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Michael J. Awe

DER SELTSAMKEITSLADEN

Es war ein kleiner, unscheinbarer Laden in einer langen Nebenstraße, der auf den ersten Blick durch nichts weiter auffiel und den doch jeder in der Stadt kannte. Nur ein Außenstehender, der die unordentliche Schaufensterauslage ein wenig näher in Augenschein nahm, konnte in die Verlegenheit kommen, sich ein wenig hilflos nach einem Ladenschild umzusehen, das es nicht gab, um dann irritiert mit einem letzten Blick über die Schulter seiner Wege zu gehen.

Im Schaufenster dieses merkwürdigen Geschäftes befanden sich Puppen. Keine kunstvollen Marionetten, keine liebevoll handgefertigten Figuren für die Weihnachtskrippe und erst recht kein Kinderspielzeug, sondern schmucklose, menschengroße Kunstoffgestalten mit ziemlich gewöhnlicher Kleidung, die mal mehr, mal weniger neuwertig war und keinen besonderen Stil erkennen ließ. Ein Gedanke an einen Second-Hand-Laden zerstreute sich sofort, wenn man die unvorteilhafte Aufstellung und die fehlenden Preisschilder betrachtete; die Puppen standen nämlich in einem wilden Durcheinander auf der kleinen Schaufensterfläche und waren so dicht gedrängt, dass man die eine Puppe nur schwer von ihrem Nachbarn unterscheiden konnte. Wohin man auch blickte, es standen acht, neun und mehr Puppen hintereinander, sodass man nur die vorderen Reihen, die so nah an der Scheibe standen, dass ihre ausdruckslosen Gesichter schon die Scheibe berührten, deutlich erkennen konnte.

Auch der Mann, der jetzt vor dem Laden stehenblieb, konnte in dem Durcheinander wenig ausmachen, aber sein zerstreuter Blick bekam eine Spur von Traurigkeit und unruhig nestelte er an dem Kragen seines dünnen Mantels, ein kleiner Tick, den er sich nicht abgewöhnen konnte, trotz ständiger Ermahnung durch seine Frau, das in der Öffentlichkeit sein zu lassen. Der Mann war nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, sein Haar war ein wenig zu lang und die Nase etwas zu groß. Das schmale Gesicht hätte eine Lebendigkeit ausgestrahlt, wenn es nicht in tiefer Nachdenklichkeit erstarrt gewesen wäre wie ein vereister See im Dezember. Seine Hand legte sich auf den abgenutzten Messingknauf, dem unzählige Besucher bei ihrem Eintritt die Farbe von hellem Gold verliehen hatten, und drehte ihn nach links. Das Öffnen der Tür wurde von dem Schellen einer kleinen Klingel begleitet.

Das Innere des Geschäftes war für den Eintretenden auf den ersten Blick noch nichtssagender als sein Äußeres; ein kleiner Raum, der überwiegend von dunklem Holz geprägt war, von den abgetretenen Bodendielen bis zu der massiven Theke am Kopfende des Raumes, die fast von einer Wand bis zur anderen reichte. Links und rechts auf der Theke standen zwei kleine Lampen, die zusammen mit dem wenigen Tageslicht, das durch das zugestellte Schaufenster fiel, die einzige Lichtquelle bildeten.

Der Mann war direkt hinter der Tür stehen geblieben und zögerte, weiter in den Laden hineinzugehen, von den wenigen Anwesenden ignoriert, sein Blick gefesselt von den Gestalten hinter der Theke, die bis auf ihre Kleidung haargenau den Puppen im Schaufenster glichen. Die zwei Kunden, eine ältere Frau und ein junger Mann, vermieden es, irgendjemanden außer den Puppen, die sie bedienten, anzusehen, und ihre Worte an die stummen Gestalten waren kaum zu verstehen.

Eine Tür hinter der Theke öffnete sich und langsam trat eine weitere Puppe in den Raum, einen grauen Anzug mit Weste tragend, der haarlose Kopf geschlechtslos wie der der anderen Bediensteten. Sie blieb reglos hinter der Theke stehen, das ausdruckslose Gesicht mit den toten Augen ihm zugewandt.

»Ich habe etwas abzugeben«, sagte der Mann so leise, dass man ihn kaum verstehen konnte.

Die Puppe hinter der Theke nickte, das starre Gesicht ohne Regung, und ging dann mit leicht abgehackten Bewegungen zu einer Tür im hinteren Teil des Ladens. Der Mann beeilte sich, zu ihr aufzuschließen und trat hinter der Puppe in einen schmalen Flur, von dem drei Türen abgingen, aber es war die Tür am Kopfende, die seine Aufmerksamkeit fesselte. Ohne dass ihm jemand gesagt hatte, wo seine Abgabe vonstattengehen sollte, wusste er, dass es hinter dieser Tür stattfinden musste. Er folgte der Puppe wie ein Kind seinem Zahnarzt auf dem Weg ins Behandlungszimmer, kaum etwas von dem mitbekommend, was sich rechts und links befand, wo sich beispielsweise zu seiner Linken ein merkwürdiges Ölgemälde befand, für dessen wimmelartigen Charakter jeder Besucher einige Zeit gebraucht hätte, die von den Eintretenden nie jemand besaß.

Die Puppe öffnete die Tür und sah ihn an.

»Nun«, sagte der Mann und rang sich ein Lächeln ab, »dann wollen mir mal.«

Die Puppe sagte nichts, folgte ihm nur mit leerem Blick, als er mit klopfendem Herzen in den Raum hinter der Tür trat, der überraschend klein war. In seiner Mitte stand ein Holztisch mit quadratischer Platte, auf dem wiederum mittig einige Blätter Papier ordentlich gestapelt waren, in deren Mitte ein schwarzer Füllfederhalter lag. Ein einfacher Stuhl, wie der Tisch aus stabilem Eichenholz gefertigt und so ausgerichtet, dass man mit dem Rücken zur Tür saß, vervollständigte das Mobiliar.

Als der Mann sich setzte, bemerkte er die merkwürdige Beschaffenheit der Möbel, die jeden Besucher, der ein wenig größer oder ein wenig kleiner als der Durchschnitt war, eine unbequeme Sitzposition aufnötigte. Doch er, der weder besonders groß noch besonders klein war, rückte den Stuhl zurecht, bis er die richtige Position zum Schreiben gefunden hatte, und starrte dann das oberste Blatt Papier und den schwarzen Füllfederhalter an. Das dicke hadernhaltige Papier besaß in der Mitte ein blasses, kaum zu erkennendes Wasserzeichen, und der Federhalter glänzte an der Spitze und am Clip golden. Beides war von so kostbarer Beschaffenheit, dass er sich umdrehte, um die Puppe um Erlaubnis zu fragen, sie zu benutzen, aber er musste feststellen, dass er allein in dem kleinen Raum war.

Als er den Füllfederhalter ergriff, hörte er leise Schritte näherkommen, und einige Puppen traten in den Raum, manche in Männer-, andere in Frauenkleidung. In ihren Händen trugen sie lange Stöcke aus Holz, bei deren Anblick ihm ein Kribbeln über den Rücken fuhr. Sie stellten sich rings um den kleinen Tisch, hielten die Stöcke ruhig in ihren Fäusten, und verharrten reglos. Unruhig sah sich der Mann um, doch keine der Puppen sagte etwas oder machte Anstalten, ihm etwas durch eine Geste mitzuteilen. Aber er wusste auch so, was nun folgte, wie es jeder wusste, der diesen Laden betrat, um seine Abgabe zu machen.

Er musste nicht überlegen, was er als erstes niederschreiben wollte, lauschte aber trotzdem in sein Innerstes, beschäftigte sich noch einmal mit der Angewohnheit, die ihn so viele Jahre seines Lebens begleitet hatte, und setzte dann die Spitze des Federhalters auf das dicke Papier. Wie auf ein geheimes Kommando hin, hoben alle Puppen ihre Stöcke und verharrten wieder bewegungslos. Der Mann merkte, wie ihm ein Schweißtropfen die Stirn hinunterlief, sah aber nicht auf, als er in geschwungener Handschrift niederschrieb:

Das Nesteln am Kragen.

Er besah sich seine Buchstaben, die Linien aus königsblauer Tinte auf dem weißen Papier, steckte dann die Kappe auf den Federhalter und legte ihn auf den Tisch zurück. Der erste Schlag traf ihn direkt auf den oberen Rücken, das harte Holz presste ihm die Luft aus den Lungen und er beugte sich nach vorne, als weitere Schläge auf ihn niedergingen, rhythmisch und leidenschaftslos. Seine Schultern, das rechte Schulterblatt, der untere Rücken, und die Hände, die er schützend über den Kopf zusammengeschlagenen hatte, wurden von allen Seiten getroffen, dann hörten die Schläge zeitgleich auf.

Zögernd ließ der Mann die Hände sinken und sah auf, aber die Puppen standen wieder reglos um ihn herum und hatten die stabilen Stöcke auf Schulterhöhe erhoben. Unter Schmerzen, die erst langsam durch die Schichten seines Bewusstseins drangen, schraubte er den Federhalter wieder auf und versuchte, seine Gedanken zu sammeln.

Die Hand zögert, erwartetet den nächsten Schlag, der Kopf wird zwischen die Schultern gezogen, der Rücken gekrümmt. Dann setzt die Spitze der Feder auf und eine feine Tintenlinie läuft über das Papier, hängt Buchstaben an Buchstaben, bevor ein weiteres Wort an das Licht gezerrt wird, aus der tiefsten Intimität steht es nackt vor aller Welt da, und die ausdruckslosen Blicke der Puppen fallen darauf und erneut hört man das Zischen eines Stockes und fühlt einen stechenden Schmerz, der wie ein Feuer die Wirbelsäule herunterrast und die Finger unkontrolliert krampfen lässt. Der Schmerz wird zu einem Brennen, das sich im ganzen Körper ausbreitet, von den Zehen bis in die Fingerspitzen kriecht, sich im Bauch sammelt und dort wie ein Fegefeuer lodert, das alles Persönliche ausbrennt. Und während man sich noch über die Tischplatte krümmt und es nicht zu glauben vermag, das einfache Stöcke einen solchen Schmerz auslösen können, trennt sich die auf Papier gebannte Eigenheit von einem, und nach langer Zeit, wenn das Feuer in den Nerven verklungen ist und man mit tränennassen Augen auf den weißen Zettel vor einem blickt, sieht man dort ein Wort, das keinen Anklang mehr findet, ein fremdes Ding, von dem man sich nicht vorstellen kann, dass es jemals zu einem gehört hat. Und mit einer endlosen Erschöpfung nimmt man den Füllfederhalter wieder auf und lauscht in sein Innerstes, wo all die kleinen Absonderheiten sich in der Dunkelheit ducken, um nicht mit den spitzen Fingern an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden, bis zu den Knien watet man in dem Morast all der Jahre, die dort ihren Abfall angehäuft haben, zieht die eine Sache heraus und betrachtet sie, bevor sie wegen Geringfügigkeit wieder zurückgeworfen wird, stapft immer weiter, bevor die Hand eine weitere Seltsamkeit auf das Papier bringt, in diesem Raum, in dem die Puppen geduldig warten.

Der Mann überlegte, versuchte die Wellen des Schmerzes zu ignorieren, die durch jede Faser des Körpers brannten, und nickte dann. Vor vielen Jahren hatten seine Frau und er ein Stoffschaf geschenkt bekommen, ein kleines, niedliches Ding mit pfiffigem Gesichtsausdruck, das sie dazu inspirierte, ihm den Namen Doktor Schaf zu geben, was dann dazu führte, dass sie ihm ein Eigenleben zuschrieben und sich immer abstrusere imaginäre Abenteuer ausdachten, sodass sie vor Lachen manchmal nicht mehr konnten. Später dann, im Laufe der Jahre, war seine Frau plötzlich während ihrer Phantastereien immer ernster geworden und hatte vorsichtige Blicke zum Fenster geworfen, ob sie nicht von einem der Nachbarn bei dem Spiel mit Doktor Schaf beobachtet wurden. Und heute beim Frühstück hatte sie ihn gebeten, diese Sonderlichkeit mit auf die Liste der drei Abgaben zu setzen, denn eine solche kindliche Albernheit ziemte sich nicht für erwachsene Menschen und war peinlich, und deswegen würde sie es auch bei ihrem ersten Besuch im Seltsamkeitsladen ablegen. So wären sie beide vor dem letzten Rest an naiver Freude bewahrt, der sie vielleicht doch wieder zu dem sinnlosen Spiel verleiten könnte. Traurig hatte der Mann den Kopf gesenkt, aber die Sinnhaftigkeit des Vorschlags dann doch eingesehen.

Also schrieb der Mann die dritte und letzte Seltsamkeit für heute auf das Blatt Papier:

Dem Stoffschaf einen Namen geben und so tun, als wäre es lebendig.

Nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, ging auch diese Runde aus Schlägen vorüber, und während er mit zitternden Händen das Blatt Papier von sich schob, verließen die Puppen mit leisen Schritten den Raum. Nur die Puppe mit dem Anzug blieb an der Tür stehen. Er warf einen Blick auf seine niedergeschriebenen Worte, ruhig und unbeteiligt, und schob den Holzstuhl zurück. Das Blatt Papier würde die erste Seite eines Buches bilden, auf dem sein Name stand, es würde irgendwo in den Untiefen des Ladens aufbewahrt werden, Seite an Seite mit identisch gebundenen Büchern, Regal über Regal in einem staubigen Raum, den nur die schweigsamen Puppen jemals betraten.

Der Mann verließ den Raum mit weichen Knien und lauschte in sein Innerstes, während er langsam der Puppe durch den kleinen Flur folgte, die den Stock in eine große Vase steckte und durch die Tür zum Hauptraum trat. Vermochte er einen Unterschied festzustellen? Er fühlte sich ruhig, als hätte er lange geweint und wäre nun in ein Stadium der Leere eingetreten, die eine leichte Erschöpfung mit sich brachte. Die Schmerzen pulsierten dumpf durch seinen Körper und wurden von einer matten Betäubung begleitet.

Er ging durch den kleinen Geschäftsraum, ohne einen Blick auf die anderen Besucher zu werfen, und öffnete die leise klingelnde Eingangstür.

Als er aus dem Laden trat, blieb er vor der Fensterfront stehen und besah sich all die früheren Besucher, die dort auf ihren Einsatz in dem Geschäft warteten, stumm, voller Geduld und frei von jeglichen Seltsamkeiten, die sie mit unzähligen Abgaben ihrem Inneren abgetrotzt hatten, um vor sich und den Augen der Mitmenschen bestehen zu können. Seine Hände, tief in den Taschen seines Mantels vergraben, waren ruhig. Nicht für einen Moment kam ihm das Bedürfnis, an seinem Kragen zu nesteln. Mit einem erleichterten Lächeln, in den Augen eine Spur von Scham, wandte er sich von den Puppen ab und ging die kleine Nebenstraße hinunter, die er bis zu seinem nächsten Besuch nicht mehr betreten würde.

GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten – Nr. 13

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