Читать книгу Die Leben des Gaston Chevalier - André David Winter - Страница 8
II
ОглавлениеYves wusste, den Kleinen konnte er nicht, noch nicht auf seine Tourneen mitnehmen. So brachte er ihn in die Normandie, nach Castillon zu seiner Mutter Yvonne, die dort eine Maison de passe betrieb. Sie war nicht sehr erfreut, als sie das Telegramm las:
»Komme Montag – bringe Sohn mit – geht ihm schlecht – weiß sonst nicht wohin – Yves«
Bis dahin hatte sie gar nicht gewusst, dass sie einen Enkel hatte.
Mein Haus ist ja nun wirklich nicht der richtige Ort für ein Kind, dachte sie. Als sie jedoch den elenden Zustand des Kleinen sah, klatschte sie entsetzt in die Hände und war bereit, Gaston aufzunehmen.
»Aber nur, bis wir etwas Passenderes für ihn gefunden haben.«
»Mais bien sûr, Maman«, stimmte Yves ihr zu.
»Du schickst mir Geld für ihn.«
»Immer, wenn ich welches habe.«
»Du kommst ihn regelmäßig besuchen.«
»Ich verspreche es.«
Die jungen Frauen, die im Etablissement arbeiteten, waren entzückt, als sie den Kleinen sahen. Hatte Gaston vorher keine Mutter, so hatte er nun acht – und es schien, als ob seine Entwicklung sich verachtfachte. Einige der Frauen hatten eigene Kinder, die ihnen pflichtbewusste Fürsorgerinnen weggenommen hatten. Sie ließen Gaston all die Liebe zukommen, die sie ihren eigenen nicht geben konnten. Gaston wurde gebadet, gepflegt, gefüttert, verwöhnt. Seine Sœurs, wie er sie nannte, zogen ihm nur die schönsten Kleider an, nahmen ihn auf den Schoß, hätschelten ihn. Er nahm zu, seine Haut erholte sich, langsam begann er auch wieder zu wachsen.
Es war, wie Yves gesagt hatte, Gaston war noch da. Wie durch ein Wunder hatte er seine Jahre als Tier überlebt. Und nun war immer jemand für ihn da, spielte, tanzte, sang mit ihm. Rasch lernte er laufen und sprechen, ja sogar lesen. Er hatte ein erstaunliches Gedächtnis. Mit vier las er bereits einfache Kinderreime und plapperte oder sang sie seinen Sœurs vor:
Un, deux, trois, nous avons un gros chat.
Quatre, cinq, six, il a de longues griffes.
Sept, huit, neuf, il a mangé un œuf.
Dix, onze, douze, il est blanc et rouge.
Großmutter Yvonne schloss ihn ebenfalls ins Herz, auch wenn sie dies nach außen hin selten zeigte. Sie brachte ihm Tischmanieren bei und sorgte dafür, dass er ein gepflegtes Französisch sprach.
»Auch an ihren Worten werdet ihr sie erkennen«, hob sie jeweils mahnend den Zeigefinger, wenn Gaston ein schlüpfriges Wort entfuhr, das er von den Mädchen gehört hatte. Sie war auch die Einzige, die streng mit ihm sein konnte, wenn es ihr zu wild wurde.
»So, Schluss jetzt, er ist nicht euer Spielzeug. Hier geht es ja zu wie im Bordell. Zeit für dein Schläfchen, Gaston.«
Die Mädchen kicherten.
»Nur noch ein bisschen, Mémère.«
»Was habe ich gesagt, Gaston?«
»Oui, Mémère.«
Mit gesenktem Köpfchen stieg er auf seinen Beinchen die Stufen zum Zimmer hoch.
Zu den Mädchen gewandt, meinte sie:
»Ihr verzärtelt ihn zu sehr, bald kommt er in die Schule. Dort wird es anders zu- und hergehen, das wisst ihr selbst.«
»Oui, Madame Yvonne«, sagten auch sie folgsam und zwinkerten Gaston zu, der sich auf der Treppe noch einmal umgedreht hatte.
Denn die nächste Albernheit wartete schon. Nach dem Schläfchen.
Mit Kindern konnte er nur selten spielen, manchmal besuchte Mémère mit ihm seinen Vetter Maxime, der eine Halbtagesreise entfernt, in Bayeux, wohnte. Meist streifte er alleine oder mit Paulette, die er von allen Mädchen am liebsten hatte, durch die Felder oder badete seine kleinen Füße im Bach. Er schaute den Forellen und Schmetterlingen zu oder den fetten normannischen Kühen beim Grasen. Manchmal, wenn sein Blick lange auf ihrem Fell verweilte, erkannte er darin plötzlich die Flecken, die er stundenlang angestarrt hatte. Er wusste nicht mehr, wo das war, aber die Flecken hier machten ihm Angst. Er hatte vor vielem Angst. Davor, was hinter Türen lauerte. Vor seinen schlimmen Träumen, den tiefen Stimmen der Männer. Vielleicht waren sie gar nicht wegen der Mädchen hier, sondern waren gekommen, um ihn zu holen. Gaston war ständig auf der Hut.
Um sich von seinen dunklen Gedanken abzulenken, half er Madame Taillard, der alten Wirtschafterin, oft beim Wäscheaufhängen und versteckte sich zwischen den frisch gewaschenen weißen Laken. Er liebte es, auf ihrem Schoß zu sitzen und ihr ein Gedicht aufzusagen oder ein Lied vorzusingen, bevor er ihr in der Küche zur Hand ging. Oder er legte sich, wenn die Männer fort waren, zu Paulette ins Bett und weinte, und Paulette weinte mit ihm.
»Alles wird gut, Jacques«, flüsterte sie ihm schlaftrunken ins Ohr. Sie nahm ihn in den Arm, streichelte seine Wangen mit ihren zarten Händen, wischte seine Tränen weg.
Es machte Gaston nichts, dass sie ihn mit ihrem Sohn verwechselte, solange sie ihn nur festhielt und er ihren Duft einatmen durfte.
Paulette las als Einzige der Mädchen leidenschaftlich gern. In ihren freien Stunden saß sie oft mit einem Buch auf einer Decke unter dem alten Birnbaum hinterm Haus.
»Darf ich bei dir sein?«, fragte Gaston.
»Nur, wenn du mucksmäuschenstill bist.«
»Das werde ich, versprochen.«
Gaston saß neben ihr und las in seiner Fibel. Er schielte zu ihr hinüber, sah ihr blondes Haar in der Sonne glänzen, ihre Sommersprossen, das kleine Muttermal auf ihrer linken Wange. Er sah sich das Buch an und las den Titel: Nana. Das Buch war alt und abgegriffen, sein Rücken zerbrochen. Es passte nicht zu Paulettes Schönheit.
»Warum ist es so alt?«, fragte er plötzlich.
»Bitte, sag es mir.«
Sie blickte ihn nachdenklich an.
»Weil in alten Büchern mehr Geschichten sind.«
Er verstand nicht.
»Mehr als in neuen?«
»Sicher, schau selbst.«
Sie hielt ihm das offene Buch hin. Einzelne Sätze waren unterstrichen. Am Rand hatte jemand etwas hingeschrieben. Er konnte es nicht lesen.
»Die Menschen, die es schon gelesen haben, haben ihre Gedanken, ihre Geschichten hineingeschrieben. Ich liebe es, mir vorzustellen, wann und wo und warum sie das getan haben. Was sie sich dabei dachten. Siehst du, viel mehr Geschichten als in einem neuen Buch.«
»Bitte, lies mir vor.«
»Du hast versprochen, still zu sein.«
»Das bin ich wieder, wenn du mir vorliest.«
»Das ist nichts für Kinder.«
»Bitte, bitte.«
Eine Träne rollte über seine Wange.
»Du erzählst keinem ein Sterbenswörtchen.«
»Niemandem.«
»Unser Geheimnis.«
Er nickte.
»Schwöre es.«
Er hielt drei Finger in die Luft.
»Ich schwöre.«
Sie begann zu lesen. Er schmiegte sich an sie und lauschte. Noch nie war er so glücklich gewesen.
An Regentagen lagen sie zusammen auf dem Bett in Paulettes Zimmer. Wenn sie fertig vorgelesen hatte, schwiegen sie eine Weile. Danach machten sie meist einen Spaziergang auf der geblümten Tapete, gingen von Blume zu Blume, sprachen mit ihnen.
»Guten Tag, liebe Hyazinthe, genießt du den Tag? Was sagst du, eine böse Larve frisst an deiner Zwiebel. Haben Sie gehört, Monsieur Gaston, ist das nicht empörend?«
Gaston nickte und schimpfte mit der Larve.
»Du böse Larve.«
»Oh, Madame Rose, was erzählen Sie mir da, Sie lassen mich erröten. Wer hätte das gedacht, in so jungen Jahren, ein veritabler Skandal. Seien Sie versichert, ich werde es niemandem erzählen, nicht einmal Monsieur Gaston. Grüßen Sie ihre Mutter von mir.«
»Was hat sie gesagt? Bitte erzähle es mir.«
»Nein, ich darf nicht, ich habe es versprochen.«
»Bitte, bitte, du darfst es mir auch ins Ohr flüstern.«
Paulette verschränkte die Arme, schüttelte den Kopf.
»Ich werde es niemandem weitererzählen, heiliges Ehrenwort«, bettelte er.
Paulette schüttelte noch immer den Kopf, schielte aber zur Rose hinüber.
Gastons Mundwinkel fingen an zu zittern, er kämpfte gegen die Tränen.
»Also gut.«
Paulette flüsterte Gaston Madames Roses Geheimnis ins Ohr.
»Oh«, sagte er nur und schüttelte ebenfalls den Kopf.
Beide schwiegen eine Weile, bis sich plötzlich Mademoiselle Tulipe einmischte.
»Nein, Mademoiselle«, gab Paulette ihr energisch zur Antwort, »wir werden Ihnen nichts verraten, nicht wahr, Monsieur Gaston.«
»Kein Sterbenswörtchen.«
Manchmal stellten ihn seine grandes Sœurs, nachdem sie ihn fein herausgeputzt hatten, auf einen der Sessel im roten Salon und ließen ihn vor den Zigarre rauchenden Männern ein Gedicht aufsagen. Dafür bekam er jedes Mal ein paar Centimes.
»Was für ein Prachtkerlchen. Wie heißt du denn, mein Kleiner?«, fragte einer der Männer.
»Ich bin Gaston, der Bär«, brummelte er.
Er fletschte die Zähne, zeigte seine Krallen und rollte mit den Augen, wie es die Mädchen ihm beigebracht hatten.
Der Mann hob seinen Champagnerkelch.
»Auf Gaston, den Bären.«
Und Gaston bekam noch ein paar Münzen. Vom selben Herrn und einem anderen mit gezwirbeltem Bart, die sich beide lachend die Bäuche hielten.
Am Abend, wenn die Mädchen ihrem Gewerbe nachgingen, spähte er gelegentlich durch die Schlüssellöcher und sah die Männer sich auf ihnen wälzen. Manchmal schrien oder stöhnten sie und Gaston wollte ihnen zu Hilfe eilen. Wenn Mémère ihn erwischte, schimpfte sie und schickte ihn in sein Zimmer. Nach einer Weile schlich er in ein leeres Boudoir, setzte sich in einen Sessel und übte vor einer Poudreuse die Grimassen, die seine grandes Sœurs ihm beigebracht hatten.
»Ich bin Gaston der Affe, schaut nur, wie ich gaffe«, murmelte er.
Oder – und wieder fletschte er die Zähne: »Ich bin ein Löwe und fresse eine Möwe.« Dazu flatterte er mit den Armen.
Wenn er vom Faxenmachen müde war, saß er manchmal vor dem Spiegel und schaute sich lange an, bis er sich nicht mehr sah. Seltsam – er sah seine Augen, aber sich selbst nicht mehr. Auch niemand anderen. Er wurde ernst und still, sein Blick leer, er selber leer. Er war nicht mehr, niemand war mehr da.
Seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Maman«, sagte er, und »Papa«, und schlief weinend ein.
Wenigstens Papa kam manchmal, wenn auch nicht oft, zu Besuch. Er zeigte Gaston die Plätze, wo er als Kind gespielt hatte, oder sie machten einen Ausflug zum Schloss von Balleroy. Sein Vater kaufte ihm einen kleinen weißen Bären und, wenn er genug Geld hatte, eine Waffel zur Lait au chocolat. Nachts schlief der Vater bei ihm im Bett und wurde zu seinem großen weißen Bären. Wenn er dachte, Gaston schlafe, schlich er zu einem der Mädchen. Gaston wartete voller Angst, bis er wieder kam.
Am nächsten Tag präsentierte Yves seinem Sohn im Hof die neuesten Kunststücke und zeigte ihm das Plakat. Er jonglierte mit seinen Schuhen, wie aus dem Nichts kamen immer mehr dazu.
»Damit werde ich berühmt, du wirst sehen, alle werden es sehen.«
»Yves Chevalier – le céphalopode« stand darauf. Die Bilder zeigten ihn auf dem Kopf gehend oder in den unmöglichsten Verdrehungen. Yves erzählte seinem Sohn vom Grand Cirque Milano, in dem er auftrat und der in Wahrheit ein kleiner Wanderzirkus war, der oft nicht genug Geld hatte, um seine Artisten zu bezahlen. Er berichtete ihm von den Berühmtheiten, mit denen er zusammenarbeitete. Von Marlène etwa, der Fledermaus, die durch die Zirkuskuppel schwebte.
»Sie hängt an den Beinen ihres Mannes am Trapez, der sich nur mit den Zähnen festhält.«
Gaston hörte mit großen Augen zu, wenn sein Vater von Alceste, der menschlichen Kanonenkugel, Mireille, der Frau mit Bart, oder dem traurigen Clown Pierrot erzählte. Er sah den Mann sich mit den Zähnen am Trapez festhalten und Marlène, seine Fledermausfrau, durchs Zelt fliegen. Besonders beeindruckte ihn, dass eine menschliche Kanonenkugel ein Loch durch die Zeltwand schießen konnte.
»Nimmst du mich mit, Papa?«
»Später, Gaston, später. Zuerst wartet ein anderer Zirkus auf dich, mit vielen Clowns.«
»Wie heißt er?«
»Schule, mein Junge. Dort wirst du lernen, mit Buchstaben und Zahlen zu jonglieren. Erst dann kann ich dich mitnehmen.«
»Ich kann schon lesen.«
»Ist das wahr? Und schreiben?«
Gaston schüttelte den Kopf.
»Siehst du. Du wirst dort schreiben und auch noch anderes lernen, das du später brauchen kannst.«
»Was denn?«
»Nun, zum Beispiel, wo die Eisbären wohnen.«
Er nahm Gastons kleinen Bären, steckte ihn in die Manteltasche und zog ihn aus einem der Hosenbeine wieder heraus.
Gaston lachte.
»Außerdem gibt es dort noch andere Kinder. Du wirst viel Spaß haben, du wirst sehen.«
Mémère und seine Sœurs erzogen Gaston zu einem artigen Jungen. Zwei Jahre nach seiner Ankunft trat er in die Schule ein. Er bekam ein Heft und Stifte und lernte Buchstaben und Zahlen schreiben. Sie zu jonglieren lernte er nicht. Aber schon bald, schien ihm, jonglierten sie in seinem Kopf. Sie purzelten darin herum wie lustige Clowns. Es war ein drolliges Spiel. Er sah, wie sie zuerst kurze Wörter bildeten. Wörter, die er irgendwo gehört oder gelesen hatte. Manchmal verstand er sie, manchmal nicht. Später kamen komplizierte, lange Wörter dazu. Er schrieb sie in sein Heft.
ANAL.
WAFFELN.
DALADIER.
FEIGWARZE.
CUNNILINGUS.
GALGENMÄNNCHEN.
DAMPFLOKOMOTIVE.
Als der Lehrer die Wörter sah, bekam er einen roten Kopf.
»Wo hast du das her?«
»Aus meinem Kopf.«
Er gab ihm eine Ohrfeige.
»Lüg nicht! Das hast du von den Männern in eurem Sündenpfuhl. Dort hast du es gehört.«
»Was ist ein Sündenpfuhl?«
»Ein Bordell.«
»Was ist ein Bordell?«
Noch eine Ohrfeige. Mémère brauchte das Wort manchmal, er verstand es aber nicht. Auch nicht, weshalb er dafür eine Ohrfeige bekam.
Am nächsten Tag legte ihm der Lehrer ein dickes Buch hin.
»Nimm das und schlag darin jeden Tag fünfzig Wörter nach, das wird dir die anderen schon austreiben. Du schreibst nur noch diese Wörter auf, hast du gehört. Und jeden Tag wirst du mir zeigen, was du aufgeschrieben hast.«
Gaston bat Mémère, ihm ein neues Heft zu kaufen, und schrieb darin die Wörter des Lehrers auf. Seine eigenen Wörter schrieb er in sein Heft und versteckte es. Darauf musste er nun gut achtgeben.
Es war nicht so, wie Papa gesagt hatte. Schule war nicht lustig, Gaston musste oft weinen. Auf dem Pausenhof spielte niemand mit ihm. Viele Eltern hatten es ihren Kindern verboten. Wer es dennoch tat, wurde verspottet oder gehänselt. Ein paar Jungen aus seiner Klasse lauerten ihm auf dem Heimweg auf und riefen ihm »Hurenbalg« nach. Einmal schubsten sie ihn in den Bach, ein andermal warfen sie ihm Steine nach. Sie stahlen seine Stifte und zerbrachen sie. Gaston hatte keine Ahnung, weshalb.
Er wusste auch nicht, dass der Lehrer mit dem Pfarrer geredet hatte.
»So kann es nicht weitergehen, Euer Hochwürden. Wir müssen den Jungen retten und ihn da rausholen, sonst gerät er auf die schiefe Bahn. Er ist sehr intelligent, den Stoff der ersten Klasse hatte er in wenigen Wochen intus. Gehen Sie und holen Sie ihn aus diesem Teufelshaus. Als Vorsteher des Waisenhauses werden Sie doch noch einen Platz für ihn haben.«
Hochwürden faltete die Hände über dem Bauch.
»Die alte Chevalier wird ihn nicht einfach so rausrücken, das wissen Sie so gut wie ich.«
»Ihnen wird schon etwas einfallen. Stürmen Sie dieses Hurenhaus meinetwegen mit ihren himmlischen Heerscharen. Schließlich sind Sie nicht umsonst per Du mit ihnen.«
»Mit wem?«, fragte der Pfarrer ein wenig brüskiert.
»Sie wissen schon, wen ich meine«, sagte der Lehrer und blickte ihn streng an.
So kam es, dass der Pfarrer bei Madame Chevalier vorsprach. Er war selbst regelmäßiger Gast im Haus, um den Filles de joie von Zeit zu Zeit moralischen Beistand zu leisten, wie er es nannte.
Natürlich war es Madame Chevalier nicht entgangen, wie die Leute bei ihren gelegentlichen Einkäufen im Dorf hinter ihrem Rücken tuschelten. Auch sie machte sich Gedanken. Gaston wurde älter, neugieriger, verständiger. Schon jetzt stellte er Fragen, die nicht mehr leicht zu beantworten waren.
»Warum ist der Bürgermeister, der doch schon verheiratet ist, nun auch mit Odette verheiratet?«
»Von wem hast du das?«
»Sie selbst hat es mir gesagt.«
Ein andermal fragte er, warum Monsieur Roux, der Arzt, der doch kein Kind mehr war, an Madeleines Brust nuckelte.
Gütiger – sie hielt sich die Hände vors Gesicht. Wenn sie nur daran dachte, der Junge könnte etwas davon in der Schule erzählen, wurde ihr kalt und heiß zugleich. Nein, so konnte es nicht weitergehen. Sie wusste, dass auch Gaston litt. Sein Lachen erklang viel seltener, er weinte nachts im Schlaf. Trotzdem würde sie ihn auf keinen Fall ins Waisenhaus geben, wie es der Pfarrer vorgeschlagen hatte. Schließlich war er nicht Waise, er hatte einen Vater.
Als Yves das nächste Mal zu Besuch kam, erinnerte sie ihn an seine Pflichten und sein Versprechen, etwas Passenderes für den Jungen zu finden. Natürlich wusste sie, dass er dafür nicht das Geld hatte.
»Mais alors – was kümmert’s mich«, gab ihr Yves zur Antwort. »So wird Gaston eben ein Zirkuskind. Wie sein Vater.« Und wie ich, als ich jung war, erinnerte sich Yvonne. Alle Chevaliers waren Zirkusleute. Sie sieht sich auf den Schultern ihres Vaters stehend durch die Manege reiten. Hört den Applaus des Publikums. Waren es nicht schöne Jahre?
In der Remise stand noch ihr alter Zirkuswagen. Sie beschloss, Yves das Geld für die Reparatur und einen Gaul vorzustrecken. Er würde es ihr so wenig zurückzahlen wie die Ausgaben für Gaston, die sie fein säuberlich auf eine Seite in ihr großes Kassenbuch eingetragen hatte. Dafür hätte sie ein Maul weniger zu stopfen.
Sie riss das Blatt aus dem Kassabuch. Es war entschieden. Für Gaston würde ein neues Leben beginnen.