Читать книгу Marinas reicher Onkel - Alrun von Berneck - Страница 5

II.

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Sie hatten Marina nach Hause gebracht und gingen die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Der neue Wagen stand schon wieder in der Garage, und draußen war es bereits dunkel geworden. Als Igor das Licht anknipsen wollte, machte er das so ungeschickt, daß er mit dem Verband am Schalter hängenblieb.

Erst wollte er ärgerlich werden, doch dann lächelte er und sagte zu Kora:

„An soviel Fürsorge muß man sich erst gewöhnen! Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mir höchstens ein Heftpflaster auf die Hand geklebt.“

„Und hättest wahrscheinlich morgen die schönste Blutvergiftung“, fuhr Kora fort. „Du solltest froh sein, daß Marina so schnell bei der Hand war.“

„Zwei Taschentücher hat sie mir auch geopfert“, sagte er und schloß die Etagentür auf. „Die muß ich ihr natürlich ersetzen.“

„Selbstverständlich!“ meinte Kora. „Und wenn du sie ihr bringst, nimmst du auch einen Blumenstrauß mit!“

„Ich bin meinem Vormund zu unendlichem Dank verpflichtet!“ erwiderte er voller Ironie und machte vor Kora eine linkische Verbeugung. „Wie kommt es eigentlich, daß du dich so sehr bemühst, sobald es sich um Marina handelt?“

Kora wurde verlegen und wußte nicht sogleich zu antworten. Sie konnte doch in diesem Augenblick nicht mit der Tür ins Haus fallen.

„Na ja“, sagte sie leichthin, „bei euch Männern muß man immer achtgeben, daß ihr nichts anstellt oder etwas Wichtiges versäumt.“

Er verzichtete darauf, ihr eine Antwort zu geben, denn dann hätte er zu diesem Thema vielleicht mehr gesagt, als ihm wünschenswert erschien. Oben angekommen, ging er sofort in sein Privatkontor, um nachzuschauen, ob etwas Wichtiges eingegangen war. Kora aber begab sich zu ihrem Hausmädchen in die Küche, denn es war an der Zeit, das Abendbrot vorzubereiten.

Während sie in der Küche beschäftigt war, ging ihr aber das mit Igor geführte kurze Gespräch nicht aus dem Kopf, und sie beschloß, sich irgendwie Gewißheit darüber zu verschaffen, wie Igor denn nun eigentlich zu ihrer Freundin stand. Gerade weil er ein Mann war, mußte er doch längst Stellung bezogen haben, sie verkehrten nun schon im dritten Jahr mit Marina, und seit ihrem letzten Geburtstag duzten sich Igor und Marina sogar, was Kora nicht ohne Hintergedanken so arrangiert hatte.

Als sie später bei Tisch saßen, hatte sie sich, wie sie glaubte, genügend auf das vorbereitet, was sie den Bruder fragen wollte. Dennoch schien es ihr nicht angebracht zu sein, direkt auf das Ziel loszusteuern. Kleine Umwege gehörten nun mal zur Diplomatie der Frau, und so sagte sie in möglichst gleichgültigem Ton:

„Marina hast du mit deiner Einladung eine sehr große Freude gemacht. Das arme Kind hockt den ganzen Tag auf ihrem Malschemel und hat ein bißchen Abwechslung wirklich verdient.“

„So, hat sie dir gesagt, daß es ihr gefallen hat?“ fragte Igor und war ganz Aufmerksamkeit und kaum verhohlene Neugierde.

„Das brauchte sie nicht zu sagen, das sah man ihr doch an. Sie lebte doch richtig auf, als sie mit uns im Wagen saß!“

„Den Eindruck hatte ich auch. Ob wir sie wohl öfter einmal mitnehmen? Ich meine, wird ihr das recht sein?“

„Da fragst du noch, Igor? Sag mal, lebst du eigentlich hinter dem Mond, weil du gar nicht merkst, was mit den Menschen um dich herum los ist?“

„Das sagst du mir? Dem Rechtsanwalt?“ fragte er und schaute sie maßlos erstaunt an. Er ließ sogar Messer und Gabel sinken, setzte die Ellenbogen auf den Tisch und verschränkte die Hände ineinander.

Sie belächelte sein Erstaunen und mehr noch seine Unmöglichkeit, ihre Worte zu verstehen. Sein Gesicht schien schon fast beleidigt, weil es jemand wagte, seine Menschenkenntnis und die dazu gehörende Beobachtungsgabe in Zweifel zu ziehen.

„Ja, mein Lieber, darüber brauchst du dich gar nicht zu wundern!“ erwiderte Kora ungerührt. „Deine Klienten vermagst du sehr richtig und sicher einzuschätzen, weil da nur dein Berufsinteresse im Spiel ist, aber wenn es um die Personen geht, die dir nahestehen, versagt leider dein juristischer Instinkt.“

„Das mußt du mir beweisen, Kora!“ antwortete er heftig, in seinen heiligsten Bezirken angegriffen und verletzt. An seiner Urteilsfähigkeit zweifeln hieß doch wohl, an den Grundlagen seiner Existenz rütteln.

„Nehmen wir das Beispiel Marina, es bietet sich ja geradezu an, wo du sie nun doch schon einmal erwähnt hast!“ sagte Kora geschickt, obwohl nicht er, sondern sie es gewesen war, die Marina zuerst erwähnt hatte. Aber das merkte er überhaupt nicht.

„Wieso ist Marina ein Beispiel für meinen Mangel an Menschenkenntnis?“ fragte er, setzte seine ironische Miene auf, welche seine Überlegenheit demonstrieren sollte und setzte sein Besteck wieder in Tätigkeit.

„Du bemerkst nicht einmal ihre primitivsten Seelenregungen, wie deine Frage mir vorhin bewiesen hat. Und dabei steht sie uns doch recht nahe. Oder ist sie dir etwa vollkommen gleichgültig?“

„Aber durchaus nicht!“ widersprach er lebhaft. „Ich weiß gar nicht, wie du darauf kommst. Wir sind doch nun schon seit Jahren gute Freunde, und es ist doch lächerlich von dir, zu behaupten, ich kennte mich mit Marina nicht aus.“

„Es hat fast den Anschein, jedenfalls bemühst du dich immer, diesen Anschein zu erwecken. Da soll nun einer dahinterkommen, daß diese Gleichgültigkeit nur gespielt ist!“

Sie beobachtete ihn bei ihren Worten scharf, und sie war eine gute Beobachterin. Vielleicht lag es aber auch daran, daß sie den Bruder in vielen Dingen besser kannte, als er sich selbst, jedenfalls bemerkte sie zu ihrer Genugtuung, daß die Maske des aufmerksamen aber kritiklosen Zuhörers, die er seines Berufs wegen fast ständig zur Schau trug, mit einem Ruck von ihm abfiel. Und was zum Vorschein kam, war die echte Leidenschaftlichkeit seines Temperaments, der er jetzt die Zügel schießen ließ.

„Wie kannst du nur von Gleichgültigkeit sprechen, Kora! Und das ausgerechnet bei Marina! Aber ich kann mich ihr doch unmöglich aufdrängen und ihr meine Verehrung möglichst geräuschvoll zu Füßenlegen. Du kennst sie doch auch und mußt wissen, daß sie das eher abschrecken als anziehen würde. Und was heißt überhaupt Gleichgültigkeit, wenn man mit einem Menschen befreundet ist? Das gibt es doch überhaupt nicht!“

„Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst, Igor!“ sagte Kora lächelnd. „Jedenfalls hast du mir gerade sehr deutlich bewiesen, daß du uns Frauen völlig verkennst. Du meinst, wenn du mit Marina befreundet bist, müßtest du auch deine männlichen Maßstäbe anlegen. Das ist falsch, mein Lieber, grundfalsch!“

„Was willst du damit sagen, Kora?“ Abermals unterbrach er seine Beschäftigung. Das Gesprächsthema erregte ihn anscheinend so sehr, daß er darüber sogar das Essen vergaß.

„Nun, eine Frau sieht es gern, wenn sie verehrt wird, und sie ist nicht einmal böse darüber, wenn auch andere Leute das merken. Du glaubst doch nicht im Ernst, daß du Marina abschrecken würdest, wenn du ihr etwas deutlicher zeigtest, wie es um dich steht!“

Wieder warf sie dem Bruder einen lauernden Blick zu. Was sie ihm da gesagt hatte, war sehr deutlich. Sie hatte ihm zu verstehen gegeben, daß sie ganz genau wußte, daß sich sein Gefühl für Marina nicht auf kameradschaftliche Zuneigung beschränkte.

„Und selbst wenn sie nicht zurückschrecken würde, so weißt du doch ganz genau, daß ich nur ganz behutsam vorgehen kann. Denk doch an das, was sie alles hat durchmachen müssen!“

„Du möchtest ihr also zu verstehen geben, daß du ihr nicht nur ein guter Freund bist? Ich meine, du fühlst mehr für sie, als man gemeinhin für einen Freund empfindet? Sag, Igor, liebst du Marina?“

Nun war sie ausgesprochen, die heikle Frage, die ihr schon seit Monaten auf der Zunge brannte. Bisher hatte sie sie stets scheu umgangen, aber weil sie absolut keinen Fortschritt bemerkte in dem Verhältnis der beiden, mußte sie sich Klarheit über die wahren Gefühle ihres Bruders verschaffen. Anders wäre es ihr ja nicht möglich, ihm die Wege zu ebnen und vielleicht seine Fürsprecherin bei der Freundin zu sein.

„Ob ich sie liebe?“ Sein Gesicht nahm einen verklärten Ausdruck an. Er wich ihrem Blick aber aus und schaute zum Fenster hinaus, wo die Kastanien in voller Blüte standen. Fast andächtig sagte er: „Sie ist eine wundervolle Frau!“

Kora kämpfte mit ihrer Rührung, als sie diese Worte aus seinem Munde hörte. Ihr Empfinden hatte sie also nicht getäuscht, Igor liebte ihre Freundin, liebte sie mit der behutsamen Zartheit, mit der man eine schöne Blüte oder eine kostbare Vase liebt.

„Und du hast nie daran gedacht, ihr deine Liebe zu gestehen?“

Da sah er sie voll an und entgegnete fest:

„Nein, Kora! Dazu ist es noch zu früh! Erst will ich ihrer sicher sein! Unser Gefühl soll uns zueinander führen, wenn es soweit ist! Aber eine solche Entscheidung kann ich doch nicht mit Worten herbeiführen!“

Kora sah gedankenvoll vor sich hin und wiegte den Kopf hin und her. Schließlich sagte sie, ihn von unten herauf anschauend:

„Ich weiß nicht, Igor, welch seltsame Vorstellung du dir von uns Frauen machst. Aber richtig ist sie auf keinen Fall! Wir wollen doch nicht unter einen Glassturz gestellt und angebetet werden! Wir sind doch keine Heiligenbilder, sondern Menschen von Fleisch und Blut mit einem Herzen in der Brust!“

Igor schaute sie an und lächelte, ein wenig skeptisch, ein wenig überlegen.

„Das mag alles stimmen, im großen und ganzen gesehen. Aber bei Marina ist das etwas anderes. Verlaß dich darauf, Kora, hier irre ich mich nicht!“

„Und warum soll ausgerechnet Marina unter allen Frauen die große Ausnahme sein?“

„Du mußt ihre Lage verstehen, Kora! Denk an die große Enttäuschung, die sie durchgemacht hat! Solche Frauen wollen nicht im Sturm genommen werden. Sie würden zurückschrecken vor jedem Ungestüm und sich nun erst recht abkapseln.“

Kora seufzte und hob die Augenbrauen. So sehr sie sich auch bemühte, den Standpunkt des Bruders zu verstehen, recht konnte sie ihm doch nicht geben.

„Das hat alles nichts zu bedeuten, sobald der Richtige vor ihr steht! Dann zerstieben alle Bedenken wie Spreu im Sturm, und die Erinnerung an böse Stunden verlischt wie der Morgentau im Strahlenglanz der Sonne!“

„Möglich, daß es so sein kann“, räumte er ein. „Aber wer sagt mir, daß ich für Marina der Richtige bin? Darüber müßte ich erst Gewißheit haben!“

„Sagt dir das denn nicht dein Gefühl?“ fragte Kora.

Igor zuckte mit den Schultern. Fast ein wenig resigniert sagte er:

„Ich habe das Gefühl, wir reden im Kreise herum, Kora! Wollen wir nicht lieber noch ein Weilchen warten und zusehen, was uns die nächste Zeit bringt?“

Sie nickte ihm lächelnd zu. Dann erhob sie sich und stellte die Schüsseln zusammen. Als sie in seine Nähe kam, fuhr sie ihm mit der Hand durchs Haar.

„Es wird schon werden!“ sagte sie tröstend. „Auf jeden Fall werden wir Marina in den nächsten Wochen recht häufig abholen und mit ihr ausfahren!“

Kora wußte nun genau, wie es um ihren Bruder stand. Aber in Gedanken beschäftigte sie sich noch ohne Unterlaß mit dem Problem, wie den beiden zu helfen wäre. Sie hatte einen wachen Verstand mitbekommen und ging gern den Dingen auf den Grund. Sie tat nichts lieber, als mit ihrem Bruder über juristische Fragen zu diskutieren und Meinung und Gegenmeinung gegeneinander abzuwägen. Und so versuchte sie jetzt, dem Standpunkt ihres Bruders Verständnis abzugewinnen. Aber sie mußte es bald aufgeben, Igor blieb ihr ein großes Rätsel.

Oder war es etwa eine Selbstverständlichkeit, daß er in allen Lebensfragen eine betont männliche Haltung einnahm, aber ausgerechnet Marina gegenüber eine Scheu an den Tag legte, die schon beinahe mädchenhaft war. In ihrem ersten Aerger darüber, daß er ihr diese Nuß zu knacken aufgegeben, nannte sie sein Benehmen sogar ausgesprochen unmännlich. Erst als sie tiefer in dieses Problem eingedrungen war, wurde sie sachlicher und versuchte, ihn zu verstehen. Aber trotzdem war sie weit davon entfernt, sein Verhalten etwa gutzuheißen.

Und darum beschloß sie, dieses heikle Thema zur Sprache zu bringen, sobald sie wieder einmal mit Marina zusammentraf. Sie dachte zwar nicht daran, etwa als Anwältin ihres Bruders oder gar als dessen Brautwerberin aufzutreten, aber es konnte nicht schaden, wenn sie wenigstens den Boden sondierte und tastend ihre Fühler ausstreckte.

Es war seltsam: Die drei jungen Menschen waren fast jede Woche einmal beisammen und verstanden sich so prächtig, aber ausgerechnet das Nächstliegende berührten sie mit keinem Wort und keiner Geste. Das Problem einer doch immerhin möglichen Liebe zwischen Marina und dem Bruder ihrer Freundin war zwischen ihnen tabu. Sie berührten es einfach nicht. Ob aus Angst oder aus Vorsicht oder auch nur aus Zartgefühl, wer vermöchte das zu sagen?

Aber sie schafften es damit nicht aus der Welt, wie sich sehr bald erweisen sollte. Doch bevor es von einer gänzlich überraschenden Seite aufgerollt wurde, blieb es Kora vorbehalten, ihrerseits einen Vorstoß zu machen, von dem sie sich wenigstens den Erfolg versprach, über Marinas Gefühle Klarheit zu gewinnen.

Was sich Kora in den Kopf gesetzt hatte, das führte sie auch aus. Und wenn sie ein Problem ausfüllte, und mit Uebermaß beschäftigte, so suchte sie möglichst schnell mit ihm fertig zu werden. Schon am Tage nach ihrer ersten Ausfahrt mit dem neuen Wagen fand sie einen Vorwand, Marina in ihrer Wohnung aufzusuchen.

Aber sie wußte, daß sie bei Marina noch vorsichtiger vorgehen mußte als bei ihrem Bruder Igor. Denn die Freundin hatte Schweres hinter sich und in der Liebe eine Enttäuschung erlebt, die sie vielleicht niemals im Leben ganz verwinden würde. Es sei denn, es käme jemand, der ihr ein strahlendes Glück zu schenk ken vermöchte, das imstande war, alle Schatten der Vergangenheit auszulöschen.

Bei Igor war es nur die Achtung vor dem vielleicht vorhandenen Herzensgeheimnis des anderen gewesen, das ihr so lange zu schweigen gebot, bei Marina aber kam noch etwas hinzu, das ihr bisher den Mund verschloß. Was ihr den Mut gab, überhaupt zwischen diesen beiden Menschen Schicksal zu spielen, war ihre feste Ueberzeugung, daß sich die beiden liebten, ohne es eigentlich zu wissen, und daß sie miteinander sehr glücklich werden würden. Denn sie waren direkt füreinander geschaffen, das war Koras feste und unumstößliche Ueberzeugung.

Marina war überrascht, als sie Kora vor sich sah, als sie ihrer Besucherin auf ihr Klingeln die Tür öffnete.

„Nett von dir, daß du mich besuchst!“ begrüßte sie die Freundin und streckte ihr herzlich die Hand hin. „Komm herein, ich habe mir gerade eine gute Tasse Kaffee gemacht!“

„Dann komme ich selbstverständlich gern!“ sagte Kora und trat ein. Marina besaß ein großes Zimmer mit guten, alten Möbeln, das ihr als Wohnzimmer diente. Hier empfing sie ihre Kundschaft, hier hatte sie aber auch einen Teil ihrer fertigen Sachen ausgestellt. Die Bettcouch fiel in dieser Umgebung gar nicht auf. Nebenan war noch ein Raum, in dem sie arbeitete, dort gab es auch eine Kochnische und sogar ein Bad. Marina hatte es verstanden, aus allem ein wahres Schmuckkästchen zu machen und reine Aesthetik mit echter Behaglichkeit zu vereinen. So hatte sie sich mit selbstverdienten Mitteln ein gemütliches Heim geschaffen, das sich im Kreis ihrer Bekannten eines besonderen Rufes erfreute.

Kora machte es sich in der Sitzecke gemütlich und zündete sich eine Zigarette an, während Marina den Kaffee einschenkte. Sie hatte ein japanisches Service aus hauchdünnem Porzellan ausgesucht, das sie sonst nur bei festlichen Gelegenheiten deckte. Aber sie wußte, wie empfänglich Kora für schöne Sachen war, und darum wollte sie ihr eine Freude machen.

„Ich möchte aber nicht nur bei dir Kaffee trinken“, leitete Kora das Gespräch ein, „ich möchte auch etwas von deinen Schätzen kaufen. Dabei sollst du mich beraten Marina!“

„Was soll es denn sein? Oder sage mir lieber, für wen du es haben willst, dann kann ich dir vielleicht einen Rat geben.“

„Graf Retzlaf hat Geburtstag, und da er zu Igors besten Klienten zählt, sind wir ihm eine kleine Aufmerksamkeit schuldig.“

„Da ist allerdings schwer zu raten, denn im gräflichen Haushalt wird bestimmt alles überreich vorhanden sein“, sagte Marina zögernd.

„Aber handgemaltes Porzellan von dir wird er bestimmt noch nicht haben!“

„Da käme höchstens eine Vase in Frage!“ Und schon sprang Marina auf und holte drei Vasen verschiedener Größe von einem Wandgestell.

Kora wurde die Wahl sehr schwer, denn alle drei waren schön.

„Ich lasse sie dir natürlich zu einem Vorzugspreis!“ ermunterte sie Marina.

„Das schlag dir aus dem Kopf, Marina!“ wehrte Kora heftig ab. „Wenn du so handelst, kommst du doch zu nichts! Und außerdem macht es Igor nichts aus, es geht ja doch aus der Geschäftskasse!“

„Richtig!“ lachte Marina. „Geschenke an Geschäftsfreunde kann man ja von der Steuer absetzen!“ Dann nannte sie der Freundin den Preis, den sie für angebracht hielt.

Kora drehte die Vase herum und sah nach dem Etikett, das unter den Fuß geklebt war. Dort stand ein höherer Preis.

„Aber hier steht doch ...“

„Das gilt nur für ganz reiche Kunden!“ sagte Marina.

„Nun, Igor ist ja auch nicht gerade arm! Also ich zahle, was hier steht, oder ich lasse dir die Vase überhaupt hier.“

Seufzend schickte sich Marina darein. Sofort zog Kora ihre Handtasche und legte das Geld auf den Tisch. Da aber einem Geschäft unter Freundinnen immer eine kleine Peinlichkeit anhaftet, wechselte sie sofort das Thema.

„Für übermorgen mußt du dich übrigens freihalten, Marina! Igor hat einen Termin am Landgericht in Limburg und möchte uns mitnehmen.“

„Schon wieder?“ fragte Marina, aber es war kein Erschrecken, sondern ein freudiges Erstaunen.

„Ich finde, man sollte diese Gelegenheit nutzen, so oft sie sich bietet!“ meinte Kora gelassen. „Wer weiß, wie lange das schöne Wetter noch anhält. Und schließlich fährt Igor ja auch nicht jede Woche nach Limburg.“

„Du hast schon recht, nur ...“

„Nun sage nur nicht, du hättest keine Zeit!“ unterbrach Kora die Freundin sofort, bevor sie einen Einwand vorbringen konnte. „Oder hast du einen Eilauftrag, der zu einem bestimmten Termin erledigt werden muß?“

„Das nicht, aber ich weiß nicht, ob ich das Igor zumuten darf, mich immer mit sich herumzuschleppen.“

Da drückte Kora energisch ihre Zigarette in den Aschenbecher, setzte sich in Positur und sah die Freundin kampflustig an.

„Ich will dir mal etwas sagen, mein liebes Kind! Wenn einer sich über deine Gesellschaft freut, dann ist es Igor! Ich freue mich natürlich auch. Aber meinem Bruder willst du doch nicht mit Gewalt den Spaß verderben? So grausam kannst du doch gar nicht sein!“

Ueber diesen Ausbruch war Marina nun wirklich erschrocken. Verdutzt schaute sie die Freundin an.

„Aber ich will ihn doch nicht kränken“, sagte sie gedehnt.

„Dann ist es ja gut!“ meinte Kora schnell versöhnt. „Das wäre auch nicht nett von dir gewesen. Igor mag dich nämlich recht gern!“

Sie wußte genau, was sie sagte, und sie hatte ihre Worte mit voller Absicht so gewählt. Vielleicht ließ sich Marina auf diese Weise ihr Herzensgeheimnis entlocken — wenn es überhaupt ein solches Geheimnis gab.

„Ich mag ihn auch gern!“ antwortete Marina unbefangen. „Er ist ein ganz prächtiger Kamerad!“

„Ja, das ist er! Man kann sich in jeder Beziehung auf ihn verlassen. Ich bin sehr froh, daß er mein Bruder ist!“

Bei diesen Worten beobachtete sie Marina scharf, aber der Freundin war nichts Außergewöhnliches anzusehen.

„Ihn als Freund zu haben, ist auch ein wunderbares Gefühl“, fuhr Marina fort, sein Loblied zu singen. „In seiner Nähe fühlt man sich so geborgen!“

„Ich glaube, die Frau, die ihn einmal bekommt, hat das große Los gezogen. Ich könnte mir vorstellen, daß er auch als Ehemann ganz ideal sein muß.“

„Dieser Frau kann man bestimmt gratulieren!“ erwiderte Marina mit der gleichen Unbefangenheit, mit der sie bisher das Gespräch geführt hatte. Es kam ihr einfach nicht in den Sinn, Koras Worte in Beziehung zu ihre eigenen Person zu bringen. War sie nun begriffsstutzig oder brachte sie Igor wirklich nicht mehr entgegen als ein kameradschaftliches Gefühl?

Kora war ein wenig verzweifelt, weil sie trotz ihrer sehr deutlichen Anspielung keine befriedigende Antwort erhalten hatte. Sie war jetzt nicht klüger als zuvor. Weiter aber konnte sie unter keinen Umständen gehen, wenn sie Marina nicht kopfscheu machen wollte. Sie kannte den offenen und geraden Sinn der Freundin, und weil sie nicht dumm war, zog sie aus dem Gespräch die einzig mögliche Lehre: Marina war sich über ihre Gefühle offenbar selber nicht im klaren.

Als sie sich später verabschiedet hatte, ging Kora auf einem großen Umweg nach Hause. Die Klarheit, die ihr das Gespräch nicht gegeben hatte, hoffte sie durch Nachdenken und logische Schlußfolgerungen zu bekommen. Aber ihre Gedanken gerieten immer wieder in eine Sackgasse. Mit dem, was sie heute erfahren hatte, konnte sie Igor weder erfreuen noch zufriedenstellen. Gut, daß sie ihm nichts von ihrem Vorhaben gesagt hatte, das nach ihre Meinung so kläglich mißglückt war. Nun würde sie schweigen müssen.

Aber damit durfte ihre Aktivität nicht erschöpft sein, sie mußte versuchen, auf irgendeine Weise ein Zusammensein der beiden zu arrangieren, das sie einander näherbringen sollte. Sie war sicher, daß ihr rechtzeitig etwas einfallen würde.

Als sie ihrem Bruder die bei Marina gekaufte Vase auf den Schreibtisch stellte, sagte sie:

„Ich habe übrigens Marina für übermorgen eingeladen. Es ist dir doch recht?“

„Und sie hat zugesagt?“ fragte er hastig, ohne Koras Frage zu beantworten.

„Natürlich! Es blieb ihr doch gar nichts anderes übrig!“ erwiderte Kora. „Du weißt doch, wenn ich mir vorgenommen habe, jemand zu überreden, gibt es kein Ausweichen mehr!“

„Das weiß ich!“ meinte er und lachte laut auf, denn er kannte die Hartnäckigkeit der Schwester. „Du hättest Marktfrau werden sollen, die wären bestimmt keine Apfelsinen schlecht geworden!“

„Vielen Dank für das Kompliment!“ sagte sie und setzte eine hoheitsvolle Miene auf, als habe sie seine Worte ernst genommen. Doch dann fuhr sie fort: „Das war übrigens das einzige, was ich für dich tun konnte. Alles andere mußt du schon selber in die Hand nehmen!“

„Untersteh dich, dich in meine Angelegenheiten zu mischen!“ drohte Igor. „Du weißt, wie ich darüber denke, und ich möchte nicht, daß da etwas verpatzt wird!“

Kora schürzte die Lippen und sah ihn ironisch an.

„Na, Brüderchen, ob du aber der richtige Mann für so etwas bist — ich wage daran zu zweifeln! Du hast ja Hemmungen wie ein Primaner!“

„Nun aber hinaus!“ rief er und griff nach einem Kissen, das neben ihm auf dem Stuhl lag. Kora wartete den Wurf nicht ab und zog schleunigst die Tür hinter sich zu. Mit sturem Ernst kam man der Sache nicht bei, das hatte sie längst eingesehen. Vielleicht war es gut, Igors Ehrgeiz ein wenig anzustacheln. Beim Manne wirkte das oft Wunder, hatte sie sich sagen lassen, wenn es um den Besitz einer Frau ging.

Am übernächsten Tag holten sie Marina zur Fahrt nach Limburg ab. Diesmal saßen die beiden Mädchen hinten, denn Kora wußte, daß ihr Bruder auf der Fahrt zum Gericht nicht gern gestört sein wollte. Er stellte sich schon unterwegs auf die Verhandlung ein und wäre für Marina gewiß kein guter Gesellschafter gewesen. Die Freundinnen aber unterhielten sich während der Fahrt großartig. Und als Igor dann im Gericht zu tun hatte, schlenderten sie durch die Straßen, betrachteten die Schaufenster und gingen schließlich in die Konditorei Haas am Ende des Marktplatzes, wo sie mit Muße die vielen Vorübergehenden betrachten konnten. Denn es war ihr besonderes Vergnügen, den Menschen bei ihrem Alltagsleben zuzuschauen.

„Das kann sich entweder nur ein Krösus erlauben oder ein Rentner, der sein Leben schon gelebt und seinen Existenzkampf hinter sich gebracht hat“, erklärte Kora lachend, als sie Igor bei seiner Rückkehr wegen dieser Vorliebe zu hänseln versuchte.

Nachdem er sich zu ihnen gesetzt hatte, fragte er Marina:

„Es gefällt dir doch hier in Limburg? Oder bist du nur mitgefahren, weil dich Kora dazu überredet hat?“

„Oh, es gefällt mir großartig!“ antwortete sie begeistert. „Es ist ein wunderbares Gefühl, mitten in der Woche, wenn die anderen arbeiten müssen, einen freien Tag einlegen zu können. Leider muß ich das am Samstag und Sonntag, wenn die anderen spazieren gehen, wieder nachholen.“

„Hast du denn soviel zu tun mit deiner Malerei?“

„Im Augenblick habe ich ein ganzes Service in Arbeit, das zu einem Hochzeitstermin Anfang Juni fertig werden muß.“

„Und ich hatte mich schon der Hoffnung hingegeben, dich in den nächsten Wochen öfter einmal mitnehmen zu können. Jetzt wirst du mir sicher einen Korb geben, nicht wahr?“

„Ich muß ja wohl, wenn ich fertig werden will!“ antwortete sie und schenkte ihn ein reizendes Lächeln. „Aber wenn du zufällig einmal in der nächsten Zeit nach Wetzlar fährst, darfst du mich mitnehmen. Ich will dort nämlich Malerfarben einkaufen, die ich nur dort bekommen kann.“

„Das soll ein Wort sein!“ stimmte er freudig zu. „Kora wird dir rechtzeitig Bescheid geben. Ich glaube, ich kann es schon am nächsten Dienstag einrichten.“

„Stimmt das auch, Igor?“ fragte Marina skeptisch.

„Aber gewiß, daß stimmt! Warum sollte ich dir denn etwas vorschwindeln?“

„Ich habe dich in Verdacht, daß du eigens für mich nach Wetzlar fahren würdest, wenn ich den Wunsch äußerte!“

„Igor ist eben Kavalier!“ warf Kora lachend ein, bevor sich Igor melden konnte.

„Das weiß ich! Und darum scheue ich mich auch, einen Wunsch zu äußern. Man soll doch immer mit den Beinen auf der Erde bleiben, auch als Kavalier!“

„Das sowieso“, meinte Igor lakonisch. „Man muß schließlich einen festen Halt haben, wenn man die Dame seines Herzens auf Händen tragen will!“

„Geht das auf mich?“ fragte Marina schelmisch.

„Das zu beurteilen, überlasse ich deiner weiblichen Klugheit!“ parierte Igor geschickt.

Kora verfolgte das Geplänkel mit wachen Sinnen. Mit dem Ergebnis ihrer Beobachtung war sie aber nicht sehr zufrieden. Wenn Marina wirklich der Meinung war, daß Igors Bemerkung auf sie abzielte, hätte sie dazu geschwiegen und wäre vielleicht rot geworden vor Verlegenheit. Da sie sich aber zu der Frage verstand, um ihn in lustigem Wortstreit herauszufordern, war es wohl kaum etwas anderes als ein Spiel an der Oberfläche.

Um der Fahrt einen kulinarischen Höhepunkt zu geben, lud Igor die beiden Damen in das Restaurant „Zur alten Post“, gleich um die Ecke, zum Mittagessen ein.

„Es gibt dort Rehrücken mit Apfelmus!“ erklärte er genießerisch. „Ich habe schon auf der Karte nachgesehen!“

Marina wollte zwar gegen die Ausgabe protestieren, aber Kora ließ keinen Einwand gelten, und als die Freundin gar drohte, in Zukunft nicht mehr mitzufahren, machte Kora sie freundlichst darauf aufmerksam, daß Igor und sie gern auch mal zum Kaffee zu ihr kämen, wenn sie unbedingt die Absicht habe, sich zu revanchieren. Da erst gab sie nach und nahm die Einladung an.

Nach dem Essen erhob sich die Frage, ob man gleich heute nach Wetzlar fahren sollte oder nicht. Marina wollte es nicht vorschlagen, um Igor das Konzept nicht zu verderben. Kora aber hütete sich, ein Wort darüber verlauten zu lassen, weil sie sich von der erneuten Verabredung etwas versprach. Als Igor aber darauf anspielte, ließ sich Kora von der Freundin schleunigst bestätigen, daß sie die Farben so eilig auch wieder nicht benötigte. Also fuhren sie wieder über Herborn und Dillenburg nach Wildungen zurück.

Und da der Nachmittag nun doch angebrochen war, verbummelten sie die restlichen Stunden des Tages und machten in einer Weinkneipe noch einmal Station. Marina war zum Schluß lustig bis zum Uebermut, als sie das letzte Stück der Heimfahrt hinter sich brachten. Selbstverständlich hatte es Kora wieder so eingerichtet, daß sie neben dem Bruder saß. Aber die Unterhaltung der beiden, so lustig sie auch sein mochte, war völlig unbefangen. So benahmen sich entweder nur junge Menschen, die auf rein kameradschaftlichem Fuß verkehrten, oder Liebesleute im zehnten Semester.

Währenddessen saß Kora im Fond des Wagens und brütete über einem Plan, der ihre Wünsche fördern sollte. Und da sie keiner in dieser Beschäftigung sonderlich störte, machte der Plan solche Fortschritte, daß er bei der Heimkehr nach Wildungen bereits feste Formen angenommen hatte. Und weil sie an seine Durchführung und auch an seinen Erfolg glaubte, war auch Kora mit dieser Autofahrt restlos zufrieden.

Da Marina den Geschwistern beim Abschied noch einmal versichert hatte, am Wochenende arbeiten zu müssen, nahm sich Kora für den Sonntag auch nichts Besonderes vor. Sie konzentrierte ihr Augenmerk ganz auf den kommenden Dienstag, an dem Igor mit ihnen nach Wetzlar fahren wollte.

Aber sie hatte sich die Sache anders gedacht, als es Igor und Marina ahnen konnten. Mit der Freundin hatte sie verabredet, um neun Uhr in die Praxis zu kommen, damit sie gleich losfahren könnten, wenn Igor die eingegangene Post durchgesehen hatte. Aber mit ihrer Schneiderin verabredete sie zur gleichen Zeit eine Anprobe in der Wohnung. So konnte sie die Ueberraschte spielen, wenn die Schneiderin plötzlich vor ihr stand, und ihr Ziel, Marina und Igor allein fahren zu lassen, erreichte sie auch.

Und dann kam es genauso, wie sie es eingefädelt hatte. Zuerst erschien Marina, angefüllt mit der Vorfreude auf die schöne Fahrt bei dem herrlichen Frühlingswetter. Sogleich machte sich Kora reisefertig, ließ sich sogar von der Freundin raten, was sie für die Fahrt anziehen sollte. Dann erschien Igor in der Wohnung und sagte, daß er in zehn Minuten fertig sei, man möge sich darauf einrichten. Und als diese zehn Minuten gerade verstrichen waren, klingelte es abermals, und die Schneiderin stand vor der Tür und begehrte Einlaß.

Heuchlerisch erklärte Kora ihr Erstaunen über diesen unerwarteten Besuch und erntete damit einen schiefen Blick ihrer Besucherin. Aber die Schneiderin sagte nichts, denn sie war bei ihrer vornehmen Kundschaft schon manches gewohnt.

In diesem Augenblick kam Igor herein, um die Damen abzuholen.

„Denk dir, Igor, da ist Frau Niklas plötzlich gekommen. Ich muß mein Sommerkostüm anprobieren, und das dürfte eine ganze Weile dauern. Wenn du darauf warten würdest, würdest du deinen Terminversäumen!“

Das war sehr deutlich. Damit hatte sie ihm gesagt, daß er unter allen Umständen fahren mußte, wenn er vor Marina die Version aufrechterhalten wollte, er habe auch beruflich etwas in Wetzlar zu erledigen. Ein wenig hilflos schaute Igor von seiner Schwester auf Marina. Und Marina erwiderte den Blick und machte dazu ein recht unglückliches Gesicht. Sie sah die Fahrt schon ins Wasser fallen. Doch da sagte Kora resolut:

„Nun fahrt schon los, ihr beiden! Es ist doch nicht unbedingt erforderlich, daß ich auch dabei bin! Aber Frau Niklas ist stark beschäftigt und kann zu keiner anderen Zeit wiederkommen!“

„Du willst wirklich hierbleiben?“ fragte Igor und sah nicht gerade geistreich aus bei dieser Frage.

„Es wird mir nichts anderes übrig bleiben. Aber laßt euch um Gottes willen nicht stören!“ Sie sah nach der Uhr an ihrem Handgelenk. „Ihr habt sowieso keine Zeit mehr zu versäumen!“

Da war bei Igor der Groschen gefallen. Er blinzelte der Schwester verständnisinnig zu, ergriff Marina am Arm und sagte:

„So ein Pech! Da muß doch das arme Kind zu Hause bleiben!“ Und zu Marina gewandt, fuhr er fort: „Komm, Mädchen, wir haben wirklich keine Zeit zu versäumen!“

Marina ließ sich willig mitziehen, je schneller sie den Schauplatz verließen, um so besser war es. Es bestand immer noch die Gefahr, daß die Fahrt unterblieb. Und sie hatte sich schon so sehr darauf gefreut. Noch in der Korridortür, während Marina und Igor bereits die Treppe hinunterliefen, rief ihnen Kora noch nach, sie möchten sich gut amüsieren.

Fünf Minuten später saßen sie bereits im Wagen und steuerten zur Stadt hinaus.

Die vor ihnen liegende Fahrt betrug rund hundertfünfzig Kilometer, und da Igor gesagt hatte, er müsse zwischen elf und zwölf Uhr an Ort und Stelle sein, blieb ihnen keine Möglichkeit, zwischendurch Aufenthalt zu nehmen. Sie fuhren an der Eder entlang durch die Ausläufer des Rothaargebirges und erreichten das Lahntal und folgten dem Fluß bis über Gießen hinaus. Als sie im Angesicht des alten und ehrwürdigen Domes in die Stadt einfuhren, war es fast halbzwölf Uhr.

„Jetzt schaffst du es bestimmt noch, Igor!“ sagte sie zufrieden, weil die Fahrt ohne Zwischenfälle verlaufen war.

„Ja, es klappt noch“, meinte er und nickte ernsthaft mit dem Kopf. „Zuvor aber bringe ich dich noch zu deinem Geschäft!“

Sie gab ihm den Weg an und er brachte sie dorthin, wo sie ihre Porzellanfarben kaufen wollte. Dann verabredeten sie, sich in einer Stunde im Café am Dom zu treffen. Als sie ausgestiegen war, fuhr er den Wagen auf einen Parkplatz und begab sich in das angegebene Café, bestellte sich eine würzige Hühnerbrühe und ließ sich ein paar Zeitungen bringen. Marina würde große Augen gemacht haben, wenn sie gesehen hätte, welcher Art seine geschäftliche Besprechung war. Aber zum Glück wußte sie es nicht.

Als sie nach einer Stunde mit ihrem kleinen Paketchen ankam, staunte sie darüber, daß er schon hier war.

„Ist auch alles zu deiner Zufriedenheit ausgefallen, Igor?“ fragte sie mit einem Blick auf sein lächelndes Gesicht.

„Zur allergrößten!“ bestätigte er lachend. „Die Hühnersuppe war ausgezeichnet!“

Sie hielt es für einen Scherz und stimmte in sein Lachen ein. Es ergab sich, daß sie jetzt keinen Kaffee mehr trinken, sondern zu Mittag essen wollte. Also wechselten sie das Lokal.

Da Marina nicht neugierig war und Igor keine Lust verspürte, über seine „berufliche Besprechung“ zu referieren, bestand kaum die Gefahr, daß sie ihm auf die Schliche kommen würde, geschickterweise wußte er sie aber in ein Fachgespräch über Porzellanmalerei zu verwickeln, das dann jede Gefahr des Entdecktwerdens ausschloß.

Nach dem Essen im Weinhaus Bepler setzten sie sich wieder in den Wagen und traten die Rückfahrt an. Um diesmal eine andere Strecke zu haben, fuhren sie durch den Westerwald nach Herborn und von dort aus nach Biedenkopf. Es war kein großer Umweg, und landschaftlich hatte er besondere Reize. Aber es kam Igor nicht nur darauf an, seiner Mitfahrerin die landschaftlichen Reize des hohen Westerwaldes zu zeigen, er hatte auch noch eine Nebenabsicht. Denn er hätte kein Mann sein müssen, um die günstige Gelegenheit nicht wahrzunehmen, Marina persönlich näher zu kommen. Er wollte sie selbstverständlich nicht überfallen, dazu war er zu ritterlich, aber er hatte die feste Absicht zu ergründen, wie sie nun eigentlich zu ihm stand.

Die einmal bergauf und dann wieder bergab führenden Straßen des Westerwaldes riefen in ihnen den Eindruck hervor, als ob sie sich auf einer Achterbahn befänden. Und je schneller Igor fuhr, umso übermütiger wurde Marina. Um den Reiz des Fahrens vollends auszukosten, erhob sich Marina und steckte den Kopf über die Windschutzscheibe hinaus.

„Vorsicht, Marina!“ warnte er sofort. „Nicht ohne Brille in den Fahrtwind stellen!“

Aber so schnell er mit seiner Warnung auch zur Hand gewesen, es war doch schon zu spät. Marina ließ sich im selben Augenblick in die Polster fallen und fuhr sich mit der Hand zum Auge. Sofort fuhr er an den Straßenrand und hielt an.

„So ein leichtsinniges Mädchen!“ schalt er. „Weißt du denn nicht, daß im Mai sämtliches Geflügel unterwegs ist? Das ist doch der Monat der Hochzeitstänze. Jetzt hast du wahrscheinlich ein solches Viech im Auge!“

„Wahrscheinlich!“ sagte sie kleinlaut. „Der Tänzer muß betrunken gewesen sein von der Hochzeitsbowle!“

„Oder verliebt, was aber vermutlich dasselbe ist“, sagte er lächelnd. „Nun laß mich mal schauen, ob ich dir helfen kann!“

Er beugte sich über sie, und Marina hielt ganz still. Behutsam hob er das Lid hoch, daß sich vom Reiben schon stark gerötet hatte, und forschte nach dem Uebeltäter.

„Siehst du etwas?“ fragte sie leise.

„Ja, du hast wunderschöne Augen!“ antwortete er ebenso leise. Sofort aber sagte er forsch: „Da steckt ja das Biest!“

Er nahm sein Seidentuch aus der Jackettasche und versuchte mit einem Zipfel die Mücke aus ihrem Augenwinkel zu entfernen. Sie hielt mucksmäuschenstill und wagte kaum zu atmen. Noch niemals zuvor hatte er ihr schönes Gesicht so dicht vor sich gesehen, noch niemals ihr so nahe in die Augen geblickt. Ihr Mund stand halb offen, und die frischen roten Lippen glänzten ein wenig feucht. Es war eine ungeheure Lockung, ihr Gesicht einfach in beide Hände zu nehmen und diesen süßen Mund zu küssen. Es kostete ihn seine ganze Energie, dieser Verlockung nicht zu erliegen.

Endlich hatte er die Mücke entfernt. Noch einmal tupfte er eine Träne aus ihrem Augenwinkel. Da hielt sie ihn mitten in der Bewegung fest.

„Wie schöne Hände du hast!“ sagte sie mit einem verträumten Lächeln. „Richtige Geigerhände!“

So etwas hatte ihm noch keine Frau gesagt. Er wurde so verlegen, daß er nicht zu antworten vermochte. Ein Kompliment aus ihrem Munde hatte er bestimmt nicht erwartet.

„Man traut ihnen gar nicht zu, daß sie auch fest zugreifen können!“

Ob das eine Aufforderung war? Was hatte sie damit sagen wollen? Sein Herz hämmerte zum Zerspringen, und die Gedanken jagten sich in seinem Kopf. Sollte er einfach zugreifen und sie an sich ziehen? Durfte er das wagen? Er glaubte fast zu spüren, daß sie darauf wartete.

Doch anstatt seinem Gefühl zu gehorchen, hörte er auf seinen Verstand, und der gab ihm die Antwort ein auf ihre Frage, die eigentlich gar keine Frage, sondern eine scheue Liebkosung gewesen war.

„Geigerhände nennst du sie?“ sagte er geringschätzig. „Das ist das Attribut meiner erlauchten Ahnen. Diese Hände deuten lediglich darauf hin, daß meine Vorfahren seit Generationen nicht mehr gearbeitet haben!“

Es war ihm, als ob sie zusammengezuckt und ein Schatten über ihre Züge dahingehuscht wäre. Sie reckte sich und löste sich aus seiner halben Umarmung. Der Zauber war zerbrochen.

„Müssen wir nicht weiterfahren?“ fragte sie mit rauher Stimme.

Wortlos rückte er wieder ans Steuer und setzte den Wagen in Gang. Er war wütend auf sich selbst und gab sich keine Mühe, dieses Gefühl zu unterdrücken. In der nächsten Viertelstunde schwieg er beharrlich vor sich hin. Doch auch Marina schwieg. Sie wußten beide, was diese wenigen Minuten für sie zu bedeuten gehabt hatten, und sie fühlten sich beide irgendwie enttäuscht. Und ihre Herzen wurden umso schwerer, je stärker sich ihnen die Erkenntnis aufdrängte, einen sehr wichtigen Augenblick in ihrem Leben versäumt zu haben.

Denn eine verpaßte Chance kehrt niemals mehr zurück. Wer die Glücksgöttin durch Mißachtung beleidigt, von dem kehrt sie sich ab. Der Rest der Heimfahrt stand unter keinem sehr freundlichen Stern.

Marinas reicher Onkel

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