Читать книгу Marinas reicher Onkel - Alrun von Berneck - Страница 4

I.

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„Haben Sie auch schon den Schriftsatz in der Mappe, den ich Ihnen in der Ehescheidungssache des Grafen Retberg diktiert habe, Fräulein Hilde?“ fragte der Anwalt, als er die Unterschriftenmappe von seiner Sekretärin entgegennahm.

„Nein, Herr Doktor, den habe ich noch in der Maschine! Im Manuskript war noch eine Unklarheit, ich wollte Sie lieber erst fragen.“

„Schön, dann holen Sie Ihr Manuskript herein! Sie wissen, der Schriftsatz muß heute noch hinaus, unser Mandant wartet drauf!“

Die Sekretärin nickte zur Bestätigung, sie hatte verstanden. Dann ging sie in ihr Büro zurück. Doktor von Notteck blieb für eine Weile allein. Er überflog die Briefe in der Unterschriftenmappe, und dann setzte er seinen Namen darunter. Das ging ihm sehr flott von der Hand, denn er brauchte die Briefe und Schriftsätze nicht mehr durchzulesen, weil er sich auf seine Sekretärin verlassen konnte. Und Notariatssachen, bei denen es auf eine gewissenhafte Ueberprüfung ankam, waren heute nicht dabei.

Er hatte die Mappe kaum zugeschlagen, als Fräulein Herberg wieder hereinkam. Er schob ihr die Mappe mit der Post zu, dann lehnte er sich in den Sessel zurück und wartete auf die Frage. Die Sekretärin begann auch ohne Umschweife, aus dem Stenogramm vorzulesen. Als sie geendet hatte, fragte er:

„Und was ist Ihnen unklar, Fräulein Hilde?“

„Nur der Satz, den ich Ihnen vorgelesen habe, Herr Doktor! Soll es wirklich heißen, Graf Retberg beantrage die Scheidung von seiner Frau wegen seelischer Grausamkeit?“

„Ganz recht, das ist auch einer der Scheidungsgründe! Bei dieser Person können wir nicht robust genug auftreten. Die bringt es sonst glatt fertig, ihren Mann abermals einzuwickeln!“

„Aber doch jetzt nicht mehr, Herr Doktor, wo Sie den Grafen vertreten!“ wandte Fräulein Hilde ein.

„Ihre gute Meinung in Ehren“, lachte Dr. von Notteck, „aber gerade in Scheidungssachen hat es schon die tollsten Dinge gegeben! Ich habe schon einmal erlebt, daß eine Ehefrau ihrem gerade von ihr geschiedenen Mann um den Hals fiel.“

„Das ist doch kaum zu verstehen, Herr Doktor!“ sagte Fräulein Hilde, die sich bei ihrem Chef ein Wort erlauben durfte, denn er schätzte die Meinung dieser unkomplizierten und unverbildeten jungen Dame.

„Die weibliche Psyche ist voller Geheimnisse, Fräulein Hilde“, erwiderte er mit einem wissenden Lächeln. „Die Frau hatte die Scheidung gar nicht ernst gemeint, sie wollte nur, daß Richter und Anwalt ihrem Mann einmal gründlich die Meinung sagten. Als sie dann sah, daß er ernst wurde und sie schon geschieden war, kamen ihr die Tränen.“

„Und was gab es dann?“

„Der Richter beschrieb dem gerade geschiedenen Paar den nächsten Weg zum Standesamt! Etwas anderes konnte er nicht mehr tun, sein Urteil hatte er bereits gesprochen.“

Die Sekretärin lächelte ob dieser Erklärung, nahm die Mappe vom Schreibtisch und wollte sich zurückziehen, als der Anwalt sie noch einmal zurückhielt.

„Einen Moment, Fräulein Hilde! Schauen Sie doch mal nach, ob meine Schwester in der Wohnung ist. Sagen Sie ihr, ich möchte sie sprechen!“

Jetzt erst ging Fräulein Herberg wieder hinaus. Dr. von Notteck blätterte ein wenig geistesabwesend in bunten Prospekten, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Wahrscheinlich dachte er schon an das, was er seiner Schwester sagen wollte.

Doktor Igor Freiherr von Notteck, Sproß einer baltischen Adelsfamilie, groß und wuchtig von Gestalt, aber die Gutmütigkeit in Person, hatte sich gleich nach dem Staatsexamen in Wildungen als Rechtsanwalt niedergelassen. Trotz seiner jungen Jahre — er hatte gerade seinen dreißigsten Geburtstag hinter sich gebracht — erfreute er sich einer ständig wachsenden Beliebtheit und war vor allem in Adelskreisen bereits ein gesuchter Anwalt. Seine Klientel wuchs von Monat zu Monat, und so brauchte er sich in beruflicher Hinsicht keinerlei Zukunftssorgen zu machen. Ihm, dem Junggesellen, führte seine um sechs Jahre jüngere Schwester den Haushalt, und da er von Baronesse Kora aufs beste betreut wurde, hatte er noch nicht den Drang verspürt, eine eigene Familie zu gründen, wenn er auch, wie zum Beispiel gerade jetzt, oft mit einem Gedanken spielte, den er vor seiner Schwester bisher sorgfältig geheimgehalten hatte.

Als sich jetzt die Tür öffnete und Baronesse Kora des Privatkontor betrat, fühlte er sich ertappt und wurde rot wie ein Schuljunge. Kora musterte den Bruder eingehend, als sie nähertrat und sich in ihrer ganzen Größe vor ihm aufbaute. Auch sie war groß, aber dabei schlank und wohlproportioniert, und ihr Gesicht mit der geraden, doch etwas zu kurz geratenen Nase und den stahlgrauen Augen mußte hübsch genannt werden.

„Du wolltest mich sprechen, Igor?“

„Das hatte ich vor“, sagte er und war um einen forschen Ton bemüht. „Bitte, setz dich einen Augenblick!“

„Nanu, so feierlich? Das hat doch etwas zu bedeuten!“

Sie lächelte ironisch, um ihm zu zeigen, daß sie ihn durchschaut hatte. Sie glaubte immer, ihm gegenüber um ihre Position kämpfen zu müssen, obwohl er noch nie den Versuch gemacht hatte, sie zu bevormunden. Seiner selbstsicheren Männlichkeit gegenüber fühlte sie sich stets ein bißchen zurückgesetzt. Zu Unrecht allerdings, doch das hatte sie noch nicht erkannt. Und so herrschte zwischen ihnen, trotz des aus geschwisterlicher Liebe erwachsenen Vertrauens, immer ein latenter Spannungszustand, der niemals Gleichgültigkeit oder Langeweile aufkommen ließ.

„Ich wollte dich bitten, dir einmal diese Prospekte durchzusehen!“ sagte er möglichst gleichgültig und schob ihr die Papiere zu, in denen er bei ihrem Eintritt gedankenlos geblättert hatte.

Sie griff zu und warf einen Blick darauf.

„Das sind ja Prospekte von Autofirmen!“ Erstaunen und Ueberraschung lagen in ihrem Blick, den sie ihm blitzschnell zuwarf, um ihm seine Gedanken vom Gesicht abzulesen. Sie glaubte, wenigstens ihrem Bruder gegenüber diese Fähigkeit zu besitzen.

„Ganz recht!“ sagte der Baron leichthin. „Schau sie dir mal genau an! Ich möchte deine Meinung darüber hören.“

Aber die Schwester dachte nicht daran, sich die schönen Wagen anzuschauen, die in eleganter Linienführung und in bestechenden Farben auf den Reklamebildern prangten. Kora wollte zunächst einmal die Lage klären, der Wunsch ihres Bruders mußte schließlich einen Grund haben.

„Ich weiß ja noch nicht, unter welchen Gesichtspunkten ich mir die Wagen anschauen soll“, meinte sie mit einem kleinen Vorwurf in der Stimme, weil er sie noch nicht aufgeklärt hatte. „Willst du etwa einen neuen Wagen anschaffen?“

„Und wenn es so wäre?“

Nun war die Baronesse ehrlich verblüfft.

„Aber wir haben doch einen Wagen, Igor! Zugegeben, er ist nicht das neueste Modell, und gut im Lack ist er auch nicht mehr, aber er tut es doch noch eine ganze Weile!“

„Man behält einen Wagen aber nicht, bis er auseinanderfällt!“ widersprach er lebhaft. „Jetzt kann ich ihn noch günstig in Zahlung geben. Das wird mir in einem Jahr nicht mehr möglich sein.“

Sie betrachtete ihn skeptisch. Warum ereiferte er sich nur so? Bisher hatte ihm der Wagen noch genügt. Doch da fuhr er schon fort:

„Du mußt auch an eins denken, Kora: in meinem Beruf ist der Wagen, den ich fahre, meine Visitenkarte! Ich kann es mir einfach als Anwalt nicht leisten, einen so alten Schlitten zu fahren!“

„Komisch“, meinte sie zögernd, „du hast jetzt plötzlich Repräsentationspflichten?“

„Warum soll ich mir nicht das gleiche Argument zu eigen machen, das heute jeder kleine Bürgermeister für sich beansprucht, wenn er glaubt, die Steuergelder müßten sinnvoller angewandt werden?“

Seine Worte waren für Kora aber nur eine Ausflucht. Resolut fragte sie:

„Das ist doch nicht der einzige Grund, Igor? Du hast doch diese Repräsentation gar nicht nötig. Bei deiner Praxis!“

„Gerade wegen meiner Praxis!“ widersprach er lebhaft. „Wie oft ist es schon vorgekommen, daß ich einen Klienten mitnehmen mußte zum Landgericht oder zu einem Ortstermin. Ich habe mich immer geschämt, wenn ich dann mit meiner alten Mühle vorfuhr!“

„Ach!“ sagte sie und suchte seinen Blick. Als ihr das gelungen war, vertiefte sich das Lächeln in ihren Mundwinkeln. Ihr war plötzlich ein Gedanke gekommen, der ihr gar nicht so abwegig erschien. „Du genierst dich also, wenn du mal jemand mitnehmen mußt?“

„Na klar! Und darum habe ich mich entschlossen, den alten Wagen so schnell wie möglich abzustoßen. Ich bin mir nur nicht klar darüber, welchen ich jetzt nehme. Vielleicht bist du so freundlich, mir deine Meinung zu sagen. Schließlich willst du den Wagen ja auch hin und wieder fahren. Da ist es nicht mehr als recht und billig, daß auch deine Wünsche berücksichtigt werden.“

Sie wußte sofort, daß er ihren Argwohn erkannt hatte, sonst würde er nicht ins Dozieren geraten sein. Er wollte vermutlich nur darüber hinwegsprechen und sie ablenken.

Obwohl sie sein Eifer belustigte, zwang sie sich zu einer ernsten Miene. Dann fuhr sie sich mit der Hand ans Kinn, als ob ihr diese Geste das Nachdenken erleichtern könnte. Schließlich sagte sie:

„Ganz kann ich mich deinen Argumenten natürlich nicht verschließen, Igor. Es ist wirklich schon ein alter Schlitten. Und wenn du einmal jemand mitnehmen mußt ...!“

„Nicht wahr, das siehst du also ein?“

„Bestimmt! Und wenn du meinst, wir könnten es uns leisten, einen neuen Wagen anzuschaffen, ich will die letzte sein, die dir ein Hindernis in den Weg legt!“

„Bravo, ich habe es doch gewußt! Mein Schwesterchen hat Verständnis für alles!“ erwiderte er erfreut und mit einem Seufzer der Erleichterung.

„Ja, für alles!“ sagte die Baronesse, und in ihren Augen lag ein unergründliches Lächeln, das ihm sogleich wieder zu denken gab. Um sie diesmal abzulenken, deutete er nochmals auf die Prospekte. Und nun zögerte sie nicht länger und blätterte in den bunten Bildern.

Nach einer Weile trat er hinter sie und sah ihr über die Schulter. Kora hatte bereits zwei Prospekte an die Seite gelegt, sie zeigten die Wagen, die ihr besonders gut gefielen. Es waren ein Kabriolett und ein geschlossener Wagen.

„Was meinst du, Igor, sollte es dieser sein?“ sie zeigte auf das Kabriolett. „Einen geschlossenen Wagen haben wir nun lange genug gefahren.“

„Ich habe auch schon daran gedacht! Die Maschine ist ausgezeichnet!“

„An die Maschine dachte ich weniger“, warf Kora sofort ein. „Das sind männliche Ueberlegungen. Aber ich denke, in einem Kabriolett kommt ein junges Mädchen besser zur Geltung!“

Igor warf ihr einen prüfenden Blick zu. Aber sie ließ sich nichts anmerken, und vorsichtigerweise verzichtete er auch darauf, ihre Gedanken ergründen zu wollen.

Noch am Abend des gleichen Tages beschlossen sie, den neuen Wagen zu bestellen.

Dann aber gingen noch einige Wochen ins Land, denn das von ihnen ausgesuche Kabriolett sollte ja kein beliebiges sein, sondern Baronesse Kora hatte darauf bestanden, daß es burgunderrot lackiert und mit schwarzem Lederpolster versehen sein mußte. Wenn sie schon von ihrem Bruder aufgefordert worden war, nach ihrem Geschmack zu wählen, dann war es wohl auch recht und billig, wenn sie sich den Wagen so wünschte, wie sie ihn sich immer erträumt hatte.

Eines Tages um die Mittagsstunde erhielt Dr. von Notteck den Anruf des Autohändlers, der ihm mitteilte, daß der Wagen angekomemn sei. Diese Mitteilung versetzte den sonst so kühlen Anwalt in besondere Erregung, und er benahm sich nicht anders als ein Schuljunge, dem ein Wunsch überraschend in Erfüllung gegangen ist. Zunächst rief er seine Sekretärin zu sich.

„Fräulein Hilde, welche Sachen stehen für heute nachmittag noch auf dem Terminkalender?“

Sie nannte ihm zwei Besprechungen, die für diesen Tag angesetzt worden waren.

„Dann rufen sie die beiden Klienten an und vereinbaren Sie mit ihnen einen neuen Termin! Meinetwegen bestellen Sie sie für morgen früh.“

„Aber die Sache Kulenberg ist besonders wichtig, Herr Doktor!“ wagte Fräulein Herberg einzuwenden.

„Bis morgen läßt sie sich verschieben, Fräulein Hilde! Das werde ich schon verantworten. Ich muß heute nachmittag fort und bin auch erst am Abend wieder zurück. Sagen Sie Herrn Kulenberg, daß ich plötzlich abgerufen worden sei.“

„Gut, Herr Doktor! Und was soll ich heute nachmittag erledigen, wenn Sie nicht da sind?“

„Meinetwegen arbeiten Sie alte Akten auf oder heften Sie die Post ab“, erwiderte ihr Chef ungeduldig. „Sie sind doch schon über zwei Jahre bei mir, Fräulein Hilde, und müßten eigentlich selbst wissen, was wichtig ist!“

Fräulein Herberg sah ihn verdutzt an. War das nun ein Anpfiff oder war der Chef nur so nervös? Sie zuckte mit den Schultern und ging hinaus. Im stillen freute sie sich schon auf den geruhsamen Nachmittag, denn sie würde ganz allein im Büro sein, weil das Lehrmädchen Schule hatte.

Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, als sich Dr. von Notteck hastig erhob und hinausging, um seine Schwester aufzusuchen. Er fand sie in ihrem Boudior.

„Nanu, Igor, wo brennt es denn?“ fragte sie überrascht, denn er pflegte sonst die Privaträume während der Vormittagsstunden kaum zu betreten.

„Ich wollte nur nachsehen, ob du zu Hause bist“, erwiderte er in möglichst gleichgültigem Ton.

„Aber das weißt du doch, Igor!“ sagte sie lächelnd. „Schließlich willst du etwas zu Mittag essen, und das muß ich wohl um diese Zeit vorbereiten.“

„Ich will dich auch nicht darin stören, Kora.“ Er sagte es lächelnd, denn nun hatte er sich wieder völlig in der Gewalt. „Ich wollte nur wissen, ob du heute nachmittag etwas vorhast.“

„Nein, das habe ich nicht! Wieso?“

„Dann könntest du mich auf einer Fahrt begleiten.“

„Ach! Und wohin soll es gehen?“

„Damit werde ich dich überraschen“, sagte er geheimnisvoll. „Du kannst dir ja nach Tisch etwas Nettes anziehen!“

Kora schüttelte verwundert den Kopf. Bevor sie aber eine Frage an ihn richten konnte, war er schon wieder hinaus. Warum tat er nur so geheimnisvoll? So kannte sie den Bruder ja gar nicht. Und das lustigste war, daß er sie aufgefordert hatte, sich nett anzuziehen. So etwas hatte er noch nie gesagt. Sie hatte ihn sogar im Verdacht, daß er es überhaupt nicht merkte, wenn sie sich über Tag einmal umzog. Auf Äußerlichkeiten hatte er noch nie gesehen, denn er stand auf dem sehr vernünftigen Standpunkt, daß alle menschlichen Eitelkeiten nur vom Übel seien. Man müsse zwar auf sich halten, aber diese Selbstverständlichkeit war ihm dank seiner guten Erziehung in Fleisch und Blut übergegangen, was jedoch darüber war, lehnte er ab und nannte es eine Schwäche des Charakters.

Warum also seine plötzliche Bemerkung? Sie rätselte vergebens darüber nach. Bis sie es aufgab und sich entschloß, sich überraschen zu lassen.

Bei Tisch war er nervös, aber sie fühlte sehr genau, daß diese Unruhe keinem gehabten Ärger entsprang, sondern eher eine freudige, mühsam unterdrückte Erregung war. Und doch kam sie nicht darauf, was deren Ursache war.

So zog sie sich also ihr bestes Frühjahrskostüm an und stieg mit ihm die Treppe hinunter. Draußen stand ihr unscheinbarer Wagen abfahrbereit. Der Anwalt öffnete den Schlag und ließ seine Schwester einsteigen. Erst als beide Platz genommen hatten, konnte sie ihre Neugierde nicht mehr unterdrücken.

„Nun bin ich doch gespannt, wohin du mich fahren wirst“, sagte sie. „Hoffentlich über Land, denn jetzt, wo die Bäume blühen, ist es herrlich draußen!“

„Das habe ich mir auch gedacht“, meinte er, und nach einer kleinen Weile fuhr er fort: „Ob Marina wohl zu Hause ist?“

„Aber Igor!“ antwortete Kora und sah ihn freudig überrascht an. Marina war ihre beste Freundin, und sie hatte immer schon im stillen darauf gehofft, daß sich zwischen den beiden etwas anspinnen würde. Bisher hatte sie vergebens darauf gewartet. Wenn aber Igor jetzt nach ihr fragte, dann hatte das sicher etwas zu bedeuten. Doch er sagte kühl und gelassen:

„Na ja, warum sollen wir sie nicht mitnehmen, sie hat doch kaum Abwechslung, wenn sie immer in ihrer stillen Klause sitzt.“

„Ich finde es nett, daß du daran gedacht hast, Igor!“ lobte sie ihn. „Marina wird bestimmt gern mitfahren. Also holen wir sie ab!“

Er nickte und fuhr schneller. Da fiel ihr auf, daß er eine ganz andere Richtung einschlug.

„Aber wohin fährst du denn?“ fragte sie ein wenig ungehalten.

„Wir sind schon da!“ meinte er lachend und bog auf den Hof einer Tankstelle ein. „Bitte, auch du mußt hier aussteigen!“

Kopfschüttelnd kam sie dieser Aufforderung nach, und kaum hatte sie ihre Füße auf die Erde gesetzt, fiel ihr ein Wagen ins Auge, der direkt vor ihr stand. Begeistert deutete sie mit der Hand auf das Fahrzeug.

„Ist der schön!“

„Nicht wahr?“ meinte Igor lakonisch. „Darum sollst du ihn auch sogleich ausprobieren!“

Da blieb der Baronesse vor Staunen der Mund halb offen stehen.

„Ist das etwa unser Wagen?“ fragte sie verblüfft.

„Natürlich! Also bitte, steig ein!“ Er deutete mit der Hand auf das Kabriolett, und Baronesse Kora ging voller Ehrfurcht um das Fahrzeug herum und betrachtete es zunächst einmal von allen Seiten. Inzwischen sprach ihr Bruder mit dem Autovertreter, um die Papiere zu übernehmen. Als er sich endlich seiner Schwester wieder zuwandte, wurde sein alter Wagen bereits von einem Monteur in die Werkstatt gefahren.

Kora kauerte sich vorsichtig in die äußerste Ecke, als fürchte sie, der neue Wagen könnte unter der Benutzung seinen Glanz verlieren. Die Besitzergreifung ging ganz langsam und in sehr vielen Etappen vonstatten. Es war nicht so einfach, sich mit all dem Schönen und Neuen vertraut zu machen und sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß dies alles nun ihr Eigentum war.

Inzwischen hatte Igor vor dem Hause der Freundin gestoppt. Ohne ein Wort zu sagen, lief Kora die Treppe hinauf und klingelte Sturm. Marina kam selbst an die Tür.

„Du, Kora? Was ist denn los? Es ist doch nichts passiert?“

„Doch, es ist etwas passiert!“ jubelte Kora. „Schau nur aus dem Fenster!“

Marina tat ihr den Gefallen, schob die Gardine zurück und schaute auf die Straße hinunter.

„Aber das ist doch Igor!“ sagte sie.

„Und sonst fällt dir nichts auf?“

Marina mußte erst einen Augenblick nachdenken, dann sah sie noch einmal durch die Gardine.

„Das ist ja ein anderer Wagen“, sagte sie dann.

„Ja, wir haben ihn gerade abgeholt. Und darum komme ich auch zu dir. Wir wollen eine Probefahrt machen!“

„Und ich soll mit?“ fragte Marina, und ein unterdrückter Jubel klang in ihrer Stimme mit.

„Genau das! Igor wartet auf uns, also zieh dich schleunigst um!“

Marina sagte gar nichts mehr, aber schon hatte sie den Kittel losgebunden und abgestreift. Und während sie zum Kleiderschrank lief, erklärte sie der Freundin, daß sie eigentlich gar keine Zeit habe, denn ein eiliger Auftrag nehme sie stark in Anspruch. Marina von Uhde, die Generalstochter, war eine Pensionsfreundin Koras, sie hatte unter den jungen Mädchen im Pensionat, als sie das Porzellanmalen erlernten, ein besonderes Talent entwickelt und nach dem Tod des Vaters einen Beruf daraus gemacht. Zwar bekam sie von ihrem Onkel, den man wegen seines großen Reichtums allgemein den Kali-Baron nannte, ein Taschengeld, aber der Gedanke, von der Gnade eines Verwandten abhängig zu sein, war ihr so unsympathisch, daß sie sich lieber beruflich betätigte. Im letzten halben Jahr hatten sich die ersten Erfolge ihrer Arbeit eingestellt.

In weniger als fünf Minuten war sie fertig, und dann folgte sie Kora auf die Straße hinaus.

Völlig unbefangen reichte sie Igor die Hand.

„Nun, Mädchen, wie gefällt er dir?“ fragte er burschikos. „Bist du ebenso zufrieden wie Kora?“

„Wenn du mich hin und wieder mit diesem Fahrzeug spazieren fährst, bin ich sogar sehr zufrieden“, antwortete Marina unbefangen und stieg ein. Kora wollte ihr zuvorkommen und hinten einsteigen, doch da saß die Freundin schon, und ihr gutgemeintes Attentat fiel ins Wasser. Sie hegte in Bezug auf ihre Freundin ganz eindeutige Wünsche, und darum war sie auch so erfreut über Igors Vorschlag gewesen, die Freundin abzuholen und mit ihr spazieren zu fahren. Igor schien ihren Wünschen also entgegenzukommen. Nur bei Marina war sie nicht sicher. Manchmal schien es so, als ob der Bruder und die Freundin ein Herz und eine Seele wären, und dann erlebte sie wieder die herbe Enttäuschung, daß sich die beiden durchaus nicht wie Liebesleute, sondern wie gute Kameraden benahmen. Ob man die Entwicklung der Zukunft überließ? Oder sollte man sie nach Kräften fördern? Kora war sich selbst nicht klar darüber, was sie machen sollte. Und weil sie es nicht wußte, deshalb war sie unzufrieden mit sich selbst.

Heute allerdings war von dieser Unzufriedenheit nichts zu verspüren, denn heute nahmen sie der neue Wagen und die schöne Fahrt in den Frühling völlig gefangen.

„Würden die Damen wohl geruhen, mir ein Fahrtziel anzugeben?“ fragte Igor, als sie Wildungen bereits verlassen hatten.

„Mir ist alles egal!“ sagte Kora.

„Und wie ist es mit dir, Marina?“ fragte er abermals. „Als unser Gast hast du das Recht, unser Ziel zu bestimmen!“

„Wenn ich schon so frei sein darf“, erwiderte sie arglos und so selbstverständlich, als sei dies ihr gutes Recht, „dann möchte ich dich bitten, zur Edertalsperre zu fahren!“

„Und nach Schloß Waldeck!“ ergänzte Kora sogleich.

„Wir sind schon auf dem Wege!“ sagte Igor und deutete auf die Landstraße hinaus, die sie unter den Reifen hatten.

Zunächst gab sich Marina ganz dem Genuß des Fahrens hin. Sie lehnte sich in die Polster zurück und bot ihr Gesicht dem Fahrtwind dar. Igor betrachtete sie im Rückspiegel, und wenn Kora das Aufleuchten in seinen Augen gesehen hätte, würde sie darüber Genugtuung empfunden haben. Aber sie sah es nicht, denn auch sie schaute verträumt in die Weite.

Plötzlich lief ihnen in großen Sätzen eine Katze über den Weg. Um sie nicht zu überfahren, trat Igor heftig die Bremse. Die Reifen schrien auf ob der ungewohnten Behandlung, der Wagen schleuderte ein klein wenig, dann rollte er weiter und Igor gab erneut Gas. Marina war nach vorn geschleudert worden, Igor schaute sich besorgt nach ihr um. Als er sah, daß nichts passiert war, meinte er lachend:

„Die Bremsen sind ganz vorzüglich!“

„Gut, daß es keine schwarze Katze war!“ sagte Marina.

„Du bist abergläubisch?“ fragte er und wandte sich halb zu ihr um. „Das habe ich ja noch gar nicht gewußt!“

„Durchaus nicht!“ verteidigte sich Marina sofort. „Aber trotzdem wäre es nicht schön gewesen, wenn uns gleich bei der ersten Ausfahrt eine schwarze Katze über den Weg gelaufen wäre!“

Igor hielt den Wagen an und drehte sich vollends herum. Was Marina da geäußert hatte, ging seiner männlichen Logik wider den Strich, und da er als Jurist die Manie hatte, alle Dinge klarzustellen, sagte er mißbilligend:

„Das war eine typisch weibliche Antwort, Marina! Du behauptest, nicht abergläubisch zu sein, und lieferst im selben Atemzug den Beweis dafür, daß du es doch bist!“

„Das ist eben Frauenlogik!“ fiel ihm Kora ins Wort. „Davon verstehst du nichts!“

„Und ich dachte immer, ich verstünde mich mit Marina sehr gut!“ erwiderte er und ließ die Freundin seiner Schwester nicht aus den Augen. Diese aber dachte nicht daran, hinter seinen Worten nach einem verborgenen Sinn zu suchen.

„Wir verstehen uns auch prächtig!“ gab Marina sofort zu, ohne mit der Wimper zu zucken. „Das heißt, nur dann, wenn ich nicht sein juristisches Gewissen beleidige“, fügte sie lachend hinzu.

Bald erreichten sie Schloß Waldeck hoch über dem Edersee. Igor fuhr den Wagen auf den Parkplatz, und während er noch damit beschäftigt war, die Türen abzuschließen, liefen die beiden Freundinnen schon bis an die Schloßmauer, von wo sie einen herrlichen Rundblick über die Talsperre und die umliegenden Berge hatten.

Um noch besser sehen zu können, kletterte Marina sogar auf die Mauerkrone hinauf und sah schwindelfrei hinunter in die Tiefe. In diesem Augenblick kam auch Igor herbei.

Er sah sie dort oben turnen und bekam einen gewaltigen Schreck. Das Herz schlug ihm im Halse, dann griff er, ohne sie anzusprechen oder zu warnen, einfach zu und hielt sie eisern mit beiden Händen fest.

Komm sofort herunter, Marina!“ befahl er unnachgiebig. „Oder bist du etwa lebensmüde?“

Sie stutzte und ließ sich in seine Arme gleiten, sanft sprang sie zur Erde, und erst jetzt, als sie dicht vor ihm stand, fragte sie:

„Was heißt lebensmüde? Du glaubst doch nicht etwa, daß das gefährlich war? Ich bin absolut schwindelfrei!“

„Und ob das gefährlich war!“ sagte er und nickte sehr ernst mit dem Kopf. „Ein einziger Fehltritt und es ist um dich geschehen!“

„Du hast wohl Angst um mich gehabt, nicht wahr?“ Der Blick, den sie ihm bei diesen Worten zuwarf, war ein wenig kokett. Sie war schon eine richtige Eva und nutzte die Situation, wo immer es anging. Der Tonfall ihrer Worte sollte darüber hinwegtäuschen, daß diese Frage ernst gemeint war, aber Kora, die dicht neben ihnen stand, kannte sie besser und wußte sehr wohl, daß eine bange Erwartung dahintersteckte.

„Muß man denn nicht Angst haben, wenn jemand so leichtsinnig ist?“ fragte er zurück und wich ihr aus. Ein wenig einsilbig geworden durch den kleinen Zwischenfall gingen sie ins Restaurant und suchten sich einen Platz. Weder Igor noch Marina war mit sich selbst zufrieden, und Kora merkte es und war ebenfalls ein wenig bedrückt.

Doch die dunkle Wolke ging schnell vorüber. Sie alle drei waren jung und lebensfroh, und dazu war draußen ein herrlicher Frühlingstag, die Obstbäume standen in voller Blüte, und in den Büschen ringsum jubilierten die Vögel.

Marina warf Igor einen beobachtenden Blick zu und wollte wahrscheinlich ergründen, ob er sich tatsächlich ihretwegen Sorgen gemacht hatte. Sie hätte zu gern gewußt, ob er nur Angst gehabt hatte, weil ausgerechnet sie auf der Mauer gestanden, oder ob ihn dieses Gefühl auch bei einer beliebigen anderen Person gepackt hätte. Aber sein Gesicht blieb undurchsichtig, das verbindliche Lächeln auf seinen Zügen war für jeden Beobachter eine Halt gebietende Mauer.

„Und jetzt bestellen wir Kuchen und Schokolade!“ sagte Igor, nachdem er die Karte studiert hatte. „Oder hat eine der Damen einen anderen Wunsch?“

„Ich nur ganz wenig Kuchen!“ sagte Marina. „Ich muß an meine Linie denken!“

„Ausgerechnet du!“ widersprach Igor, und es kam ihm gar nicht zum Bewußtsein, daß dies eigentlich eine Unhöflichkeit war. „Du solltest dich lieber freuen, daß du nicht dünn wie ein Hering geraten bist!“

„O lala!“ warf Kora ein, ohne gekränkt zu sein. „Das ging bestimmt auf mich! Aber das bin ich ja bei meiner brüderlichen Liebe gewohnt! Sobald man einen Mann in der engsten Verwandtschaft hat, verkümmert der Kavalier in ihm!“

„Bitte, Kora!“ erwiderte er gemessen. „Du kannst dich nicht über deine Figur beklagen! Wer so gewachsen ist wie du, sollte seinem Herrgott dankbar sein!“

„Das würde ich, wenn ich etwas naiver wäre, als Kompliment auffassen“, setzte Kora das Geplänkel fort. „Du mußt aber doch zugeben, daß dir Frauen wie Marina lieber sind als die von meinem Schlag!“

Igor wurde rot bei dieser Anspielung, faßte sich aber sehr schnell wieder und parierte:

„Das muß nicht unbedingt an der Figur liegen, Schwesterchen!“

Wenn er ‚Schwesterchen‘ zu ihr sagte, mochte sie ihren Bruder nicht sehr gut leiden, denn dann bekam er etwas Überhebliches und Ironisches, das er sich allenfalls in seinem Beruf leisten konnte, wenn er vor Gericht einen Gegner abfertigte, aber nicht im Privatleben. Sie war ihm schon oft bitterböse gewesen wegen seiner Haltung. Jetzt allerdings wurde ihre Kontroverse durch den Kellner unterbrochen, der gekommen war, um ihre Bestellung entgegenzunehmen.

Igor gab die Bestellung auf, auch trotz der warnenden Blicke Marinas.

„Einmal darfst du schon sündigen, Marina!“ beruhigte er sie. „Wir feiern doch heute die Jungfernfahrt unseres neuen Wagens, und dieser Anlaß rechtfertigt die einmalige Ausnahme!“

Nach dem Essen bestellte er für jeden ein Glas Wermut.

„Falls das werte Innenleben unsere Völlerei als Zumutung empfunden haben sollte!“ erklärte er lachend.

Neckend und plaudernd unterhielten sie sich noch eine ganze Weile. Als sie zum Wagen zurückgingen, stand die Sonne schon schräg am Himmel. Aber es war warm wie an einem Sommerabend, so daß kein Anlaß bestand, das Verdeck zu schließen. Als sie jedoch zum Wagen kamen, wartete eine unangenehme Überraschung auf sie. Der rechte Hinterreifen war platt.

Igor sah es zuerst und biß sich ärgerlich auf die Lippen.

„Schockschwerenot!“ rief er ärgerlich. „Da bin ich mit meinem alten Schlitten fast vierzigtausend Kilometer ohne eine einzige Reifenpanne gefahren, und hier muß mir das gleich bei der ersten Ausfahrt passieren!“

Die beiden Mädchen traten an seine Seite und betrachteten den Schaden.

„Ich habe es doch gewußt!“ sagte Marina. „Das war bestimmt die Katze!“

Verdutzt schaute Igor sie an. Dann lachte er plötzlich laut auf.

„Ich glaube eher, das war ein Nagel! Sollen wir wetten, daß ich Recht habe?“

„Was willst du tun, Igor?“ fragte Kora.

„So schnell wie möglich den Reifen wechseln!“ erwiderte er und öffnete die Wagentür, um die Werkzeuge zu holen.

Die beiden Mädchen sahen zu, wie er den Wagenheber ansetzte und das Ersatzrad abschraubte. Um auch das Rad mit dem defekten Reifen abschrauben zu können, mußte er zuvor die Radkappe lösen. Diese aber saß verteufelt fest. Da nahm er den Schraubenzieher zu Hilfe, um ihn in die Risse zu drücken.

Doch auch das hatte seine Schwierigkeiten. Plötzlich rutschte er ab, und der Schraubenzieher verletzte ihn an der linken Hand. Sie begann sofort heftig zu bluten.

„Um Gottes willen, Igor, hör auf!“ rief Marina entsetzt, als sie merkte, daß er abermals den Schraubenzieher ansetzte.

„Aber Mädchen, das ist doch halb so schlimm! Diese kleine Schramme!“ wehrte er ab.

Doch da kam er bei ihr an die falsche Adresse. Heftig entgegnete sie:

„Nein, das wird sofort ausgewaschen! Sonst bekommst du bestimmt Blutvergiftung!“

Und ehe er sich’s versah, hatte sie ihre Handtasche geöffnet und ein Taschentuch herausgerissen. Dann holte sie ein Fläschchen mit Kölnisch Wasser hervor und feuchtete das Taschentuch an.

„So, jetzt gib mir deine Hand, Igor!“ kommandierte sie, und gehorsam kam er ihren Befehl nach. Schmerzhaft verzog er das Gesicht, als sie ihm die Wunde auswusch, denn das nicht für solche Zwecke gedachte Wasser brannte recht scharf.

„Tut gut!“ sagte er, um seine Standhaftigkeit zu beweisen.

„Das macht nichts“, erwiderte sie leichthin, ohne sich stören zu lassen. Dann wiederholte sie den Prozeß, bis ihrer Meinung nach die Wunde sauber war. Er biß die Zähne zusammen und sah trotz allem liebevoll auf ihren Scheitel herab. Es war doch prächtig, wie sie sich um ihn bemühte. Kora wäre das vermutlich gar nicht in den Sinn gekommen.

Als er das dachte, warf er einen Blick auf seine Schwester. Sie sah aufmerksam zu und erwiderte seinen Blick. Er hatte das Gefühl, als ob sie Marina und ihn mit ganz besonderer Neugier beobachtete. Da nahm er sich zusammen und setzte eine betont neutrale Miene auf.

Marina warf das beschmutzte Taschentuch fort. Doch schon hatte sie ein zweites hervorgezaubert, das sie ohne zu überlegen in Streifen riß.

„Was machst du denn jetzt noch?“ fragte er. Es war ihm peinlich, daß wegen dieser Kleinigkeit solche Umstände gemacht wurden und er dazu auch noch stillhalten mußte.

„Nur einen kleinen Verband“, erklärte sie ihm. „Damit stillen wir das Blut, und Schmutz kommt dann auch nicht mehr in die Wunde!“

Als sie fertig war, beugte er sich über ihre Hand.

„Vielen Dank, kleine Samariterin!“ sagte er leise. Um aber seine Rührung nicht offenkundig werden zu lassen, fügte er schnell hinzu: „Du solltest dich wirklich um eine Stelle im Roten Kreuz bewerben! Deine leichte Hand wäre eine Wohltat für die leidende Menschheit!“

„Ich werde es mir überlegen!“ gab sie ihm zur Antwort. Seine burschikose Art hatte ihr schnell über die Verlegenheit, die über sie gekommen war, hinweggeholfen.

Igor wandte sich wieder seiner Arbeit zu, und jetzt klappte der Reifenwechsel wie am Schnürchen. Zehn Minuten später saßen sie schon wieder im Wagen. Diesmal hatte sich Kora zuerst hineingesetzt und der Freundin damit den Platz neben ihrem Bruder eingeräumt. Marina sah sie erstaunt an, als auch sie einsteigen wollte.

„Entschuldige bitte“, entgegnete Kora, die den Blick sehr wohl verstanden hatte. „Das ewige Hinausstarren auf die Straße macht mich ganz nervös. Hier hinten läßt es sich so gut träumen.“

Diese Erklärung mußten die beiden anderen wohl hinnehmen. Sie freuten sich über diese Lösung, aber weder Igor noch Marina kam der Verdacht, daß Kora mit ihrer Platzwahl etwas Besonderes bezweckt haben könnte.

Es wurde kaum etwas gesprochen auf der Rückfahrt durch den sinkenden Abend. Jeder hing seinen Gedanken nach, und die beiden jungen Menschen auf den Vordersitzen fürchteten insgeheim, daß der Nebenmann sein Herzklopfen hören könnte. Es war ihnen sehr eigen zumute, aber keiner hätte zu sagen vermocht, ob das an dem lauen Lenzabend lag oder an der berauschenden Fahrt in dem starken Wagen, dessen Motor beruhigend sein kraftvolles Lied sang.

Oder sollte etwa ein Funke übergesprungen sein von Mensch zu Mensch und einen Kontakt geschlossen haben zwischen den beiden Herzen, die plötzlich in eine beklemmende und doch so beglückende Unruhe versetzt worden waren?

Marinas reicher Onkel

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