau Jakobsen“, erwiderte Margot freundlich. „Karin hat die Krisis überstanden, und Elsbeth ist doch überhaupt nicht richtig krank gewesen. Sie war nur überarbeitet durch die vielen Nachtwachen.“

„Und was macht Karin jetzt? Soll sie sich nicht irgendwo noch ein paar Wochen erholen?“

„Der Gedanke wäre nicht schlecht, Frau Jakobsen! Es würde der Kleinen sehr gut tun, wenn sie noch ein paar Wochen im Schwarzwald zubringen könnte. Ihre Lungen sind natürlich noch angegriffen, und die Luft dort unten wäre die beste Medizin für sie.“

„Was meinst du, Margot, wenn ich mit der Kleinen ein paar Wochen verreisen würde? Was wird Elsbeth wohl dazu sagen?“

„Sie wird selbstverständlich zustimmen!“

„Na, na, da bin ich gar nicht so sicher!“

„Wenn ich ihr sage, daß es für Karin gut ist, wird sie sich schon dazu entschließen“, meinte die Ärztin mit einem gewinnenden Lächeln.

„Ja, wenn du es ihr sagen würdest! Es ist überhaupt ein Glück, daß Elsbeth dich zur Freundin hat“, sagte die Dame aus ehrlicher Überzeugung. „Ich würde mir sonst noch viel mehr Sorgen machen!“

„Sie machen sich Sorgen, Frau Jakobsen? Glauben Sie, daß das nötig sei?“

Margot schaute die Greisin forschend an. Sie war ja hierher gekommen, weil auch sie sich Elsbeths wegen Sorgen machte, und es konnte ihr nur recht sein, wenn Frau Jakobsen jetzt davon zu sprechen anhub. Nur wollte Margot nicht selbst den Anstoß geben, denn wenn die alte Dame erst merkte, daß die Ärztin die gleichen Befürchtungen hatte, würde sie wenig Hoffnung auf eine Besse rung haben.

Hier konnte sie nur forsch und mutig ans Werk gehen, als ob es sich um die größte Selbstverständlichkeit handelte. Sie würde auch der alten Dame die Initiative aus der Hand nehmen müssen, es kam lediglich darauf an, sich ihrer Zustimmung und ihres moralischen Rückhalts zu versichern. Und selbstverständlich mußte sie zunächst einmal herausbekommen, wie die Befürchtungen der alten Dame überhaupt aussahen.

„Du fragst, ob es nötig sei, daß ich mir Elsbeths wegen Sorgen mache? Ja, Margot, weil ich mein Kind nur zu gut kenne, weiß ich, daß es nötig ist! Aber leider läßt sich Elsbeth von mir nicht helfen. Sie glaubt immer, ich wolle ihr in ihr Leben hineinreden. Und das will ich doch gar nicht!“

„Sie ist also Ihren Ermahnungen nicht zugänglich, Frau Jakobsen?“

„Leider nicht! Wir haben uns sogar schon oft gestritten. Und ich habe den Verdacht, daß sie mich heute bewußt meidet. Das ist schmerzlich für eine Mutter!“

„Ich verstehe!“ sagte Margot voller Mitgefühl. „Gibt es denn Dinge, in denen Ihre und Elsbeths Meinung so sehr auseinander gehen?“

„O ja! Das ist es ja, was zwischen uns steht! Elsbeth glaubt, mit ihrem Leben selber fertig werden zu können, und ich weiß, daß sie es nicht kann. Sie bemüht sich zwar sehr darum, ja, sie belügt sich vielleicht sogar, aber im Grunde wird sie nur immer unglücklicher, je länger sie versucht, mit ihren Lebensverhältnissen ins reine zu kommen.“

„Und was wäre nach Ihrer Meinung der richtige Weg?“ forschte Margot, weil sie fühlte, daß sich Frau Jakobsen mit ihr aussprechen wollte.

„Das zu sagen, ist ja so unendlich schwer, Margot! Wenn Elsbeth so geartet wäre wie du, hätte ich keine Sorgen. Denn du wirst ohne Sentimentalitäten mit dem Leben fertig und packst es mit beiden Händen an. Aber Elsbeth ist eben ganz anders geartet. Vielleicht liegt es aber auch nur an ihrer Erziehung. Ich fürchte fast, daß ich mir etwas vorzuwerfen habe, weil ich ihr in ihrer Jugend alles Häßliche und Schwere ferngehalten habe.“

„Dadurch hat Elsbeth aber eine sehr glückliche Kindheit gehabt“, warf Margot ein. „Und das hat ihr gewiß viel gegeben, auch für ihre Erinnerung!“

„Mag sein! Aber es hat sie für das Leben untüchtig gemacht! Wir hätten nicht alles von ihr nehmen dürfen. Würde sie gezwungen gewesen sein, von frühester Jugend an selbst mit den Dingen fertig zu werden, stünde sie heute dem Leben als fertiger und selbstsicherer Mensch gegenüber. Heute weiß ich, daß man seine Kinder nicht vor allem bewahren darf, um sie nicht lebensuntüchtig zu machen. Aber was nutzt mir diese Weisheit jetzt? Heute ist es für meine Einsicht zu spät!“

„Aber nein, Frau Jakobsen!“ widersprach Margot. „Solange wir einen Menschen, der uns lieb und teuer ist, richtig einzuschätzen vermögen, solange können wir ihm auch helfen.“

„Das mag stimmen, Margot!“ sagte die alte Dame, die sich den Einwand der jungen Ärztin einen Augenblick lang hatte durch den Kopf gehen lassen. „Aber leider hat das nur begrenzte Bedeutung, ich lebe ja schließlich nicht ewig.“

„Ich bin ja auch noch da, Frau Jakobsen!“ sagte Margot mit einem kleinen Lächeln. „Ich werde Elsbeth schon nicht im Stich lassen!“

„Daß weiß ich, Margot! Aber ob das genug sein wird? Bitte, verstehe mich recht! Als Freundin kann man sehr viel helfen, aber solche Hilfe darf auf die Dauer keine einseitige Angelegenheit bleiben! Glaube einer alten Frau, die das Leben kennengelernt hat, es ist nicht gut, wenn in einer Freundschaft der eine Teil immer nur der Nehmende und der andere stets der Gebende ist!“

„Gelben ist seliger denn Nehmen, heißt es schon in der Bibel, Frau Jakobsen. Und ich finde, daß diesem Wort eine Bedeutung zukommt, die manches Sittengesetz ersetzen könnte!“

„Du bist Idealistin“, lächelte die alte Dame. „Das habe ich schon gewußt, als du damals Medizin studiertest! Aber ich möchte noch etwas erwähnen: einmal hatte ich nämlich allen Grund, sorgenlos in die Zukunft zu schauen, das war an jenem Tage, als Elsbeth ihren Walter heiratete. An ihn konnte sie sich anlehnen, er war ihr Stütze und Halt im Leben, er nahm ihr alle Entscheidungen ab und teilte ihr Tagewerk ein, wie er es für gut und richtig hielt. Er war eben der Mann!“

„Sie wollen also sagen, daß Elsbeth eine männliche Stütze nötig hätte?“

„Ja, das ist es, Margot! Und ich halbe es bei Gesprächen mit Elsbeth wiederholt durchblicken lassen. Doch damit stieß ich auf Granit! Und weil ich nicht locker ließ, hat sie mich schließlich gemieden. Das ist es, was mich so schmerzt.“

„Sie glaubt, ihrem Walter über das Grab hinaus die Treue halten zu müssen“, erwiderte die Ärztin. „Das ist ein sehr schöner und edler Beweggrund. Nur hat Elsbeth dabei vergessen, daß das Leben weitergeht. Es gibt Gefühle und sogar Verstandesgründe, über die man sich hinwegsetzen muß!“

„Ich freue mich, Margot, daß du mich verstehst! Ja, so ist es! Sie glaubt – und darin wird sie von ihrem Verstande bestärkt – daß sie dem Toten die Treue halten müsse. Aber wenn sie auf ihr Gefühl hören, wenn sie ihrem Instinkt folgen würde, dann müßte sie erkennen, daß sie nicht der Mensch ist, der auf die Dauer allein bleiben kann!“

„So sehe auch ich den Fall!“ sagte Margot überzeugt. „Aber wie sollen wir Elsbeth das beibringen?“

„Ja, das ist die große Frage! Ich selbst darf ihr das unter keinen Umständen beizubringen versuchen. Sie würde sofort mißtrauisch werden und sich gegen jeden meiner Vorschläge sperren!“

„Richtig, das würde sie tun! Aber wenn ich es ihr sagen würde?“

„Auf dich wird sie hören, Margot!“ sagte die alte Dame überzeugt. „Es kommt aber darauf an, in welcher Weise du sie mit diesem Gedanken vertraut machen willst. Auf keinen Fall darfst du mit der Tür ins Haus fallen!“

„Das wäre das verkehrteste, was ich tun könnte“, pflichtete ihr Margot sofort bei. „Wenn wir Elsbeth wirksam helfen wollen, müssen wir sehr behutsam und äußerst diplomatisch Vorgehen!“

„Ja, wenn man nur wüßte, wie!“

„Vielleicht schützen wir Karin vor! Wir müssen Elsbeth begreiflich zu machen versuchen, daß es unverantwortlich von ihr wäre, das Kind ohne Vater aufwachsen zu lassen!“

„Das wäre ein Weg!“ sagte die alte Dame freudig bewegt. „Ja, auf diese Weise müßte es gehen!“

„Gut, dann will ich den Versuch wagen!“

„Ich danke dir von ganzem Herzen, Margot! Du weißt ja nicht, welche Sorge du von mir nimmst!“

„Es geht ja um Elsbeth“, sagte die Ärztin schlicht, „und wir haben sie ja beide lieb!“

Die alte Dame griff nach Margots Hand und streichelte sie mit ihren Greisenfingern. Dann hob sie den Blick zu ihr empor und fragte:

„Wirst du es Elsbeth sagen, daß Karin ein paar Wochen Erholung braucht?“

„Ich werde Elsbeth veranlassen, bei Ihnen anzurufen! Es dürfte zweckmäßig sein, sie im Glauben zu lassen, daß die Initiative von ihr selber ausginge. Wir müssen alles tun, um ihr Selbstbewußtsein und ihre Sicherheit zu stärken!“

Nachdem sie dies verabredet hatten, erhob sich die Ärztin, um sich zu verabschieden. Die alte Dame brachte sie an die Tür. Als sie der Jüngeren die Hand reichte, standen Tränen in ihren Augen.

„Ich danke dir, Margot, daß du gekommen bist! Und ich danke dir für alles, was du an Elsbeth und an meiner kleinen Enkeltochter tust!“ sagte sie mit brüchiger, vor Rührung zitternder Stimme.

„Danken Sie mir nicht, Frau Jakobsen!“ wehrte Margot bescheiden ab. „Was ich tue, ist eine Selbstverständlichkeit! Und denken Sie daran, daß Elsbeth meine Freundin ist! Würde der Fall umgekehrt liegen, würde Elsbeth genau so handeln wie ich jetzt!“

Wenn sie es könnte! dachte die alte Dame resigniert. Aber dazu ist Elsbeth kein Mensch. Ihr würde es nie gegeben sein, das Leben so zu meistern, wie Margot Fuhrmann es zu meistern verstand.

Es war schon später Nachmittag, als Margot nach Rissen zurückkehrte und ihren Wagen in die Garage fuhr. Sie stieg aus und ging ins Haus, um Elsbeth aufzusuchen. Aber das Mädchen sagte ihr, die gnädige Frau sei noch im Garten. Mit leisem Erstaunen vernahm Margot diese Tatsache, dann ging sie hinaus und dorthin, wo sie die Freundin vor Stunden verlassen hatte. Elsbeth lag in ihrem Faulenzer und war eingeschlafen.

Eine ganze Weile blieb Margot vor ihr stehen und schaute auf die friedlich Schlummernde hinab. Eine warme Welle schwesterlichen Mitempfindens hüllte ihr Herz ein und ließ ihren Atem schneller gehen. Schon wollte sie sich abwenden, um die Schlafende nicht zu stören, da mahnte sie ihr ärztliches Gewissen, daß es nun genug der Ruhe sei. Also rührte sie die Freundin an der Schulter und weckte sie.

Erschrocken fuhr Elsbeth aus dem Schlafe hoch.

„Ach, du bist es!“ sagte sie, und ihre Worte klangen beinahe ein wenig enttäuscht. „Wie spät ist es denn?“

„Gleich sechs! Ich glaube, du hast jetzt genug geschlafen, Elsbeth! Wovon hast du geträumt? Mir scheint, du hast jemand anderen erwartet?“

„Aber was denkst du denn?“ spielte Elsbeth die Entrüstete. „Ich habe doch nur geträumt!“

„Sicher von einem Märchenprinzen!“ lachte Margot. „Und da mußt du ja enttäuscht sein, daß du statt des Prinzen nur mich vorfindest!“

„Ich bitte dich, Elsbeth!“ sagte die junge Frau flehend und errötete vor Verlegenheit.

„Schon gut, mein Kind!“ beruhigte sie die Freundin. „Wir wollen jetzt ins Haus gehen und uns ein wenig um Karin bekümmern!“

„Wie du über mich verfügst!“ sagte Elsbeth ohne den geringsten Vorwurf. „Es ist alles so selbstverständlich, was du sagst und anordnest. Und ich muß sagen, ich füge mich gern! Fast hätte ich Lust, dich zu meinem Vormund zu machen!“

„Dann müßte ich ein Mann sein, Elsbeth!“ sagte Margot lachend. „Denn nur einem Manne würdest du auf die Dauer deinen Respekt bewahren! Du müßtest eben wieder heiraten!“

Elsbeth schaute sie mit einem merkwürdigen Blick an. Aber sie erwiderte nichts darauf, sondern sah nur still vor sich hin, als sie im Gesicht der Freundin nichts entdecken konnte, was einen jäh aufkeimenden Verdacht hätte bestätigen können. Für einen winzigen Augenblick glaubte sie nämlich allen Ernstes daran, Margot spräche im Auftrage ihrer Mutter. Aber dann wies sie den Verdacht von sich. Nein, so etwas würde Margot nie tun!

Kurz darauf traten sie an Karins Bett. Die Kleine war wach und spielte mit ihrer neuen Puppe. Aber sie sah immer noch sehr bleich und elend aus.

„Armes Kleines!“ sagte Elsbeth und beugte sich über ihr Kind.

„Das wird schon wieder werden!“ tröstete die Freundin sogleich. „Wenn Karin erst mal wieder regelmäßig an die frische Luft kommt, kriegt sie auch wieder Farbe!“

„Darf sie denn wieder an die Luft?“

„Davon kann sie jetzt nicht genug bekommen, Elsbeth! Aber es muß natürlich klare und saubere Luft sein!“

„Meinst du, daß ihr ein paar Wochen Erholung gut tun würden?“

„O ja! Für die Lunge wäre der Schwarzwald schon richtig.“

„Ob ich mit ihr hinfahre?“

„Du, Elsbeth? Dich hätte ich eigentlich ganz gern noch eine Weile bei mir. Vielleicht könnten wir Karin in ein Heim geben?“

„In ein Heim? Niemals! Dann würde sie ja umkommen vor Heimweh.“

„Oder hast du einen Verwandten, der mit ihr fahren könnte?“

„Vielleicht meine Mutter?“

„Glaubst du, daß sie das tun würde? Sie ist doch schon fast siebzig!“

„Das tut sie bestimmt, Margot! Ich brauche sie nur darum zu bitten!“

„Dann tu das doch möglichst bald! Für den Schwanzwald ist gerade jetzt die beste Jahreszeit!“

„Ob ich mal telefoniere?“

„Warum nicht?“

Und Elsbeth ging hin zum Telefon, während Margot im Zimmer der Kleinen zurückblieb. Das ging ja besser, als sie geglaubt hatte! Elsbeth hatte gewiß nichts gemerkt. Hoffentlich war auch Frau Jakobsen klug genug, sich nichts anmerken zu lassen. Denn wenn Elsbeth das Komplott aufdeckte, würde es mit ihrem Vertrauen ein für alle Mal vorbei sein.

Schon nach wenigen Minuten kam Elsbeth jubelnd ins Zimmer zurückgelaufen.

„Denk dir, Margot, es hat geklappt! Mutter fährt mit Karin nach Titisee!“

„Da hast du doch sicher deine ganze Überredungskunst angewandt, nicht wahr?“ fragte die Ärztin harmlos.

„Im Gegenteil, Mutter war sogleich Feuer und Flamme! Es schien fast so, als habe sie direkt darauf gewartet, daß ich sie darum bitten würde!“

O ja, Elsbeth Haurand war ein kluges Menschenkind, dem man so leicht nichts vormachen konnte! Margot wußte das und war auf der Hut. Um jeden Verdacht zu zerstreuen, sagte sie:

„Das ist doch ausgeschlossen. Schließlich kann doch deine Mutetr nicht hellsehen. Woher sollte sie denn wissen, daß wir soeben beschlossen haben, Karin ein paar Wochen Erholung zu verordnen?“

„Das hat sie sich bestimmt gedacht, Margot! Wenn ich früher krank war, ist sie auch nach meiner Genesung mit mir fortgefahren. Ich erinnere mich noch recht deutlich daran.“

„Und wann will sie fahren?“

„Das möchte ich bestimmen, hat sie gesagt. Am liebsten führe sie gleich morgen!“

„Na schön, dann wollen wir dafür sorgen, daß Karin sobald wie möglich fahren kann! Deiner Mutter geben wir die Arznei mit, die Karin unterwegs noch nehmen muß.“

Elsbeth war es zufrieden, und dann wurden alle Vorbereitungen für die Reise getroffen. Dazu war es erforderlich, daß die beiden Frauen noch einmal in Elsbeths Wohnung nach Harvestehude fuhren. Auf dem Rückweg machten sie in Uhlenhorst halt, weil Elsbeth ihre Mutter noch zu sprechen wünschte.

„Ich bleibe so lange im Wagen, Elsbeth“, sagte die Ärztin. „Es wird ja wohl nicht zu lange dauern!“

„Komm doch mit herein!“ bat die Freundin. „Meine Mutter wird sich gewiß freuen!“

„Ein anderes Mal, Elsbeth! Sonst halten wir uns bestimmt zu lange auf!“

Margot wollte auf jeden Fall ein Zusammentreffen mit der alten Dame in Elsbeths Gegenwart vermeiden, damit die Freundin nicht dahinter kam, daß die beiden miteinander konspirierten. Margot befürchtete nämlich, daß sich die alte Dame durch ein unbedachtes Wort oder eine Geste verraten könnte.

Es dauerte auch nicht lange, da kam Elsbeth wieder heraus. Ihre Mutter kam mit ihr an die Haustür, aber sie schaute nicht auf die Straße hinaus. Offenbar respektierte sie Margots Wunsch und tat nun auch von sich aus das einzig Richtige, sie hielt die Distanz, die notwendig war, um bei ihrer Tochter keinen Verdacht aufkommen zu lassen.

„Das hast du ja sehr schön in die Wege geleitet!“ lobte Margot, als sie wieder im Wagen saßen und nach Hause fuhren.

„So, meinst du?“ fragte Elsbeth skeptisch. „Ich habe doch eigentlich kaum etwas dazu getan. Das ist ja gerade das Komische bei mir, und darüber ärgere ich mich oft schwarz: ich will immer etwas tun, aber wenn es dann an die Ausführung geht, versage ich stets. Ich brauche halt jemand, der mir im rechten Augenblick den Anstoß gibt!“

„Das ist es ja, was ich sage!“ erwiderte Margot.

Elsbeth schaute sie verständnislos an. Sie erinnerte sich nicht, daß Margot dieses Thema schon berührt hatte.

„Nun, ich sagte dir ja heute mittag schon, daß du wieder heiraten müßtest! Dann hast du gleich deinen Vormund, der dir im rechten Augenblick den Anstoß gibt, wie du dich ausdrücktest!“

„Aber Margot!“ protestierte Elsbeth sofort mit aller ihr zu Gebote stehenden Lebhaftigkeit. Doch die Freundin nahm diesmal keine Rücksicht auf Elsbeths Gefühle. Sie sagte:

„Ganz im Ernst, Elsbeth, du solltest wieder heiraten!“

„Ausgeschlossen, Margot! Völlig ausgeschlossen!“

„Weil es so für dich bequemer ist?“ fragte Margot lauernd.

„Wieso?“

„Nun, du bildest dir ein, deinem verstorbenen Mann die Treue halten zu müssen, obwohl Walter bestimmt der letzte wäre, der das von dir verlangen würde. An diese Lage hast du dich gewöhnt, sie ist dir bequem. Hast du noch nie darüber nachgedacht, daß dies alles nur purer Egoismus ist?“

„Margot, ich bitte dich!“ wehrte Elsbeth entsetzt ab. Die Ärztin aber wußte, daß sie die Freundin nur auf diesem Wege für ihren Gedanken gewinnen konnte, sie mußte sie bei der Ehre packen und ihr Motive unterschieben, die Elsbeth unter allen Umständen ablehnen mußte.

„Ich verstehe nicht, wie du dich darüber entrüsten kannst, Elsbeth! Ich kenne dich natürlich und weiß, daß es nicht so ist, daß dich niemals egoistische Beweggründe leiten werden. Aber jeder Außenstehende muß das annehmen, das kannst du doch nicht abstreiten!“

„Aber wieso denn?“ fragte Elsbeth fassungslos.

„Das ist doch ganz klar, mein Kind! Jeder wird es unverantwortlich von dir finden, daß du Karin ohne Vater aufwachsen läßt! Jedes Kind braucht einen Vater, weil es das Natürlichste von der Welt ist! Aber der Gedanke daran ist dir unbequem, und darum wird jeder glauben, du handeltest aus lauter Egoismus so!“

„Du meinst, nur wegen Karin?“

„Ja, nur wegen Karin!“

„Und ich? Geht es denn nicht um mich dabei?“

„Erst in zweiter Linie, Elsbeth! Gerade du als Mutter müßtest das doch wissen! Denn wer anders als eine Mutter wäre bereit, für sein Kind jedes Opfer zu bringen!“

Elsbeth sah schweigend vor sich hin. Schließlich sagte sie:

„Unter diesem Gesichtswinkel habe ich die Sache aber noch nie betrachtet!“

„Dann wird es aber allmählich Zeit, Elsbeth! Wir Menschen sind nämlich vernunftbegabte Wesen, deren Aufgabe es ist, ihren Verstand zu gebrauchen! Aber lassen wir das jetzt, Elsbeth! Wir wollen ja kein philosophisches Streitgespräch führen über den Wert und Unwert des Verstandes. Und außerdem sind wir sofort zu Hause. Ich glaube, wir haben noch einiges zu tun, wenn wir Karins Reise vorbereiten wollen.“

Margot fühlte, daß sie das Gespräch heute nicht mehr fortführen durfte. Bei passender Gelegenheit würde sie schon darauf zurückkommen.

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