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Der Tangotänzer von Buenos Aires

Ein Vorwort von Max Schautzer

Was haben ein Obdachloser, ein Priester, ein Flaschenpfandsammler und ein Strichjunge gemeinsam? Sie erregten die Aufmerksamkeit eines Autors, der mit geschärftem Blick nicht weg-, sondern genau hinschaute. Ihn interessierte mehr als nur der oberflächliche Eindruck. André Biakowski praktiziert Menschlichkeit, indem er sich dem Nächsten zuneigt. Humanität ohne Toleranz und Menschenliebe ist allerdings unmöglich. Und diese Eigenschaften prägen auch die vorliegenden Erzählungen. In meist kurzen und prägnanten Sätzen beschreibt der Autor Begegnungen mit sehr unterschiedlichen Individuen. Diese Skizzen zeichnen ein ganzheitliches Bild von Menschen, die uns in ihren Bann ziehen. Und wir merken, wie unsere Vorurteile, unsere klischeehaften Vorstellungen und Fantasien zerbröseln. Es ist nie, wie man denkt. Der Autor hat Recht. Und er beweist es eindrucksvoll.

Der immer wieder gern zitierte Antoine de Saint-Exupéry hat geschrieben: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Diese Sichtweise hat sich auch Biakowski angeeignet. Schon in seinem Buch „OBIAD – Mehr als nur Mittagessen“ beeindruckte er uns Leser mit Beschreibungen von ergreifenden Begegnungen und intensiven Gesprächen mit Zeitzeugen, den letzten Überlebenden des Holocaust. Ein junger und zugleich mutiger Autor blickte hinter die Kulisse der Geschichte. Dank seiner Briefe bekam ein düsteres Kapitel deutsch-polnischer Geschichte Gesichter.

Gesichter sind es auch, die André Biakowski in seinem neuen Buch anregten, die Geschichte dahinter zu erfahren. Den wahren Menschen im Menschen zu sehen. Das setzt aber bei jedem einzelnen echte Zuneigung und ein großes Maß an Vertrauen voraus. Er hat sich dazu vier Lebensmodelle ausgesucht. Die Fragen, die er sich stellte, gingen auch mir schon unzählige Male durch den Kopf: Welches Schicksal hat diesen Obdachlosen wohl aus der Bahn geworfen? Wie werden Priester mit dem Diktat des Zölibates fertig? Was brachte den alten Mann dazu, in Abfallkörben zu wühlen und nach Pfandflaschen zu suchen? Wie tief muss man sinken, um seinen Körper an Freier zu verkaufen?

Wie leicht kommen uns bei solchen Problemen Vorurteile in den Sinn. Ein Vorurteil setzt aber immer Urteile voraus. In seinen Erzählungen übernimmt der Autor das Plädoyer. Er hat es sich hart, aber einfühlsam erarbeitet. Es ist nicht einfach, derartig Geschundenen Fragen zu stellen, die sie auch beantworten wollen. Aus eigener Erfahrung – ich hatte mein Büro in der Nähe eines Obdachlosentreffs – weiß ich, wie lange es dauert, bis sich beispielsweise ein Obdachloser öffnet und ehrlich die Geschichte seines Lebens erzählt. Wenn er sie preisgibt, sitzt oft Bruder Alkohol dabei und flüstert ihm Lügen ein. Ich war oft enttäuscht, versuchte es aber immer wieder. Irgendwann war dann der Punkt erreicht, wo das gegenseitige Vertrauen ihn dazu brachte, mir sein Herz auszuschütten.

Was bei allen Erzählungen in diesem Buch eine große Rolle spielt, ist die Achtung der Würde. Ich werde nie den Tangotänzer auf einer Straße in Buenos Aires vergessen. Er war weit über achtzig Jahre alt und hatte einen zwar gut sitzenden, aber doch sehr verschlissenen Anzug an. Wahrscheinlich war es der einzige, den er besaß. Dazu trug er einen ebenso abgewetzten Hut. Mit welcher Grandezza und für sein Alter erstaunlichen Körperspannung er mit seiner Partnerin tanzte, war beeindruckend. Der Mann hat sicher bessere Zeiten erlebt, seine Würde aber auch als Straßenkünstler nicht verloren. Ich hätte gerne mehr über sein Leben erfahren. Aber, wie es halt so ist, man geht weiter. Immerhin ist er mir unvergessen geblieben.

Um noch einmal auf das einigende Band der beschriebenen Lebensmodelle zurückzukommen: Für mich ist es die Menschlichkeit. Die Verwirklichung von mehr Menschlichkeit im Leben sollte neben der Persönlichkeitsfindung ein wesentliches Ziel unseres Lebens sein. Wir leben in einer Welt, in der wir zunehmend voneinander abhängig sind, uns aber gleichzeitig vermehrt gegeneinander einsetzen. Wo bleibt da die Menschlichkeit?

Bei unserer Geburt tragen wir das Menschsein in uns. Was sich daraus entwickelt, ist aber häufig nur ein Abbild, das zwar die Sprache des Menschseins nachahmt, das Herz des Menschen aber verraten hat. Dann geschieht das, was der englische Dichter Edward Young schon im 18. Jahrhundert beschrieben hat: „Wir werden als Originale geboren, sterben aber als Kopien.“

Randnotizen - Es ist nie, wie man denkt. Vier Erzählungen über Vorurteile, Toleranz und Grenzen in unserer Gesellschaft

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