Читать книгу Randnotizen - Es ist nie, wie man denkt. Vier Erzählungen über Vorurteile, Toleranz und Grenzen in unserer Gesellschaft - André Biakowski - Страница 7
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Ein Mann sitzt auf seinem Schlafsack am Boden. Vor ihm ein Pappbecher. Im Hintergrund der Unterführung in Großbuchstaben der Schriftzug „KULTURPLATZ“ – ein Bild, das per se schon Fragen aufwirft. Und doch dauerte es einige Zeit, bis ich es auf meinem morgendlichen Weg ins Büro überhaupt wahrnahm. Es als kurze Notiz auf einem Kassenbon aus dem Geldbeutel festhielt. Geschrieben mit krakeliger Schrift am Rande: „Wie viel Kultur steckt in uns, wenn wir an einem Mann auf seinem Schlafsack achtlos vorbeirennen? So, als wenn wir ihn nicht sehen würden. Wer ist er?“
Die Szene brannte sich in meinen Kopf ein. Der Mann. Hat er Familie? Ich begann, ihn jeden Morgen im Vorbeigehen, aus sicherer Entfernung, für einen kurzen Moment zu beobachten, immer einen anderen Aspekt an ihm wahrzunehmen. Seinen müden Augenaufschlag, vergilbte Finger, die in Zeitlupe versuchten, steif eine Zigarette zu drehen. Ich versuchte, Worte für das Gesehene in meinen Notizen zu finden und scheiterte, weil ich nichts von dem verstand, was ich täglich auf meinem Weg zur Arbeit sah.
Was ist eigentlich Obdachlosigkeit? Aus dem Bühnenbild unserer Gesellschaft, dem „KULTURPLATZ“ in der Unterführung, schälte sich mehr und mehr ein Mensch, den ich verstehen wollte. Warum sitzt ein Mensch auf dem kalten Boden? In einer Unterführung? Keiner wird obdachlos geboren. Wählt ein Mensch wirklich bewusst die Obdachlosigkeit? Oder bleibt ihm letztlich keine Wahl?
Eines Tages hörte ich ihn auf Polnisch fluchen. Die grauen Krücken neben ihm auf dem Boden. Ich fasste mir Mut und sprach ihn auf Polnisch an. Keiner der Passanten verstand mich, doch er lächelte. Von da an grüßten wir uns jeden Morgen. Ich überwand meine Angst, wie vor einem bissigen Hund. So erfuhr ich einiges, was ich nicht sah. Nicht wusste. Zu Hause begann ich meine Notizen ins Reine zu schreiben. Wurde von Tag zu Tag mutiger und unsere Gespräche intensiver, mehrschichtiger. Im Schreiben, allein mit den Fragen, wurde ich von meinen Gedanken gezwungen, mir Vorurteile einzugestehen. Versuchte, mich in ihn hineinzuversetzen – selbst auf dem Boden sitzend – und mich zeitgleich als einen an mir vorbeilaufenden Passanten zu hinterfragen. Ein Experiment.
Eigentlich hatte ich nie vor, ein Buch wie das nun vorliegende zu schreiben. Doch die Begegnungen mit dem Obdachlosen in der Unterführung rüttelten mich auf und schärften den Blick auf meine Umgebung. Auf meine eigenen Meinungen. Ich klagte mich an: wie schnell ich über Menschen urteilen würde, ohne ihre Lebensgeschichten zu kennen. Ohne wirklich etwas zu wissen. Ich begann zuzuhören, zu recherchieren. Und plötzlich entstand aus meinen Textfragmenten ein Konzept für dieses Buch. Vier in sich abgeschlossene Erzählungen zu den Themen: Obdachlosigkeit, Zölibat, Pfandflaschensammeln und Straßenstrich. Doch wie schreiben, um diesen Themen, den Menschen mit ihren Lebensrealitäten dahinter, gerecht zu werden? Es ging mir nicht darum, wie ein Sensationsreporter, persönliche Schicksale zu zerpflücken, nur damit der Leser ein schlechtes Gewissen entwickelt. Nein, Absicht dieses Buches ist es, ein Dahinter des ersten Eindruckes sichtbar zu machen. Wissen wir beispielsweise wirklich, was es für einen katholischen Pfarrer bedeutet, im Geheimen zu lieben? Wie es sich für seine Freundin anfühlen muss, nicht öffentlich an seiner Seite leben zu dürfen? Sie sich jedes Wort zu ihm vor Anderen überlegen muss? Was es bedeutet, wenn sich etwa die eigene Ambivalenz zwischen den Beruf und die Liebe schiebt, die doch das Leben bejahen soll? „Das haben doch beide vorher gewusst!“, „Doppelmoral!“ oder „Typisch katholische Kirche!“, sind mir als Antworten zu wenig. So leicht dürfen wir es uns nicht machen. Liebe darf nicht sanktioniert werden. Und genau hier beginnt das konstruktive Hinterfragen. Ist das Pflichtzölibat wirklich ein Qualitätskriterium für einen guten und moralisch handelnden Priester? Oder spaltet es den Menschen? Erzwingt es nicht die Lüge für einen Priester, der Gottes Gegenwart in der partnerschaftlichen Liebe – in einer Beziehung – erfährt? Wäre es vielleicht sinnvoller, ein freiwilliges Zölibat einzuführen und würde nicht die katholische Kirche, die Gemeinden, hinsichtlich immer längerer Vakanzen, davon profitieren, wenn der Beruf dadurch für den Priesternachwuchs attraktiver würde? Wie zeitgemäß ist das Pflichtzölibat heute noch? Wie lauten die Argumente dafür und welche sprechen dagegen?
In meinen Gesprächen mit den Protagonisten der zweiten Erzählung diskutierte ich genau diese Fragen immer aus zwei Perspektiven. Aus seiner als Priester und aus ihrer, die ihn einfach nur lieben dürfen wollte. In jedem ihrer Worte spürte ich den Schmerz und die Sehnsucht, den Wunsch nach einem gemeinsamen UNS. Um beide zu schützen und über ihre Lebenssituation schreiben zu können, musste ich den Handlungsort in eine andere Diözese verlegen und die Namen ändern.
Vier Erzählungen. Vier verschiedene Lebensmodelle. Viermal die Frage nach Würde. Ein Mann leuchtet mit seiner kleinen schwarzen Taschenlampe in einen Mülleimer, beugt sich über die runde Öffnung und zieht eine Plastikflasche heraus. Routiniert lässt er sie in seinem Beutel verschwinden und geht zum nächsten Abfalleimer. Pfandsammler. Oder wie nennt man einen solchen Mann, ohne ihn zu diskriminieren? Trägt er noch so etwas wie Selbstachtung in sich? Nein! Erschreckend, wie schnell mein vernichtendes Urteil aufgrund des ersten Eindrucks über ihn gefällt ist. Mich begann dieser Mann zu beschäftigen, weil ich mir sein Leben nicht vorstellen konnte. Ich beobachtete ihn oft am Stuttgarter Bahnhof. Notierte Gesehenes. Die Art, wie er eine Flasche kurz nach oben hielt, um zu sehen, ob noch ein Schluck darin sei. Seine Kleidung gebraucht, das Gesicht gezeichnet. Ich sprach ihn an. Anfänglich etwas irritiert begann er zu erzählen. Von seiner Frau, dem Sammeln und was für ihn Würde bedeutet. Seine Worte passten nicht zu seinem ersten Eindruck, zu meinem Urteil, und ich begann zu schreiben.
Wenn wir hinter die Kulissen schauen, hinterfragen würden, so würden wir gewinnen. An Weitsicht. An Menschlichkeit. An Ehrlichkeit uns selbst gegenüber. Ich denke, wir machen es uns zu leicht, wenn wir das Leben der Anderen bewerten, auch indem wir absichtlich wegsehen, und unser eigenes als höchste Maxime für andere nehmen. Die Norm, aus der ein Mensch fallen könnte, gibt es nicht. Wir, die es sich leisten können, bestimmen sie immer für andere. Was mich am meisten in den vielen Gesprächen und Recherchen zu dem vorliegenden Buch erstaunte, war die Intensität, mit der die Protagonisten auf ihr eigenes Leben schauten. Sich selbst hinterfragten. Es fiel mir oft sehr schwer, das Gehörte niederzuschreiben, weil die Offenheit und Ehrlichkeit ihrer Worte mich fast erdrückten, ich das alles so nicht wusste.
Ein Mann, heute 35 Jahre alt, floh mit seiner Mutter und seinen drei Brüdern aus dem umkämpften Sarajevo. Sein Vater starb bei einem Angriff. 1993. Krieg. In Deutschland angekommen verstand er kein Wort, ist plötzlich der Älteste einer bosnischen Familie. Aus einfachen Verhältnissen stammend, will er schnell legales Geld verdienen und verkauft letztlich seinen Körper an Männer, obwohl er sich nach einer Freundin sehnte. Er lässt die Berührungen der Zahlenden über sich ergehen und träumt von seinem Sarajevo. Von einer Rückkehr. Es dauerte eine ganze Weile, bis er mir gegenüber über diese Zeit sprechen konnte und ich versprach ihm, seine Geschichte niederzuschreiben. Gemeinsam mit ihm.
Ich danke allen Personen, die mich ermutigt haben, die vier vorliegenden Erzählungen auf Basis meiner persönlichen Randnotizen zu veröffentlichen. Besonderer Dank gilt den Protagonisten meiner Erzählungen, die mir ihr Vertrauen schenkten und sehr offen über ihre Lebensrealität sprachen, mir erlaubten darüber zu schreiben und damit dieses Buch erst möglich machten. Das ist nicht selbstverständlich. Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch dazu beitragen kann, uns nicht vom ersten Eindruck oder einer oberflächlichen Meinung zu einem Urteil über Andere verführen zu lassen, sondern zu versuchen, den Menschen dahinter zu sehen. Dass wir beginnen genauer hinzusehen, zu hinterfragen, um dann schließlich festzustellen: Es ist nie, wie man denkt.