Читать книгу In Vino Veritas - Amalia Zeichnerin - Страница 6

Kapitel 3 – Mabel

Оглавление

Montag, 21. April 1879

Jedes Jahr freute sich Mabel an ihrem Geburtstag noch immer ein bisschen wie ein Kind, schließlich war es für sie ein Ehrentag. Zwar war sie mittlerweile schon in ihren Vierzigern, aber dieser Tag war dennoch etwas ganz Besonderes für sie geblieben, den sie gern im Kreise ihrer Lieben verbrachte. Und so hatten Clarence und sie abends volles Haus.

Ihre Tochter Adelia, ihr Schwiegersohn Gabriel und die kleine Emma waren gekommen, ebenso Theodor und die älteren Nachbarinnen Miss Gettis und Miss Clover. Auch Doktor Tyner war eingetroffen und das Wohnzimmer platzte aus allen Nähten. Mabel hatte die Fenster weit geöffnet, war es doch für Ende April angenehm warm. Die Luft schmeckte nicht nur nach den Ausdünstungen der Stadt, sondern auch ein wenig nach Frühling, zumindest kam es Mabel so vor. Die beiden alten Damen trugen pastellfarbene Kleider, als hätten sie sich abgesprochen. Emma krakeelte fröhlich vor sich hin und sah mit großen Augen von einem zum anderen.

Mabels Blick glitt zu Doktor Tyner. In seinem hageren Gesicht lagen tiefe Augenringe – der Gute arbeitete einfach zu viel! Sie beschloss, ihm wieder ihre Unterstützung anzubieten. Aber nicht hier vor den Gästen, schließlich wusste kaum jemand, dass sie gelegentlich in der Gerichtsmedizin aushalf. Das schickte sich auch nicht für eine verheiratete Frau, aber Clarence hatte nichts dagegen und es verschaffte ihr außerhalb des Hauses eine Aufgabe, die sie erfüllte. Mabel hatte ihre Arbeit als Krankenschwester oft vermisst, nachdem sie mit Clarence eine Familie gegründet hatte.

Gabriel überreichte ihr ein Päckchen. »Alles Gute zum Geburtstag, liebste Schwiegermutter.« Er lächelte auf diese charmante Art, mit der er damals Adelias Herz erobert haben musste.

»Ach, du schmeichelst mir«, erwiderte sie lachend und nahm das Geschenk entgegen. Sie legte es auf den Beistelltisch zu den anderen.

»Lasst uns essen«, sagte Clarence und deutete auf den festlich gedeckten Esstisch. Da sie so viele waren, hatten die Nachbarinnen ihnen freundlicherweise ein paar Stühle ausgeliehen, und so fanden sie alle Platz, auch wenn es eng wurde.

Doktor Tyner schlug mit einem Teelöffel an sein Glas und die Gespräche am Tisch verstummten.

Mabel fühlte eine unwillkommene Wärme in ihre Wangen steigen. Wollte er tatsächlich eine Rede halten?

»Liebe Gäste, liebe Mrs Fox«, begann er. »Lassen Sie mich kurz sagen, wie sehr es mich freut, dass ich Sie vor so langer Zeit unter schwierigen Umständen kennenlernen durfte. Sie waren in Konstantinopel eine der tüchtigsten Krankenschwestern, die mir je begegnet sind. Immer bereit, Neues kennenzulernen und Ihr Wissen zu erweitern. Mit Ihrer Hilfe haben wir so manchen Soldaten vor dem Tod bewahren können. Meinen herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebe Mrs Fox.«

Ihre Gäste klatschten Beifall und Emma ahmte die Geste mit ihren Patschehändchen nach. Mabel wusste nicht, wohin mit ihrer Verlegenheit. Natürlich hatte er ihre Hilfe in der Gerichtsmedizin nicht erwähnt, aber das wäre auch so ziemlich das Letzte gewesen, was sie erwartet hätte. Sie bedankte sich bei Doktor Tyner, der ihr eine mit einer roten Stoffschleife verzierte Flasche Rotwein überreichte. »Ich hoffe, der Wein wird Ihnen munden.«

»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen.« Sie nahm die Flasche entgegen, und auf einmal fiel ihr Horatio Holbrooks ein. Er hatte vergifteten Wein getrunken … Ob sie es wollte oder nicht, aber ihr wurde abwechselnd heiß und kalt und ihre Gedanken überschlugen sich. Doktor Tyner konnte natürlich nichts dafür und er hatte ihr gewiss nur eine Freude machen wollen. Vielleicht würde sie den edlen Tropfen später irgendwann genießen können. Er wurde ja zum Glück nicht schlecht.

Als sie alle vor dampfenden Tellern saßen und ihr Essen genossen, berichtete Clarence von Mr Holbrooks’ Beerdigung und den merkwürdigen Umständen des Todesfalls. Er ließ auch nicht aus, dass die Polizei einen Freitod für wahrscheinlich hielt. »Ich für meinen Teil kann nicht glauben, dass sich Mr Holbrooks umgebracht hat, und seine Witwe auch nicht«, erklärte er schließlich.

»Nellie geht es auch so«, warf Theodor ein. Zur Erklärung fuhr er fort: »Sie ist meine Verlobte, bei dem Toten handelt es sich um ihren Vater. Niemand außer ihm war jedoch an jenem Abend zu Hause. Er hatte sogar den Bediensteten freigegeben.«

»Also gibt es keine direkten Zeugen«, murmelte Doktor Tyner. »Das erschwert die Angelegenheit natürlich.«

»Man weiß nie genau, was in jemandem vor sich geht«, meldete sich Miss Gettis zu Wort und strich sich über das graue Haar, das sie hochgesteckt hatte. »Manchmal tun Menschen etwas, was ihr Umfeld völlig überrascht. Mein Cousin zum Beispiel hat nach einer langjährigen Karriere als Unternehmer alles hingeworfen und sich fürs Priesterseminar angemeldet. Heute ist er als Geistlicher tätig. Was ich damit sagen möchte: Vielleicht hat Mr Holbrooks angesichts seiner Erkrankung seinen Kummer und Schmerz vor aller Welt verborgen und sich an einem Abend, an dem er sich sicher sein konnte, dass er allein war, das Leben genommen. Auch wenn das für seine Angehörigen und Freunde natürlich sehr schmerzhaft ist.«

»Wenn es so wäre, würde es allem widersprechen, was Nellie mir je über ihren Vater erzählt hat«, entgegnete Theodor.

»Nun, es war nur ein Gedanke«, räumte die ältere Dame mit einem höflichen Lächeln ein. »Ich kannte Mr Holbrooks nicht und maße mir natürlich nicht an, seinen Charakter beurteilen zu können.«

»Ich werde mit Mrs Holbrooks sprechen«, sagte Mabel. Sie wandte sich an Theodor. »Wir wollten uns ohnehin treffen, immerhin bist du ja mit ihrer Tochter verlobt. Ich hatte sie zu meinem Geburtstag eingeladen, aber sie hat mir abgesagt, was ich angesichts der Umstände mehr als verstehen kann.« Die Ärmste wusste nach diesem unerwarteten Todesfall mit Sicherheit kaum, wo ihr der Kopf stand.

Schließlich wandte sich Mabel unverfänglicheren Themen zu und Miss Clover steuerte eine lustige Anekdote bei, die sie alle zum Lachen brachte. Auch die kleine Emma fiel quietschend mit ein, obwohl sie sicherlich nicht begriff, wovon die Rede war.

Nach dem Essen packte Mabel im Beisein ihrer Gäste die Geschenke aus. »Oh, wie schön!«, rief sie aus und wandte sich an ihre Nachbarinnen. Bewundernd strich sie über die mit zarten Blumen bestickte, sorgfältig zusammengefaltete Tischdecke.

»Wir haben sie gemeinsam für Sie hergestellt«, sagte Miss Gettis. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Es freut mich, dass sie Ihnen gefällt«, ergänzte Miss Clover.

Von Adelia und Gabriel erhielt Mabel eine Ausgabe des Literaturmagazins »All the Year Round«. Seit dem Tod des Herausgebers Charles Dickens kümmerte sich dessen Sohn darum, der ebenfalls Charles hieß. »Ach, das freut mich aber, ich lese so gern Literaturmagazine. Sie sind ja auch eine günstige Alternative zu den teuren, gebundenen Büchern.« Sie umarmte ihre Tochter und nickte ihrem Schwiegersohn zu. Dann wandte sie sich an die beiden älteren Damen. »Miss Gettis, Miss Clover, wenn Sie mögen, leihe ich Ihnen das Magazin aus, nachdem ich es gelesen habe.«

Sie hatte schon öfter Magazine und auch Bücher an ihre Nachbarinnen verliehen, die damit pfleglich umgingen.

Miss Clover lächelte. »Das würde uns sehr freuen, nicht wahr, Victoria?«

Zu späterer Stunde ließ sie es sich nicht nehmen, ein Geburtstagsständchen anzustimmen, in das alle Anwesenden bis auf Mabel mit einfielen.

»Was für ein schöner Tag!«, sagte Mabel zu Clarence, nachdem ihre Gäste gegangen waren. Sie ließ die Kerzen im Halter noch ein wenig brennen. »Ich habe unsere kleine Feier sehr genossen. Allerdings habe ich auch ein schlechtes Gewissen, wegen Mrs Holbrooks und ihres betrüblichen Verlusts.«

»Du bist ja nicht in Trauer, Liebes. Warum solltest du also ein schlechtes Gewissen haben? Geburtstage sind doch im Grunde genommen immer ein Anlass zur Freude.«

»Ja, schon. Du hast natürlich recht. Es war auch nur ein Gedanke.«

Er umarmte sie und tätschelte ihren Rücken. »Und das ehrt dich, Liebes – dass du auch an Mrs Holbrooks und Nellie und an deren Trauer denkst. Ich finde aber, das ist kein Grund, dir im Nachhinein deinen Geburtstag zu verleiden.«

»Wie du meinst.« Sie nickte. »Was wünschst du dir eigentlich zum Geburtstag?«

Er lachte. »Aber der ist doch erst im September.«

Mabel grinste. »Mehr Zeit für mich, ein Geschenk zu finden.«

»Ich werde mir mal Gedanken darüber machen«, erwiderte er lachend. Das Licht der brennenden Kerzen tanzte in seinen dunklen Augen, als Clarence sich vorbeugte und sie küsste.

In Vino Veritas

Подняться наверх