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Oktober 2019

Tag 57

Rom, Italien

Es regnete und die Straßen Roms wirkten trist und ungemütlich. Zwar lagen die Temperaturen bei angenehmen neunzehn Grad Celsius, aber das Nieselwetter senkte die Laune von Enzo Dena beträchtlich.

Regen war einfach nur lästig. Er verwischte Spuren, ließ einen nachts auf der Jagd frösteln und war insgesamt schlichtweg überflüssig.

Missmutig räkelte er sich auf seinem Lieblingssessel und betrachtete das Glas in seiner Hand. Es war eindeutig zu wenig Whiskey darin.

Ein Wink genügte und sein engster Vertrauter Vincento eilte mit der Whiskyflasche herbei.

Enzo Dena nippte an dem frisch gefüllten Glas und grübelte über sein letztes Telefongespräch nach.

Lennon Bush war ein guter Mann. Bisher hatte man sich auf seine Einschätzungen immer verlassen können. Doch dieses Mal kamen ihm Zweifel. Seit über einem Monat warteten sie auf ein Lebenszeichen von Stan Holman und seinen Jungs. Und seit beinahe drei Wochen meldete sich auch Dexter Cox nicht mehr. Ein verschwundener Trupp erfahrener Jäger war schon merkwürdig genug, doch zwei Gruppen? Das konnte kein Zufall sein. Irgendetwas stimmte da ganz und gar nicht.

Doch Lennon meldete, dass nicht eine Spur auf den Verbleib der Männer hinwies. Seit zwei Tagen wurden die Wälder vor Ort durchkämmt und nichts war dabei herausgekommen. Selbst ihre eigenen Männer, die Spurenlesen quasi mit der Muttermilch aufgesogen hatten, konnten nichts finden.

Wieder klingelte das Telefon. Diesmal war es einer der Juristen, die sie nach Barnshire geschickt hatten. Enzo hatte sich seinen Namen nie merken können, was ihn überhaupt nicht störte. Er zahlte dem Kerl ein exorbitantes Honorar und erwartete entsprechend professionelle Arbeit, keine Bekanntschaft.

„Signore Dena, es tut mir leid, dass ich so lange mit meiner Rückmeldung gebraucht habe, aber es ist äußerst mühsam, die Menschen hier in diesem – Dorf – zur Mitarbeit zu bewegen. Der ansässige Sheriff war bisher nicht besonders kooperativ. Immerhin habe ich jetzt sämtliches Spurenmaterial zu Gesicht bekommen. Nicht ganz legal, aber dafür interessant. Gilt die gesicherte Verbindung noch?“

„Selbstverständlich.“

„Gut, ich werde Ihnen sämtliches Material zusenden. Kurz zusammengefasst: Dexter Cox und seine Männer waren offensichtlich hinter einer Frau her. Sie haben sie quer durch Barnshire gehetzt. Es gibt eine Handyaufnahme davon. Irgendein Kid hat das Ganze gefilmt und ins Netz gestellt.“

Enzo Dena war wie elektrisiert.

„Wer ist die Frau? Wird sie auch vermisst?“

„Nein, die ist quicklebendig und behauptet, nicht zu wissen, warum sie gejagt wurde. Ihr Name ist Hannah Riemann, eine Künstlerin aus Deutschland. Malerin, soweit ich gehört habe. Sie hat hier Urlaub gemacht und wohnte zuletzt in Dark Moon Creek, einer kleinen Siedlung, die auch Stan Holman einmal besucht hat. Zurzeit befindet sie sich auf dem Rückflug nach Deutschland.“

„Wer hat sie befragt?“

„Der Sheriff. Er war in Dark Moon Creek und hat einige Bewohner dort ausgehorcht. Laut Protokoll den Ortsvorsteher und einige Dorfbewohner. Alle haben behauptet, nichts von Dexter Cox zu wissen. Die halten zusammen wie Pech und Schwefel, Signore. Das scheint die gängige Mentalität hier zu sein. Aber es gibt noch ein Bild von einem Kerl, der in der gleichen Zeit offensichtlich ziemlich zerlegt worden ist. Nach dem Blut, was auf ihm zu sehen ist, kann der unmöglich überlebt haben. Das Seltsame ist: Er ist spurlos verschwunden. Der Einzige, der ihm ähnlich sieht, lebt in Dark Moon Creek und ist eindeutig unverletzt. Wie gesagt, ich schicke Ihnen die Dateien sofort zu.“

„Aber pronto“, schnauzte Dena. „Und graben Sie weiter. Ich will alles über diese Frau und Dark Moon Creek erfahren.“

Er schaltete das Gespräch weg und sah zu Vincento.

„Besorg mir die Dateien!“

Kurze Zeit später verfolgten sie gespannt Hannah Riemanns Lauf durch Barnshire. Er war durchaus beeindruckend. Anscheinend mühelos sprang sie über ein Geländer und verhinderte den Zusammenprall mit einem anrasenden Auto, indem sie auf das Autodach sprang, um dann mit einem eleganten Überschlag auf der Straße zu landen. Dann hechtete sie in ein weiteres Auto, das rückwärts auf sie zu jagte und dann mit quietschenden Reifen davonfuhr.

„Nicht schlecht“, kommentierte Vincento. „Die Frau kann rennen.“

„Sie war verletzt.“ Dena rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ihr linkes Bein war nicht im Takt. Wenn sie trotzdem so rennt, dann sicher nicht, weil es ihr Spaß macht.“

Vincento nickte zustimmend.

„Sie hatte Angst.“

„Und zwar so viel Angst, dass sie mit Sicherheit wusste, wer hinter ihr her war.“

Er lehnte sich zurück.

„Ich will alles über diese Frau wissen. Und natürlich auch, wo sie sich befindet.“

Er klickte die nächste Bild-Datei an und die blutüberströmte Gestalt eines Mannes füllte den Bildschirm. Nachdenklich betrachtete er das schmerzverzerrte Gesicht, die Hand, die sich gegen den Bauch presste und die Blutflecken auf dem karierten Hemd. Dass dieser Mann aufrecht stand, war eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn er das schaffte, war er vielleicht auch zäh genug, zu überleben.

„Wo versteckst du dich?“, murmelte er. „Und wer bist du? Verlass dich drauf, wir finden es raus.“

Er sah seinen Diener an.

„Wir werden selbst über diese Hannah Riemann Nachforschungen anstellen. Außerdem brauche ich eine Liste aller verfügbaren Männer. Ich will diese Frau, und zwar lebendig. Ist unser Bluthund erreichbar?“

„Der Slawe? Drazan Scekic? Soweit ich weiß, ist er gerade in Polen auf der Jagd.“

„Ich will, dass er die Aktion leitet. Gib ihm Bescheid.“

Vincento zögerte.

„Das wird ihm nicht gefallen. Du weißt, dass er allergisch auf solche Anweisungen reagiert.“

Enzo Dena grinste dünn.

„Soweit ich informiert bin, war er ein enger Jagdfreund von Dexter. Wenn er hört, was da gerade läuft, wird er sofort bei Fuß stehen. Vertrau mir.“

Vincento nickte. Auf Enzo Denas Gespür konnte man sich immer verlassen. Und niemand kannte die Männer der Jagdgruppe besser als er. Ohne seine Zustimmung wurde man nicht Mitglied in diesem erlesenen Verein. Es genügten nicht die äußeren Umstände, die einen dazu prädestinierten, wie zum Beispiel Geld und die Fähigkeit, ein Gewehr zu halten. Enzo Dena musste überzeugt werden, dass sie echte Jäger waren. Männer, die fähig und willens waren, ihre Beute aufzuspüren und zu erlegen.

Männer, die vor keiner Beute zurückschreckten.

Ukraine

Die Wälder der Ukraine waren dunkler. Finsterer und dichter als die Waldflächen in Minnesota.

Cathal Loganach betrachtete interessiert die Landschaft, die unter ihm vorbeizog. Er liebte Wälder und hatte bereits viele besucht, doch hier, im Osten Europas, war er noch nie gewesen.

Der Hubschrauber legte sich ein wenig in die Kurve und flog tiefer auf eine Felsformation zu. Gespannt versuchte er, Einzelheiten zu erkennen. Henry Graves, sein Vorgesetzter und in gewisser Weise auch sein Freund, hatte ihm schon einiges über die Zentrale der Europe Security erzählt. Sie lag innerhalb der Felsen, der Eingang gut versteckt.

Cathals Ehrgeiz ihn zu entdecken wurde belohnt. Kaum wahrnehmbar lag er am Fuß der Erhebung, getarnt von Büschen.

Der Hubschrauber landete nur für Sekunden auf einer schmalen, natürlichen Lichtung. Cathal sprang ohne ein Wort des Abschieds hinaus und joggte los. Der Helikopter war schon in der Luft, bevor er die ersten Bäume erreichte.

Seine Nase führte ihn zum Ziel. Der Eingang war nicht nur von Büschen, sondern auch mit einem schweren Eisentor gesichert. Es war so breit, dass auch problemlos schwere LKWs hindurchfahren konnten. Ob das oft vorkam, wagte Cathal zu bezweifeln. Es gab nur eine Zufahrt zur Lichtung und diese war nicht asphaltiert. Die Spurrillen ihm Waldboden wirkten alt und waren zugewachsen. Vermutlich befand sich der Fuhrpark der Europe Security an einer ganz anderen Stelle. Links oben in der Ecke des Tors sah er die Linse einer Kamera und blickte hoch.

„Cathal Loganach“, knurrte er. Die Tür öffnete sich Sekunden später und er trat ein. Ein breiter Gang führte in eine natürliche Höhle, die von künstlichen Scheinwerfern erhellt wurde.

Cathal hob die Hände und trat mitten in den Raum, der nicht gerade einladend wirkte: kahl, ohne Möbel, rohbehauene Felswände.

Es dauerte nicht lange und zwei große Gestalten lösten sich aus dem hinteren Teil des Raumes. Sie blieben vor ihm stehen und musterten ihn ausgiebig. Cathal verzog keine Miene, aber er behielt die Hände oben. Sie verzichteten auf eine Durchsuchung, was in seinen Augen auch völlig blödsinnig gewesen wäre. Auf dem Transatlantik-Flug konnte er keine Waffen mitführen und man hatte ihn bereits am Ausgang des Terminals abgefangen und zum Hubschrauber gefahren. Keine Gelegenheit also, sich in irgendeiner Form zu bewaffnen.

Schließlich nickte einer der beiden.

„Komm mit!“ befahl er auf Englisch und drehte sich um. Sein Akzent war grauenhaft, aber immerhin verständlich.

Cathal folgte wortlos und ließ sich durch die Anlage führen. Sie war ähnlich gegliedert wie die Ranger-Zentrale in Minnesota, doch viele Gänge waren durch den rohen Felsen getrieben worden. Ein Aufzug brachte sie nach unten.

Sie schwiegen sich während der Fahrt an, aber das war Cathal nur recht. Die meisten Gespräche fand er überflüssig. Floskeln und unnützes Zeug. Das Wichtigste wurde ihm auch so übermittelt: Sie misstrauten ihm. Aber das war normal. Er war ein Fremder in dieser Zentrale. Niemand kannte ihn und er selbst wusste nur das, was ihm Henry und zwei andere Ranger über die Europe Security erzählt hatten.

Aber auch das war nicht wichtig.

Entscheidend war nur, dass er den Auftrag von Chief Bryan ausführte. Wenn das bedeutete, dass er sich dem hiesigen Chief Martinak stellen musste, dann würde er das tun.

Klar war aber auch: Seine Loyalität galt Bryan.

Chief Bogdan Martinak, Chef der Europe Security, empfing ihn in einem modern eingerichteten Büro. Cathal registrierte nur nebenbei, dass dieser Raum deutlich größer war als der von Chief Bryan, was ihn eher irritierte und nicht beeindruckte. Doch er verzog keine Miene und erwiderte den durchdringenden Blick des Kriegerwolfs gleichmütig.

„Du bist also Cathal, der Bruder von Seoc.“ Auch Martinak sprach ihn auf Englisch an. Sein Akzent hatte einen eindeutig osteuropäischen Einschlag, war aber erträglich.

Jetzt biss Cathal die Zähne doch zusammen, doch er sparte sich eine Bestätigung.

Martinak hatte seinen Zwillingsbruder gekannt. Seoc war einige Zeit bei der Europe Security gewesen, nachdem er die Minnesota-Ranger verlassen hatte. Als er dann wieder in die Staaten zurückgekehrt war, hatte er nie von seinen Erlebnissen dort berichtet. Aber dass er Martinak nicht leiden konnte, war deutlich zu spüren gewesen, wenn dessen Name erwähnt wurde.

„Bist du auch so ein Psychopath wie er?“

Cathal hielt die Kiefer zusammengepresst. Er war nicht bereit, irgendetwas über seinen Bruder zu sagen. Deswegen war er nicht hier.

Bogdan Martinak stand breitbeinig vor ihm und betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn. Er war ein Kriegerwolf, wie er im Buche stand. Groß, breit, finster aussehend und mit einer aggressiven Aura.

Cathal beschloss, ihm noch eine Chance zu geben. Eine!

Er war beinahe enttäuscht, dass der Chief diese nicht vermasselte.

„Was ist in Minnesota los?“

Endlich kamen sie zum Thema. In knappen Worten schilderte Cathal die Geschehnisse. Er wusste, dass Martinak bereits informiert war und ihn nur deswegen befragte, um sich ein Bild von dem Ranger zu machen. Zeitverschwendung in Cathals Augen, aber bei Leitwölfen sehr beliebt.

„Es waren zwei Wilderergruppen in der Nähe von Dark Moon Creek. Erst fünf, dann sechs Teilnehmer. Beide gehörten einer größeren Vereinigung an. Das Jagdziel waren besondere Wölfe. Es gab ein Foto, das herumgezeigt wurde. Sie haben zwei Welpen mit Schlagfallen verletzt und Tucker O’Brians Gefährtin Hannah zweimal schwer verwundet. Wir konnten sie rechtzeitig retten.“

„Hm, und warum hat Bryan dich in die Wälder geschickt?“

„Ich war verfügbar.“

„Ich vermute mal, dass Byers und Graves auch dabei waren.“

Cathal nickte. Die Vermutung war naheliegend, da Henry Graves und Mort Byers sich ebenfalls in Europa aufhielten. Mit Sicherheit war Chief Martinak nicht glücklich darüber. Fremde Kriegerwölfe versprachen meistens Ärger, auch wenn sie in diesem Fall zu den Minnesota-Rangers gehörten.

Lange Zeit herrschte Stille. Schließlich seufzte Martinak theatralisch und schüttelte den Kopf.

„Du bist wirklich ein sprudelnder Quell, Wolf. Bryan sagt, dass du ein guter Krieger bist, und ich muss wohl erstmal davon ausgehen, dass das stimmt. Aber ich erwarte natürlich, dass du dich an meine Regeln hältst!“

Das war doch klar! Warum redete dieser Kerl von Selbstverständlichkeiten?

Wieder herrschte Schweigen. Martinak drehte sich um und griff zum Telefon.

„Bryan! Kannst du mir erklären, warum du mir ausgerechnet diesen Kerl aufgehalst hast? Da ist ja jeder Fisch kommunikativer! – Na, danke vielmals.“

Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck beendete er das Gespräch und drehte sich wieder um.

„Du wirst mit einem meiner Teams zusammenarbeiten. Mir ist egal, dass du sonst allein arbeitest. Bei mir gibt es Teamwork! Kommst du damit klar?“

Cathal hob die Schultern.

„Du bist der Boss.“

„Allerdings. Das solltest du nicht vergessen! Nils, Renaud!“

Die Tür wurde aufgerissen und zwei Kriegerwölfe betraten den Raum. Beide trugen einen Kurzhaarschnitt, der militärisch anmutete. Von der Statur her waren sie ähnlich groß und breit. Der eine war vom Typ her etwas dunkler als der andere und blickte deutlich verkniffener als sein Kollege auf Cathal. Gekleidet waren sie in Jeans und Lederjacke.

„Das sind Renaud Dubos und Nils Hassler. Sie werden dich bei deiner Suche unterstützen. Nils ist aus Deutschland und kennt sich in der Gegend gut aus. Ich erwarte, dass du mir direkt berichtest und nichts zurückhältst.“

Auch das war selbstverständlich, aber Cathal nickte.

Sie ließen ihm keine Pause. Bereits eine Stunde später hockte Cathal mit seinen neuen Partnern in einem anderen Hubschrauber Richtung Deutschland.

Sie hatten sich nur kurz bekannt gemacht.

Renaud Dubos, ein Franzose mit entsetzlicher Aussprache, was das Englische anging, war wohl der Aggressivere der beiden. Er ließ Cathal nicht eine Sekunde aus den Augen.

Nils Hassler war der Kommunikativere und auch für die technische Ausrüstung zuständig. Er hatte während des Fluges einen Laptop auf den Beinen und war mit Recherchen beschäftigt.

Cathal schloss die Augen und ging in Gedanken die Informationen durch, die er von Martinak und seinen Männern erhalten hatte.

Sie kannten drei Namen, bei denen sie ansetzen wollten. Drei Deutsche, die offensichtlich zum Kreis der Jäger gehörten. Sie wohnten in Deutschland verteilt und gingen unterschiedlichen Berufen nach. Cathal brauchte nicht lange, bis er wusste, welchen der dreien er sich zuerst vornehmen wollte. Er sah Renaud an.

„Wir fangen in München an“, sagte er nur.

Der Franzose runzelte die Stirn.

„Wieso da?“

Cathal wusste genau, warum er lieber alleine arbeitete. Dumme Fragen gingen ihm einfach auf die Nerven. Aber er hatte Bryan versprochen, kooperativ zu sein.

„Weil ich glaube, dass das unser Mann ist.“

Renaud wechselte einen Blick mit Nils.

„Geht’s noch genauer?“, schnarrte er dann.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Cathal sich seine Antwort zurechtgelegt hatte. Er wollte zumindest vermeiden, noch vor ihrer Landung in Deutschland einen Streit zu entfachen.

„Dennis Kossmann wohnt nahe an Bolender.“

Es war noch mehr als das.

Cathal wusste es einfach. Aber das würden die fremden Wölfe nicht verstehen. Die Ranger akzeptierten inzwischen, dass er meistens wusste, wo und wen er zu suchen hatte.

Die beiden Krieger sahen skeptisch aus, verkniffen sich aber einen Kommentar. Offiziell hatte Cathal das Sagen, was die Sache für ihn leichter machte. Ob Bryan darauf bestanden hatte? Er traute es ihm zu. Bryan wusste immer, was er ihm zumuten konnte und was nicht.

Renaud gab entsprechende Anweisungen nach vorne, und Cathal spürte, wie sich die Flugrichtung leicht verschob. Zufrieden schloss er wieder die Augen. Ein paar Stunden Schlaf konnte er gut gebrauchen.

Deutschland-Rudel, nahe München

Die Ankunft auf dem Münchener Flughafen gestaltete sich anders, als Hannah Riemann es bisher gewohnt war.

Normalerweise stieg sie aus, setzte sich in den Zug und fuhr direkt nach Hause.

Dieses Mal wurde sie erwartet.

Nun ja, Tucker wurde erwartet, korrigierte sie sich und betrachtete die zwei Männer, die sich vor ihnen aufbauten.

Grüne Augen, kräftige Statur und unfreundlicher Gesichtsausdruck: eindeutig Wolf.

Hannah war müde. Elf Stunden Flug lagen hinter ihr, von der anstrengenden Nacht ganz zu schweigen, doch die Blicke der Männer ließen sie wieder hellwach werden.

Sie war froh, dass sie zwischen Tucker und Leroy stand, die von dem Empfang völlig unbeeindruckt wirkten. Bei Tucker wunderte sie das nicht. Immerhin war er Leitwolf eines Rudels und ließ sich selbst von Kriegerwölfen nicht aus der Ruhe bringen. Leroy Carr, Tuckers dritter Mann im Rudel, blieb zu Hannahs Zufriedenheit ebenfalls absolut cool. Offensichtlich gehörte diese Masche zum Standard. Macho-Gehabe.

Sie konnte gerade noch ein amüsiertes Schnaufen unterdrücken. Stattdessen schob sie sich näher an Tucker heran, der sofort seinen Arm um sie legte. Dann nickte er den Männern zu.

„Mit wem habe ich das Vergnügen?“

Die beiden sahen sich kurz an. Sie wirkten überrumpelt. Hannah überlegte, ob sie überrascht waren, dass sie nach ihrem Namen gefragt wurden, oder dass Tucker auf Deutsch redete.

„Ich bin Thomas Burger und das ist Andreas Reinier“, antwortete einer der beiden schließlich. „Der Boss erwartet dich.“

Wieder nickte Tucker.

„Gut, dann sollten wir uns beeilen. Wir sind müde und wollen möglichst schnell die Formalitäten hinter uns bringen.“

Es war eine Stunde Fahrt, die Hannah beinahe wieder einschlafen ließ. Sie saßen zu dritt hinten in einem großen Van und Hannah genoss es, sich an ihren Wolf zu kuscheln.

Bisher wirkte alles friedlich, doch Tucker hatte sie gewarnt. Sie hatte seine Anweisungen noch sehr genau im Ohr.

„Du wirst dich Bolender nur nähern, wenn es nicht anders geht. Vielleicht können wir dich noch von ihm fernhalten, so dass ihm die Ähnlichkeit zu deinem Vater nicht auffällt.“

„Aber er hat sich doch bestimmt schon Bilder von mir angeguckt“, hatte sie eingewendet.

„Vielleicht, aber Bilder sind nicht so aussagekräftig wie deine Person. Er kennt Dierolf und mit Sicherheit wird ihm die Ähnlichkeit auffallen. Vielleicht erkennt er sogar den Familiengeruch. Das sollten wir so lange wie möglich hinauszögern.“

Fragte sich nur, wie sie das bewerkstelligen konnten.

Albin Bolenders Rudel bewohnte ein großes Anwesen westlich von München. Groß hieß in Deutschland: etwa zehn Hektar Land mit einer Menge Wald darauf.

Im Gegensatz zum Minnesota-Rudel lebte ein Teil der Mitglieder nicht in einzelnen Häusern, sondern verteilt auf drei große Gebäude.

Das offenbar alte Hofgut wirkte modernisiert und gepflegt. Neben den Wohngebäuden standen zwei größere Anbauten, die offensichtlich als Fuhrpark und Lagerhalle dienten.

Hannah war beeindruckt. Obwohl Tucker O’Brians Rudel eindeutig mehr Land zur Verfügung stand, wirkte sein Dorf eher provinziell und antiquiert. Sie beobachtete Tucker heimlich von der Seite. Dieser sah sich interessiert um, ließ aber nicht erkennen, ob er genauso beeindruckt war wie sie.

Je näher sie dem zentralen Gebäude kamen, desto unsicherer fühlte sich Hannah. Eigentlich hätte sie diesen Rudelführer gerne kennengelernt. Wie hatte ihr Vater einmal gesagt?

„Hannah, man muss seine Feinde besser kennen als seine Freunde.“

War Bolender ihr Feind? Zunächst wohl schon, zumindest so lange, bis Tucker ihn vom Gegenteil überzeugt hatte. Und die Sorge um ihre Familie war eindeutig stärker als ihre Neugier. Sie würde in Deckung gehen und sich absolut still verhalten – so schwer ihr das auch fiel.

Der Van hielt einige Meter vor dem Haus an, direkt neben einem großen BMW. Als sie ausstiegen, bemerkte Hannah die angespannten Blicke, die ihre Eskorte auf den SUV warf. Der BMW trug ein ukrainisches Nummernschild und sichtliche Gebrauchsspuren.

Hannah traute sich nicht, Tucker danach zu fragen. Inzwischen wusste sie nur zu gut, dass Wolfsohren deutlich besser hörten als Menschenohren.

Doch Sekunden später erfuhren sie, wem der Wagen gehörte. Zwei breitgebaute, große Gestalten traten aus dem Haus. Kriegerwölfe, erkannte Hannah sofort. Und diese beiden wirkten genauso unfreundlich und unnahbar wie Cathal und Mort.

Thomas Burger und Andreas Reinier traten unverzüglich mit gesenktem Blick zur Seite und auch Leroy verlangsamte seinen Schritt, so dass er sich hinter Tucker befand.

Der Leitwolf änderte seinen Kurs nicht. Sie trafen sich auf halbem Weg und Tucker nickte den beiden Kriegerwölfen kurz zu. Diese stockten in ihrem Lauf und blieben stehen, woraufhin auch Tucker anhielt.

„O’Brian?“

Der kleinere der beiden Riesen musterte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen. Tucker nickte.

„Ja, gibt es ein Problem?“

„Wir haben gehört, dass du kommst. – Chief Martinak will dich sprechen!“

„Hm, wegen der Wilderer?“

Der Riese nickte.

„Dann melde ihm, dass ich dazu bereit bin, sobald ich meinen Anstandsbesuch hier abgeschlossen und meine Gefährtin zu ihrer Familie gebracht habe.“

Der Riese musterte Hannah, die sich am liebsten kleiner gemacht hätte, aber entschlossen den Rücken streckte und seinen Blick erwiderte.

Immerhin war das nicht der erste Kriegerwolf, dem sie gegenüberstand. Und Mort war eindeutig furchteinflößender als dieser europäische Wolf.

In seinen Augen blitzte kurz Irritation auf, dann sah er wieder zu Tucker.

„Wir melden uns. Hast du eine Telefon-Nummer, unter der du zu erreichen bist?“

Tucker langte in seine Hemdtasche und reichte dem Kriegerwolf eine Visitenkarte.

„Sag Chief Martinak, dass ich ihm zur Verfügung stehe, obwohl ich nicht denke, dass ich neue Informationen für ihn habe.“

Der Kriegerwolf nickte und setzte sich wieder in Bewegung. Sein Partner folgte ihm, ohne die anderen Wölfe eines Blickes zu würdigen.

Tucker wartete nicht ab, bis der Wagen startete, sondern steuerte zielstrebig auf den Eingang zu. Alle anderen schlossen sich ihm eilig an.

Thomas Burger gab sich Mühe, als erster die Tür zu erreichen, und Hannah hatte den Eindruck, dass Tucker ihm in letzter Sekunde den Vortritt ließ. Das gehörte wohl auch zu den Machtspielchen von Leitwölfen.

Sie wurden durchs Haus geführt bis vor eine riesige Tür.

Hier verharrte Tucker und sah Hannah an.

„Du wartest hier mit Leroy. Es wird nicht lange dauern.“

Das klang so autoritär, dass Hannah sofort der Protest auf der Zunge lag. Sie hielt sich aber zurück, da ihr natürlich klar war, dass er sie von Bolender fernhalten wollte. Außerdem hatte sie zugesagt, seinen Anweisungen zu folgen. Also nickte sie brav und blieb stehen.

Der Wolf namens Andreas Reinier wies Leroy auf einige Stühle hin, während sein Kollege Tucker in den Nebenraum begleitete. Hannah hatte den unangenehmen Eindruck, dass sie bewusst ignoriert wurde. Aber zurzeit war ihr das nur recht. Sie sollte ja nicht auffallen und da war Ignoranz äußerst hilfreich – auch wenn sie dieses Verhalten als beleidigend und ärgerlich empfand.

*

Albin Bolender war größer als Tucker O’Brian.

Beinahe so groß wie ein Kriegerwolf, doch längst nicht so breit und muskulös. Seine blonden Haare waren ordentlich kurz geschnitten, sein Gesicht glattrasiert und schmal, fast jugendlich. Gegenüber dem Amerikaner wirkte er deutlich jünger. Nur die Augen verrieten seinen starken Willen. Sie blickten Tucker O’Brian kühl entgegen.

„Hallo O’Brian, du hast dir also ein neues Weib zugelegt? Das ging ja flott.“

Tucker ignorierte den respektlosen Ton der Begrüßung.

„Manchmal geht es eben schneller, als man es selbst für möglich gehalten hätte“, antwortete er ruhig. „Ich will dich nicht von deinen Geschäften abhalten. Mein Besuch hier in Deutschland wird wahrscheinlich nicht lange dauern.“

„Du hast eine Menge Ärger in Minnesota, habe ich gerade erfahren. Warum bist du nicht bei deinem Rudel?“

„Mach dir keine Sorgen, Albin“, lächelte Tucker. „Mein Rudel ist gut geschützt und ich bleibe, wie gesagt, nicht lange.“

Bolender runzelte die Stirn. Er schien mit der Antwort nicht zufrieden zu sein.

„Die Krieger haben mich informiert, dass jemand von den Rangers hier agieren wird. Was weißt du darüber?“

Tucker hob die Schultern.

„Sie haben mir erzählt, dass sie sich um die Sache mit den Wilderern kümmern werden, und dass eine Spur nach Deutschland führt. Eine andere weist nach Italien. Wie sie weiter vorgehen werden – die Details hat mir Chief Bryan nicht verraten. Aber vielleicht erfahre ich ja was von Martinak.“

Jetzt wirkte Bolender überrascht.

„Was hast du mit dem zu schaffen?“

„Bis jetzt noch nichts. Aber deine Besucher haben mir gerade verkündet, dass er mich sprechen will. Warum auch immer. Mehr als den Rangers werde ich ihm nicht erzählen können. – Aber das ist ja auch nicht der Grund, weswegen ich hier bin.“

„Sie ist ein Mensch. Eine Deutsche.“

„Ja, zweifellos, das ist sie“, lächelte Tucker. „Und da sie ein Mensch ist, solltest du kein Problem damit haben, wenn sie nach Minnesota zieht.“

„Sie ist eingeweiht?“

„Albin“, jetzt klang Tucker tadelnd. „Was unterstellst du mir? Natürlich ist sie das. Und bevor du weiterfragst: Wir werden zusehen, dass wir in den nächsten Tagen alles geregelt bekommen.“

Bolender gab einen unwirschen Laut von sich.

„Dieser Kriegerwolf aus Minnesota, kennst du den?“

„Wie heißt er?“

„Cathal Loganach.“

Tucker grinste breit.

„Oh ja, den kenne ich allerdings. Ein echtes Herzchen. Redet nicht viel und ist sehr gründlich. Deine Jungs sollten lieber Abstand halten. Ich vermute mal, dass er alleine gekommen ist?“

„Zumindest war nur von ihm die Rede.“

Tucker nickte.

„Bryan hat mir mal verraten, dass der Knabe kein Teamplayer ist. Wie gesagt, ein echtes Herzchen. Viel Spaß beim Aufräumen.“

„Dafür ist Martinak zuständig“, knurrte Bolender. „Wie ernst ist das mit diesen Jägern?“

„Hm, sie haben mir zwei Kids und meinen zweiten Mann schwer verletzt, und anscheinend ist mein Gebiet gerade ihr bevorzugtes Jagdrevier. Ich muss zugeben, dass es sehr erleichternd ist, die Ranger in der Nähe zu haben. Bedenklicher finde ich allerdings, dass ein Foto von einem Wolf existiert und herumgereicht wird. Bin gespannt, was die Krieger darüber herausfinden.“

Bolender nickte mit verkniffener Miene. Offensichtlich gefiel ihm Tuckers Aussage nicht besonders. Was nur allzu verständlich war. Niemand von ihnen hatte Interesse daran, dass die Existenz von Werwölfen in die Öffentlichkeit drang.

„Wo soll ich dich hinbringen lassen?“, wechselte er unvermittelt das Thema.

„Der nächste Bahnhof reicht. Wir haben nicht viel Gepäck.“

„Hm, Thomas wird euch zu eurer Wohnung fahren. Erkirch liegt bei Augsburg, nicht wahr?“

Tucker nickte zustimmend.

„Ja, aber wie gesagt, das ist nicht nötig.“

Bolender schnaufte nur und sah auf Thomas, der bisher unauffällig im Hintergrund gestanden hatte.

„Du kannst es damit verknüpfen, Erik abzuholen.“

Tucker horchte auf. „Dein Zweiter? Erik Dellinger?“

Bolender grinste ihn an.

„Ja, er hatte zufällig in Augsburg zu tun.“

Tucker sparte sich einen Kommentar. Was Erik Dellinger in Augsburg wollte, war ihm völlig klar. Bolender wusste immer gerne, was in seinem Revier vor sich ging. Erst recht, wenn es um die Angehörigen eines anderen Leitwolfs ging. Natürlich würde er sich vor Ort einen Eindruck von Hannahs Umfeld holen. Das war ärgerlich, aber nicht überraschend.

Erkirch, Deutschland

Erkirch lag knapp zwanzig Autominuten östlich von Augsburg entfernt und war eine beschauliche Kleinstadt, umgeben von Landwirtschaft und Wald.

Hannahs Domizil lag relativ zentral in der Stadt. Es war ein kleines Reihenhaus mit einem Minigarten und ausgebautem Dachgeschoss, Hannahs Atelier.

Nach knapp einer Stunde Autofahrt betrat Tucker das erste Mal Hannah Riemanns Wohnzimmer und stellte fest, dass seine zukünftige Frau einen völlig anderen Lebensstil besaß als er.

Die Möbel waren hell und schlicht. Überall hingen Fotos, von Kinderhänden gemalte Bilder und Bastelarbeiten, die offensichtlich schon viele Jahre existierten.

Kissen, Vorhänge, Teppiche, alles wirkte wahllos und bunt, zusammengestellt nach Zufall und ohne Prinzip.

In Tuckers Augen herrschte hier Chaos statt Ordnung und ihn beschlich das Gefühl, dass sein Haus in den nächsten Jahren wohl eine Metamorphose durchmachen würde.

Hannah sah ihm seine Sorge an und lachte ihn aus. Dann rannte sie durchs Haus und kontrollierte, ob noch alles beim Alten war.

„Leroy kann in Wulfs altem Kinderzimmer schlafen“, rief sie zwischendurch. „Erster Stock, erste Tür links.“

Während ihres Kontrollgangs ließ Tucker die Wohnung auf sich wirken. Die Fotos verrieten viel über Hannah Riemanns Leben. Familienbilder, Bilder von Cross-Läufen, Kunstausstellungen und, Tucker traute seinen Augen kaum, Hannah beim Klavierspielen! Er sah sich um und tatsächlich, in einer Ecke stand ein uraltes Klavier, halb begraben unter einem chaotischen Notenstapel. Eine dicke Staubschicht auf dem Klavierdeckel ließ ihn vermuten, dass Hannahs aktive Klavierphase schon länger zurücklag.

Leroy schleppte die Koffer herein und sah sich ebenfalls neugierig um. Dann grinste er.

„Na, viel Spaß beim Umzug, Boss. Du wirst anbauen müssen.“

„Ha ha, selten so gelacht“, knurrte Tucker. „Ist dieser Thomas weg?“

„Ja, er ist gleich abgerauscht. Meinst du, Bolender macht uns Schwierigkeiten?“

„Irgendwann sicherlich, aber im Moment wird er abwarten. Durchsuch alles nach Wanzen. Cody hat dir doch dieses Suchgerät gegeben?“

Leroy nickte und wies auf seinen Koffer.

Tucker stieg die Treppe hoch bis ins Atelier. Und er betrat eine andere Welt.

Das Dachgeschoß war bis unter den höchsten Giebel weiß verkleidet. Die Nordseite zur Straße hinaus war eine reine Glasfläche und ließ tagsüber ungehindert das Licht herein. Im Moment drang allerdings nur diffuses Sternenlicht ins Zimmer, so dass er das Licht anschalten musste.

Mehrere Staffeleien standen im Raum und an der Wand gegenüber der Fensterfront befand sich ein riesiges Regal, in dem sich unzählige Farbtöpfe, Tuben, Pinsel und Lappen, Schwämme, Tiegel und Farbpaletten türmten. Der Boden war hell gefliest und mit einigen Farbtupfern besprenkelt. An den Seitenwänden lehnten zahllose Leinwände. Viele ungenutzt, aber einige bemalt. Tuckers Augen erspähten Landschaften der unterschiedlichsten Art.

Offenbar war Hannah schon viel herum gekommen: Savannen, Steppen, Tundra, Urwald, sogar ein Wüstenbild erspähte er. So unterschiedlich die Landschaften auch waren, eines hatten sie alle gemeinsam: Betrachtete man sie, fühlte man sich hineinversetzt.

Tucker sah sich nachdenklich um. Dies war eindeutig Hannahs Welt. Ihr Leben und ihre Leidenschaft. Hier in diesem Raum verstand er, warum Hannah sich so sehr gegen den Gedanken gesträubt hatte, nach Minnesota zu ziehen.

Leroy hatte recht. Er würde anbauen müssen. Hannahs Kunst verlangte viel Platz.

Von unten erklangen Stimmen. Hannah hörte ihren Anrufbeantworter ab. Er lauschte aufmerksam und vernahm Anfragen von Kunden, Freunden und von ihrer Tochter Lilly. Nichts Interessantes, höchstens, dass Lilly Riemann eine äußerst angenehme Stimme besaß. Doch dann kam ein Anruf, bei dem er aufmerkte.

Er war von gestern und die Männerstimme klang angespannt.

„Hannah, wir müssen reden.“

Wolf! Das war eindeutig ein Wolf. Er war schon auf dem Weg nach unten, als der letzte Anruf ablief.

„Frau Riemann, hier spricht Anselm Reichert. Ich bin Anwalt und rufe im Auftrag eines Mandanten bei Ihnen an. Er interessiert sich sehr für ihre Bilder. Melden Sie sich bitte bei mir, wenn Sie wieder im Land sind?“

Die Telefonnummer war noch nicht zu Ende gesprochen, als Tucker schon neben Hannah stand. Sie sah ziemlich blass zu ihm hoch.

„Das ... das war gerade die Stimme von meinem Vater“, flüsterte sie. Er nickte grimmig.

„Das hab ich mir schon gedacht. Also hat es geklappt. Er ist alarmiert. Fragt sich nur, ob er weiß, wer bei dir ist.“

Hannah biss sich auf die Lippen. Man sah ihr an, dass Angst in ihr hochkroch.

Tucker umschlang sie und legte sein Gesicht in ihre Haare.

„Wir schaffen das, Hannah“, versprach er leise. „Morgen besuchen wir deinen Sohn. Und was deinen Vater angeht, so müssen wir die Augen aufhalten. Er wird sich mit dir in Verbindung setzen wollen. Ich habe zwar keine Ahnung, wie er das anstellen will, aber vermutlich wird es nicht mehr lange dauern.“

Leroy trat zu ihnen.

„Die Wohnung ist sauber, Boss. Soll ich was zu essen besorgen?“

Tucker nickte zustimmend.

„Ja, hier gibt es bestimmt sowas wie einen Pizzaservice.“

Rom, Italien

Rom mochte ja historisch interessant sein, doch Henry Graves hatte diese Stadt noch nie leiden können. Sie war schon immer laut, hektisch und dreckig gewesen. Immerhin war es jetzt Ende Oktober nicht so heiß, dafür umso feuchter.

Mort Byers, seit vielen Jahren sein engster Partner und Freund, hockte genauso mies gelaunt neben ihm im Wagen. Den ganzen Tag schon lauerten sie in der Nähe von Enzo Denas Wohnsitz und behielten ihn im Auge. Der Bully, den sie vom hiesigen Rudelführer gestellt bekommen hatten, war bei weitem nicht so gut ausgestattet, wie sie es gewohnt waren, doch immerhin gab es ein gutes W-Lan Netz und sie hatten Kontakt zu Freaky aufnehmen können. Dieser versorgte sie ständig mit neuen Bildern und Informationen.

Henry fragte sich nicht zum ersten Mal, wie der Wolf das hinbekam. Er hatte anscheinend zu allem Zugang, selbst zum Satellitennetz.

„Der Mistkerl ist verdammt gut gesichert“, knurrte Mort schließlich. „Modernste Sicherheitsanlagen und Überwachungskameras.“

„Aber kaum Personal. Ein gewisser Vincento Morena wohnt ständig bei ihm. Anscheinend ist der sein Leibdiener und so eine Art Mädchen für alles. Tagsüber kümmert sich eine Haushälterin um Essen und Wohnung.“ Henry rieb sich nachdenklich das Kinn. „So einfach kommen wir tatsächlich nicht da rein. Die einzige Zeit, in der das Haus leer steht, ist am späten Nachmittag für etwa ein bis zwei Stunden. Aber dann ist es noch hell und wir fallen garantiert auf, während wir uns Zugang verschaffen.“

„Also brauchen wir einen Profi“, knurrte Mort. „Und zwar einen, den man nicht sieht.“

„Hm, vielleicht sollten wir alte Kontakte wiederbeleben“, überlegte Henry. „Asher Hunter schuldet uns noch mindestens einen Gefallen und sowas fällt ja in sein Fachgebiet.“

„Glaubst du, er kann uns schnell genug jemanden schicken?“

„Keine Ahnung, ich werde ihn wohl einfach fragen müssen. – Sieh an, sieh an. Unser Freund hat weibliche Begleitung.“

„Sieht gut aus“, brummte Mort und betrachtete die langhaarige Schönheit auf dem Rücksitz von Denas Wagen, der gerade vorfuhr.

Sie standen weit genug weg, um nicht aufzufallen, doch die Kamera, die Mort in den Händen hielt, hatte ein ausgesprochen effektives Teleobjektiv.

„Die hat bestimmt ‘nen knackigen Hintern.“

„Mindestens“, grinste Henry und griff nach seinem Handy. „Mach ein paar Bilder. Es schadet nichts, wenn wir wissen, wer sie ist. – Betty? – Gib mir doch mal die Nummer von Asher Hunter. Danke. Gibt‘s was Neues aus Deutschland? - Hm, schade.“

Er schaltete ab und beobachtete, wie Enzo Denas Angestellter aus dem Wagen sprang und eilig im Haus verschwand. Kurze Zeit später erschien er wieder mit einer Aktentasche und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Die Limousine fuhr an und fädelte sich in den Verkehr ein. Henry startete und folgte ihm.

Enzo Dena besuchte zunächst ein nobles Restaurant, anschließend verschwanden er und seine Begleiterin in einem naheliegenden Hotel. Es dauerte einige Stunden, bis sie es wieder verließen. Zunächst fuhr der Wagen die Frau nach Hause, dann kehrte auch Enzo Dena zu seiner Villa zurück. Es war nach Mitternacht, als die letzten Lichter im Haus verlöschten.

Insgesamt war es eine öde Observierung gewesen, doch Henry war trotzdem zufrieden. Die Zeit hatte er nutzen können, um mehr Informationen über Dena zu lesen. Zudem hatte Asher Hunter ihm tatsächlich Hilfe zugesagt. Er war gespannt, welchen Wandler sie am nächsten Tag zu sehen bekamen. Die meisten dieser Geschöpfe kannte er bisher nicht. Es gab insgesamt nur wenige, und die hielten sich in der Öffentlichkeit sehr zurück.

Nicht ohne Grund, wie Henry wusste. Wandler waren unberechenbar und cholerisch. Ein harmloser Streit mit ihnen endete mitunter sehr schnell blutig. Doch Wandler hatten auch ihre Vorteile, und diese konnten sie bei einem Einbruch sehr gut gebrauchen.

München, Deutschland

Dennis Kossmann wohnte mitten in München, im Stadtteil Maxvorstadt, und zwar recht pompös in einer einzeln stehenden Villa. Keine Frage, er war ein vermögender Mann.

Nils Hassler hatte inzwischen alle weiteren Daten über ihn zusammengetragen. Kossmann war ein erfolgreicher Manager in der Schwermetallindustrie, der den Ruf hatte, notfalls über Leichen zu gehen. Bisher war er zwar noch nicht vorbestraft und auch nicht angezeigt worden, doch das lag wohl eher daran, dass er noch nicht erwischt wurde. So vermutete zumindest Cathal, und den Gesprächen seiner Begleiter nach, dachten sie ebenso.

Die Villa schien top gesichert zu sein. Zumindest soweit man das in der Dunkelheit des späten Abends erkennen konnte. Nils zauberte über seinen Laptop einen Grundriss des Gebäudes und Informationen über die Sicherheitsausstattung herbei.

Cathal war positiv beeindruckt. Er selbst mochte Computer nicht und war froh, dass es Wölfe gab, die davon Ahnung hatten. Genauso wenig mochte er Alarmanlagen und Überwachungskameras.

Klar war, dass sie an diesen Kerl herankommen mussten, um ihn nach dem ominösen Foto zu befragen. Und zumindest für Cathal war es keine Frage, dass Dennis Kossmann das Ganze nicht überleben würde. Dieser Bastard gehörte freiwillig zu einer Gruppe skrupelloser Killer und hatte in Cathals Augen jedes Recht auf Mitgefühl verspielt. Was die anderen beiden Krieger dachten, war ihm schlichtweg egal.

Aber noch hockten sie in einem alten VW-Bus, etwa hundert Meter von Kossmanns Villa entfernt, und überlegten, wie sie den Manager in ihre Hände bekommen konnten, ohne Aufsehen zu erregen.

Immerhin wussten sie inzwischen, dass er sich gerade in der Villa aufhielt. Der Manager war am späten Abend mit einer Limousine vorgefahren und durch das große Torgitter, welches sich automatisch geöffnet hatte, in den schicken Vorpark der Villa gerollt. Danach war wieder Ruhe eingekehrt und nur die Lichter in verschiedenen Zimmern zeigten an, dass jemand im Haus war.

„Einbrechen ist zu kompliziert“, meinte Nils schließlich. „Wir müssen ihn schnappen, wenn er unterwegs ist. Am besten außerhalb der Stadt. Hier gibt es einfach zu viele Zeugen.“

Sie überlegten hin und her, zumindest taten das Renaud und Nils. Cathal hörte nur zu und machte sich seine eigenen Gedanken.

„Wir warten“, entschied er schließlich und schob sich auf den Beifahrersitz, von wo aus er die Villa im Blick hatte.

Er verschränkte die Arme und versenkte sich in einen Zustand, den er „Wachmodus“ nannte. All seine Sinne richteten sich auf die Villa und deren Bewohner, und es dauerte auch nicht lange, bis er eine Verbindung gefunden hatte. Cathal wurde zu dem, was ihn ausmachte: Ein Jäger, der auf seine Beute lauerte.

Seine Begleiter beobachteten ihn irritiert. Inzwischen hatten sie sich damit abgefunden, dass man von dem Ranger kein Gespräch erwarten durfte, und das dämpfte auch ihren Drang zu reden. Also schlossen sie sich seinem Verhalten an und warteten schweigend ab.

Auch sie waren Jäger und dazu gehörte nicht selten Geduld.

Rom, Italien

Vincento Morena war es gewohnt, zu ungewöhnlichen Uhrzeiten geweckt zu werden, und er beschwerte sich nie. Doch insgeheim hasste er es.

Nachts Telefonanrufe entgegenzunehmen und abzuschätzen, wie wichtig sie waren, gehörte mit Sicherheit nicht zu seiner Lieblingsbeschäftigung.

In dieser Nacht beschloss er, dass der Anruf wichtig genug war, um Enzo Dena zu wecken.

„Sie haben was?“

„Einige Leichenteile gefunden. Allerdings nicht da, wo wir sie vermutet hätten.“

Enzo Dena zog den Gürtel von seinem Bademantel zu und griff nach dem Tablet, das Vincento ihm reichte.

Stirnrunzelnd starrte er auf die Textdatei.

„Was zum Teufel soll das bedeuten? In South Dakota? Was haben sie dort gewollt?“

„Keine Ahnung. Die Frage ist aber auch: Wieso nur von Stan und Ollie? Und wieso nur Teile? Wo ist der Rest?“

„Verdammt!“ Enzo rieb sich das Kinn. „Wir brauchen den forensischen Bericht. Und zwar möglichst schnell. Außerdem alle anderen Infos über diese Funde.“ Er sah zu Vincento hoch. „Ich habe ein ganz mieses Gefühl bei der Sache. Wie weit sind wir in der Sache Riemann?“

„Scekic ist informiert und auf dem Weg nach Deutschland. Er hat auch schon durchgegeben, welche Leute von der Liste er haben will. Ich kann sie dir sofort geben.“

Dena winkte ab.

„Das reicht morgen. Aber ich will dann stündlich informiert werden. Was habe ich morgen für Termine?“

„Vormittags ein Meeting mit den Vertretern der Waffenlieferung nach Nahost. Mittagessen mit Signora Zama Locatelli und nachmittags verschiedene Treffen. Abends steht die Einladung zu der Spenden-Gala von Signora Locatelli auf dem Programm.“

Enzo Dena lächelte zufrieden.

„Stimmt, die reizende Locatelli. Eine wirklich appetitliche Signora. Was meinst du? Wie lange brauche ich noch, bis sie die Beine breit macht?“

Vincento grinste anzüglich.

„So wie sie dich beim letzten Mal angesehen hat, vermute ich mal, dass es schon heute Nacht passieren wird. Soll ich das Bad vorbereiten?“

„Hm, nein. Ich glaube, ich möchte es spontan aussehen lassen. Aber gib Scekic durch, dass ich diese Riemann lebend haben will, und zwar möglichst in einem Stück.“

„Das habe ich schon so formuliert. Er war nicht begeistert, aber ich denke, er hat es geschluckt.“

„Gut.“ Enzo gab ihm das Tablet zufrieden zurück. „Ich freue mich schon sehr auf ein intensives Gespräch mit dieser Signora.“

Rebellen

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