Читать книгу Tierkommunikation mit Gänsehaut - Amelia Kinkade - Страница 15
Treten Sie durch das Tor zu den Sternen
ОглавлениеHaben wir Menschen so große Angst vor den gefährlichsten Raubkatzen der Welt, die zugleich die herrlichsten und bewundernswertesten Geschöpfe sind, dass ihre Gegenwart alle Ängste und Unsicherheiten der Menschheit zum Vorschein bringt? Werden wir die gesamte Spezies ausrotten, weil wir sie so geringschätzen? Auf einer tiefen Ebene weiß der Mensch, dass Tiger mächtig sind und dass die „Tigermedizin“ eine Rolle im menschlichen Bewusstsein spielen sollte. Doch mir gefällt meine eigene Tigermedizin besser - es ist eine, die diese verspielten Kreaturen, die das Recht auf Gesundheit, Glück und Freiheit haben, ehrt und schützt. Und ich bin sicher, meine Tante Rue wäre ganz meiner Meinung.
Die Herausforderung für uns Menschen bleibt, den Tigern zu helfen, immun gegen menschliche Tyrannei, Dummheit und Zerstörungswahn zu werden. Ich hatte so viele Fragen, auf die ich Antworten brauchte, dass ich mir Tag und Nacht den Kopf darüber zerbrach.
Um den richtigen Partner für eine Befragung zu finden, flog ich nach Johannesburg. Ich ging heute Vormittag von meiner Frühstückspension in den Zoo von Johannesburg, um herauszufinden, ob die Tiger dort mir sagen konnten, was sie den Menschen mitteilen wollen. Zu meiner Enttäuschung fand ich keine der Wildkatzen im Gehege vor. Doch dann sah ich, wie ein Tiger durch eine Tür in einen hölzernen Käfig verschwand. Zum Glück befindet sich im Untergrund ein Raum, von dem aus man die Tiger beobachten kann. Dort setzte ich mich hin und wartete geduldig, bis die Tigerin sich mir zeigte. Als sie endlich auftauchte, freute ich mich riesig.
Ich muss zugeben, dass ich meine Gedanken auf dem langen Fußmarsch zum Zoo schon vorausgeschickt hatte. Und dass schon beim Betreten des Zoos eine bizarre Änderung in meiner Wahrnehmung stattfand.
In meiner Wohltätigkeitsorganisation Ark Angel arbeite ich mit afrikanischen Kindern vor Ort zusammen. Dazu besuche ich Schulen in den ländlichen Gegenden Afrikas und spreche mit den Kindern über Wildtiere und ihre Gefühle, damit die Kinder nicht zu Wilderern heranwachsen. Der illegale chinesische Tigerhandel zu „medizinischen Zwecken“ ist so grauenhaft außer Kontrolle geraten, dass heutzutage sogar Löwen - meist in Gefangenschaft gezüchtete und mit der Flasche aufgezogene Tiere, die friedlich sind - hier in Afrika getötet werden und ihre Knochen als Tigerknochen verhökert werden. Wenn die Kinder über die Gedanken, Gefühle, Beziehungen und Rechte von Löwen und Elefanten aufgeklärt werden, wird dadurch ihr Bewusstsein des ansteigenden illegalen Handels mit Wildtieren indirekt geschärft. Ich liebe diese Arbeit an den Schulen mehr als alles andere, und das Zusammensein mit diesen verarmten Kindern erfüllt mich auf eine Weise, die sich mit Worten nicht er-klären lässt. Sie steht gleich hinter dem Glücksgefühl, das mich überkommt, wenn ich mit den Wildtieren selbst allein bin.
Diese aufgeweckten Kinder mit ihren strahlenden Augen haben einen besonderen Platz in meinem Herzen. Doch als ich den Zoo betrat und von einer Horde kreischender kleiner Afrikaner in Schuluniform begrüßt wurde, hatte ich ein mir bisher völlig fremdes Gefühl. Mir wurde klar, dass ich sie aus einer mir fremden Perspektive heraus ansah - so als wären sie total unausstehlich. In diesem Moment sah ich zwei Löwen, die versuchten, im Freien zu schlafen. Sie waren von drei Gruppen Schulkindern umzingelt, die mit ohrenbetäubendem, schrillem Lärm im Zoo umherwuselten. Da wurde mir bewusst, dass ich die normale menschliche Realität hinter mir gelassen hatte und schon die Sichtweise der großen Katzen angenommen hatte.
Ich bin eine starke Befürworterin des Johannesburger Zoos und habe sogar Carte Blanche, Afrikas kritischsten Nachrichtensender, in diesen Zoo geholt, als der Sender eine Doku über meine Arbeit machte. Für die Reportage nahm ich ein paar afrikanische Kinder mit auf meine telepathische Tour durch den Zoo, damit Carte Blanche die Kinder dabei filmen konnte, wie sie lernten, mit den Tieren zu „sprechen“. Während der Dreharbeiten sprach ich nicht mit den Tigern und war ihnen auch noch nicht begegnet.
Während des Drehs sprach ich mit einer Orang-Utan-Dame, der ihr neuer Partner nicht gefiel, über ihre Probleme und tröstete einen alternden Eisbär, der seine große Liebe verloren hatte. Noch tragischer war das posttraumatische Stresssyndrom eines verwaisten Rhinozeros-Babys, das immer noch offene Schusswunden in der Brust hatte. Es hatte mitansehen müssen, wie seine ganze Familie und Gemeinschaft von chinesischen Wilderern getötet worden war, bevor der Johannesburger Zoo es per Hubschrauber in Sicherheit brachte. Ich versuchte mit all meiner Macht, ihm Gefühle der Ruhe, des Friedens und der Sicherheit zu vermitteln, obwohl es nach dem Massaker in der Hölle noch schwer traumatisiert war.
Unbeschwerter war die erstaunliche Tierkommunikation der Kinder mit einer verwaisten jungen Giraffe. Die kleine Giraffe schmiegte sich an ein Muttertier, doch auch wenn es nach allen Regeln der Logik so aussah, als wäre die erwachsene Giraffe seine leibliche Mutter, war meine Truppe kleiner Fachleute der Meinung, dass die Giraffendame nicht die Mutter, sondern die Tante des Kleinen war! Als ich die Kinder fragte, wo seine Mutter sei, sagte eines von ihnen: „Die läuft frei im Dschungel herum.“ Ein anderes Kind meinte: „Sie ist tot.“ Was für eine vollkommene Beschreibung des Giraffenhimmels ist „frei im Dschungel“! Wie der Pfleger uns bestätigte, war die erwachsene Giraffe tatsächlich die Tante des Babys und nicht seine Mutter, die vor kurzem gestorben war. Die Kinder hatten diese Information nicht zuvor erhalten. Sie hatten sich auf das Giraffenbaby eingestellt und die Visionen und Gefühle des Tiers durch ihre eigenen angeborenen Antennen empfangen - eine Intuition, die noch nicht durch Scham, dem Gefühl der Lächerlichkeit und der „Vernunft“ der Erwachsenen eingedämmt war.
Daher kannte ich zwar schon die Giraffen, das Rhinozeros, die Löwen und die Orang-Utan-Affen in diesem Zoo, doch ich wusste nicht, wie viele Tiger hier lebten, da ich noch nie mit ihnen gearbeitet hatte.
Mein letzter Besuch in diesem Zoo lag schon ein paar Jahre zurück. Daher fühlte ich mich geehrt, als die Tigerin sich zu einem Treffen mit mir bereiterklärte. Als ich sie fragte, ob sie einen Partner habe, erzählte sie mir, sie habe einen großen Mann, der in seinem Versteck schlafe. Ich saß eine geschlagene Stunde vor der Glasscheibe, doch ich bekam ihn nicht zu Gesicht. Sie kam immer wieder in das Gehege hinter der Scheibe und verschwand dann wieder, wenn hinter mir Besucher mit schreienden Kleinkindern auftauchten. Ich ließ die Kinder und sogar die lauten Erwachsenen verstummen, indem ich mir den Finger auf den Mund legte und sagte: „Psst! Wir müssen still sein! Wenn ihr laut schreit, rennen sie weg.“ Es funktionierte erstaunlich gut. Die Kinder waren still, und die Erwachsenen schubsten sich wortlos gegenseitig aus dem Weg, um den Tiger mit dem Handy zu fotografieren.
Irgendwann verschwand die Menschenmenge, und wie in einem Traum war ich fast eine Stunde lang allein mit ihr, ohne Störungen, so still und friedlich, als wäre der Zoo geschlossen und ich der einzige Mensch in diesem Tigerhaus. Ich fragte die Tigerin, was ich Ihnen in diesem Buch von ihr mitteilen sollte. Sie antwortete jedoch nicht. Stattdessen tigerte sie nur aus ihrer Betonzelle heraus und hinein, immer wieder, so als hätte sie den Verstand verloren. Schließlich sang ich ihr ein Liebeslied vor. Sie blieb stehen und urinierte an die Glaswand. Das Geräusch, das Tiger machen, wenn sie glücklich sind und wenn sie einen anderen geliebten Tiger (oder Menschen) begrüßen, ist ein Zwischenton zwischen Brüllen und Schnurren. Ich grüßte sie auf diese Weise. Sie grüßte zurück.
Auf diese Weise entstand eine Art Beziehung zwischen uns, die sich jedoch auf einer so feinen Energieebene abspielte, dass sie wortlos blieb. Ich fragte immer wieder: „Was soll ich schreiben?“ Ich flehte sie an, mir zu sagen, was sie den Menschen mitteilen wollte, doch wir begegneten uns in einer Dimension, in der Worte nicht existieren, vielleicht, weil sie auf dieser Ebene überflüssig sind. Das Gefühl der Liebe geht so tief, dass es über das Bedürfnis, irgendetwas zu benennen oder zu beschreiben, hinausgeht. Schließlich kletterte sie auf einen Tisch hinter der Glasscheibe, legte sich hin und leckte sich genüsslich die Pfoten. Ich sang leise: „Ich weiß, Baby, ich weiß ... ich weiß, wie sehr ich dich lieben könnte ...“ Sie bedachte mich mit entzückenden Blicken und klimperte mit den Wimpern. Dann verdrehte sie den Kopf. Es passierte zwar etwas zwischen uns, aber sie gab mir keine Antworten auf meine Fragen. Niedergeschlagen wollte ich gehen. Ich verabschiedete mich von ihr und drehte dem Gehege den Rücken zu, um wieder den Hügel hinaufzugehen. Doch irgendwas ließ mich innehalten. Ich blieb bei einem Geländer stehen und schaute zum Gehege zurück. Dort war nur wenige Meter vor mir eine zweite Tigerin aufgetaucht, die mich intensiv ansah. Ich fing an, ihr das Liebeslied vorzusingen. „Ich weiß, Baby, ich weiß ... ich weiß, wie sehr ich dich lieben könnte ...“ Dann sagte ich ihr, dass ich unbedingt dieses Buch schreiben müsste und nicht wüsste, wie ich die ganze Tragödie auf informative Weise - geschweige denn in einem positiven Licht - herüberbringen sollte. Ich fragte sie, ob sie die Notlage ihrer Artgenossen kennen würde und ob sie wüsste, dass Tiger auf der Erde schon fast ausgerottet seien.
„Klar weiß ich das, Amelia“, sagte sie. Ich staunte darüber, dass sie meinen Namen kannte. „Aber sie können uns nicht töten.“
„Was meinst du damit? Genau das tun sie doch!!“
„Sie können zwar unseren Körper töten, aber nicht unsere Seele. Wir können zwar den Planeten verlassen, so dass kein Tigerkörper mehr auf der Erde lebt. Aber Tiger wird es immer geben. Tiger kann man nicht zerstören. Wir sind überall. Die Tigerseele ist unzerstörbar.“
Mir kam eine Offenbarung, die sich nur schwer beschreiben lässt, und es ist ziemlich unverfroren von mir, sie gleich im ersten Kapitel dieses Buches zu präsentieren. Doch sie erinnerte mich an meine letzte Unterhaltung dieser Größenordnung mit einem anderen König des Dschungels - und damit meine ich nicht etwa John Varty, den berühmten und kontroversen Wildkatzenschützer, den ich den Großteil meines Lebens über Fernsehberichte verfolgt habe. Nein, ich meine einen seiner Tiger.
Letztes Jahr hatte ich einen Tiger namens Corbett kennengelernt, der John zerfetzt hatte und fast getötet hätte. Auf Johns Bitte hin, Corbett zu „lesen“, nachdem der Tiger ihn auf die Intensivstation gebracht hatte, wo er beinahe gestorben wäre, flog ich nach Tiger Canyons, John Vartys Tigerschutzgebiet in Afrikas Free State. John schickte mir von der Intensivstation aus eine E-Mail, in der er mich bat, mit Corbett zu sprechen, obwohl John und ich noch nie miteinander telefoniert oder uns persönlich kennengelernt hatten. Damals schwebte Corbett in Lebensgefahr, weil John den Rest der Welt fragte - sie geradezu herausforderte -, ob er Corbett nach dem Angriff einschläfern lassen sollte oder nicht. Ich flehte John an, Corbett am Leben zu lassen, und klinkte mich bei Corbett ein, um seine Sichtweise der Geschichte zu erfahren.
Was geschah, als ich Corbett begegnete, war etwas so Verzauberndes, dass ich es noch nicht einmal John erzählen konnte. Nach einem weltweiten Aufschrei zugunsten des Tigers beschloss John, Corbett am Leben zu lassen. Daher flog ich in die Tiger Canyons, um von Angesicht zu pelzigem Angesicht mit Corbett zu sprechen.
Wie Corbett mir sagte, habe er John deswegen angegriffen, weil dieser es verdient habe. Diese Aussage zweifle ich keine Sekunde an. Da ich etwas Zeit mit John verbracht hatte, wusste ich, was der Tiger meinte. John ist die Art von Mensch, die man am liebsten hassen würde, aber trotzdem mag. Das war mir nichts Neues, doch was Corbett mir sonst noch mitteilte, waren mystische, metaphysische Weisheiten, die so neu waren, dass sie meine Sichtweise über Tiger und alle irdische Realität für immer veränderten.
Hoch oben auf dem Berg, der in den feuerroten Sonnenuntergang Afrikas eingetaucht war, erblickte ich den wilden, wütenden Tiger, der als gefährlich und unberechenbar galt. Er ist dominant und sehr groß. Daher wirkte sein sphinxartiges Profil auf einem hohen Felsen in der Ferne so majestätisch, dass mir vor Ehrfurcht fast das Herz stehenblieb. Ich bat ihn, zu mir herunterzukommen, und er kam.
Wenn ein wilder Tiger sich mir nähert, um mit mir zu sprechen, ist das Gefühl für mich irgendwo zwischen einem Orgasmus und einem Gebet. Ich spüre eine innere Symphonie der Freude, die in mir aufsteigt und jede Zelle meines Körpers durchdringt. Es ist, als würde jedes Teilchen meines Körpers anfangen zu singen. Als der Tiger sich von seinem Thron oben auf dem Felsen heruntergeschlichen hatte, sagte ich zu ihm: „Ich liebe dich. Ich liebe alles an dir, deine Wildheit, deine Sanftheit, deine Fähigkeit, dich durch den Zaun hindurch sanft an meiner Wange zu reiben.“
Oh Mann, wie auch er sich danach sehnte, seine Wange an meiner zu reiben! Hat er versucht, mich zu töten? Nein. Aber ich brachte ihm etwas entgegen, was er von niemandem sonst bekam: Respekt. Ich verehrte den Gott in ihm, den heiligen Geist, der durch ihn hindurch strahlt, seine Fähigkeit, sein Bedürfnis und sein Recht, ein Individuum mit Gefühlen zu sein, das auch Wut empfindet, das Temperament hat, genauso wie sein menschlicher Vater ... doch das ist eine andere Geschichte.
Ich sagte zu diesem gefährlichen Tiger: „Ich liebe dich. Ich verehre dich. Ich verstehe dich. Ich finde dich toll. Ich finde alles an dir toll. Ich bleibe an deiner Seite, ganz egal, was die Menschen denken. John wird dich nicht töten. Dazu müsste er zuerst mich töten. Ist mit dir alles in Ordnung?“
Aus seinem Grrrr wurde eine zärtliche Tigerbegrüßung. Das Ungeheuer verschwand, und an seine Stelle trat ein dreihundert Kilo schweres schnurrendes, lächelndes, unwiderstehlich warmes und verschmustes Wesen mit kürbisgelben Streifen. Plötzlich geriet ich in einen anderen Bewusstseinszustand, und in dieser Trance bewegten wir uns. Die Welt um mich herum verschwand und alles, was ich jemals gekannt hatte, fiel in sich zusammen. Ich befand mich in einem Wurmloch. In einer Welt des sich drehenden Klangs, der blendenden Farben, in der Liebe mich auf eine Reise schickte, auf der Zeit und Raum explodierten.
Die Tatsache, dass dieser scheue Tiger - der auf die Menschheit wütend war - von seinem Rückzugsort hoch oben auf der Bergkuppe heruntergerannt kam, als ich ihn rief, und der mir nun zu Füßen lag, war schon verzaubert genug, doch als ich ihn nun betrachtete, wurde mir so schwindlig, dass mir die Knie weich wurden. Er schien mich auf eine nie gekannte Weise in sich hineinziehen zu können, und ich befürchtete, dass mein Körper ganz verschwinden würde, wenn ich der Versuchung nachgab. Ich versuchte, das Gleichgewicht zu behalten und mich aus diesem interdimensionalen Strudel herauszuziehen.
Wir unterhielten uns über alltägliche Dinge und dass er sich ein größeres Gehege wünschte und sich nach einer Gefährtin sehnte. Als ich John diese Bitte vortrug, befürchtete er, dass dieser Tiger - seine gefährlichste und unvorhersehbarste Wildkatze - eine Artgenossin zerreißen würde. Corbett versprach mir jedoch, einer Partnerin kein Haar zu krümmen.
Ich konnte mich für Corbetts Leben und seine Würde einsetzen und seine Bedürfnisse John übermitteln, was ehrlich gesagt das größte Wunder war - nicht meine Übersetzung von Corbetts Wünschen, sondern die Tatsache, dass John darauf hörte. Mein Besuch wurde später im selben Jahr davon gekrönt, dass John Corbett eine Freundin und ein größeres Gehege verschaffte. Während ich dies niederschreibe, ist Corbett ein überaus glücklicher Tiger.
Diese Meister der Illusion sind die Zaubergeister des Universums, wie ich noch herausfinden würde. Während ich vor der Tigerin stand und wie in Trance dieses Gespräch aus einer anderen Welt mit ihr führte, mich in einem Strudel aus unbeschreiblicher Liebe drehte und mich in einer Matrix aus gefrorenem Licht auflöste, zerstörte das schrille Geschrei einer Touristin plötzlich den heiligen Zauber.
„Wo ist denn jetzt der Tiger?!“, kreischte eine schreckliche weibliche Stimme.
„Ich seh keinen!“, polterte eine männliche Stimme.
„Aber ich will den Tiiiger sehen!“, beharrte die blecherne Gänsestimme.
Auch wenn ich direkt vor der Tigerin stand und ganz schön in die Breite gegangen war, da ich auf dieser Tour zu viel gegessen hatte, war ich mit Sicherheit nicht dick genug, um den Blick einer gaffenden Touristin, die über meine Schulter lehnte, auf die riesengroße sibirische Tigerin zu versperren. Daher schickte ich diesen Gedanken an die Wildkatze: „Kannst du die Leute verschwinden lassen?“
Und dann geschah das Wunder. Plötzlich flackerte ein orangerotes Feuer auf. Atemlos und in den Augen der anderen versunken, vertieften wir beide uns noch tiefer in unseren hypnotischen Tagtraum. Außerhalb von Zeit und Raum versanken wir in Liebe. Wir befanden uns für alle Ewigkeit an einem Ort, an dem nichts und niemand sonst existierte. Die Tigerin zog mich immer tiefer in diesen leeren Raum hinein. Die nervige Stimme plapperte immer weiter: „Wo sind denn jetzt die Tiger? Gibt’s in diesem Gehege denn keine Tiger?“
Die Stimme tönte in meinem Ohr. Die Frau blickte direkt auf die Tigerin. Die Stimme des Mannes dröhnte in meinem anderen Ohr: „Ich seh auch keinen!“ Er schaute über meine andere Schulter direkt auf die Wildkatze. Schließlich stellte er fest: „Die scheinen sich zu verstecken. Ich kann hier keine Tiger sehen.“
Irgendwann schlurften die beiden wieder den Hügel hinter mir herunter. Die ganze Zeit über hatte ich der Tigerin vor mir in die Augen gesehen. Wir hatten uns in einer Zeitfalte verloren. Ich spürte, wie sich etwas ganz leicht veränderte, und holte tief Luft. Wir waren wieder da.
„Wir sind die ultimative Realität“, sagte sie.
„Was ist die Realität? Meinst du das Wesen des Tigers? Seid ihr das stärkste Wesen im ewigen Kosmos?“
„Wir sind die Stärke an sich. Kein Mensch kann Stärke zerstören. Er kann nur versuchen, uns zu überwältigen. Aber wir existieren. Wir werden immer existieren.“
„Hör zu! Ich versuche, ein Buch darüber zu schreiben, wie wir euch retten können, und muss gegen Wissenschaftler ankämpfen, die das hier alles für Quatsch halten! Was soll ich schreiben? Und alle meine Leser wollen euch retten, und ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll! Ich komme mir schon blöd genug vor, und jetzt lässt du mich auch noch wie einen Idioten aussehen? Ich kann ihnen doch nicht sagen, ihr würdet herumphilosophieren und interdimensionales Verstecken spielen! Ich möchte ein ernstzunehmendes Buch über Tierkommunikation schreiben und nicht die nächste Episode von Star Wars!“
„Du musst das große Ganze betrachten“, sagte sie. Plötzlich hatte ich eine Vision, wie Jesus aus dem Grab aufsteigt. Die Menschen töteten zwar seinen Körper, doch niemand konnte seinen Geist töten. Das Bewusstsein Jesu lässt sich nicht töten. Und offensichtlich lässt sich das Bewusstsein der Tiger auch nicht zerstören.
„Das kann ich den Menschen, die euch lieben, doch nicht erzählen! Wir alle wissen, dass ihr bald aussterben werdet. Und die wenigen Tiger, die noch übrig sind, leben schon in Käfigen!“
„Wenn ich es dir erklären würde, würdest du es trotzdem nicht verstehen. Ich bin nicht die Einzige, die in einem Käfig steckt, Amelia.“ Sie zeigte mir eine Szene aus meinem Leben in Los Angeles, wie ich mich durch den Betondschungel kämpfte, mich im Käfig eines kleinen metallenen Autos durch die Straßen quälte, während alle Fahrer in ihre Burgen - ihre überteuerten Häuser - zurückfuhren, die sie vor anderen Menschen schützten und die die Wildtiere völlig ausschlossen.
„Die Menschen sitzen in Käfigen“, sagte sie. „Sie bauen sich und anderen gerne Käfige.“
Wieder kam mir die Vision von Smog, Stahl, Luftverschmutzung, abgeholzten Wäldern. Sie führte zu einer zweiten, virtuellen Realität, in der die Menschen in ihren Smartphones und Fernsehern leben, statt draußen im Freien zusammen mit den Tieren, die sie brauchen.
„Wir sterben nicht aus, aber ihr“, sagte sie.
Daraufhin hatte ich die Vision, in der die Menschheit, wie wir sie kennen, ausstirbt, während sich ein paar hart arbeitende Menschen in etwas Schöneres, Höherentwickeltes verwandelten. Nicht alle Menschen werden die Verwandlung von der Raupe in den Schmetterling schaffen, doch viele von ihnen sind schon dabei. Auf der anderen Seite sind Tiger eine absolute Wahrheit der Schöpfung. Sie sind schon in jeder Hinsicht vollkommen. Daher müssen sie sich spirituell nicht mehr weiterentwickeln. Wir sind die kleinen Raupen, die die Verwandlung anstreben, die zu Schmetterlingen werden müssen.
Über diese Mysterien wollte ich auf meinem langen Rückweg zur Frühstückspension nachdenken. Also dankte ich der Tigerin, sang ihr noch ein letztes Liebeslied und blinzelte ihr zum Abschied zu. Doch als ich mich umdrehen wollte, sagte sie: „Geh auf die andere Seite des Geheges und schau durchs Fenster. Er wartet dort auf dich und will dir auf Wiedersehen sagen.“ Ich befolgte ihren Rat und ging den Hügel hinunter auf die andere Seite des Geheges. Bei seinem Anblick geriet ich vor Begeisterung ins Stolpern und wäre fast hingefallen. Am Fenster wartete ein riesiger sibirischer Tiger auf mich, der fast schon die Schnauze an die Glasscheibe drückte. Sein massiver Kopf füllte das ganze Fenster aus.
Dieser Tiger hatte eine ganz andere Persönlichkeit als die Tigerin, die mich fast bedrohlich angestarrt hatte. Er war ein unwiderstehliches, dreihundert Kilo schweres Geschöpf, und alles, was ich mir wünschte, war, zu ihm ins Gehege zu gehen, um ihn zu umarmen und seine karamellfarbene Riesenschnauze abzuknutschen. Sibirische Tiger sehen aus wie tibetanische Mönche, und manche von ihnen haben auch eine ganz ähnliche Persönlichkeit. Ich blinzelte dem prächtigen Tiger zu, und er blinzelte zurück. Dann erklärte ich, dass ich da war, um ihn kennenzulernen, weil ich an einem Kapitel über Tiger schrieb und seine Sicht des gefährdeten Status der Tiger hören wollte, da die Menschen schon fast alle Tiger auf der Erde ausgerottet haben und sie in wenigen Jahren ausgestorben sein werden.
„Ich weiß!“, sagte er. Ich bereitete mich auf ein weiteres Verschwinden wie von Zauberhand oder irgendeinen neuen übersinnlichen Akt vor. Doch er stand nur keuchend und grinsend da. Dann bedachte er mich mit dem schnurrenden Brüllen, das die Begrüßung nach Tigermanier ist. Was für ein Charmeur!
Ich hielt den Atem an. „Hast du eine Botschaft für die Menschheit?“, fragte ich verzweifelt.
„Ja, hab ich“, sagte er. Er drehte sich um und streckte mir sein enormes pelziges Hinterteil entgegen.
„Sag den Menschen, sie können mich mal!“
Das war die Botschaft des Königs des Dschungels! Und leider muss ich ihm voll und ganz zustimmen. Ich habe jedoch eine bessere Idee: Lassen Sie uns damit anfangen, die Kinder in China zu schulen, damit ihre Generation, die Generation ihrer Kinder und deren Kinder lernen, Tiger zu schätzen und eine gefährdete Tierart in all ihren prächtigen Formen zu schützen.