Читать книгу GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten – Nr. 13 - Amyas Northcote - Страница 5
ОглавлениеAndreas Fieberg
5-MINUTEN-SCHICKSAL
Und dann gibt mir die Stimme aus der Zukunft – deine Stimme – den entscheidenden Hinweis. Du tust es ohne zu wissen, welche Weichen du damit stellst, aber du tust es für mich, denn du erweist mir damit einen großen Gefallen, einen Gefallen, der meine Haut retten und mein Gewissen reinhalten wird.
Warum? schluchzt es aus dem Hörer, und aus deiner Stimme spricht grenzenlose Verzweiflung. Warum bist du nicht mitgekommen? Du wußtest es, nicht wahr? Du hast es von Anfang an gewußt!
»Nein, ich wußte es nicht, woher auch«, erwidere ich leise. »Ich konnte es nicht wissen, bevor du es mir gesagt hast.« Meine Lippen fühlen sich taub an. »Aber ich weiß es jetzt.« Bevor ich den Hörer zurücklege, sage ich noch: »Danke.«
Du stehst neben mir, derselbe, mit dem ich gerade telefoniert habe, und schaust mich erwartungsvoll an, grinst unsicher, denn jetzt wäre es an der Zeit, daß ich dir sage, was gesprochen wurde. Aber ich kann es dir unmöglich preisgeben. Ich spüre, wie mir die Knie weich werden, und ich sinke auf einen Felsen.
»Mir ist schlecht«, sage ich. Das ist noch nicht einmal gelogen. »Ich komme nicht mit.«
Du verziehst spöttisch den Mund. »Stell dich nicht so an. Du mußt mitkommen, es geht gar nicht anders! Du weißt doch, die Regeln! Das Naturgesetz!«
»Eben drum.« Ich schüttele den Kopf. »Ich darf gar nicht mitkommen. Ich bin nämlich nicht da gewesen, als du …« Ich zögere und verbessere mich: »Ich werde nicht dabei sein, wenn du den Apparat benutzt.«
Du siehst mich fassungslos an. Eine schreckliche Ahnung überkommt dich. »Wie kann das sein?« schreist du außer dir. Du packst mich bei den Schultern und schüttelst mich. »Ist was passiert? Was ist passiert?«
»Woher soll ich das wissen?« Ich versuche, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Keine Zeit für lange Diskussionen.« Ich schaue hinüber zu dem Mädchen, das starr einige Schritte entfernt steht und unseren Streit beobachtet hat. »Ihr müßt euch beeilen, bald kommt das Signal. Du mußt an Ort und Stelle sein, um es zu beantworten.« Ich befreie mich aus deinem Griff und dränge dich tiefer in das Innere der Höhle. Alles Blut ist aus deinem Gesicht gewichen, du bist kreidebleich. Ich sehe, wie es in dir arbeitet, wie du alles, was wir von den Wissenschaftlern und dem Sicherheitsdienst gehört haben, gegeneinander abwägst, und ich sehe, wie du zu einem Entschluß kommst, dem einzigen Entschluß, der möglich ist.
Du wischst dir die Tränen ab, drehst dich schicksalsergeben um und trottest mit gesenktem Kopf los, das Mädchen an der Hand hinter dir herziehend.
Als wir Tage zuvor durch die Steppe auf Causa Prime streiften, ahnte keiner von uns, was unsere Neugier anrichten würde. Seither habe ich mir viele Gedanken gemacht über Vorbestimmung und den festgelegten Ablauf der Zeit. Aber, frage ich dich, darf man überhaupt von Schicksal sprechen, wenn man selbst es war, der den ersten Dominostein umstieß?
Seit einer halben Stunde schlich ich schweigend hinter dir her. Wir kannten uns von klein auf, waren Sandkastenfreunde, aber du, David, als der ältere von uns beiden, gabst den Ton an.
Schweiß stand mir auf der Stirn, die Füße in den Sandalen schmerzten. Der orangene Himmel, von einem Doppelstern zum Kochen gebracht, neigte sich über Causa Prime, eine flammende Wand, die aussah, als könnte sie jeden Moment einstürzen. Die Landschaft war eintönig, viele Felsen, wenig Vegetation, nur dürre, fast blattlose Bäume, unter deren tiefhängenden Ästen wir uns immer wieder wegducken mußten. Wir waren begierig, unser Ziel zu erreichen, bis dahin gab es nicht viel zu reden. Unser Zuhause, die Ansiedlung – flache weiße Bauten in einer ockerfarbenen Wüste, deren zierratlose Zweckmäßigkeit offensichtlich war –, lag weit hinter uns.
Wir folgten zwischen lichtem Unterholz einem unsichtbaren Pfad, der sich nur einem geübten Auge durch flach gedrückte Halme oder abgeknickte Zweige verraten hätte, und bogen schließlich um einen vorspringenden Felsen, hinter dem sich unser Ziel verbarg. Den großen Ballen dornigen Gestrüpps schoben wir beiseite, um eine halb verschüttete Stahltür freizulegen. Die Tür, vor der sich das Geröll eines Erdrutsches aufhäufte, wurde von einem armdicken Ast spaltbreit aufgehalten. Als wir uns über die dunkle Öffnung beugten, wehte uns schon der vertraute Geruch von verbotenen Abenteuern entgegen. Es war eine undefinierbare Mischung aus alter Zeit, Sternenstaub, Verrat und Hinterhalt. Behende schoben wir unsere schlacksigen Gestalten ins Innere, rutschten über eine kleine Sanddüne nach unten und kamen in dem lichtlosen Gang auf die Füße.
Es war eine glückliche Fügung gewesen, daß wir diesen unterirdischen Gang eines Tages auf unseren Streifzügen entdeckten, die uns in einer immer weiter um unsere Siedlung ausgreifenden Spirale hierher geführt hatten. Ebenerdig wäre das Gelände nämlich nicht zu betreten gewesen. Es wurde umschlossen von einer langgestreckten Reihe mannshoher Pylone, die unscheinbar wirkten, aber von denen es hieß, daß sie denjenigen, der es wagte, zwischen sie hindurchzutreten, augenblicklich grillen würden. Wir schenkten der Geschichte keinen Glauben, trotzdem wagten wir nicht, unser Glück herauszufordern. Oft stritten wir uns darüber, ob die tödliche Grenze dazu gedient hatte, Gefangene festzuhalten oder Eindringlinge fernzuhalten, und da wir uns nie einig wurden, gab es Geschichten, die mal die eine, mal die andere Auslegung favorisierten.
Der Gang war eine lange Röhre mit kreisrundem Durchmesser, in der wir aufrecht stehen konnten, die gewölbte Wand fugenlos glatt. Die Lichtkegel unserer Lampen schälten Ausschnitte des vor uns liegenden Weges aus dem Dunkel.
Die zwei Sonnen standen bereits tief, ihr Licht blendete uns am anderen Ende des Tunnels. Es fiel durch die unregelmäßigen Öffnungen der Felswand, die sich über unseren Köpfen erhob. Von außen sah die in den Felsen geschlagene Architektur imposant aus – wie ein gigantischer Käse mit sauber ausgeschnittenen Löchern, in Größe und Form keines wie das andere –, und von innen gestattete sie uns einen Ausblick über die Landschaft des Planeten, der uns immer von neuem den Atem nahm. Die Strahlen des untergehenden Doppelstern streiften kurz hintereinander die Kristallgipfel der Berge, und Tausende von Prismen streuten Spektralfarben über die weite Landschaft und malten sie bunt.
Der Wind pfiff durch die ungezählten Öffnungen, sang sein Lied. Eine fremde Melodie, sonderbar anmutig, in verstörenden Harmonien. Manchmal mischte sich so etwas wie Worte in einer unbekannten Sprache in die auf- und abschwellenden Töne, aber da spielten uns unsere Sinne wohl einen Streich. Ihnen zuzuhören verursachte eine Gänsehaut, und wir zweifelten nicht daran, daß man dem Wind nicht ewig sein Ohr schenken konnte, ohne verrückt zu werden.
Bald aber wandten wir uns den Räumen zu, die hinter dieser Fassade in den Berg getrieben worden waren und die wir gewissenhaft erkunden wollten. Vor längerem schon hatten wir beschlossen, systematisch vorzugehen, und dank der zeitraubenden Sorgfalt waren wir in dem labyrinthischen Gewirr aus Gabelungen, Treppen, Etagen, Durchbrüchen und Querverbindungen noch nicht weit vorgedrungen. Es gab so viel zu entdecken, dabei war nicht einmal zu erkennen, welchem Zweck die einzelnen Räume jeweils gedient haben mochten. Jeder Raum, den wir erkundet hatten, war von uns markiert worden, und so kletterten wir durch die Fluchten vorbei an unseren alten Kreidezeichen.
Wenn die Buckel und Auswölbungen in den Räumen als eine Art Möbelstücke hatten dienen sollen, dann stellte uns ihre Ergonomie vor ein Rätsel, was den Körperbau ihrer einstigen Besitzer betraf. Wie mochte eine Figur beschaffen sein, die auf solchen Stühlen einen bequemen Sitz fand oder sich in den in die Wand eingelassenen Schlafkojen zur Ruhe betten konnte?
Hier gab es nur Rundungen, Bodenwellen, kugelige Ausstülpungen, Kurven, aber keine rechten Winkel oder planen Flächen, keine Ecken und Kanten. Alles war abgerundet und glatt geschliffen wie ein Kiesel, der Jahrzehnte im Fluß gelegen hatte.
Und jeder Raum, den wir gesehen hatten, war leer. Schon vor Generationen waren diese Katakomben einer untergegangenen Zivilisation von Schrotthändlern, Kuriositätensammlern und Glücksrittern leergeräumt und von administrativen Stellen entkernt worden. Was von den Funden sichergestellt worden war, konnte wir auf dem alljährlichen Schulausflug in die Hauptstadt der Provinz besichtigen. Zweck und Höhepunkt war der Besuch des exoterristrischen Museums der Kolonie.
Du hast auf diesen Schulausflügen immer so getan, als bemerktest du es nicht, aber es war offensichtlich, daß dich Sylvia, eine Klasse unter uns, aus der Ferne anhimmelte. Sie traute sich nicht, näher zu kommen und dich anzusprechen, aber sie blieb uns in immer gleichem Abstand auf den Fersen und ließ dich nicht aus den Augen, wenn unsere Gruppen in dem Museum von einer Halle in die andere strömten.
Wir schlenderten an den Vitrinen vorbei und bestaunten die Artefakte, die die Aliens, die Causa Prime vor uns besiedelten, hinterlassen hatten. Jeder Gegenstand hatte seine eigene fragmentarische Geschichte, und je größer das Rätsel war, das er aufgab, desto verstiegener waren die Spekulationen und desto wilder wucherten die Legenden. Wir Kinder überboten uns gegenseitig darin, die Lücken, die die Wissenschaft ließ, mit unseren phantastischen Erklärungen zu füllen.
Wir sahen Raumverzerrer und Singularitätswaffen, Dinge, die sich selbst unserem Vorstellungsvermögen entzogen. Dort, wo die unwahrscheinlichen Gerätschaften herstammten, schienen die Naturgesetze nicht zu gelten, jedenfalls nicht die aus unserer Galaxie bekannten. Es gäbe Räume, in denen die Schwerkraft aufgehoben wäre und die man wie in einem Aquarium schwimmend durchquerte, es gäbe Räume, in denen die Zeit langsamer verstriche und man sich wie in Zeitlupe bewegte oder wo die Zeit – umgekehrt – beschleunigt wäre und man sich einen Spaß daraus machen könnte, umherzuzappeln wie die Slapstickkomiker in den Schwarzweißfilmen von der Erde. Und schließlich gäbe es Räume, in denen alles, was man sagte, in eine fremde Sprache übersetzt würde. Man würde mitten in diesen Räumen stehen, ausgedachte Reden schwingen, und alles, was die eigenen Lippen verließe, wären die gutturalen Laute, das Glucksen und Kollern einer untergegangenen Rasse.
All das waren Geschichten, von denen wir inzwischen gar nicht mehr wußten, was an ihnen auf Tatsachen beruhte und was an ihnen von uns hinzugedichtet worden war. Keinen einzigen Beweis hatten wir auf unserer Suche bisher für sie gefunden.
Für den sogenannten Magnetberg mit dem verzweigten Höhlensystem interessierte sich außer uns niemand mehr. Wir aber, beflügelt von einer zügellosen Phantasie, gaben die Hoffnung nicht auf, an diesem rätselhaften Ort doch noch die bahnbrechende Entdeckung zu machen. Bis wir eines Tages tatsächlich jenen Apparat entdeckten, ein vergessenes Artefakt in einem niedrigen, düsteren Gewölbe. Das Gerät stand auf einem runden Podest und war in einen matten Schimmer gehüllt wie in grün leuchtenden Nebel.
Zuerst erkannten wir nicht, was es darstellte, doch dann meintest du, es wäre so etwas wie ein Kommunikator, eine Art prähistorischer Fernsprecher. Das Ding sah aus, als hätte man es in eine Mikrowelle gesteckt und halb zerschmolzen wieder herausgeholt und erstarren lassen. Der schwere Hörer war kaum zu fassen, er drohte mir aus der schweißnassen Hand zu rutschen. Wie alles, was die Aliens bearbeitet hatten, war er unregelmäßig geformt, klumpig. Ich probierte die Tasten aus und lauschte in die Muschel.
»Was hörst du?« wolltest du wissen
»Nur das Rufzeichen am anderen Ende.«
Als nichts passierte, wurdest du ungeduldig. »Wie lange willst du’s denn noch klingeln lassen?«
»Acht Mal, das ist meine Glückszahl«, meinte ich. Danach legte ich auf. Unser beider Enttäuschung war groß. Wir sahen uns um, aber in diesem Gewölbe war nichts mehr zu entdecken, das zeigte uns ein schneller Rundgang. Es gab hier nichts mehr für uns zu tun, und so waren wir schon auf dem Weg zum Ausgang, als wir das Klingeln hörten. Nicht von dem Apparat, den ich benutzt hatte, sondern von weit weg, tief im Inneren des Magnetberges. Der Laut drang durch das Geflecht aus Gängen und Röhren zu uns, von den Felswänden hin- und hergeworfen und von den eigenen Echos überlagert. Trotzdem war es nur ein Rinnsal von einem Ton, dem wir mit angehaltenem Atem lauschten. Er klang unwirklich, als suchte er sich einen Weg aus einer anderen Dimension in unsere Welt.
»Was ist das?« flüstertest du.
»Ein anderer Fernsprecher? Aber wo denn?« wisperte ich zurück.
»Und wer ruft an? Und warum ausgerechnet jetzt?«
»Ob das Zufall ist?«
Wir lauschten dem Signal. Unwillkürlich zählten wir mit. Es klingelte genau achtmal, danach lastende Stille. Daß es unser eigener Anruf gewesen war, den wir hörten, wußten wir da noch nicht. Erst am anderen Tag kamst du mit dieser Erklärung an, die du in den digitalen Archiven der Kolonie gefunden hattest.
»Tief in dem Höhlensystem soll es Zonen unterschiedlicher Zeiten geben«, erzähltest du. »Gegenwart und Vergangenheit und Zukunft grenzen dort quasi direkt aneinander, und du kannst einfach so von einer Zone in die andere spazieren.« Ich mußte zugeben, das verblüffte mich.
»Irre! Aber was hat das mit dem Fernsprecher zu tun?«
»Denk nach. Könnte es nicht sein, daß wir die Zukunft angerufen haben? Minuten später hat es am anderen Ende geklingelt. Das waren wir – zeitversetzt!«
Das klang jetzt ziemlich weit hergeholt, und das sagte ich dir auch.
»Aber wenn es stimmt, könnten wir mit uns selber sprechen. Wenn wir nach dem Anruf zu dem anderen Apparat gehen und abheben. Von der Vergangenheit in die Zukunft, und umgekehrt.«
Ich lachte dich aus, aber so schnell läßt du dich nun mal nicht von einer Idee abbringen.
»Ausprobieren schadet nicht«, meintest du, und was hätte ich dagegen haben sollen. Schlimmstenfalls würdest du dich lächerlich machen, sagte ich mir, und bestenfalls … na ja, das wäre dann mal wirklich eine Sensation!
Am anderen Tag, nach der Schule, trafen wir uns am Rande der Steppe. Der Weg zur Höhle erschien mir länger als sonst, Ungeduld trieb uns voran. Diesmal ließ ich dir den Vortritt. Wir steckten die Köpfe zusammen und warteten. Es klingelte sehr lange, bis jemand am anderen Ende abnahm. Um nichts zu verpassen, hatte ich mein Ohr dicht an den Hörer geschoben, den du fest umklammert hieltest. Dann hörten wir ein Klicken, ein nervöses Räuspern, eine vertraute Stimme.
Hallo, hallo, wer ist dort? Bitte melden, bitte melden.
Die folgenden Worte gingen unter in einem prustenden Lachen. Es klingt fremd, wenn man sich selber sprechen hört, zumal über eine Telefonleitung, aber das war ich, unverkennbar! Mein zukünftiges Ich – vielleicht eine halbe Stunde älter als ich hier in diesem Moment – mein Ich, das mit uns redete. Ich war so überwältigt, daß ich keinen Ton herausbrachte. Zum Glück hatte es dir nicht die Sprache verschlagen.
»Major Tom ruft Ground Control!« riefst du in den Hörer. Die Verblüffung brachte auch mein zukünftiges Ich auf der anderen Seite für Momente aus der Fassung.
David, bist du es wirklich? schnarrte die Stimme, die mir gehörte, aus der Muschel.
»Was denkst du denn, Rick! Kein Scherz.«
Ein Schnaufen in der Leitung. »Krass. Du stehst nämlich gerade neben mir.« Kurze Pause, Gemurmel im Hintergrund, dann: Okay, Uhrenvergleich. Es ist jetzt 4:15 h.
Du zogst deinerseits den Zeitmesser zu Rate. »Hier ist es erst 3:50 h.«
Dann macht euch mal auf den Weg, tönte es aus dem Hörer. Man sieht sich!
Ich mußte grinsen. Gib's zu, Humor hatte ich ja, obwohl mir heute längst nicht mehr nach lachen zumute ist. Am anderen Ende wurde aufgelegt.
Wir liefen aufs Geratewohl los, in die ungefähre Richtung aus der – wie wir uns zu erinnern glaubten – das erste Mal das Klingeln zu hören gewesen war. Aus den Gängen wehte uns von irgendwoher ein Wind entgegen, wisperte über die Felswände, strömte uns übers Gesicht. Wie Forellen, die flußaufwärts schwimmen, folgten wir intuitiv diesem Luftstrom hin zu seinem unbekannten Ursprung. Besonders stark wurde der Wind dort, wo die Höhlendecke sich so weit absenkte, daß wir uns nur kriechend fortbewegen konnten, und erneut glaubte ich einen murmelnden Gesang aus dem Säuseln herauszuhören, aber das schrieb ich wieder meiner Einbildung zu.
Als wir endlich durch eine Öffnung unter eine sich weitende Kuppel traten, ertönte das erste Klingelzeichen. Wir hatten abrupt haltgemacht, denn vor uns lag eine trichterförmige Senke. Rund um diesen Abgrund verlief entlang der steil aufragenden Wand ein schmaler Pfad. Diesem Pfad folgten wir, du voran, blind auf einen sicheren Tritt vertrauend. Steine lösten sich unter unseren Schritten, hüpften an den Wänden aufschlagend in die Tiefe und fielen schließlich mit vernehmlichem Platschen in stehendes Wasser.
Der Kommunikator meldete sich zum zweiten Mal, als der Boden an einer schmalen Stelle unter mir nachgab und ich ins Leere trat. Mit einem Schrei kippte ich durch die Luft nach vorne. Strauchelnd fand ich Halt an der gegenüberliegenden Abbruchkante. Meine Füße strampelten über dem Abgrund, während ich mich mit den Unterarmen auf den Pfad vor mir stützte. Du warst schon zur Stelle und zogst mich auf sicheren Boden. »Ich hab dich, Rick!«
Das Klingeln ertönte zum dritten Mal.
»Scheiße nochmal! Ich hätte tot sein können!«
Du aber bliebst gelassen. »Ist doch nichts passiert. Komm, weiter!«
Der Schreck war schnell überwunden. Ich rappelte mich hoch, und wir setzten unseren Weg fort. Wäre nicht das beharrlich wiederholte Signal gewesen, das der Kommunikator aussandte, hätte uns spätestens ein Glimmen, das schon von weitem zu sehen war, seinen Standort verraten. Das Licht fiel aus der perfekt gerundeten Halbkugel einer kleinen Grotte auf den glatten Boden. Wir eilten zu dem Apparat. Wie schon sein Pendant im unteren Teil der Höhle war er in einen grünlichen Schimmer gehüllt, der wie lebendiger Nebel vor meiner Hand zurückwich, als ich den Hörer umfaßte. Ich schnitt das Klingeln ab, indem ich den Ruf annahm.
»Hallo, hallo, wer ist dort? Bitte melden, bitte melden«, keuchte ich. Weiter kam ich nicht, du stießt mir den Ellbogen in die Seite. Ich lachte nervös.
Die Muschel vibrierte: Major Tom ruft Ground Control!
Ich warf dir einen raschen Blick zu. »David, bist du es wirklich?«
Was denkst du denn, Rick! Kein Scherz, erwiderte deine Stimme vom anderen Ende.
Ich schnaufte. »Krass. Du stehst nämlich gerade neben mir.«
»Frag nach der Uhrzeit«, warfst du ein. Ich nickte.
»Okay, Uhrenvergleich«, sprach ich in den Hörer und schaute nach. »Es ist jetzt 4:15 h.«
Die Antwort kam ein paar Augenblicke später: Hier ist es erst 3:50 h.
»Dann macht euch mal auf den Weg«, schmetterte ich. »Man sieht sich!« In dem Moment kam mir der Spruch gar nicht mehr so witzig vor, aber was raus war, war raus. Ich unterbrach die Verbindung.
Wir kehrten um. Die Stelle im Pfad, wo ich eingebrochen war, sah gar nicht mehr so gefährlich aus. Mit einem beherzten Sprung überwanden wir die Lücke.
Auf dem Heimweg versuchten wir, uns über die Bedeutung dessen, was wir erlebt hatten, klarzuwerden. Etwas in der Tektonik der Zeit war ins Rutschen geraten, die Schichten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hatten sich verschoben. Es ließ uns schwindelig werden, darüber nachzudenken, daß Vorher und Nachher austauschbar geworden waren, es war, als würde man zu lange in eine sich drehende Spirale schauen, die aus dem Nichts wuchs und wieder vom Nichts aufgesogen wurde.
Es war schon dunkel, als wir uns an einer Straßenecke trennten, du gingst in die eine Richtung, ich in die andere, jeder zu seinem Zuhause. »Wir sehen uns in der Schule!« riefst du mir zum Abschied zu. So lange sollte es nicht dauern, und daran warst du nicht ganz unschuldig.
Ich konnte verstehen, daß dir eine Bemerkung über unsere Entdeckung herausgerutscht war, schließlich hatte ich selbst damit zu kämpfen, damit hinter dem Berg zu halten, als unsere Familie am Abendtisch versammelt war. Deine Eltern wußten sofort, was zu tun war, als sie von der Sache hörten. Von einem Moment auf den anderen wurde die beschauliche Ruhe in unserer Straße gestört von Einsatzfahrzeugen mit Warnlichtern, aus denen in Schutzanzügen vermummte Gestalten sprangen.
Solch ein Aufgebot sah man in der Kolonie auf Causa Prime, wo Gewaltverbrechen die Ausnahme waren, eher selten. Man kannte es bestenfalls von Einsätzen bei Naturkatastrophen, wie Sandstürmen oder Meteoriteneinschlägen, oder bei Reaktorunfällen. Etwas in dieser Größenordnung mußte vorgefallen sein, sagte ich mir, als ich in einen Quarantänewagen verfrachtet wurde. Dort hocktest du schon auf einer Pritsche, den schweißnassen Pony an die Stirn geklebt, käsig das Gesicht darunter. Die ganze Fahrt über wechselten wir kein Wort. Ich starrte durch das Heckfenster auf die Straße, wo unsere verwirrten und besorgten Eltern uns in ihren Privatfahrzeugen folgten.
Auf der Quarantänestation wurden wir gründlich untersucht: Blutproben, Strahlenmessung, MRT, CT, EEG, die ganze Palette, nur um sicherzugehen. Denn es waren gar keine gesundheitlichen Gefahren, denen man sich aussetzte, wenn man die Zeitzonen in den Höhlen durchschritt. Zwar war es eine massive Verzerrung auf zellularer Ebene, wenn jede Körperfaser daran gehindert wurde, natürlich zu altern, und gezwungen wurde, auf einen Schlag älter zu werden, ganz gleich, ob es sich dabei nur um Minuten handelte, trotzdem hatten wir nichts zu befürchten. Die Testergebnisse zeigten, daß wir kerngesund waren.
Ein Risiko ging von einem ganz anderen Aspekt aus. Wir hatten mit dem Gefüge aus Ursache und Wirkung gespielt, das in dem uns bekannten Universum nun mal untrennbar an einen zeitlichen Ablauf gekoppelt ist.
Was ihnen größte Sorge bereitete, war eine Entkoppelung der Kausalität vom Zeitstrahl, die Verkehrung des natürlichen Ablaufs, wenn es uns also plötzlich möglich wäre, ein Element des Ursache-Wirkung-Paares so zu verändern, daß es nicht mehr zu dem anderen paßte, beide aber unabhängig voneinander weiterexistierten. Man befürchtete allen Ernstes, mit diesem Paradoxon eine Kaskade im Raum-Zeit-Kontinuum auszulösen, mit unvorstellbaren Folgen. Zum ersten Mal bekamen wir eine Ahnung von dem, was man uns auf den Schulausflügen ins Museum nicht hatte erklären können: was nämlich die Aliens ausgelöscht hatte. Es mußte ihre eigene Technologie gewesen sein, die – falsch genutzt – ihr Untergang gewesen war.
Ich brauche dich nicht daran zu erinnern, daß wir das mächtig übertrieben fanden. Denn was bedeutete das für uns? Unser Abenteuer war schließlich gut ausgegangen! Zwar hatten wir Hand an die Grundfesten der Welt gelegt, aber es war ja nichts passiert.
»Zufall«, sagte man uns. »Reines Glück, mehr nicht. Denn wäre der Ablauf nur um ein Iota von dem abgewichen, wie er hätte sein sollen, hätte es die Versuchsanordnung höchstwahrscheinlich auseinandergerissen. Eine Neutronenbombe wäre im Vergleich dazu ein Knallfrosch gewesen.«
Am selben Abend wurde das Areal abgesperrt, aber deine kleine Verehrerin, Sylvia, deren Vater den Wachdienst leitete, hatte mitbekommen, daß der Fernsprecher in der Zeitzone erst am nächsten Morgen untersucht und dann demontiert werden sollte. Es wäre die letzte Gelegenheit, den Apparat noch einmal auszuprobieren, und das ließ ihr keine Ruhe.
Als ich endlich im Bett lag, hörte ich, wie kleine Steinchen gegen mein Zimmerfenster geworfen wurden. Ich stand auf und sah nach draußen. Dort unten wart ihr, du und deine kleine Freundin, und recktet eure Gesichter zu mir hoch. In dieser Nacht, als vieles drunter und drüber gegangen und die ganze Siedlung in Aufruhr geraten war, hatte Sylvia sich ein Herz gefaßt, und du warst ihrem Charme erlegen und hattest ihrem Betteln zuletzt nachgegeben.
»Kommst du mit, Rick? Wir wollen ein letztes Mal in die Höhle. Morgen ist alles vorbei.«
»Bist du wahnsinnig! Viel zu gefährlich. Was sollen wir da noch?«
»Ich will Sylvia den Kommunikator zeigen. Letzte Chance.«
Das gefiel mir ganz und gar nicht, trotzdem schlüpfte ich in meine Klamotten und schloß mich euch an. Wenn ihr euch schon auf diesen Irrsinn einließet, könnte es vielleicht helfen, wenn ich dabei wäre. Heute weißt du, daß das alles ein Fehler war. Ich hätte euch stattdessen von dem Plan abbringen sollen. Aber ich sah deine Entschlossenheit und spürte, daß nichts dich aufhalten konnte, wenn du dir einmal etwas in den Kopf gesetzt hattest. Schon gar nicht ein hastig aufgebauter Sperrzaun und die Wachen, die davor patroullierten. Es kam dir zupaß, daß wir unseren geheimen Zugang verschwiegen hatten, und so war es ein Leichtes, im Schutz der Dunkelheit bis zu dem Versteck vorzudringen.
Ob wir wußten, was wir da taten, David? Ich glaube, das wußten wir nicht, obwohl wir geduldig und gehorsam den Erklärungen der Erwachsenen gelauscht hatten. Wir hatten die Theorie verstanden, die sie uns über das Phänomen darlegten, aber wir hatten nichts von der praktischen Seite begriffen. Nicht in letzter Konsquenz, nicht bis zum Ende. Wir konnten uns nicht vorstellen, was es bedeutete, wenn etwas schiefginge. Wir hatten alles im Griff, glaubten wir, was sollte also schon schiefgehen, wir beherrschten das Wunder. Aber das Wunder wendete sich gegen uns.
In sternengetupfter Dunkelheit schlichen wir uns in die Höhle. Es dauerte eine Weile, bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Einzige Lichtquelle im Inneren war das schwache Glimmen, das den Kommunikator umgab, und das erst allmählich die Felswände ringsum aus dem Zwielicht hervortreten ließ. Neugierig beugte sich Sylvia über den Apparat.
»Das ist alles? Ich habe ihn mir irgendwie … aufregender vorgestellt. Sieht aus wie ein kaputtes Telefon.«
Du lachtest nur. »Warte nur ab, was das Ding kann!«
»Soll ich …?«
Sylvias Hand lag auf dem Apparat, sie sah dich fragend an, und du nicktest auffordernd. Sie hob den Hörer ans Ohr, und du zeigtest ihr, wie sie das Rufsignal auslösen konnte. Ein wiederholtes Summen, dann ein Klicken in der Leitung.
»Hallo?« sagte Sylvia zögernd. Sie lauschte hinein in Zukünftiges, das schon stattgefunden hatte, beugte sich über den Rand der Gegenwart, verlor den Halt und tastete blind durchs Dunkel der Zeit nach ihrem Schicksal.
In der Muschel zirpten Worte, die wir nicht verstehen konnten. Verstört ließ Sylvia den Hörer sinken und wandte sich uns fragend zu. Du strecktest schon die Hand aus, aber ich war schneller. Atemlos stieß ich ein »Ja?« in die Sprechmuschel. Das warst du am anderen Ende, natürlich, soweit lief es nach Plan. Aber das war noch nicht alles. Ich wartete auf das, was du mitzuteilen hattest: keine guten Nachrichten.
So behutsam, als ließe ich ein rohes Ei ins Wasserbad gleiten, lege ich den Hörer zurück in die Schale. Plötzlich sehe ich die Schleife, in der wir gefangen sind. Die Zeit zieht einen Bogen von der Zukunft in die Vergangenheit und zirkelt von dort zurück in eine festgelegte Gegenwart.
Du wirst dich mit Sylvia auf den Weg zum Telefon machen, dann wird deine kleine Freundin auf halber Strecke zu Tode stürzen, und zuletzt wirst du das Klingeln beantworten, um es mir mitzuteilen. So steht es fest, das ist die Zukunft, daran läßt sich nichts mehr ändern. Es ist ja schon geschehen!
Zum ersten Mal sehe ich dich weinen. Still laufen dir die Tränen über das versteinerte Gesicht. Und ich kann dir nicht helfen, mein Freund.
Wie Marionetten, aufgehängt an Fäden, die das Schicksal führt, marschiert ihr los, du und das Mädchen. Ich bleibe zurück und schaue euch nach, bis das tanzende Lampenlicht hinter der ersten Biegung verschwunden ist. Da springe ich auf die Beine und gehe. Bestimmt wirst du verstehen, daß ich nicht warten will, bis du zurückkehrst – allein.