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Die Religion als Organismus – Der Körper

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Wenn wir die Religion mit einem Wesen, mit einem Organismus vergleichen, was durchaus legitim ist, da sie sich entwickeln, wachsen, verändern und sterben kann, dann entspricht der Körper dieses Organismus ihrer äußeren Struktur. Je kraftvoller eine Religion in der Welt in Erscheinung tritt, sei es durch äußeren Einfluss, durch die globale Verbreitung oder durch die schiere Zahl ihrer Anhänger, dann geschieht dies meist durch eine ausgeprägte körperliche Entwicklung und Präsenz.

Diese Analogie wirft natürlich Fragen auf: Was ist Teil dieser körperlichen Ebene? Wie ist sie aufgebaut und organisiert? Was ist ihre Aufgabe? Funktioniert der Körper immer einwandfrei? Wie und durch wen wird dieser Körper gelenkt? Wie sieht die Schnittstelle zur nächsten Ebene aus, zur Ebene des Lebens?

Nun, der Körper ist eine recht äußerliche Angelegenheit, und darum gehört zu ihm alles, was nach außen hin sichtbar ist und ihm Struktur gibt. Dazu zählt die formelle Religionsbezeichnung, durch die sich eine Religion ganz formell von anderen Religionen unterscheidet und die ihr einen Ort im religiösen Beziehungsgeflecht zuweist. Genau genommen gibt es mit der Religion an sich noch einen Superorganismus, der allerdings keine kraftvolle und wohldefinierte Angelegenheit darstellt, sondern eher ein Gebilde mit einer Autoimmunkrankheit.

Der Superorganismus Religion definiert sich durch den Glauben an etwas, das größer ist als wir es sind, dem wir in der ein oder anderen Form unsere Existenz verdanken und das meist auch irgendwie Interesse an uns hat, so wie auch Eltern meist an der Entwicklung ihrer Kinder interessiert sind. Und wie in jeder irdischen Familie, ist auch in dieser die Beziehung von Kindern und Eltern und die Beziehung der Kinder (und Enkel und Urenkel) untereinander individuell sehr unterschiedlich und längst nicht immer spannungsfrei. Das Elter (oder die Eltern) ist die schöpferische Urmacht, das Große Bewusstsein, die Gottheit oder ein Clan von Gottheiten oder übernatürlichen Wesen. Die Kinder in dieser Familie sind die Religionen und die Vorstellungen, die sie von ihrem Elter haben, was ihrer Beziehung zu ihm entspricht. Hier finden sich helfende, gütige, beobachtende, verständnisvolle, neutrale, desinteressierte, fordernde, rachsüchtige, eifersüchtige, grausame und zornige Gottesbilder, die allesamt sehr menschlich geprägt sind. Die Spanne reicht von Gottheiten, die uns die Hand reichen und uns zu sich emporziehen wollen bis zu solchen, die diktatorisch eine absolute Unterwerfung fordern.

Die einzelnen Religionen sind Ausdruck unserer Beziehung zum Göttlichen und in ihrer Ausgestaltung überwiegend menschengemacht, und sie sind Kinder des Superorganismus Religion, der unsere grundlegende und ideale Beziehung zu dieser Urmacht darstellt und dem Göttlichen in seiner Unformuliertheit näher steht als jede Einzelreligion.

Wir haben hier also eine provisorische Hierarchie: Ganz oben befindet sich Gott, dann kommt lange nichts, und dann kommt die Religion als Superorganismus mit den einzelnen Religionen als seinen Kindern. Grob gesagt sind diese Kinder die ethnische oder Naturreligion, der Polytheismus und der Monotheismus, die sich ihrerseits wieder in Kinder (z. B. das Christentum) und Kindeskinder (hier u. a. Orthodoxie, Katholizismus und Protestantismus) usw. verzweigen. Hinzu kommen die Sozialreligion des Konfuzianismus und die eher spirituellen Religionen Buddhismus und Daoismus mit ihren jeweiligen Kindern und Enkeln. Den meisten Unfrieden gibt es hier bei den monotheistischen Religionen.

Wie in nahezu jeder Familie gibt es Zank und Streit, Unverständnis und verschiedene Auffassungen, besorgte Eltern und vor allem zankende Kinder und Kindeskinder. Man kann diese Analogie natürlich nicht allzu weit führen, denn der Abstand zu dieser Urmacht und die augenscheinlichen Unterschiede unserer Natur und der Natur des Göttlichen sind dafür zu groß und ausgeprägt, und es scheint auch nicht vorgesehen oder möglich zu sein, dass die Kinder in einem Ausmaß erwachsen werden, dass sie einen gleichberechtigten Platz als Gott neben Gott einnehmen.

Dieser Unfrieden rührt daher, dass nahezu jede Religion für sich in Anspruch nimmt, über die einzig legitime und allzeit gültige Verkündung und Interpretation des göttlichen Willens zu verfügen und nicht verstehen kann, dass nicht jedes menschliche Wesen mit Beginn der Bewusstwerdung sofort zu ihr konvertiert. Nun kann man sicherlich Gottes Einfluss bei der Bildung der Religionen nicht gänzlich leugnen, aber da die Religionen ziemlich unterschiedlich ausgefallen sind und noch nie an unterschiedlichen Orten auf der Erde zwei identische Religionen unabhängig voneinander entstanden sind, ist dieser Einfluss eben nur ein Einfluss, beziehungsweise wurde dieser, wie im Kapitel über das Transformsyndrom noch erläutert wird, durch den Menschen entstellt. Und wenn man dann noch bedenkt, dass die menschlichen Völker und Kulturen und Auffassungen sehr unterschiedlich sind und der Mensch an sich im Verlauf seiner Geschichte auch eine bisweilen gewaltige Entwicklung seines Bewusstseins durchlaufen hat und immer noch durchläuft, und Gott vielleicht versucht, uns an jedem Ort, in jeder Kultur und zu jeder Zeit genau das zu vermitteln, was wir für unsere Entwicklung und für unser religiöses Verständnis gerade benötigen, dann ist die Vorstellung einer einzigen und absolut wahren und ewigen Religion schon absurd und genau genommen blasphemisch, da wir dieser göttlichen Urmacht damit praktisch diktieren, wie sie und ihre Beziehung zu uns für immer und ewig zu sein hat. Das ist eine zutiefst menschliche Sichtweise, und darum sind auch die Religionen überwiegend menschliche Gebilde mit einem möglichen göttlichen Kern, der wahrscheinlich in jeder Religion einen anderen Aspekt des Göttlichen widerspiegelt.

Damit die Religion ihre Aufgabe, die darin bestehen müsste, den Menschen näher zu dieser Urmacht zu führen, besser erfüllen kann, müsste sie nach diesem Kern in sich und in den anderen Religionen suchen und auf diese Weise den Superorganismus Religion mit sprudelndem Leben erfüllen. Dann ist die Religion kein Gegeneinander mehr, sondern ein freudiges Miteinander, das bereit ist, die Stagnation hinter sich zu lassen und stattdessen Fortschritte zu machen, die den Menschen individuell und global weiterhelfen werden.

Der körperliche Kern einer Religion wird durch die heiligen Texte gebildet, auf die sich jede Religion beruft, seien sie nun schriftlich fixiert oder mündlich überliefert, wobei vor allem die heiligen Schriften als von Gott inspiriert oder diktiert gelten und somit oftmals einen Nimbus der Unantastbarkeit haben, während Überlieferungen sich im Laufe der Zeit verändern und, im Positiven wie im Negativen, an die Entwicklung anpassen können und so, zumindest potenziell, für den moderierenden Einfluss Gottes offen sind.

Die ältesten dieser Schriften dürften die heiligen Texte des Hinduismus sein, die Veden und die Upanishaden, die als „gehört“ gelten, also als direkt von Gott übermittelt. Sie illustrieren augenfällig die bereits angesprochene Tatsache, dass sich der Mensch und seine Kultur stetig entwickeln und umformen, während das niedergeschriebene Wort unveränderlich bleibt. Diese Schriften sind voller Bilder und Symbole, die vielleicht zur Zeit ihrer Entstehung eine klare Sprache darstellten, weil sie im Bewusstsein der damals aktuellen Kultur verankert waren, nur hat sich das Bewusstsein im Laufe der Jahrtausende gewandelt, und die Bedeutung dieser Bilder wird heute nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt verstanden, vor allem, was den spirituellen Gehalt angeht. Hier hat Sri Aurobindo mit seinem Verständnis für eine Übersetzung in aktuelle Begrifflichkeiten und Bilder gesorgt.

Was den Buddhismus betrifft, so hat Buddha selbst, der ja eine historische Person war, seine Lehre vermutlich nie als Religion bezeichnet, und manche Buddhisten machen das auch heute nicht. Buddha hat sich in seiner Lehre nie auf Gott bezogen, und ihr Gehalt ist trotz vieler ritueller Elemente, die zum Körper einer Religion gehören, überwiegend spirituell. Aber man kann die Erleuchtung, die er am Anfang seines Lebens erfuhr, durchaus als Berührung Gottes betrachten und damit als religiöses Element. Davon abgesehen ist die buddhistische Lehre von vielen Religionen Asiens aufgegriffen und in ihr religiöses Leben integriert worden. Seine Lehrgespräche wurden anfangs auswendig gelernt und mündlich weitergegeben und nach einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne nach seinem Tod schriftlich fixiert. Da seine Lehrtätigkeit lange andauerte und es eine große Vielzahl übereinstimmender Überlieferungen gab, sind diese Texte einigermaßen authentisch.

Die Texte des Judentums, die zum Teil auch für das Christentum und den Islam von Bedeutung sind, sind überwiegend Berichte der Geschichte des israelischen Volkes und der Begegnung mit dem Willen Gottes, die irgendwann erlebt, erzählt und aufgezeichnet wurden. Einzig die Zehn Gebote ragen hier als direktes Wort Gottes heraus, wenngleich die fünf Bücher Moses, die Tora, als direkt und vielleicht sogar physisch als von Gott übergeben gelten. Andererseits gibt es mit dem Talmud und einer Tradition der zeitgemäßen Interpretation einen pragmatischen Einfluss, der die nicht-orthodoxen Bereiche des Judentums vor völliger Versteinerung bewahrt.

Die Schriften des Christentums wurden aus einer größeren Sammlung von Texten von einem Konzil Jahrhunderte nach Christus zusammengestellt. Sie enthalten den jüdischen Tanach und im Neuen Testament Erzählungen über das Leben Jesu und das Wirken der Apostel. Die Texte gelten allgemein als von Gott inspiriert, werden aber auch vereinzelt als direktes Wort Gottes gedeutet, wogegen allerdings die Tatsache spricht, dass es von jedem Text verschiedene Versionen gibt. Dadurch gibt es einen gewissen, wenn auch engen Spielraum für abweichende Meinungen und Neubewertungen und somit für Evolution.

Der Islam hat Teile der Bibel übernommen, betrachtet diese allerdings als bisweilen vom Menschen verfälscht. Er stützt sich vor allem auf den vom Propheten Mohammed als direktes Wort Gottes niedergeschriebenen Koran, an dem darum nicht zu rütteln ist. Doch trotz dieses umfassenden Anspruchs auf Allein- und Ewigkeitsgültigkeit, der nur durch die Ankunft des Mahdi in ferner Zukunft etwas relativiert wird, müssen auch die Schriften des Islam interpretiert und ihre Deutung dem Wandel der Zeit und des Bewusstseins angepasst werden, womit er sich manchmal sehr schwer tut.

Ein weiterer Punkt der religiösen Körperlichkeit ist die Religionsfreiheit. Hier muss man zunächst zwischen der Freiheit von Religion und der freien Wahl der Religionszugehörigkeit unterscheiden. Freiheit von Religion bedeutet dabei nicht nur das Freisein von Religion, was nicht automatisch Atheismus oder Antitheismus bedeutet, sondern auch die Möglichkeit, eine Religion ablegen und/oder eine andere Religion wählen zu können. Diese Möglichkeiten bietet eigentlich keine Religion, denn mit der Geburt ist man unweigerlich Mitglied der elterlichen Religion und kann diese auch nicht wirklich ablegen. Einzig beim Christentum und vielleicht der einen oder anderen kleineren Religion gibt es mit der Taufe eine eigene Aufnahmezeremonie, die dem Kind aber für gewöhnlich unmittelbar nach der Geburt angediehen oder auferlegt wird.

Es gibt also in dieser Hinsicht keine wirkliche Religionsfreiheit. Man wird in eine Religion hineingeboren und verbleibt in dieser, auch wenn es formell meist die staatliche Möglichkeit gibt, eine Religion zu verlassen und religionslos zu sein. Das ist aber eine Formalität, die nur rechtlich bindend ist. In seltenen Fällen kann die Apostasie, also der Abfall vom Glauben, in Ländern mit einer islamischen Staatsreligion zur Todesstrafe führen, obwohl der Koran diese nicht vorsieht, und obwohl der Islam sogar eine Unterscheidung zwischen der Annahme der Religion und der Annahme des Glaubens kennt. Die meisten Religionen kennen aber Abläufe und Zeremonien für die Aufnahme eines neuen Gläubigen. Hierbei ist zu beobachten, dass Konvertiten häufig besonders eifrige Verfechter ihrer neuen Religion sind, was man bisweilen durchaus darauf zurückzuführen kann, dass man eine bewusste Entscheidung getroffen hat, oder dass sie gar zum Fundamentalismus neigen, was vielleicht Anzeichen von Unsicherheit sind oder das Gefühl, sich beweisen zu müssen.

Dann gibt es in diesem Zusammenhang noch das Phänomen der Staatsreligion. Hier muss man zwischen zwei Formen unterscheiden, eine staatliche Bevorzugung einer Religion, ohne dabei die Religionsfreiheit einzuschränken, wie das bei einigen christlich geprägten Ländern der Fall ist, und eine enge Verknüpfung von Staat und Religion, wobei die Religion einen massiven Einfluss auf die Staatsführung und die Gesetzgebung hat, wie es in einigen islamischen Ländern der Fall ist. Hier begreift die Religion sich als einzige Grundlage des Menschseins und den Staat, die Welt und die gesamte Lebensführung als ihre ureigenste Domäne. Darum gibt es hier keine nennenswerte Religionsfreiheit, und Mitglieder anderer Religionen werden zwar in geringem Maße geduldet, haben aber oft nicht die gleichen Rechte.

Man kann also feststellen, dass es nirgendwo auf der Erde eine wirkliche Religionsfreiheit gibt, denn die verwehende kommunistische Ideologie ist in ihrer Ablehnung der Religion ebenso gefangen wie die Menschen, die in eine Religion und eine religiöse Umgebung hineingeboren werden in dieser gefangen sind. Dadurch ist man immer in der einen oder anderen Richtung voreingenommen, und darum wird man auch nicht angehalten, sich mit der Religion an sich und den Inhalten und dem Charakter der einzelnen Religionen auseinanderzusetzen und eine individuell passende Religion anzunehmen, der Religion an sich gewogen zu sein oder sie abzulehnen und sich dem Atheismus oder der über die Religion hinausweisenden Spiritualität zuzuwenden. Freiheit bedeutet, das Wissen und die Möglichkeit der unvoreingenommenen und uneingeschränkten Wahl zu besitzen.

Um diese Freiheit zu gewährleisten, sollten Kinder von Geburt an religionslos aufwachsen und ein humanistisches Wertesystem vermittelt bekommen, das ja mit den Grundwerten der meisten Religionen einigermaßen konform geht, wenn man mal von der unwürdigen Behandlung der Geschlechtsunterschiede bei vielen Religionen absieht. Außerdem sollten im Ethikunterricht der Atheismus und die einzelnen Religionen mit ihren Stärken und Schwächen ausführlich dargestellt werden, ebenso wie die im Bewusstseinsrad über sie hinausführende Spiritualität und die Bewusstseinsforschung. Dann erst kann der Mensch ab dem Zeitpunkt des Erwachsenwerdens eine einigermaßen informierte und/oder eine Entscheidung des Herzens treffen, die ihn in seiner Entwicklung voranbringen kann.

Gegen eine solche Regelung würden die Religionen sicherlich Sturm laufen, weil sie das Potenzial hat, den bisweilen aufgeblähten Körper, der aus den Zellen ihrer Mitglieder besteht, schrumpfen zu lassen, aber objektiv betrachtet, wenn man den körperlichen Aspekt beiseite lässt und den zentralen Seelenaspekt hervorhebt, sollten sie diese eigentlich begrüßen, denn sie sorgt dafür, dass zwar die Quantität der jeweiligen Gemeinschaft der Gläubigen geringer wird, aber ihre Qualität, und durch diese Verschlankung auch ihre Ausstrahlungskraft, zunimmt, denn diese neuen Gläubigen haben sich freiwillig und aus eigenem Antrieb für das religiöse Leben entschieden und sind wahrscheinlich auch eher bereit, sich mit den Kernpunkten des Glaubens zu beschäftigen und ein aktives religiöses Leben zu führen und sich auf diese Weise auch gegenseitig beim Aufstieg zu neuen Höhen zu unterstützen. Das sollte für jede Religion, die sich nicht nur als Körper und Leben mit einem untergeordneten Geist und einer nicht präsenten Seele betrachtet, ein ausgesprochen wünschenswertes Resultat sein.

Aber im Moment scheint der Fokus einer jeden Religion auf ihrer Körperlichkeit zu liegen, weshalb dies vielleicht noch lange ein frommer Wunsch bleiben könnte. Zu dieser Körperlichkeit gehören neben der alles zusammenhaltenden Haut der Religion auch das Skelett und die Zellen. Die Zellen, das ist klar, werden von ihren formellen Mitgliedern gebildet, wobei die Religion vor allem auf Masse setzt. Hier ist keine ausgewogene Gestalt wichtig, sondern eine möglichst umfangreiche, um im Verdrängungswettkampf und Einfluss die Nase vorn zu haben. Die Menschen näher zu Gott zu bringen, ist nicht wichtig für den Körper, nur der äußere Schein und der Selbsterhaltungstrieb eines jeden Organismus.

Das Skelett, dass diesen Körper stützt und für zielgerichtete Bewegungen hilfreich ist, wird durch die Hierarchie bereitgestellt. Hierarchie bedeutet, dass jede Religion eine innere, hierarchisch geordnete Struktur besitzt, eine Stufenleiter, die bestimmt, wer was und wie viel zu sagen hat. Viele Religionen haben eine recht flache Hierarchie und/oder sind dezentral aufgestellt. Hier haben die unteren Ränge vergleichsweise viel Einfluss und eine größere Freiheit bei der Auslegung der Lehre, so dass man fast von Unorganisiertheit sprechen könnte. Trotzdem gibt es aufgrund der Erwartungen der Gemeinden, der vergleichbaren Ausgestaltung des Amtes, des gemeinsamen theologischen Körpers und eines nicht zu unterschätzenden Konformitätsdrucks keine allzu großen Abweichungen von der etablierten Norm, wenngleich es durchaus zu unterschiedlichen Auffassungen über bestimmte Themenbereiche kommen kann, etwa zu Fragen der Frauenrechte oder zum Umgang mit der Moderne. Hier kann im Laufe der Zeit durchaus ein Paradigmenwandel stattfinden. In solchen flachen Hierarchien, wie etwa im Islam, haben die Oberhäupter, falls es solche gibt, bisweilen nur einen moderaten oder moderierenden, aber bei genügend Charisma und Machtbewusstsein auch sehr dominierenden Einfluss.

Ganz anders sieht es dagegen in der christlichen Religion aus. Bei ihr sticht vor allem der Katholizismus aus der Masse christlicher Konfessionen hervor. Er scheint unter allen Religionen und Konfessionen die umfangreichste und am stärksten ausgearbeitete Hierarchie aufzuweisen, an deren Spitze der Papst steht, dessen Macht in Glaubensfragen durch das 1. Vatikanische Konzil mit dem Dogma der Unfehlbarkeit, auf das er sich bei Grundsatzentscheidungen berufen kann, ausgebaut wurde. Interessanterweise wurde diese Unfehlbarkeit auf dem 2. Vatikanischen Konzil auch der Gesamtheit der Gläubigen zugestanden, was bedeutet, dass ein hinreichend großer Umschwung in der Auffassung und Interpretation strittiger Fragen bei einem Großteil der Glaubensgemeinschaft, sozusagen dem hierarchischen Fußvolk, durchaus zu einer Anpassung der Auffassung der oberen Ränge führen kann — zumindest in der Theorie.

Allerdings ist eine solche Änderung nicht ganz einfach, da die oberen Ränge sich auf die Bibel und die etablierte und/oder von ihnen festgelegte Interpretation stützen können und diese Interpretation über sämtliche Hierarchiestufen hinweg der Glaubensgemeinschaft aufprägen, so dass sich diese für einen Wandel von der Auswirkung dieser Form der Erziehung erst emanzipieren muss, was in Glaubensfragen nicht immer einfach ist. Dass diese Bemühung darum nicht immer und/oder nicht dauerhaft erfolgreich ist, zeigt das Beispiel der Frage der Homosexualität, die durch die vergleichsweise neuzeitliche Bibelinterpretation ohne solide Grundlage gebrandmarkt und deren Ächtung durch die oberen Hierarchieränge zunehmend verschärft wurde, während sich im Zuge der Aufklärung, wissenschaftlicher Erkenntnisse und eines allgemeinen Bewusstseinswachstums bei den Gläubigen eine akzeptierende Haltung durchsetzt. Nichtsdestotrotz wird wohl noch geraume Zeit vergehen, bis die Unfehlbarkeit der Glaubensgemeinschaft in dieser Frage bei den Kirchenoberen angekommen ist.

Denn ein Hauptproblem hierarchischer Strukturen ist ihre systemimmanente Unbeweglichkeit. In Hierarchien gibt es meist nur eine schwach ausgeprägte Diskussionskultur, weil die Auffassungen der obersten Hierarchiestufe wie Vorgaben die darunter liegenden Stufen beeinflussen. Es geht in einer Hierarchie nicht darum, eine eigene Meinung zu haben, sondern die Meinung der Spitze. Das wäre kein Problem, wenn die Hierarchie natürlich wäre und ihr höchster Punkt tatsächlich unfehlbar oder zumindest am allerbesten informiert und zudem von untadeligem Charakter, aber jede religiöse Hierarchie ist von Menschen gestaltet und damit automatisch fehlbar. Von allen Hierarchiespitzen kommt wahrscheinlich nur der Dalai Lama dem Ideal halbwegs nahe, denn er wurde sein ganzes Leben lang systematisch und auf allen zugänglichen Seinsebenen auf seine Aufgabe und Verantwortung vorbereitet. Doch auch er ist nicht unfehlbar und sich dessen auch bewusst. Es gibt sicherlich innerhalb einer Stufe Diskussionen, aber durch die geringe Zahl der Vertreter ganz oben und durch den Dekretismus von oben keine vielfältige und wirklich offene Diskussion, was nicht zuletzt auch der Tatsache geschuldet ist, dass man meist nur durch Konformität nach oben aufsteigen kann. Weiter nach unten zu wird die Meinungsvielfalt immer größer. Aber Hierarchien sind nicht dafür bekannt, dass sie eine stufenübergreifende Diskussionskultur ernsthaft fördern. Und wie schon angedeutet, bewegt sich eine Hierarchie gewissermaßen im Kreis, denn sie prägt ihre Umwelt und lässt nur diese geprägten Elemente in sich zu, was Veränderungen nicht nur sehr effektiv verhindert, sondern auch zu Verhärtungen und einer Schwarz-Weiß-Mentalität führt. Eine Hierarchie ist damit nicht oder nur extrem eingeschränkt für Veränderungen und damit für den Fortschritt offen. Und da in nahezu allen Religionen der blasphemische Glaube vorherrscht, dass Gott dem Menschen für alle Zeit alles gegeben hat, was sie jemals benötigen, gibt es auch keine Notwendigkeit für Veränderung und Fortschritt. Im Grunde genommen verschließt sich der Mensch durch seine Religion der Möglichkeit, neue und seiner Entwicklung entsprechende göttliche Offenbarungen empfangen zu können. Wir sind nicht offen, sondern haben alle unsere Sinne vor der Möglichkeit verschlossen, dass Gott individuell oder kollektiv zu uns sprechen könnte.

Man kann die religiöse Hierarchie auch als eine Art Altersstarrsinn begreifen. Sie hat eine festgefügte Vorstellung vom religiösen, physischen, vitalen, mentalen, sozialen und sogar politischen Sein und nicht die Fähigkeit, sich davon zu lösen oder sie gar objektiv von außen zu betrachten. So ist es auch zu erklären, dass die mittlerweile aufgedeckten Fälle sexuellen Missbrauchs nur höchst widerwillig bis gar nicht aufgearbeitet werden. Es ist nicht so, dass sie unbekannt oder ein neuzeitliches Phänomen gewesen wären; ganz im Gegenteil könnte man den Eindruck haben, dass der Missbrauch mit der Hierarchie gewachsen ist. Die Ursachen des Missbrauchs sind relativ offensichtlich und spiegeln unter anderem auch den schon erwähnten geschlossenen Kreislauf der Hierarchie wider. Die Religion, und vor allem viele christliche Konfessionen, vermitteln dem Menschen seit sehr vielen Jahrhunderten oft ein sehr negatives und restriktives Bild von der menschlichen Sexualität und verursachen damit viele überflüssige Scham- und Schuldgefühle. Die Menschen, die dadurch am stärksten beeinträchtigt sind, diese also sehr ernst nehmen, wenden sich in der Hoffnung auf Erlösung der Quelle dieser Schuldgefühle als der obersten Autorität und möglichen Quelle von Hilfe gegen die eigene Qual zu. Diese Erwartungen werden nicht nur nicht erfüllt, sondern meist weiter frustriert, und darum sind viele religiöse Würdenträger aller Hierarchiestufen innerlich genauso oder noch stärker zerrissen, wie die besonders religiösen Teile der Glaubensgemeinschaft. Eine Aufarbeitung würde bei vielen an den Kern der eigenen Existenz rühren. Darum findet eine Verdrängung statt mit der Ausbildung einer Form von Schizophrenie. Speziell in der katholischen Kirche wird die Lage durch den Zölibat noch verschärft, der dem Priester effektiv eine sexuelle Betätigung verbietet und somit den Druck auf die gequälte Seele verschärft. In früheren Jahrhunderten kam als weiterer Einfluss noch die Tatsache hinzu, dass jüngere Söhne und Troublemaker mit ihren natürlichen Wünschen und Verlangen gerne in Klöster und den Priesterberuf abgeschoben wurden, ohne die dafür nötige Berufung in sich zu verspüren und ohne innerlich auf ein enthaltsames Leben eingestellt zu sein. Damit wurde eine grundlegende Bereitschaft für den Missbrauch des Amtes geschaffen, die sich nahtlos in den bereits bestehenden Machtmissbrauch einfügte und sozusagen eine Tradition begründete, gegen die sich Luther später auflehnte und die trotz Aufklärung fast unbeschadet fortbesteht und wegen ihr stärker im Verborgenen agiert.

Der Mangel an Bereitschaft zu Wandel und Veränderung hat aber auch mit einem anderen Aspekt des Seins zu tun, der nicht nur für den menschlichen, sondern ebenso für den religiösen Organismus gilt. In Indien wurde dieser Aspekt als Teil einer Trinität von Temperamenten, den Gunas, beschrieben, die das körperliche, das vitale und das geistige Sein prägen. Diese Gunas wirken zwar auf allen Ebenen des Seins, aber jedes von ihnen hat sozusagen sein Zuhause oder seinen Ausgangspunkt auf einer anderen Ebene.

Das Temperament, das Guna, das dem Körper zugeschrieben wird, ist das Tamas, das für Trägheit, Unbeweglichkeit und Unbewusstheit steht. In einem Menschen oder in einer Entität wie der Religion äußert sich Tamas im Unwillen zur Veränderung, in der Ablehnung von allem, was Energie verbraucht und Bewegung erzeugt, in Starrheit, Lähmung, im Aussitzen von Ereignissen, in der Vermeidung von Entscheidungen, in der Bewahrung von Althergebrachtem, in der Tradition, im Ansammeln, in der Konservierung und dem Erhalt des Bestehenden. Tamas ist also keine Kraft der Veränderung, sondern ihre Gegenkraft, die Bewahrung. In der indischen Philosophie ist Tamas darum die Ursache von Dunkelheit und das größte Hindernis für den Fortschritt, weswegen die damit assoziierte Körperlichkeit dem spirituellen und religiösen Fortschritt und der Erleuchtung im Weg steht und damit abgelehnt wird. So wird auch die in der heutigen indischen spirituellen Praxis weit verbreitete Weltflucht damit begründet, dass der Körper und alles irdische und weltliche den Menschen in der Welt festhält und ihm den Zugang zum Göttlichen verbaut. Und in der ein oder anderen Form findet sich diese Haltung in vielen Religionen wieder, die dann dem Suchenden den Rückzug von der Welt, z. B. in ein Kloster, und die Zurückweisung der irdischen Güter empfehlen.

Dabei wird in den Hintergrund gedrängt oder außer Acht gelassen, dass der Körper die Basis für jegliche Entwicklung ist und ein integraler Bestandteil unseres Seins. Und darum kann auch die Religion nicht auf ihren körperlichen Aspekt verzichten und benötigt vielleicht auch eine Hierarchie, die dann aber flach gehalten werden müsste und mehr von religiös-spirituellen Aspekten geprägt sein sollte. Der Körper verleiht Festigkeit und bietet einen verlässlichen Bezugspunkt. Und das mit ihm assoziierte Tamas darf auch nicht nur negativ gesehen werden. In unserem Sein hat alles seinen Platz, nur muss man diesen Platz erst finden und darf nicht versuchen, eine Sache zur Grundlage von allem zu machen. Tamas bedeutet aber auch einen Anker, der verhindert, dass man von jeder Welle, die gerade durch die Szene läuft, mitgerissen wird und vergisst, wo und wofür man steht. Und wenn man sich einmal in Bewegung gesetzt hat, dann hilft es dabei, die Bewegung beizubehalten, durchzuhalten und sich nicht ablenken und ermüden zu lassen.

Allerdings werden diese Bewegungen auch schnell mechanisch, rücksichtslos, leblos, starr und unflexibel, und darum wird hier das nächste Element in der Evolution des Seins benötigt, das Leben.

Religion – Eine Zukunft für die Zukunft

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