Читать книгу Und Alles macht Nichts, wenn wir tanzen - Amina Stern - Страница 6
Kapitel 2: Alles neu
ОглавлениеMannheim, Oktober 2016
Es brummt. Nervös greife ich nach meinem Handy, das sich in meiner Hosentasche befindet. Als ob ich nicht schon genug im Stress bin, kommen wie gerufen die beiden Nachrichten.
Die erste ist von meiner Mutter: „Amina, meld‘ dich mal! Von dir hört man ja gar nichts mehr!“ und dahinter eins von diesen blöden Herz-Emojis, die sie immer zu ans Ende jeder Nachricht klatscht. Ich hasse sie – diese Herz-Emojis. Es ist nicht so, dass ich prinzipiell was gegen sie habe. Aber wenn meine Mutter sie mir schickt, mag ich sie nicht. Wir streiten uns ständig. Keiner versteht den anderen.
Ich bin wütend auf meine Mutter und will auf keinen Fall so werden wie sie. Warum genau? Nun ja: das weiß ich selbst nicht so recht.
Schon seit ich 14 Jahre alt bin, zanken wir uns regelmäßig. Damals ist sie völlig überfordert mit unserer Situation gewesen. Mein leiblicher Vater fuhr früher jeden Abend betrunken von der Arbeit zurück nach Hause. Dadurch kam es ständig zu heftigen Konflikten zwischen den beiden. Nachdem sie sich dann endlich von ihm hat scheiden lassen, stand sie als alleinerziehende Mutter von jetzt auf gleich allein mit allem da. Überfordert mit meiner jüngeren Schwester Bella und mir, verkroch sie sich jeden Tag in ihr Arbeitszimmer und verbrachte dort stundenlang vor ihrem Laptop. Kochen, aufräumen, ein gewöhnlicher Alltag, waren einfach nicht mehr drin, denn dafür fehlte ihr jegliche Energie. Ständig gab es damals Streit wegen Haushalt und Unordnung. Meine Mutter, meine Schwester und ich – wir glichen zu diesem Zeitpunkt einem einzigen Haufen an Chaos. Konflikte standen an der Tagesordnung. Wir warfen uns gegenseitig die gröbsten Beleidigungen an den Kopf. „Ich hasse dich!“ ist das Schlimmste, was ich je zu ihr gesagt habe.
Ich antworte also nicht auf ihre Nachricht. Weder schriftlich noch telefonisch.
Die zweite Nachricht setzt noch eins obendrauf. Ein einfaches „Hey“ von Quentin. Einfach nur ein „Hey“.
Es ist nicht so, dass ich ihn nicht mag. Ich kann ihn echt gut leiden. Aber es ist kompliziert. Man muss sich oft genug bei ihm melden, aber auch nicht zu oft und auch nur zum richtigen Zeitpunkt. Aber wann ist der richtige Zeitpunkt? Das weiß man bei Quentin nie. Ich vermute, dass er das nicht einmal selbst genau weiß. Wenn er allein ist, will er jemanden bei sich wissen und wenn er unter Menschen ist, fühlt er sich alleine. Wenn ich es ihm recht mache, hat er etwas dagegen und wenn ich mich um mich selbst kümmere, fühlt er sich vernachlässigt. Kompliziert eben. Denn er ist mein bester Freund. Wir sitzen aufeinander. Rund um die Uhr. Ich schätze außerdem seine Art und Weise, wie er spricht und was er zu sagen hat. Wir interessieren uns beide für die Musik und quatschen über dieselben Themen. Zusammen Gitarre spielen und singen und danach abends gemeinsam Pizza essen gehen ist eine klassische Amina-Quentin-Aktion.
Freundschaft ist mir wichtig. Was soll man ohne Freunde tun? Was hat das Leben ohne Freunde für einen Sinn? Aber einen Haken hat unsere Freundschaft meistens: Quentin ist nicht der einzige Mensch auf Erden, dem es mal schlecht geht. Er verhält sich jedoch oft so, als ob das der Fall wäre. Und auch diese Nachricht verstaubt deshalb in meinem Chatverlauf.
Ich bekomme seit Monaten nicht ausreichend Schlaf. Die Gedanken kreisen wie wild in meinem Kopf. Ich habe das Gefühl, dass es kein Ende findet. Und dann muss ich mich auch noch um Quentin kümmern, dem man es nie recht machen kann. Der nie mal „Danke“ sagt.
Morgen wird er mich wie geplant hier in Mannheim besuchen kommen. Ich schwanke zwischen Vorfreude und Lustlosigkeit.
Um mich abzulenken, habe ich heute Abend aber noch etwas anderes vor, denn es ist Herbst und Halloween steht vor der Tür. Als frisch gebackene Studentin bleibt einmal wohl gar nichts anderes übrig, als auf eine Party zu gehen. Jeder will plötzlich neue Leute kennenlernen. Jeder will ein Leben neben dem Studium in dieser neuen Stadt Mannheim.
Ich bin erschöpft. Zu wenig Schlaf. Aber irgendwie raffe ich mich doch noch zu allem auf: Uni. Partys. Freunde treffen. So tun, als wäre alles normal.
Die Musik dröhnt laut aus den Boxen, während wir den Raum betreten. Eminem gibt seinen super abgemischten und produzierten Flow in „The real slim shady“ zum Besten. Die Studenten tanzen ekstatisch. Ich drängele mich mit Klara durch die verworrene Menge aus bunt zusammengewürfelt kostümierten Menschen und weiche einigen Ellbogen haarscharf aus. Diese gehören Skeletten, Vampiren, Hexen und Gespenstern. Überall Studenten unter Gesichtsfarbe. In der hektischen Partybeleuchtung sehen sie alle aus wie schrille Grimassen, die meiner Schulfreundin und mir entgegenzublicken scheinen, während wir durch die Menge streifen, um uns zum nächsten Bier-Pong-Tisch vorzukämpfen. Klara und ich fallen in der Menge besonders auf, denn wir sind nicht verkleidet. An dem Tisch angekommen, fordern wir zwei Spieler zu einem Bier-Pong-Match auf. Wir gewinnen an diesem Abend eins nach dem anderen.
Nach der Party begleite ich Klara bis zu ihrer Wohnung. Im Flur torkelt ein Junge in Skelettkostüm auf uns zu. Ich schließe mich ihm und seiner Jungs-Truppe an, denn ich habe keine Lust, nach Hause zu gehen und wieder nicht einschlafen zu können. Das wäre reine Zeitverschwendung.
Wir peilen eine Kneipe in der Innenstadt an. Auf dem Hinweg zieht einer der Jungs ein Tütchen Marihuana aus seiner Tasche. Die Stimmung wird immer heiterer und der Joint geht reihum. Jeder von ihnen zieht ein paar Mal daran – und ich ziehe mit. Mir geht es nun blendend. Die Straßenlaternen fangen an, um ihr Leben zu leuchten. Jede der Laternen will die sein, die die Dunkelheit am meisten erhellt. Ich sehe alles viel klarer als sonst – als ob jemand in einem Foto die Schärfe hochgefahren hätte.
Die anderen unterhalten sich angeregt, kichern zwischendurch, fangen wieder an zu reden. Mir schießen in der Zwischenzeit andere Gedanken durch den Kopf. Gedanken über meine Mutter und über Quentin. Um meine Sorgen zu verdrängen, ziehe ich noch einmal am Joint und steige wieder in die Gesprächsrunde mit ein. So sitzen wir hier bis der Morgen anbricht.
Ich komme völlig erledigt nach Hause und werfe mich auf mein Bett. Schlafen kann ich sowieso nicht – also mache ich mich bereits auf den Weg zum Bahnhof, um Quentin dort abzuholen. Ich schleppe mich zum Gleis und kurz darauf fährt auch schon der Zug in den Bahnhof ein. Total ausgelaugt starre ich mit leerem Blick in eine Ecke. Auf dem Boden überall Zigarettenstummel.
Quentin steigt nicht alleine aus. Er hat offensichtlich einen Bekannten von uns in der Bahn getroffen. Die beiden laufen den Gleis entlang auf mich zu. Sie mustern mich. Unser Bekannter bemerkt sofort, dass mit mir etwas nicht stimmt. Ich versuche, so gut es geht, dies vor den beiden zu verbergen. Vor allem vor Quentin. Er würde sauer auf mich sein, wenn er bemerkt, dass ich wegen meiner durchzechten Halloween-Nacht nicht fit genug bin, um mich mit ihm zu treffen. Nach einem kurzen Plausch mit den beiden, verabschiedet sich unser Bekannter von Quentin und mir. Daraufhin ziehen wir zu zweit los in die Stadt.
„Du siehst müde aus“, bemerkt Quentin vorwurfsvoll. „Ich war gestern noch etwas länger wach“, setze ich zögernd zum Erklären an, denn ich will ihm wirklich nicht auf die Nase binden, was ich letzte Nacht erlebt habe. Das registriert Quentin jedoch sofort. Es folgt ein Vorwurf nach dem anderen. „Es tut mir Leid“, antworte ich. Dass ich generell die letzten Monate große Probleme habe mit dem Einschlafen, verheimliche ich ihm. „Ich kann verstehen, dass du sauer bist. Kommt nicht wieder vor“, gebe ich klein bei.
Ich versuche weiterhin mit großer Anstrengung, Quentin die Großstadt zu zeigen, in der ich nun lebe. Am liebsten will ich mich wieder in mein Bett verkriechen, denn die vielen Autos, Straßenbahnen, Ampeln, Menschen und Geschäfte strengen mich an diesem Tag wahnsinnig an.
Wir streifen durch die Straßen und setzen uns schließlich in ein Café. Müde starre ich auf die Karte, die Kaffee für Kaffee auflistet. Ich habe starke Kopfschmerzen. Verschwommen wackeln die Buchstaben auf der Karte herum, die sich in meinen Händen befindet. Im Hintergrund höre ich Quentin quasseln. Ich nehme ihn am Rande wahr, bin jedoch nicht mehr dazu in der Lage, seinen Worten zu folgen.
„Amina!“, sagt er plötzlich etwas lauter und reißt mich aus meinem leeren Kopf wieder zurück in die Realität des Cafés. „Amina, bestellst du jetzt endlich oder wie lange willst du hier noch die Karte studieren?!“
„Tut mir Leid“, stottere ich erneut. Willkürlich wähle ich bei der Bedienung irgendeine Cappuccino-Sorte aus, die ganz vorn auf der ersten Seite abgebildet ist.
„Hörst du mir überhaupt zu? Hast du nicht gehört, was ich eben gesagt habe? Ich habe das Gefühl, du bist in letzter Zeit total genervt von mir!“, fährt Quentin wütend fort und will gerade aufstehen und gehen. Mit einem kurzen „Warte!“ kann ich ihn gerade noch davon abhalten. Ich muss mir eingestehen, dass möglicherweise etwas dran sein könnte, an dem was er sagt.
„Naja, du machst manchmal so, als ob du der einzige Mensch auf der Welt wärst, der Probleme hat“, spreche ich es ohne Umschweife aus. „Das nervt. Diese ständigen Depri-Gespräche – als ob sich die ganze Welt gegen dich verschworen hätte.“
Nun fühlt sich Quentin wieder unverstanden, das spüre ich. Ich weiß einfach nicht, wie ich ihm sonst noch klarmachen kann, was mich derart belastet.
„Ich kann das nicht mehr“, kommt es unerwartet aus meinem Mund.
„Was meinst du?“, fragt Quentin.
An diesem Punkt zerbricht rückblickend betrachtet die Freundschaft zwischen Quentin und mir. Jahrelang habe ich mir Quentins psychische Probleme geduldig angehört, aber nun sind meine Kräfte am Ende. Ich habe zu diesem Zeitpunkt selbst viele Themen, die ungeklärt sind und mich belasten. Kopf und Raum für meinen besten Freund fehlen. Jahrelang bin ich sein emotionaler Mülleimer gewesen. Ich habe mir all das Tag für Tag angehört, doch irgendwann kommt eben der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Und heute ist dieser Tag.
„Ich kann das nicht mehr. Mich zieht dein ständiger Weltschmerz runter. Das ist mir im Moment alles zu viel, tut mir Leid“, erwidere ich. Zitternd vor Verzweiflung, stehe ich auf und lasse Quentin allein im Café zurück.
Irgendwann im Laufe der Nacht erreiche ich Quentin endlich über das Handy, nachdem ich mehrere Male versucht habe, ihn anzurufen, da mich Schuldgefühle plagen.
„Es tut mir Leid!“, sage ich und entschuldige mich noch weitere Male bei ihm, so wie immer eben. Quentin schafft es wieder aufs Neue, allen anderen die Schuld für seine Negativität in die Schuhe zu schieben. Daher gehe ich ihm in letzter Zeit unbewusst aus dem Weg. Wahrscheinlich habe ich deshalb auch seinen Geburtstag „vergessen“.
Es kommt überraschend, aber in dieser Nacht vertraut sich Quentin mir das erste Mal wirklich an. Zuvor hat er Hilfe von mir nie zugelassen. Er hat zwar immer von seinen Problemen gesprochen, aber zu einer Lösung ist er nie bereitgewesen. Ewig hat er sich in seinem Selbstmitleid gesuhlt, statt etwas dagegen zu tun. Heute ist er das erste Mal ehrlich zu mir.
„Amina, ich weiß nicht wie ich dir das sagen soll“, setzt er unsicher zum Erklären an. „Ich…ich“, will er weitersprechen. „Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich fühle mich anders als andere Menschen. Ich habe massive Stimmungsschwankungen und Wutanfälle. Ich habe Angst, dass ich irgendwann jemanden körperlich verletze“, gibt er offen zu.
„Du musst dich jemandem anvertrauen“, rate ich ihm besorgt. „Nicht, dass du dir sonst irgendwann selbst wehtust, verstehst du?“
„Ich habe mir schon oft selbst wehgetan, denn ich hasse mich einfach. Mein Aussehen, meine Persönlichkeit, einfach alles an mir.“
Wir reden noch eine ganze Weile, bis Quentin irgendwann müde ist, sich verabschiedet und auflegt. Die ganze Nacht kreisen meine Gedanken um Quentin. Wie kann ich ihm nur helfen, frage ich mich verzweifelt. Zu einer Lösung komme ich jedoch nicht.