Читать книгу Zeitenwende - André Graf - Страница 4
Der erste Tag
ОглавлениеDie Sekundenzeiger der fünf Uhren in der Lobby des Münchner Luxushotels liefen synchron. Man glaubte, das Ticken der lautlosen Uhrwerke hören zu können. Man glaubte fühlen zu können, wie die Zeit verstrich, ohne eine Spur zu hinterlassen. Und doch änderte sich mit jeder Sekunde der Zustand in der Lobby. Dieser Vorgang war so selbstverständlich, dass sich keiner der Menschen in diesem Hotel darüber Gedanken machte. Es war ein uraltes, einfaches Gesetz: Die Zeit schreitet unaufhaltsam in die gleiche Richtung, die Zukunft, voran, und der Zustand unserer Umgebung verändert sich im Laufe der Zeit.
Auch wunderte sich keiner der Hotelgäste darüber, dass an der Wand neben der Rezeption nicht nur eine, sondern gleich fünf Uhren angebracht waren und dass jede von ihnen eine andere Zeit anzeigte. Die mittlere zeigte die Lokalzeit in München an, 8 Uhr 56, die beiden Uhren rechts von ihr die Uhrzeit in Singapur beziehungsweise Peking und die beiden links von ihr jene von New York beziehungsweise San Francisco.
Jedem Reisenden des 21. Jahrhunderts, ob Tourist oder Geschäftsmann, sind die Zeitzonen ein Begriff. Reist er nach Osten, so muss er seine Uhr, am Bestimmungsort angekommen, vorstellen – schließlich geht die Sonne ja im Osten auf. Reist er nach Westen, so stellt er sie dementsprechend zurück. Wir alle kennen dieses alltägliche Phänomen, das noch Alexander dem Großen, der mit seinem Heer bis nach Indien vorstieß, ebenso fremd gewesen ist wie Dschingis Khan, der durch die Steppen Asiens bis nach Europa zog, oder Kolumbus, der den Atlantischen Ozean durchsegelte.
Doch kennen bedeutet nicht zwangsläufig verstehen. Auch heute, zu Beginn des 3. Jahrtausends, verstehen die meisten Menschen das Phänomen Zeit noch immer nicht viel besser als ihre Vorfahren vor einigen Jahrhunderten oder Jahrtausenden. Bereits die Frage nach der Datumsgrenze überfordert viele von uns. Und seit am Anfang des 20. Jahrhunderts ein gewisser Albert Einstein eine neue Theorie postulierte, die als »Spezielle Relativitätstheorie« in die Wissenschaftsgeschichte einging, ist die Zeit endgültig zu etwas schwer Verständlichem geworden. Dieser erst vor etlichen Jahrzehnten entdeckte Aspekt der Zeit wird noch von viel weniger Menschen verstanden als das Phänomen der Datumsgrenze. Und selbst viele von denen, die begriffen haben, dass die Natur – und dort vor allem Raum und Zeit – anders funktioniert, als es die Wissenschaft jahrhundertelang gelehrt hat, haben große Mühe, sich die wirkliche Beschaffenheit von Raum und Zeit vorzustellen, erscheint sie uns doch so fremd, so ungeheuerlich, dass sie die Vorstellungskraft der meisten Menschen übersteigt. Nur wenige verstehen, dass jedes Objekt – ob lebend oder tot – seine eigene persönliche Uhr bei sich trägt, die durchaus nicht gleich schnell laufen muss wie die Uhren der anderen Lebewesen oder Objekte. Natürlich sind diese Abweichungen im täglichen Leben des 21. Jahrhunderts absolut irrelevant, denn selbst die Uhr eines europäischen Geschäftsmannes, der einen beträchtlichen Teil seines Lebens bei großen Geschwindigkeiten in Flugzeugen verbringt, weicht von jener eines asiatischen Bauern, der sich noch nie schneller als mit der Geschwindigkeit eines von Wasserbüffeln gezogenen Wagens fortbewegt hat, nur um einige Milliardstel einer Sekunde ab. Erst bei Geschwindigkeiten, die die Möglichkeiten der Menschen dieses Jahrhunderts weit übersteigen, würde es zu relevanten Unterschieden zwischen den verschiedenen, ganz persönlichen Uhren kommen.
Jonathan Cutter, der mit seiner Tochter Joanne in der Lobby des Münchner Luxushotels saß, hatte den Uhren den Rücken zugewandt. Cutter verstand im Gegensatz zu allen anderen Gästen des Hotels die Bedeutung der Relativitätstheorie. Mehr noch, er verstand sogar bis ins Detail die Zusammenhänge zwischen der Relativitätstheorie und der Quantentheorie, die wiederum zur Postulierung der Superstringtheorie und später zur M-Theorie geführt hatten. Dieses Wissen machte ihn zum Mitglied eines sehr kleinen und sehr exklusiven Clubs von Menschen, die in der Lage waren, die unglaubliche Beschaffenheit von Raum und Zeit zumindest annähernd zu verstehen, während die meisten Menschen schon mit einer der Theorien hoffungslos überfordert waren – was nicht weiter verwunderlich war, hatte doch selbst Albert Einstein, der Begründer der Relativitätstheorie, viele Aspekte der Quantenmechanik vehement abgelehnt und mit immer neuen Experimenten zu beweisen versucht, dass die Aussagen der Quantenmechanik falsch waren. Einsteins Pech war nur, dass die Resultate seiner Experimente den Aussagen der Quantenmechanik nur auf den ersten Blick widersprachen. Auf den zweiten Blick standen sie alle in völliger Übereinstimmung mit den quantenmechanischen Vorhersagen. Da half es auch wenig, dass Einstein den Quantenmechanikern seinen berühmten Ausspruch »Gott würfelt nicht!« entgegenschleuderte. Denn Einstein wusste genau, dass Gott nicht als Zeuge in diesem wissenschaftlichen Streit angerufen werden konnte. Ob Gott ein Spieler war oder nicht, ob er die Welt in dieser oder einer anderen Art geschaffen hatte, war Stoff für die Theologen, nicht die Physiker. Die Naturwissenschaftler hatten nur die Aufgabe, die Naturgesetze so zu beschreiben, wie sie sich den Menschen offenbarten.
Joanne hatte sich eng an ihren Vater geschmiegt und schlief, während Jonathan Cutter, die Augen halb geschlossen, seinen Gedanken nachhing. Er dachte nicht über Aspekte der Zeit oder des Raumes nach, sondern über die Ferien, die vor ihnen lagen und die ihnen drei unbeschwerte Wochen in Europa, der Heimat seiner Vorfahren, bescheren sollten. Dass in diesem Moment das Schicksal eine andere Wendung nahm, ahnte Cutter nicht; zu friedlich und alltäglich hatte der Morgen in diesem Luxushotel begonnen.
*
Auch einem aufmerksamen Beobachter wären die beiden Hotelgäste kaum aufgefallen. Der knapp fünfzigjährige Mann mit dichtem, leicht ergrautem, kurz geschnittenem schwarzem Haar und einem ebenso dichten, dunkelschwarzen Schnurrbart, der sich von dem eher blassen Gesicht abhob, saß entspannt auf dem schwarzen Ledersofa. Er trug sportliche, farblich perfekt aufeinander abgestimmte Kleidung, die es nur in den exklusivsten Boutiquen zu kaufen gab. Er war von durchschnittlicher Statur, doch machte sein Körper einen durchtrainierten Eindruck. Das einzig wirklich Auffällige an ihm waren seine großen, schaufelförmigen Hände, die nicht zu seinem ansonsten schlanken Körper passten.
Der zierliche Teenager neben ihm mochte siebzehn Jahre alt sein und war – die Ähnlichkeit zwischen den beiden ließ keinen Zweifel zu – die Tochter des Mannes. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit leicht hervorstehenden Backenknochen, das nur dezent geschminkt war. Ihre langen, dunkelblonden Haare waren zu einem Knoten zusammengesteckt. Sie trug ebenfalls teure, wenngleich unauffällige Sportkleidung, die farblich auf die ihres Vaters abgestimmt war. Ihr Gesicht strahlte Ruhe und Geborgenheit aus. Sie schien sich in den Armen ihres Vaters wohl und sicher zu fühlen.
Neben dem Sofa stapelten sich einige Koffer, die darauf schließen ließen, dass die beiden Gäste auf einen Wagen warteten, der sie zu ihrer nächsten Destination bringen sollte.
Es gab für den imaginären Beobachter keinen Hinweis darauf, dass sich das Schicksal dieser beiden Personen vor einem gewaltigen Umbruch befand, dass sie bald in einen Sog geraten sollten, aus dem ein Entrinnen unmöglich war.
Hätte es jemanden gegeben, der in der Lage gewesen wäre, diesen Sog wahrzunehmen, so hätte er den Zustand der beiden mit jenem eines Schwimmers verglichen, der sich träge von der Strömung eines Flusses dahintreiben lässt. Er würde bemerken, wie diese Strömung allmählich stärker wurde, den Schwimmer erfasste und ihn nicht mehr losließ. Der ahnungslose Schwimmer – so würde der Beobachter feststellen – wurde unaufhaltsam auf einen Wasserfall zugetrieben, der ihn ins Verderben reißen würde. Doch noch immer realisierte der Schwimmer nichts von der Gefahr, die langsam und völlig lautlos auf ihn zukam. Der Beobachter wusste längst, dass es für den Schwimmer kein Entrinnen mehr gab, bevor jener auch nur bemerkt hatte, dass er sich auf einen Wasserfall zubewegte.
Im Gegensatz zu der sichtbaren Dynamik eines Flusses war an diesem ruhigen Morgen nichts von einer Strömung zu bemerken, die den beiden Hotelgästen zum Verhängnis werden könnte. Trotzdem war sie vorhanden – doch keiner der fünf menschlichen Sinne konnte sie wahrnehmen.
Jonathan Cutter und seine Tochter wurden unaufhaltsam und mit zunehmender Geschwindigkeit von einer mächtigen Strömung weggetragen, die die Menschen Zeit nannten. Doch die Zeit, so der Glaube der Menschheit, war ein langsamer, gleichmäßiger Fluss, in dem keine plötzliche Strömung, kein Wasserfall existieren durfte. Ein unsteter Fluss der Zeit widersprach jeder Logik.
War der Weg der beiden von einer höheren Macht vorbestimmt, oder waren es nur scheinbare Kleinigkeiten, die die beiden Menschen – vorerst nur leicht, dann immer stärker, immer schneller – von der vorbestimmten Lebensbahn abbrachten?
Gewiss war, dass kein plötzlicher Schicksalsschlag die beiden treffen sollte, kein einschneidendes, einmaliges Ereignis, das seine unauslöschlichen Spuren in ihrem Leben hinterlassen würde. Nein, der Lauf ihres Schicksal wurde von drei unscheinbaren Dingen bestimmt: einem defekten Handy, einer Ecstasy-Tablette und Joannes Jetlag.
*
Jonathan Cutter hatte die Überreste seines Handys am Morgen achtlos in den Koffer geworfen. Seine Sekretärin hatte ihn angerufen, als er gerade unter der Dusche gestanden war. Platschnass war er aus der Dusche gesprungen, dabei auf dem glitschigen Boden beinahe ausgerutscht, hatte gerade noch rechtzeitig das Handy geschnappt, bevor die Sekretärin wieder auflegte. Nach einem kurzen Gespräch wollte er das Handy beiseitelegen, wobei es ihm aus den feuchten Händen rutschte, auf dem Marmorboden des Bades aufschlug und in zwei Teile zerbrach.
So erreichte der Anrufer, der in diesen Minuten mehrere Male versuchte, Cutter zu sprechen, nur dessen Anrufbeantworter. Er hinterließ eine Nachricht, von der er nicht ahnte, dass Cutter sie nie abhören sollte.
Sandra fühlte sich elend. Sie hatte nur knappe zwei Stunden geschlafen, bevor sie am frühen Morgen ihren Dienst angetreten hatte. Ihr Freund hatte ihr um Mitternacht eine dieser Tabletten aufgedrängt, von denen sie genau wusste, dass sie ihr eine süße Nacht und einen höllischen Tag bescheren würden. Sie hatte sich anfänglich geweigert, schließlich aber seinem Drängen nachgegeben, die rotgrüne Tablette mit einem Wodka hinuntergespült und war dann ihrem Freund auf die Tanzfläche gefolgt.
Längst hatte die Wirkung der Tablette nachgelassen, obwohl ihr Arbeitstag hinter der Theke der Rezeption erst vor kurzem begonnen hatte. Jetzt dröhnte ihr Kopf, und als das Telefon läutete, schrillte es in ihren Ohren wie eine alles durchdringende Alarmanlage, die direkt neben ihr ausgelöst worden war.
»Ja?«, fauchte sie unwirsch in den Hörer. Dieses Verhalten hätte ihr augenblicklich eine scharfe Rüge ihres Vorgesetzten eingebracht, doch zum Glück hatte dieser ihren rüden Ton nicht bemerkt, da er gerade mit zwei übergewichtigen, grell geschminkten Engländerinnen beschäftigt war, die sich ebenso empört wie lauthals über den schlechten Zimmerservice beschwerten.
Sandra verstand die Stimme kaum, die aus dem Hörer drang. Neben dieser einen Stimme, die beinahe ihr Trommelfell zum Platzen brachte, drängten sich hundert verzerrte Echos durch die Leitung, und Sandra war sicher, dass noch mindestens zwei weitere Stimmen, wiederum begleitet von unzähligen Echos, völlig überflüssigerweise die gleiche Frage stellten. Nein, eigentlich stellten sie die Frauge nicht, sie brüllten sie durch das Telefonkabel direkt in Sandras Ohr.
Sie musste sich schon konzentrieren, um die Frage überhaupt zu verstehen. Sie zu beantworten bedurfte einer ungleich größeren Anstrengung. Ja, sie erinnerte sich daran, heute morgen einen Kunden namens Custer bedient zu haben. Er hatte, begleitet von seiner großen, hässlichen, spindeldürren Frau, ein Taxi zum Flughafen genommen.
»Er ist bereits abgereist«, sagte sie deshalb mit belegter Stimme.
»Sind Sie sicher, dass Herr Cutter nicht mehr in der Lobby wartet?«, insistierten die hundert Stimmen am anderen Ende der Leitung. Eine der Stimmen dröhnte dabei derart laut in ihr Ohr, dass sie beinahe den Hörer hätte fallen lassen.
Es hätte nur einiger klärender Worte bedurft, um das Missverständnis zu beseitigen. Sandra hätte den Namen des Gesuchten wiederholen können, dann hätte ihr Gesprächspartner sofort bemerkt, dass sie von einem gewissen Custer sprach und nicht von Herrn Cutter, nach dem er gefragt hatte. Sie hätte auch erwähnen können, dass der Gesuchte mit seiner Frau reiste, oder dass er ein Taxi zum Flughafen genommen hatte. Jede dieser Bemerkungen und viele andere hätten ausgereicht, ihrem Gesprächspartner und sehr rasch auch ihr selbst die Verwechslung aufzuzeigen. Doch Sandras Kopf pochte und die lauten, grellen Stimmen aus dem Telefonhörer bereiteten ihr noch mehr Schmerzen, als sie ohnehin schon hatte. Sie hatte nicht die geringste Lust, lange Erklärungen abzugeben und damit das Martyrium des Gesprächs zu verlängern.
So bedankte sich der Anrufer leicht verwirrt und unterbrach die Verbindung. Er dachte kurz nach und wählte dann die Nummer seines Vorgesetzten, um ihn über die Schwierigkeiten, mit denen er konfrontiert war, zu informieren. Wohl hatte er vor wenigen Minuten eine Nachricht auf Cutters Handy hinterlassen, doch wann würde der Kunde diese Nachricht abhören? Bis dahin würde er vergeblich auf seine Limousine warten und sich dann bestimmt sehr verärgert bei ihnen beschweren. Cutter war ein VIP-Gast. Sein Vorgesetzter würde gar nicht erfreut sein, wenn er gerade mit diesem Kunden Ärger bekam. Doch was sollte er tun? Der Wagen war kurzfristig ausgefallen. Es würde mindestens eine Stunde dauern, bis der Ersatzwagen im Hotel eintraf. Sollte der Chef doch selbst versuchen, diesen Cutter zu erreichen.
Sandra blickte in die Lobby. »Cutter!«, fuhr es ihr durch den Kopf, als sie den Mann und seine Tochter neben ihren Koffern auf einem der Sofas sitzen sah. »Der Kerl hat Herrn Cutter gesucht!«
Sie wollte zu Cutter gehen, um ihn über den Anruf zu informieren, wurde jedoch von zwei Franzosen aufgehalten, die sich wort- und gestenreich nach dem kürzesten Weg zum Bahnhof erkundigten. Als sie den beiden den Weg auf ihrem Stadtplan eingezeichnet hatte, hatte sie Cutter und den Anruf schon längst wieder vergessen. Der nächste Gast wartete bereits ungeduldig am Empfangstresen, und ihr Chef warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, weil sie nicht auf ihrem Posten war.
Und Joanne schlief. Sie waren erst gestern von Montreal nach Deutschland geflogen. Ihre innere Uhr ging noch nach kanadischer Zeit. Der Jetlag hatte sie fest im Griff. Wäre sie wach gewesen, so hätte sie ihren Vater vielleicht vor dem Mann gewarnt, der eben zielstrebig auf ihn zuging. Ob er ihre Warnung beachtet hätte? Vermutlich schon. Immer öfter hörte er auf ihre Eingebungen, auch wenn er sich manchmal noch dagegen sträubte, obwohl er oft genug Zeuge von Ereignissen geworden war, die ihn veranlasst hatten, nicht von vornherein auszuschließen, dass seine Tochter tatsächlich in vielen Lebenslagen über Fähigkeiten verfügte, die mit den bekannten physikalischen Gesetzen nicht erklärt werden konnten. Er musste dafür nicht einmal an eine Reise nach Mexiko denken, die sie vor einigen Jahren zusammen unternommen hatten.
Doch Joanne schlief, und der Mann kam unaufhaltsam durch die beinahe leere Lobby auf ihren Vater zu.
Waren es also nur drei Zufälle, die das Leben dieser beiden Menschen aus seiner geordneten Bahn drängten? Jonathan Cutter hätte auf diese Frage eine passende Antwort gewusst: Er hätte sie verneint, hätte sich vielleicht an eine Diskussion erinnert, die er Jahrzehnte zuvor in einem Kreis junger Studenten im Beisein des gestrengen Professors O’Hara geführt hatte und in der er dem Zufall jegliche Bedeutung abgesprochen hatte.
*
Ben, der muskelbepackte, hünenhafte Mathematikstudent aus Nebraska, sah aus, als ob er sich jeden Moment auf Cutter stürzen wollte.
»Du bist so was von halsstarrig!«, brüllte er mit funkelnden Augen. »Nicht einmal theoretisch wird es dir möglich sein, die Zukunft aufgrund der Eigenschaften der Materie und der Naturgesetze vorherzusagen. Einer der Gründe dafür ist sehr simpel und stammt von den Vertretern deiner Gattung, den Physikern. Wie du vielleicht weißt« – Ben legte genüsslich eine rhetorische Pause ein – »gibt es im Weltall sogenannte Schwarze Löcher, die alles in sich aufsaugen, was in ihre Nähe kommt, und aus denen nichts wieder herausgelangen kann. Da also dem Gesamtsystem laufend Masse und Energie entzogen wird, ist es absolut unmöglich vorherzusagen, wie sich das Gesamtsystem zu einem bestimmten Zeitpunkt X verhalten wird.« Ben grinste Cutter breit an und tippte ihm gegen die Stirn. »Das solltest du eigentlich wissen, großer Physiker. Ich hoffe zumindest, du hast schon etwas von Schwarzen Löchern gehört, Meister. Ich fürchte fast, auch dein Hirn ist so etwas wie ein Schwarzes Loch: Vieles geht rein, aber nichts Gescheites kommt mehr raus.«
Ben hatte die Lacher auf seiner Seite. Die anderen Studenten im Kreis – die meisten von ihnen studierten Philosophie oder andere geisteswissenschaftliche Fächer – genossen die Auseinandersetzung zwischen dem Mathematiker und dem Physiker. Sie waren immer wieder überrascht, wie grundlegend verschieden die Denkweisen dieser beiden verwandten Disziplinen zu sein schienen.
Die Lacher waren jedoch nicht gegen Cutter gerichtet; sie waren Ausdruck einer beinahe kindlichen Freude an harten intellektuellen Auseinandersetzungen.
Professor O’Hara, der diesen Zirkel leitete, hatte sie dazu angespornt. »Wie die jungen Löwen spielerisch den Kampf und die Jagd lernen, wenn sie miteinander herumtollen, so sollt ihr hier die harte wissenschaftliche Diskussion einüben, damit ihr gewappnet seid, wenn ihr euch eines Tages allein gegen eure dummen, jedoch ebenso skrupel- wie rücksichtslosen und einflussreichen Feinde im wissenschaftlichen Dschungel verteidigen müsst.«
Cutter hatte also keinen Anlass, bei seinem Gegenangriff besonders rücksichtsvoll zu sein. »Mein lieber Ben«, begann er deshalb sarkastisch, »vor einigen Monaten erst hast du mich daran gehindert, Professor O’Hara zu erschießen. Ich habe dir diese Dummheit noch nicht verziehen, und schon begehst du die nächste.«
Jetzt hatte Cutter die Lacher auf seiner Seite. Keiner der Anwesenden hatte Cutters Attentat auf ihren Professor vergessen.
»Es war tatsächlich der kluge Hawking«, fuhr Cutter fort, nachdem das Gelächter verstummt war, »der die Theorie aufgestellt hat, dass nichts aus einem Schwarzen Loch entweichen kann. Keine Materie, keine Energie. Nichts. Es scheint jedoch leider noch nicht in die Welt der Mathematiker vorgedrungen zu sein, dass Hawking inzwischen diesen Aspekt seiner Theorie über die Schwarzen Löcher widerrufen hat.«
Cutter genoss den Moment des Triumphes und überlegte gleichzeitig, wie er den Zuhörern, die weder Physiker noch Mathematiker waren, dieses Phänomen erklären sollte.
»Stellt euch vor, ihr macht im Garten eine Grillparty. Ihr zündet die Holzkohle im Grill an und bratet eure Steaks. Nachdem ihr fertig gegessen habt, betrachtet ihr den Grill aus einer Distanz von einigen Metern. Ihr bekommt dabei den Eindruck, dass die Holzkohle erkaltet ist. Geht ihr jedoch näher zum Grill hin und haltet die Hand ganz nahe über die Holzkohle, so spürt ihr die Wärme, die sie noch immer ausstrahlt. Sie glimmt beinahe unsichtbar.«
Cutter hielt einen Moment inne, bevor er auf den entscheidenden Punkt zu sprechen kam. »Genauso müsst ihr euch ein Schwarzes Loch vorstellen. Zuerst haben wir Physiker geglaubt – genauso wie Ben, unser Mathematikgenie, es noch heute tut –, dass nichts aus einem Schwarzen Loch entweichen kann. Doch wir wissen nun, dass das nicht stimmt. Wie eure Holzkohle, so glimmen auch die Schwarzen Löcher und emittieren dabei Materie und Energie.«
Nach einer erneuten kurzen Pause fuhr er fort: »Ihr seht also, meine Theorie ist durch Bens Einwand nicht entkräftet. Ich wiederhole: Wenn es einem Menschen – mit einem unbegrenzt leistungsfähigen Computer und der Kenntnis über die Beschaffenheit der Naturgesetze ausgestattet – möglich gewesen wäre, nur wenige Sekunde nach dem Urknall alle Teilchen zu katalogisieren, die es damals gab, so könnte er exakt die Zukunft vorhersagen. Er hätte also bereits damals, vor rund 14 Milliarden Jahren, gewusst, dass wir heute hier zusammensitzen und dass unser lieber Ben eine absolut idiotische Behauptung aufstellen würde.«
Cutter wurde von lautem Gelächter unterbrochen.
»Stopp!«, rief Ben in die Runde und brachte mit diesem einen energischen Wort die Lacher zum Schweigen. Ben glaubte, dass Cutter mit diesen Ausführungen den entscheidenden Fehler gemacht hatte. Er fuhr deshalb triumphierend fort: »Ihr müsst wissen, dass Jonathan ein glühender Vertreter einer Denkrichtung ist, die sich immer mehr Kritikern gegenübersieht: der Quantenmechanik. Als solcher hat er allerdings ein gewaltiges Problem, denn schließlich besagen gerade deren Gesetze, dass der Zufall regiert. Ja, die Väter der Quantenmechanik haben gewissermaßen den Zufall zum Gott erklärt. Sie haben Wissenschaftler, die die Vorhersagbarkeit von Ereignissen postuliert haben, scharf angegriffen. Newton wurde ebenso gnadenlos attackiert wie Einstein; beide hatten eine etwas mechanistische Vorstellung von den Naturgesetzen, während die Quantenmechaniker der Ansicht sind, dass nicht einmal Position und Geschwindigkeit eines Elementarteilchens gleichzeitig bestimmt werden können.«
An Jonathan gewandt fuhr er fort: »Wenn schon das nicht möglich ist, wie willst du dann irgendwelche präzisen Vorhersagen machen? Unser großer Jonathan Cutter will uns weismachen, dass er die Zukunft vorhersagen kann, obwohl er uns nicht einmal sagen kann, wo sich ein bestimmtes Elementarteilchen zu einem vorgegebenen Zeitpunkt befindet.«
Alle Augen richteten sich gespannt auf Cutter. Die meisten der Anwesenden hatten den Eindruck gewonnen, dass Ben mit seinem Argument die Schlacht für sich entschieden hatte.
Doch Cutter blieb ganz ruhig, auch wenn er genau wusste, dass dieses Argument nicht nur die Schlacht, sondern den ganzen Krieg zwischen ihnen entscheiden konnte, denn Ben hatte in diesem einen Punkt absolut recht. Jeder ernstzunehmende Quantenphysiker konnte ihm nur zustimmen. Doch Cutter hatte zu diesem Thema seine eigene Meinung, hatte sich seine eigenen Überlegungen gemacht. Es war für einen Stundenten im dritten Jahr sehr gewagt, einen von der Lehrmeinung abweichenden Standpunkt einzunehmen, vor allem in einer derart zentralen Frage; trotzdem tat er es, nicht nur in diesem Kreis, sondern – ungeachtet aller Widerstände und offenen Anfeindungen – auch gegenüber seinen Professoren.
Cutter zeigte zum geöffneten Fenster hinaus, durch das der blaue Himmel zu sehen war, an dem nur einige wenige, helle Wolken die Strahlen der milden Frühlingssonne davon abhielten, bis zur Erdoberfläche vorzudringen.
»Keiner von uns fürchtet sich davor, dass in diesem Moment plötzlich ein Blitz vom Himmel fahren und uns hier alle erschlagen könnte. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit für ein solches Ereignis nicht gleich null. Diese Wahrscheinlichkeit ist jedoch selbst nur die Summe der Wahrscheinlichkeiten für den Zustand jedes einzelnen Teilchens in der Atmosphäre. Obwohl wir die exakten Zustände all dieser Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht kennen, ist es uns doch möglich, den Gesamtzustand der Atmosphäre zu beschreiben.
Genauso ist es bei meinem Beispiel: Auch wenn ich den Zustand jedes Teilchens nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit beschreiben kann, ist es mir doch möglich, den Zustand des ganzen Systems exakt zu beschreiben und folglich die Zukunft vorherzusagen. Viele Wissenschaftler verwechseln, genauso wie unser lieber Ben es tut, Wahrscheinlichkeit mit Unsicherheit. Doch sind das nur Narren, von denen wir uns nicht beeinflussen lassen sollten. Fazit ist«, fasste er mit einem breiten Lachen zusammen, »dass es keine Zufälle gibt. Alles ist vorherbestimmt. Euer Schicksal liegt nicht in euren Händen, es ist bereits vor vierzehn Milliarden Jahren besiegelt worden.«
Dann wurde Cutter ernst. Er ergriff die Hand von Jennifer, die rechts von ihm saß, und drückte sie kräftig, ja er klammerte sich an ihr fest, als er mit beinahe religiöser Andacht fortfuhr: »Doch etwas macht diese Berechnungen noch komplizierter, als sie ohnehin schon sind, ja, ich möchte beinahe Ben zustimmen und es aufgrund der unglaublichen Größe dieser Herausforderung als unmöglich bezeichnen, dass es dem Menschen je gelingen könnte, die Zukunft vorherzusagen – was jedoch natürlich nicht heißt, dass die Zukunft nicht doch vorbestimmt ist. Uns fehlt noch das Wissen über unzählige Elementarteilchen, von deren Existenz wir wohl ausgehen, die wir jedoch nicht oder noch nicht direkt nachgewiesen haben. Gibt es die dunkle Materie wirklich? Existieren die Gravitationswellen tatsächlich, die Einstein vorhergesagt hat? Diese und Dutzende anderer Fragen müssen zuerst beantwortet werden, bevor wir auch nur daran denken dürfen, den Ablauf von Raum und Zeit vorherzusagen.« Cutters Stimme klang noch belegter, als er schloss: »Auch wenn wir glauben, die wichtigsten zentralen Prozesse sowohl im ganz Großen des Universums als auch im ganz Kleinen der Elementarteilchen zu verstehen, so müssen wir doch zugeben, dass es in der Natur noch unzählige Vorgänge gibt, die uns vor scheinbar unlösbare Rätsel stellen. Wir sind wie Ameisen, die versuchen, globale Prozesse zu verstehen.« Diese Aussage hatte etwas Religiöses, Erhabenes an sich. Ehrfurcht lief Cutter wie kalter Schweiß den Rücken hinunter, und nur Jennifers Hand, die er immer fester drückte, hinderte ihn daran, zu erschaudern.
O’Hara zerstörte Cutters Hochgefühl jäh, als er das Wort ergriff. »Ich ziehe gerne die Erkenntnisse fremder Disziplinen in unsere philosophischen Überlegungen mit ein. Darum schätze ich die Anwesenheit Jonathans als Vertreter der Physik in unserem kleinen Kreis sehr. Doch leider legt unser junger Freund immer wieder ein sehr eindimensionales Denken an den Tag. Zahlen, Formeln, Wahrscheinlichkeiten prägen sein Denken. Dabei geht oft der Blick fürs Ganze verloren. Anstatt auf Jonathans Argumente einzugehen, möchte ich lieber einen Aspekt der Hirnforschung in Erinnerung rufen, der besagt, dass zum Beispiel die für Handbewegungen zuständige Hirnregion einige Zehntelsekunden vor der eigentlichen Bewegung der Hand erhöhte Aktivitäten zeigt. Ist diese Erkenntnis ein Hinweis darauf, dass unsere Handlungen vorbestimmt sind?«
Cutter ärgerte sich über O’Haras Ignoranz. O’Hara konnte argumentieren, so lange er wollte; nie würde Cutter eingestehen, dass etwas anderes als die Physik und deren mathematisch definierbaren Gesetze am Ursprung alles Seins standen. Auch eine Hirnaktivität war nicht mehr als eine komplexe Abfolge von physikalischen und chemischen Prozessen, die letztendlich von den Grundgesetzen der Natur und der Beschaffenheit von Materie und Energie abhingen.
*
Der Mann hatte inzwischen die Lobby durchquert. Er blieb vor Cutter stehen, lächelte ihm freundlich zu und fragte: »Herr Cutter?«
Die Antwort blieb Cutter im Hals stecken, als er den zweiten Mann sah, der dem ersten dicht auf den Fersen gefolgt war und erst jetzt in Cutters Sichtfeld geriet, als er einen Schritt zur Seite machte.
»Ein Zwerg«, fuhr es Cutter durch den Kopf, »und ein seltsamer dazu!«
Er betrachtete den Mann, der kaum einen Meter vierzig groß war und von dessen ansonsten kahlem Kopf nur noch ein paar isolierte Büschel grauer Haare wirr abstanden. Der Kopf, der auf einem unglaublich dünnen Hals saß, bekam durch die Schweinsaugen und das abgemagerte Gesicht mit den übergroßen, hervorstehenden Backenknochen ein groteskes Aussehen. Der spindeldürre Körper, der im Entwicklungsstadium eines halbwüchsigen Kindes steckengeblieben zu sein schien, war in eine zu große, schlaff herabhängende Uniform gehüllt, die den Zwerg als Fahrer eines Limousinen-Services auswies, der sämtliche Modeentwicklungen der letzten achtzig Jahre verpasst hatte. Mit den Absätzen seiner schwarzen, glänzenden, überdimensionierten Schuhe stand der Zwerg auf seinen Hosensäumen.
Cutter zwang sich, den Blick von dem Zwerg abzuwenden; er wollte ihn nicht unhöflich anstarren. Stattdessen musterte er den anderen Mann, der noch immer mit fragendem Blick vor ihm stand. Der Gegensatz zwischen beiden konnte nicht frappierender sein und ließ den Zwerg noch kleiner erscheinen. Der Mann war über zwei Meter groß und hatte einen imposanten, muskulösen Körper. Seine Statur, verbunden mit dem strohblonden Haar, das leicht auf dem Kragen seines Hemdes aufstand, hätte jedem Teutonen zur Ehre gereicht. Obwohl er einen unauffälligen, leichten Anzug und ein blassblaues Hemd mit offenem Kragen trug, fiel es Cutter schwer, in ihm den erwarteten Fremdenführer zu sehen. Sein offenes Gesicht wirkte freundlich, und er besaß eine Ausstrahlung, die ihn auf den ersten Blick sympathisch wirken ließ. Und doch glaubte Cutter eine undefinierbare Gefahr zu spüren, die von ihm ausging. Der Versuch, diesen Eindruck zu konkretisieren, schlug fehl. So betrachtete Cutter den Mann aufmerksam, doch fiel ihm nichts weiter an ihm auf, abgesehen von einem massiven goldenen Siegelring mit drei ineinander verschlungenen Buchstaben, die Cutter jedoch nicht entziffern konnte.
»Ja, mein Name ist Cutter«, antwortete er.
»Freut mich.« Der Mann streckte ihm die Hand entgegen. »Nennen Sie mich einfach Prometheus. Ich bin Ihr Reiseleiter. Ich werde Sie in den nächsten drei Wochen auf Ihrer Tour durch Europa begleiten.«
»Freut mich«, erwiderte Cutter seinerseits und schüttelte dem Reiseleiter die Hand, ohne sich zu erheben, da der Kopf der schlafenden Joanne noch immer an seiner Schulter lehnte.
»Ein seltsamer Name«, dachte Cutter. Er hatte nicht gewusst, dass in Deutschland ein solcher Vorname existierte. Natürlich kannte er die Sage von Prometheus, doch wer kam wohl auf die Idee, seinen Sohn nach dem Unsterblichen zu benennen, den Zeus zur Strafe an einem Felsen des Kaukasus hatte anketten lassen und dessen immer wieder nachwachsende Leber von einem Adler gefressen wurde?
»Und das ist Fritz, unser Fahrer«, ergänzte Prometheus, Cutters Gedanken unterbrechend, mit einem kurzen, freundlichen Blick in Richtung des Zwerges.
Cutter begrüßte den Fahrer, was dieser mit einem Kopfnicken quittierte.
Cutter war ein Mensch, der sehr viel auf den ersten Eindruck gab, den andere auf ihn machten. Er war damit sein ganzes Leben lang gut gefahren, hatte also keinen Anlass, diese Eigenheit gerade heute abzulegen. Prometheus hatte eben bei ihm gepunktet. Manch anderer hätte eine versteckte abschätzige Bemerkung über den Zwerg gemacht, doch Prometheus, das spürte Cutter, mochte diesen kleinen, seltsamen Mann. Und doch blieb da dieses Gefühl der Gefahr, das Cutter mit dem Fremdenführer assoziierte. Und Fritz, der Zwerg, verstärkte diesen Eindruck noch. Mit was für einem Paar würden sie die nächsten drei Wochen verbringen? Fremdenführer und Fahrer. Ein seltsameres Team hatte er in seinem Leben noch nicht gesehen, und Cutter war schon in aller Herren Länder gewesen und hatte genügend außergewöhnliche Situationen erlebt, um mehr als nur ein Buch damit füllen zu können. Schade, dass Joanne schlief. Er musste sie möglichst rasch fragen, was sie von den beiden Begleitern hielt. Ihre Menschenkenntnis war oftmals der seinen überlegen.
Cutter schob diese Gedanken beiseite. Er wollte eben Joanne wecken, als sein Blick erneut auf den Zwerg fiel, der sich den Koffern zugewandt hatte. Er klemmte sich die beiden kleineren Koffer links und rechts unter die Arme, packte dann die beiden schwersten und hob sie hoch, als ob es sich um leeres Handgepäck handelte. So schlurfte er zum Ausgang. Dabei hielt er die beiden großen Koffer mit fast waagerecht vom Körper abgespreizten Armen – eine durch die ungünstige Auswirkung des Hebelgesetzes extrem kraftaufwendige Haltung. Der Zwerg musste Muskeln aus Stahl besitzen, sonst wären ihm die Koffer längst entglitten. Cutter selbst wäre nicht in der Lage gewesen, die Koffer auf diese Weise weiter als zwei Meter zu tragen, obwohl er fast täglich im Kraftraum mit Gewichten trainierte.
Prometheus stand noch immer unschlüssig neben Cutter, als der Zwerg bereits durch die Türe verschwunden war.
»Gehen Sie schon vor«, forderte Cutter ihn mit einem Blick auf Joanne auf. »Wir kommen gleich nach.«
Prometheus schien auf eine seltsame Art erleichtert zu sein. Hastig machte er kehrt und folgte dem Zwerg. Erst jetzt fiel Cutter auf, dass der Reiseleiter das linke Bein leicht nachzog.
Cutter küsste Joanne auf die Stirn, und als sie darauf nicht reagierte, fuhr er ihr sanft über die Wangen.
»Aufwachen, Joanne«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wir sind in München, es ist neun Uhr und wir sollten uns auf den Weg machen.«
Joanne richtete sich auf, wischte sich den Schlaf aus ihren großen, grünen Augen und streckte sich geräuschvoll. Erst jetzt, bei geöffneten Augen, wurde ihre ganze Schönheit sichtbar. Ihre Augen bestimmten das Gesicht weit mehr als die wohlgeformte Nase oder die weichen Konturen ihrer Lippen.
»Ist unser Wagen schon hier?«, wollte sie wissen und blickte sich fragend um.
»Unsere Koffer sind schon draußen. Prometheus und Fritz warten dort auf uns.«
»Prometheus und Fritz?«, fragte sie.
»Unser Reiseleiter und der Fahrer«, erklärte Cutter. »Prometheus, der Reiseleiter, macht auf den ersten Blick einen ganz normalen Eindruck, auf den zweiten Blick hat er jedoch eine Ausstrahlung, die mich etwas unsicher macht. Der Fahrer hingegen ist ein Kobold. Ich hoffe, er fährt besser, als er aussieht, sonst gnade uns Gott.«
»Schauen wir uns die beiden doch einmal an«, forderte Joanne ihn auf. Sie erhob sich und ging ihrem Vater voraus.
In der Auffahrt stand ein mächtiger, schwarzer, sechstüriger BMW. Fritz hatte sich bereits hinter das Steuer gesetzt, so dass Joanne ihn durch die getönten Scheiben nur schemenhaft erkennen konnte. Prometheus stand vor dem Wagen und riss die Türe auf, als er Cutter und seine Tochter das Hotel verlassen sah. Zu Cutters Überraschung hinkte er anschließend beinahe hektisch um den Wagen herum und stieg auf der anderen Seite ein, noch bevor sie bei der Limousine angekommen waren.
Joanne bemerkte nur noch einen Schatten, der hinter dem Wagen verschwand. Etwas an seinem Verhalten und an seiner Ausstrahlung, die sie in den wenigen Zehntelsekunden gefühlt hatte, irritierte sie, doch es blieb ihr zu wenig Zeit, um darüber nachzudenken.
»Nette Menschen hier in Deutschland«, flüsterte sie Ihrem Vater zu. »Normalerweise wartet man doch wohl, bis die Gäste eingestiegen sind, und schließt dann die Türe hinter ihnen.«
Sie ließ ihrem Vater den Vortritt, stieg nach ihm in den geräumigen Fonds des Wagens ein und zog die Türe hinter sich zu. Augenblicklich setzte sich die Limousine beinahe geräuschlos in Bewegung.
Joanne sah sich um. Etwas stimmte nicht mit diesem Wagen. Ihr Blick fiel zuerst auf den großen Fernsehapparat, dann auf die gut ausgestattete Bar, die ihr Vater, der aus Prinzip nur sehr mäßig trank, kaum benutzen würde, und schließlich auf die einander gegenüberstehenden wiechen Sitze, in denen sie beinahe versank. Ihr Vater und sie blickten in Fahrtrichtung. Der Reiseführer, der freundlich und doch etwas herausfordernd lächelte und ihr die Hand entgegenstreckte, saß ihrem Vater gegenüber.
Sie blickte am Reiseführer hoch und wollte ihm eben die Hand reichen, als sie einen Schlag verspürte, als ob sie gegen eine Wand gelaufen wäre. Sie musste sich dazu zwingen, ihren Arm auszustrecken und Prometheus’ Hand zu ergreifen. Sie erwartete nichts Gutes von diesem Händedruck.
Trotzdem fuhr ihr der Schreck durch alle Glieder, als sie nichts spürte, obwohl sich ihre Finger um seine Hand schlossen. Genauso gut hätte sie der Luft die Hand schütteln können. Sie zog verunsichert die Hand zurück, während ihr Prometheus einen verschwörerischen Blick zuwarf. Er zwinkerte ihr zu und legte den rechten Zeigefinger auf die Lippen. Er wollte, dass sie schwieg. Doch warum hatte er ihr die Hand entgegengestreckt? Wollte dieser seltsame und doch sympathische Fremdenführer, dass sie seine Andersartigkeit bemerkte? Wenn ja, was bezweckte er damit? Sie überlegte fieberhaft, doch außer unzähligen Fragmenten von Fragen konnte sie keinen vernünftigen Gedanken formulieren.
Ihr Vater hatte nichts von diesem kurzen Intermezzo bemerkt. Er blickte auch nicht nach rechts, wo seine Tochter mit entsetztem Gesicht in die Ferne starrte und um Fassung rang.
Cutter unterhielt sich mit Prometheus über die bevorstehende dreiwöchige Reise. Ihre Rundfahrt sollte sie von München aus noch heute nach Österreich führen, wo sie kreuz und quer durch das Land seiner Vorfahren reisen und schließlich über Ungarn, die Slowakei und Tschechien wieder zurück nach München fahren würden.
Es war eben eine kurze Pause eingetreten, als Prometheus ohne die geringste Vorwarnung fragte: »Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod, Herr Cutter?«
»Ich bin noch nicht einmal sicher, ob ich an ein Leben vor dem Tod glaube«, antwortete Cutter instinktiv und scheinbar zynisch, ohne auch nur einen Moment überlegt zu haben.
Eine Sekunde später hätte er sich dafür ohrfeigen können. Prometheus hatte ihn mit seiner unerwarteten Frage überrascht. Hätte man ihm die gleiche Frage in Amerika gestellt, so wäre ihm dieser Fehler nicht passiert. Im Land der sehr begrenzten unbegrenzten Möglichkeiten trugen immer mehr Menschen ihren Glauben auf der Zunge, genauso wie sie ihn durch religiöse Sprüche auf ihren T-Shirts manifestierten. Zwischen Patriotismus und Religion war dort eine Art Symbiose entstanden, die es einem interessierten Beobachter unmöglich machte, ernsthafte Gespräche zu führen, ohne früher oder später beim Thema Religion zu landen. Doch hier waren sie in Deutschland, in Europa. Auf einem Kontinent, in dem ein Mensch, der regelmäßig in die Kirche ging, sich fast schon entschuldigen musste. Religion war bestenfalls Privatsache, die hinter verschlossenen Türen praktiziert wurde, wobei manche Praktiken eher an östliche Religionen erinnerten als an jene, denen der Stammvater Abraham gemeinsam war. So war denn auch in mehr Haushalten eine Buddhastatue anzutreffen – und sei es nur als Souvenir eines Asien-Aufenthaltes – als ein Kruzifix.
Prometheus’ Frage war daher so überraschend für Cutter gekommen, dass er eine vorschnelle, viel zu persönliche Antwort gegeben hatte, die Prometheus nur falsch interpretieren konnte. Weder wollte er in Abrede stellen, dass es ein Leben nach dem Tod gab, noch die Existenz der Menschheit als solche in Frage stellen. Natürlich hing der Tod letztlich mit der Frage nach der Körperlichkeit des Lebens zusammen, war es doch unbestreitbar, dass unser Körper nur für eine begrenzte Zeitspanne geschaffen war. Doch der Tod, wie auch das Leben selbst, setzte neben der Körperlichkeit noch etwas Weiteres voraus: die Zeit. Seit dreißig Jahren befasste sich Cutter als Physiker mit dem Phänomen von Raum und Zeit, doch erst vor gut zwölf Jahren hatten seine Frau Jennifer und er begonnen, an der Dimension Raum, wie die Menschen sie zu kennen glaubten, zu zweifeln. Da Raum und Zeit untrennbar miteinander verbunden waren, war es nicht überraschend gewesen, dass sie kurze Zeit später auch die Beschaffenheit der Zeit in Frage gestellt hatten. Diese Zweifel waren zur schmerzhaften Gewissheit geworden, als Jennifer starb. Seit jenem Ereignis lag er nachts oft wach im Bett und überlegte, wo die Seele seiner Frau sich in diesem Moment wohl befinden mochte und in welcher Form Jennifer weiterexistierte. Diese Fragen waren bis heute offengeblieben, war es ihm doch nie gelungen, sie befriedigend und widerspruchsfrei zu beantworten, weil er Jennifer sein Wort gegeben hatte, den letzten, entscheidenden Schritt nicht zu Ende zu führen, den er mit ihr begonnen und den seine Frau mit dem Leben bezahlt hatte. Hätte er den einmal eingeschlagenen Weg weitergehen können – das wurde ihm in dieser Situation einmal mehr mit aller Brutalität bewusst –, so hätte er inzwischen vielleicht schon die Antwort auf diese uralte Frage gefunden.
»Eine gute Antwort, die vieles – wenn nicht alles – offenlässt«, sagte Prometheus mit einem kaum sichtbaren Lächeln um die Lippen. Er war offensichtlich mit der Antwort zufrieden. Elegant wechselte er das Thema und plauderte über eine Belanglosigkeit, die in fast schmerzhaftem Kontrast zu der eben gestellten Frage stand. »Immer diese Baustellen«, sagte er und zeigte nach draußen. Der Wagen war beinahe zum Stillstand gekommen. Auf drei Spuren stauten sich die Fahrzeuge auf der Autobahn. »Unsere Politiker haben nichts Besseres zu tun, als alljährlich während der Urlaubszeit möglichst viele Reparaturarbeiten auf den Autobahnen in Auftrag zu geben. Das Resultat sind kilometerlange Kolonnen wie diese hier«, schimpfte der Reiseführer scheinbar echt entrüstet, um nur einen Atemzug später erneut das Thema zu wechseln. »Die Zeit ist das Problem!«, sagte er beiläufig.
Cutter blickte ihn fragend an.
»Nun«, meinte Prometheus, »wenn es keine Zeit gibt, kann es auch kein Leben geben; weder vor noch nach dem Tod.«
Cutter zuckte zusammen. Prometheus bohrte weiter in seiner Seele, und Cutter spürte die Schmerzen wie bei einer Wurzelbehandlung beim Zahnarzt.
»Wie, glauben Sie, ist die Zeit beschaffen?«, vergrößerte der Reiseführer erneut Cutters Schmerzen.
»Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier«, wich Cutter aus, »dann würde ich in Stockholm den Nobelpreis für Physik in Empfang nehmen.«
»Nicht mitten im Sommer«, grinste Prometheus, nur um gleich wieder ernst zu werden. »Was steht im Zentrum, Raum oder Zeit? Oder sind die beiden nicht vielmehr gleichwertig?«, bohrte er weiter.
Cutter spürte, dass jetzt der Moment gekommen war, das Gespräch zu beenden, wenn er nicht riskieren wollte, die Tiefe seiner Seele vor diesem Fremden bloßzulegen oder sich in unlösbare Widersprüche zu verwickeln.
»Ich bin Physiker, wie Sie sicherlich den Unterlagen Ihrer Firma entnommen haben«, erklärte er deshalb. »Raum und Zeit gehören zu meinem Fachgebiet. Doch da ich hier im Urlaub bin, möchte ich nicht über berufliche Angelegenheiten sprechen. Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür.«
»Natürlich«, sagte Prometheus mit einem bedauernden Ausdruck. »Natürlich akzeptiere ich Ihren Wunsch.« Ohne zu zögern wechselte er das Gesprächsthema und begann über die Sehenswürdigkeiten Süddeutschlands zu sprechen.
*
Joanne hatte zuerst geglaubt, dass es sich bei dem Fremdenführer um ein körperloses Wesen handelte, doch hatte sie zwischenzeitlich entdeckt, dass alles viel schlimmer war: Sie war nämlich mit einem Mal auch von ihrem Vater getrennt, obwohl sie im Fonds der gleichen Limousine saßen. Scharf wie die Klinge eines Rasiermessers und gleichzeitig unscharf wie ein weicher, warmer Luftzug verlief irgendwo zwischen ihr und den beiden Männern eine Grenze. Auf ihrer Seite dieser Grenze war sie alleine, auf der anderen saßen ihr Vater, Prometheus und der Fahrer, der seinerseits durch eine Glasscheibe von den beiden Männern im Fond getrennt war.
Zum ersten Mal seit neun Jahren war sie von ihrem Vater getrennt. Die ersten acht Jahre ihres Lebens hatte sie ihren Vater kaum je zu Gesicht bekommen. Er war ein Workaholic gewesen, den sie höchstens einmal am Abend für einige Minuten oder an einem Wochenende für wenige Stunden gesehen hatte. So hatte sie nie einen Vater gehabt, dem sie sich nahe und vertraut genug gefühlt hätte, um ihre kleinen Sorgen oder Geheimnisse mit ihm zu teilen. Dann kam der unerwartete Tod ihrer Mutter, die Beerdigung, bei der ihr Vater sie zum ersten Mal tröstend in die Arme geschlossen hatte, und die zehn dem Begräbnis folgenden Tage, während denen ihr Vater verschwunden war. Niemand konnte ihr sagen, wo er sich aufhielt, nicht einmal ihre Großmutter, bei der sie nach dem Tod ihrer Mutter eingezogen war und die sich große Sorgen um ihren Schwiegersohn zu machen schien. In diesen zehn Tagen begann sie ihren Vater, zu dem sie zuvor ein emotionsloses Verhältnis gehabt hatte, zu hassen. Von Tag zu Tag wuchs der Hass auf ihn, bis dieses Gefühl die Trauer um den Verlust ihrer Mutter fast völlig verdrängt hatte.
Nach zehn Tagen tauchte ihr Vater wieder auf, ebenso überraschend und kommentarlos, wie er verschwunden war. Entgegen den Wünschen ihrer Großeltern und zu ihrer eigenen beträchtlichen Überraschung schickte er sie nicht in ein Internat, sondern forderte sie auf, ihre Sachen zu packen, und fuhr mit ihr zurück in die gemeinsame Wohnung.
Er gab seine Professur an der Universität auf, verkaufte seine zahlreichen Firmen, stellte all seine geschäftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten von einem Tag auf den anderen ein und kümmerte sich von diesem Moment an nur noch um seine Tochter, bis er zwei Jahre später behutsam, immer auf die Bedürfnisse seiner Tochter Rücksicht nehmend, damit begann, sich eine neue Karriere aufzubauen und seinen Platz in der Gesellschaft der Schönen und Reichen Montreals wieder einzunehmen.
Es vergingen Monate, in denen sie ihrem Vater mit offener Ablehnung und rebellischem Widerstand begegnete, bis der Hass in ihrer Seele allmählich der Liebe Platz machte. Heute waren sie unzertrennlich. Joanne glaubte nicht, dass es irgendwo auf diesem Planeten eine Tochter gab, die ein innigeres Verhältnis zu ihrem Vater hatte, auch wenn sie nie herausgefunden hatte – und auch nie den Mut aufgebracht hatte, ihn danach zu fragen –, wo er in den für sie so schweren zehn Tagen nach dem Begräbnis ihrer Mutter gewesen war.
Doch nun, in einem fremden Land, war sie von ihrem Vater getrennt worden. Die Trennung war tiefgreifend und schien – zumindest im Moment – unüberwindbar zu sein. Sie hatten sich nicht, wie es früher schon vorgekommen war, in einer Menschenmenge oder in einem Warenhaus aus den Augen verloren und sich dann wenige Stunden später im gemeinsamen Hotelzimmer wieder in die Arme geschlossen. Nein, sie saßen in der gleichen geräumigen Limousine und waren doch durch etwas getrennt, das Joanne nicht zu ergründen wagte.
Sie berührte die unsichtbare Grenze mit dem Zeigefinger und spürte, ohne davon überrascht zu sein, dass dort, wo sie diese vermutet hatte, gar keine existierte. Sie konnte ihren Finger ohne Widerstand über die Grenze hinausführen, bis er den Arm ihres Vaters berührte. Doch konnte sie diese Berührung ebenso wenig spüren wie zuvor den Handschlag des Fremdenführers. Sie glaubte nur, ein beinahe unmerkliches Kribbeln in ihrem Finger zu fühlen. Auch ihr Vater schien die Berührung nicht zu bemerken; zumindest reagierte er in keiner Weise darauf.
Sie zog die Hand zurück und berührte den Türgriff, das Polster des Sitzes, auf dem sie saß, die getönte Scheibe der Türe und die kühle Colabüchse, die in einer Halterung steckte. All das konnte sie fühlen. Auch das Polster des Sitzes jenseits der imaginären Grenze leistete ihren tastenden Händen Widerstand. Doch kaum glitt ihre Hand in Richtung ihres Vaters, fühlte sie sich an, als ob sie sich im luftleeren Raum bewegen würde. Das Auto war als Ganzes hier – wie hätte es sonst auch fahren sollen? Doch die beiden Männer, jenseits der unsichtbaren Grenze, waren ihrem Zugriff entzogen. Sie streckte ihren Fuß weit über die imaginäre Grenze hinaus und trat gegen den Boden. Kein Zweifel, der Fuß prallte mit einem dumpfen, kaum hörbaren Geräusch gegen den dicken, weichen Teppich, der den Boden der Limousine bedeckte.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Grenze weiter zu erforschen, wenn sie die Situation nicht tatenlos akzeptieren wollte.
Sie brauchte einige Minuten, bis sie soweit war. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, atmete einige Male tief durch und hielt dann den Atem an. Langsam bewegte sie ihren Kopf auf die Grenze zu, kam ihrem Vater immer näher, bis ihre Stirn an der Schulter ihres Vaters angelangt war – und doch sendeten ihre Nerven keine Signale an ihr Gehirn, konnte sie den Körper ihres Vaters in keiner Weise fühlen.
Einen Sekundenbruchteil bevor sie das Entsetzen übermannte, riss sie ihren Kopf heftig zurück. Sie ließ sich in den weichen Sitz sinken, schloss die Augen und atmete tief durch. Sie überlegte fieberhaft, doch fielen ihr nur zwei Interpretationen ein für das, was sie eben erlebt hatte: Sie war entweder wahnsinnig geworden, oder etwas ganz Unglaubliches war mit ihr, mit ihrem Vater, ja möglicherweise mit der ganzen Welt geschehen. Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihr die Variante, selbst wahnsinnig geworden zu sein; sie war wesentlich einfacher zu verstehen. Die zweite Möglichkeit erschien ihr unnatürlich, zutiefst erschreckend, ja ungeheuerlich. Allein der Gedanke daran erschien ihr ebenso abartig wie blasphemisch.
»Wir sind gleich dort«, sagte Prometheus. »Es wird heute unser einziger Zwischenstopp sein. Danach fahren wir ohne Halt bis nach Österreich weiter, wo ich Sie für die Nacht in einem romantischen Hotel einquartieren werde.«
Cutter war froh, dass er den Wagen verlassen konnte. Aus einem Grund, der weit über die bohrenden Fragen des Reiseführers hinausging, fühlte er sich in der Limousine nicht wohl, und irgendetwas schien mit Joanne nicht zu stimmen. Sie saß ungewohnt unbeteiligt neben ihm und hatte auf der ganzen Fahrt noch keine Silbe gesprochen. Gewiss, er hatte sie dazu überredet, nach Europa zu fliegen. Joannes Liebe galt dem spanisch sprechenden Teil des amerikanischen Kontinents. Sie wäre lieber in die Berge Guatemalas gefahren als nach Europa, das in ihren Augen ein durch und durch langweiliger, dekadenter Kontinent ohne Kraft und ohne Visionen war.
»Du willst deine Ferien auf einem Kontinent verbringen, in dem die Menschen auf Schritt und Tritt einer großartigen Vergangenheit begegnen und doch jeden Gedanken daran verworfen, jede Rücksicht darauf längst aufgegeben haben, genauso wie sie den Glauben an ihre Zukunft für ein paar ebenso unbedeutende wie kurzfristige wirtschaftliche Vorteile weggeworfen haben. Was willst du dort? Deine Wurzeln suchen? Die sind längst mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden. Alles, was du finden wirst, wird eine große Leere sein, die du nach Kanada mitnehmen oder besser noch im leeren Europa zurücklassen kannst«, hatte Joanne gesagt und dabei jedes Wort mit eleganten Handbewegungen unterstrichen.
Cutter hatte seine ganze Überzeugungskraft aufgewandt: »Mein Großvater ist mit seiner Familie nach dem Zweiten Weltkrieg von Österreich nach Kanada ausgewandert. Du willst doch sicher auch einmal sehen, wo die Wurzeln unserer Familie liegen. Sie sind dort, du musst nur bereit sein, sie auch zu sehen. Und etwas verspreche ich dir: So langweilig und dekadent, wie du glaubst, ist Europa ganz gewiss nicht.«
Joanne hatte wenig überzeugt nachgegeben, nachdem Cutter ihr versprochen hatte, dass die nächste gemeinsame Reise sie nach Mittelamerika führen würde. Doch dass sie deswegen nun schlechter Laune war und – mehr noch – diese Laune so offen zeigte, wunderte Cutter sehr, denn eigentlich passte ein solches Verhalten nicht zu ihrem Charakter. Gewiss hatte Joanne einen Dickschädel und war zweifellos nicht weniger starrsinnig als ihr Vater, doch wenn sie sich einmal – und sei es noch so widerwillig – zu etwas entschlossen hatte, so bewirkte dieselbe Eigenschaft auch, dass sie die Sache durchzog, ohne lange mit dem Schicksal zu hadern.
Auf ihr unüblich ruhiges, distanziertes Verhalten angesprochen, grinste Joanne nur leicht gequält. »Der Jetlag«, log sie.
Cutter kannte sie gut genug, um zu spüren, dass das nicht die ganze Wahrheit war, doch insistierte er nicht weiter. Wenn es für ihn von Bedeutung war, so würde ihm Joanne den Grund für ihr Verhalten aus freien Stücken mitteilen, wenn sie die Zeit für gekommen hielt. So folgte er Prometheus, der nicht zu viel versprochen hatte, als er von diesem Ort in den höchsten Tönen geschwärmt hatte.
Vor einigen Jahren hatten Bauarbeiter hier im Osten des Bundeslandes Bayern die Überreste einer mittelalterlichen Siedlung freigelegt. Die Archäologen waren derart begeistert von den sensationellen Funden gewesen, dass sie bewirkten hatten, dass die Autobahn um einige Hundert Meter weiter nach Norden verlegt wurde und so das Gebiet der ehemaligen Siedlung der Nachwelt erhalten blieb.
Die Siedlung war zwischen dem 5. und 12. Jahrhundert bewohnt gewesen, war mehrmals niedergebrannt, schließlich von einer letzten Feuersbrunst zerstört und dann aufgegeben worden. Die Überreste des Städtchens waren im wasserdurchsetzten, moorigen Boden überraschend gut konserviert worden. Nach fünf Jahren intensiver Ausgrabungsarbeiten hatten sich die Wissenschaftler entschieden, die Siedlung zu rekonstruieren.
So war eine mittelalterliche Kleinstadt entstanden, in der alle Aspekte des Alltags jener Zeit aufgezeigt wurden. Die verantwortlichen Wissenschaftler hatten bewusst darauf verzichtet, den Besuchern ein Spektakel à la Disneyland zu bieten. Sie stellten die Siedlung so dar, wie sie nach den Resultaten der Ausgrabungen und dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung einmal ausgesehen haben mochte. In den einzelnen Vierteln war die Stadt jeweils so dargestellt, wie sie in einer bestimmten Periode zwischen dem 5. und 12. Jahrhundert ausgesehen hatte. Ein Gang durch die Stadt war also gleichzeitig auch ein Gang durch die Zeit, ein Gang durch die Geschichte. So zeigte sich in den ersten Vierteln, die die frühe Zeit des Städtchens darstellten, ein recht trostloses Bild einer ärmlichen Siedlung, während das letzte Viertel bereits recht schmucke, wenn auch einfach gebaute Häuser aufwies.
Die Szenen wurden zusätzlich durch verschiedene Demonstrationen aufgelockert, bei denen mittelalterlich gekleidete Mitarbeiter Handwerk und Brauchtum einer längst vergangenen Zeit neu aufleben ließen.
Gerade diese Schnörkellosigkeit beeindruckte Cutter. Er folgte interessiert den Ausführungen eines Führers, den Prometheus für sie angeheuert hatte.
Joanne ging mit etwas Abstand hinter den drei Männern her. Sie wollte nicht hören, was der Führer ihnen erzählte. Sie hatte eine ungleich wichtigere Entdeckung gemacht, von der sie gleichermaßen fasziniert wie entsetzt war: Prometheus zog wie ein Motorschiff auf dem ruhigen Wasser eines Sees eine Spur hinter sich her, die unmittelbar hinter ihm deutlich zu erkennen war, sich dann zu beiden Seiten ausbreitete, mit zunehmender Entfernung allmählich schwächer wurde und schließlich völlig verschwand. Unter dieser Spur kamen wie eine Fata Morgana Bilder aus einer anderen Zeit zum Vorschein. Es war zweifellos die gleiche Siedlung, die sie durch diese Spur hindurch sah, doch war sie noch elender als ihre Nachbauten. Die Straße bestand aus einer Schlammbahn, durch die in Sackleinen gekleidete Menschen mit nackten Füßen hastig stapften, während ein mit Schnee durchmischter kalter Regen auf sie niederprasselte. Die Häuser waren nicht mehr als Bretterbuden, die nur ungenügenden Schutz gegen die Witterung boten. Bei einzelnen Häusern drang dichter Rauch aus einer Öffnung im Dach und zwischen den Ritzen in den Wänden hindurch, die nur unzureichend mit Moos abgedichtet waren.
Joanne vergrößerte ihren Abstand zu den Männern etwas mehr, um einen breiteren Bereich von Prometheus’ Spur überblicken zu können. Dies hatte den Vorteil, dass sie einen besseren Überblick über die Szene erhielt, jedoch den Nachteil, dass die Bilder undeutlicher wurden, je weiter sie von Prometheus entfernt waren.
Dann wurde von einer Sekunde zur nächsten das Bild völlig klar, als ob Joanne mitten in dieser Welt stehen würde. Schreiende Menschen rannten in Panik an ihr vorbei, als links und rechts von ihnen eine Hütte nach der anderen Feuer fing. Ein starker Wind trieb das Feuer unaufhaltsam von einer der eng beieinanderstehenden Hütten zur nächsten. Die wenigen Menschen, die eine Schlange gebildet hatten und mit Wasserkrügen versuchten, das Feuer zu stoppen, standen auf verlorenem Posten. Bald mussten auch sie dem Feuer weichen. Nach wenigen Minuten stand Joanne allein inmitten von rauchenden Trümmern, und nur von ferne drang das Wehklagen der Menschen an ihr Ohr. Sie zwang sich, einige Schritte zur Seite zu machen. Dadurch bewegte sie sich aus der Spur hinaus, die Prometheus hinter sich herzog. Sobald sie die Spur verlassen hatte, befand sie sich wieder in der Gegenwart, inmitten von lauten, fröhlichen Touristen, die durch die enge Gasse in Richtung des Dorfplatzes strömten und in ihrer Sorglosigkeit nichts von dem ahnten, was Joanne soeben erlebt hatte und was sich, so vermutete Joanne, hier vor einigen Hundert Jahren tatsächlich abgespielt hatte.
Joanne vermied es, erneut in den Sog von Prometheus zu treten. Sie hatte für den Moment genug gesehen und genug zu überlegen. Was ging hier vor? Und vor allem: Wie sollte sie ihrem Vater oder irgendeinem Menschen auf dieser Erde erklären, was sie erlebt hatte? Der Gedanke, dass sie wahnsinnig war, drohte allmählich zur schrecklichen Gewissheit zu werden.
»Dort drüben gibt es ein Restaurant mit Spezialitäten, wie sie unsere Vorfahren im Mittelalter gegessen haben mögen. Ich habe Ihnen einen Tisch reserviert«, sagte Prometheus, als sie auf dem Dorfplatz angekommen waren, der von kleinen Läden gesäumt war, und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf einige Holzgebäude, die etwas abseits standen. »Genießen Sie das Essen und schauen Sie sich noch etwas um. Wir treffen uns in spätestens zweieinhalb Stunden beim Wagen. Bitte seien Sie pünktlich, wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
Mit diesen Worten entfernte er sich. Joanne schaute ihm mit besorgtem Gesichtsausdruck nach. Noch immer zog er die unerklärliche Spur hinter sich her. Joanne schloss rasch die Augen. Sie hatte genug gesehen und keine Lust, noch einmal in die Vergangenheit zu blicken. Sie folgte ihrem Vater in eines der Restaurants, wo sie sich einen Wildschweinbraten bestellten, zu dem dunkles, grobes Roggenbrot serviert wurde. Sie aßen schweigend, Cutter mit sichtlich großem Appetit, während Joanne sich zwingen musste, etwas zu sich zu nehmen, obwohl sie zugeben musste, dass das Schweinefleisch außerordentlich zart und würzig war und sie noch nie in ihrem Leben ein derart schmackhaftes Brot genossen hatte.
Als sie das Essen mit einem erfrischenden, gekühlten Kräutertee abschlossen, sah Cutter seine Tochter ernst an. »Joanne, etwas stimmt nicht mit dir! Was ist los? Du wirkst völlig desinteressiert; ist es wirklich so schlimm hier in Europa?« Er streckte den Arm aus, um seine Hand auf die ihre zu legen.
Reflexartig zog Joanne ihre Hand zurück und hob abwehrend beide Hände.
Ihr Vater starrte sie erschrocken und verständnislos an. »Mein Gott, was ist mit dir?«, stammelte er überrascht. Das Mädchen, das ihm gegenübersaß, reagierte völlig unverständlich. Er konnte sich nicht erinnern, Joanne in den letzten Jahren je so erlebt zu haben.
Joanne blickte ihn aus ernsten, traurigen Augen an. »Es ist schwierig, es dir zu erklären«, antwortete sie mit kaum hörbarer Stimme.
»Versuch es trotzdem«, forderte ihr Vater sie auf. Er war froh, dass Joanne wieder vernünftig mit ihm sprach. »Wir haben Zeit und ich bin ganz Ohr.«
Joanne überlegte fieberhaft, doch die Worte fehlten ihr. Es gab keine passenden Worte, weder für das, was sie empfand, noch für das, was sie erlebt hatte. Ihr Vater musste es selbst fühlen, nur dann würde er verstehen können. Doch Joanne hatte Angst. Angst davor, dass ihr Vater etwas fühlen könnte, und noch mehr Angst davor, dass er ebenso wenig fühlen könnte wie sie selbst.
»Mir fehlen die Worte«, wiederholte sie mit rauer Stimme. Langsam, vorsichtig legte sie ihre linke Hand auf den Holztisch. Sie blickte ihrem Vater tief in die Augen, in denen sich die Sorge um seine Tochter spiegelte. »Leg jetzt deine Hand auf meine. Aber sei nicht überrascht, was immer auch geschehen mag.«
Cutter zog überrascht die Augenbrauen hoch, tat dann jedoch, worum ihn seine Tochter gebeten hatte. Er streckte den Arm aus und berührte Joanne. Nachdem er zweimal zugegriffen und versucht hatte, Joannes Hand zu umfassen, war es an ihm, seine Hand mit einem Ruck zurückzuziehen. Eine grenzenlose Verblüffung legte sich auf sein Gesicht. Vorsichtig streckte er die Hand erneut aus. Seine Finger zitterten dabei deutlich. Er berührte Joannes schlanke Hand – oder genauer gesagt: er berührte sie eben nicht, obwohl seine Hand jetzt auf der ihren lag. Zumindest fühlte er keine Berührung. Er fühlte nichts. Und doch berührte seine Hand ihre Finger, das konnte er deutlich sehen. Seine Sinne verwirrten ihn. Sein Tastsinn sendete eine Information an sein Gehirn, seine Augen eine andere. Gemeinsam ergaben die beiden Informationen keinen Sinn, konnten von seinem Gehirn nicht korrekt verarbeitet werden.
Cutter wäre dieser Situation wohl hilflos gegenübergestanden, wenn er sich nicht an eine Begebenheit erinnert hätte, die sich während seiner Studienzeit zugetragen hatte. Mit einigen seiner Kommilitonen hatte er sich auf einer Party einen Spaß daraus gemacht, den Gästen grasgrüne Erdbeeren, dunkelblaue Gurken und rote Kiwi zum Kosten zu geben, die sie mit harmloser Lebensmittelfarbe behandelt hatten. Die meisten Gäste hatten – irritiert durch die ungewohnte Farbe – Mühe gehabt, die Nahrungsmittel aufgrund ihres Geschmacks und Aussehens zu erkennen. Sobald sie jedoch die Augen schlossen und sich ausschließlich auf den Geschmack der Speisen konzentrierten, errieten die meisten von ihnen, was sie gerade aßen.
Sein Erlebnis hier war ähnlich geartet. Zwei Sinne sendeten unterschiedliche Signale. Also ging es nun nur darum, das echte vom falschen Signal zu unterscheiden, dann würde sich das Rätsel auflösen. Er war schließlich Wissenschaftler. Mit einem wissenschaftlichen Vorgehen konnte er zweifellos eine Erklärung für dieses scheinbare Paradoxon finden.
Cutter zog langsam seine Hand zurück. Er beobachtete Joannes Hand, die noch immer unbeweglich auf dem Tisch ruhte. Es gab keinen Zweifel daran, dass ihre Hand auf dem Tisch lag. Es gab keinen Grund, an eine optische Täuschung zu glauben. Sie saßen im Schatten unter einem Strohdach, das sie vor der prallen Mittagssonne schützte. Das Licht war etwas diffus, doch Joannes Hand war deutlich sichtbar. Vorsichtig streckte er seine Hand wieder aus. Hätte er mit seiner Hand durch Joannes hindurchgreifen können, so hätte ihn das nicht völlig überrascht. Des Rätsels Lösung wäre damit gefunden gewesen: Es hätte sich bei Joanne um ein perfektes Hologramm handeln können. Irgendjemand hätte sich dann mit ihm einen ebenso üblen wie geschmacklosen, wenn auch sündhaft teuren Scherz erlaubt. Doch er konnte nicht durch Joannes Hand hindurchgreifen; er blieb auf geheimnisvolle Weise stecken, ohne dass sein Tastsinn irgendein Signal an sein Hirn gesendet hätte. Er fuhr Joannes Hand entlang, den Unterarm hinauf, er lehnte sich über den Tisch, ergriff ihren Oberarm und drückte mit aller Kraft zu. Es gelang ihm nicht, seine Hand zu schließen, und trotzdem spürte er keinen Widerstand. Und Joanne, die normalerweise unter dem harten Griff seiner Hand aufgeschrien hätte, verzog keine Miene.
Joannes Körper war real. Ein uraltes physikalisches Gesetz besagte, dass sich nicht zwei Körper am gleichen Ort befinden konnten. Es war also nicht verwunderlich, dass seine Hand nicht durch Joannes Körper hindurchgreifen konnte. So etwas war höchstens in drittklassigen Gruselfilmen möglich.
Doch gab es ein anderes physikalisch-biologisches Gesetz, das besagte, dass bei der Berührung zwischen zwei menschlichen Wesen Reize an die Gehirne der Betroffenen gesendet werden, die diese als Berührung interpretieren. Aber nichts dergleichen geschah; sein Tastsinn schien nicht mehr zu funktionieren. Und doch – wenn er den Tisch berührte, konnte er das raue Holz fühlen. Nur Joanne schien auf eine geheimnisvolle Weise immateriell zu sein. Panik stieg in ihm auf und vernebelte seine Sinne.
»Kannst du mich fühlen?«, fragte er, nachdem er kräftig gehustet hatte, um seiner Stimme wieder einen menschlichen Klang zu verleihen.
»Nein.« Joanne schüttelte heftig den Kopf und erzählte dann ihre Erlebnisse von dem Zeitpunkt, an dem sie in die Limousine gestiegen war, bis zum dem Moment, als sie in Prometheus’ Sog geraten war.
»Wahnsinn!«, stieß Cutter hervor. »So was gibts doch nicht!« Nach einer langen Pause fuhr er fort: »Es gibt nur eine vernünftige Erklärung dafür, aber die ist zu phantastisch, um wahr zu sein.«
»Welche denn?« Es gab viele Eigenschaften, die Joanne an ihrem Vater bewunderte, doch am stärksten imponierte ihr, dass er sich zeitlebens mit Dingen beschäftigt hatte, von denen die meisten Menschen keine Ahnung hatten. Er hielt an der Universität Vorlesungen zur Quantentheorie, denen nur die wenigsten Studenten und lange nicht alle Professoren folgen konnten. Auch sie selbst verstand nur oberflächlich, wenn ihr Vater über sein Studiengebiet sprach, selbst wenn er sich Mühe gab, seine phantastische Welt mit einfachen Worten zu erklären, und dennoch übte diese Welt, in der Zeit und Raum zu verschmelzen schienen, eine faszinierende Anziehungskraft auf sie aus. Trotzdem war sie überrascht, dass ihr Vater sogar in einer derart ungewöhnlichen Situation eine Erklärung praktisch aus dem Ärmel schütteln konnte. Sie hörte ihm konzentriert zu, als er zu erklären begann.
»Wir befinden uns in zwei unterschiedlichen Räumen, die nebeneinanderliegen. Die Grenze ist durchlässig für Licht, jedoch nicht für Materie. Ich kann dich also sehen, aber nicht berühren, weil meine Hand die Grenze zwischen den Räumen nicht durchdringen kann. Sie bleibt gewissermaßen in einem Zwischenraum stecken. Das ist noch nie vorgekommen, oder zumindest noch nie dokumentiert worden, aber unmöglich ist es nicht. Fragt sich nur, wie du es geschafft hast, die Grenze zu überwinden und in einen anderen Raum zu gelangen.«
Joanne wurde schwindelig. Ihr Vater hatte mit diesen wenigen, schlichten Worten eine Ungeheuerlichkeit ausgesprochen, so gelassen, als ob er ihr die Reiseroute des Nachmittags geschildert hätte. Immerhin wusste sie nun, dass sie nicht wahnsinnig geworden war, sondern dass die Welt um sie herum begonnen hatte, verrückt zu spielen. Dieser Gedanke beruhigte sie zuerst ein wenig, doch als sie kurz darüber nachgedacht hatte, kam sie zu dem Schluss, dass dies doch die schlimmere der beiden Varianten war.
»Und der Sog hinter Prometheus, wie passt der ins Bild?«, wollte sie wissen. Joanne glaubte – sehr bald würde sie diesen Glauben ablegen –, mit jedem Mehr an Wissen die Situation ein klein bisschen besser in den Griff bekommen zu können.
»Du kannst mir tausend Fragen stellen, meine Antworten wären meist nichts als reine Spekulationen.« Cutter legte eine kurze Pause ein, während der er die Fachbegriffe in eine allgemeinverständliche Sprache übersetzte. »Die Wissenschaftler haben früher vermutet, dass es zu Rissen in der Raumzeit kommen könnte. Diese Lehrmeinung ist jedoch schon längst revidiert worden. So etwas dürfte eigentlich nicht vorkommen. Aber wer weiß, wir haben schon so oft unsere Meinung geändert, warum nicht einmal mehr?«
»Raumzeit?«, fragte Joanne. Natürlich hatte sie als Tochter eines Physikers schon von diesem Begriff gehört, den Einstein vor Jahrzehnten geprägt hatte, doch schien er ihr in diesem Zusammenhang keinen Sinn zu machen.
Cutter überlegte einen kurzen Moment, bevor er zu erklären begann: »Jedes Objekt, also auch jeder Mensch, nimmt Raum und Zeit auf eine ganz eigene Art war. Früher haben wir geglaubt, Raum und Zeit seien so etwas wie Konstanten, die für jedes Objekt identisch sind. Mit der Relativitätstheorie ist das etwas schwieriger geworden. Wenn nun also jeder Mensch Raum und Zeit individuell wahrnimmt, so stellt sich die Frage, wie denn Raum und Zeit wirklich gestaltet sind. Gibt es überhaupt den Raum und die Zeit, oder werden Raum und Zeit gewissermaßen erst durch den Beobachter geschaffen? Die Antwort ist klar: Es gibt Raum und Zeit, sie sind nicht relativ! Das ist übrigens auch der Grund, warum Einstein den Begriff ›Relativitätstheorie‹ eigentlich abgelehnt hat. Jedes Objekt – also auch jeder Mensch – nimmt die Zeit aus einem bestimmten Blickwinkel wahr, sieht also eine andere Perspektive der gleichen Realität. Um diese Realität, Raum und Zeit eben, beschreiben zu können, genügen die herkömmlichen Methoden nicht mehr. Die Physiker mussten einen neuen Begriff einführen, jenen der Raumzeit eben, mit dem die reale Welt ein-eindeutig beschrieben werden kann, völlig unabhängig von der Position, die ein Beobachter gerade einnimmt.«
Cutter blickte seine Tochter prüfend an, um sich zu vergewissern, dass sie verstanden hatte. Einige Falten auf ihrer Stirn zeigten ihm, dass sie noch dabei war, das Gehörte zu verarbeiten.
Er machte deshalb eine kleine Pause, bevor er mit seinen Erläuterungen fortfuhr: »Wie gesagt haben die Überlegungen der Physiker gezeigt, dass es immer wieder zu Rissen in der Raumzeit kommt, doch besagt die gleiche Theorie, dass solche Risse unmittelbar nach ihrem Entstehen wieder repariert werden. Es würde zu weit führen, dir den Mechanismus zu erklären; glaub mir einfach, dass die Materie – genau gesagt die kleinsten Teile, aus denen sich die Materie zusammensetzt – derart beschaffen ist, dass dieses Phänomen im gleichen Moment behoben wird, in dem es auftritt. Doch vielleicht«, fügte Cutter nachdenklich hinzu, »ist diese Theorie ja auch falsch und die Risse werden nicht in jedem Fall geflickt. Dann würde es an einer solchen Grenze möglicherweise auch Turbulenzen geben und Raum wie Zeit würden instabil werden.«
Cutter lächelte verlegen. »Soweit der etwas hilflose Versuch deines Vaters, eine einfache Frage zu beantworten.«
Joanne schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie hatte nicht die geringste Lust, über einen solchen Wahnsinn auch nur eine Sekunde länger nachzudenken, zumal solange sie selbst in diesem Riss der Raumzeit gefangen war. Sie hatte die Worte ihres Vaters verstanden, doch überstieg die von ihm skizzierte Möglichkeit ihr Vorstellungsvermögen. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, so musste sie zugeben, dass sie gar nicht verstehen wollte, dass sie sich schlichtweg weigerte, eine solche Ungeheuerlichkeit auch nur in Betracht zu ziehen.
Während Joannes Verwirrung weiter zunahm, hatte sich Cutters Panik etwas gelegt. Gewiss, das Phänomen, dem sie ausgesetzt waren, war im höchsten Maße ungewöhnlich und beunruhigend, doch letztlich war es nur eine physikalische Aufgabenstellung, der er sich gegenübersah. Trotzdem war er tief im Innern beunruhigt und in höchstem Maße nervös. Ja, er spürte, wie erneut die kalte Angst in ihm aufstieg. Die aktuelle Situation erinnerte ihn zu stark an jene vor neun Jahren. Damals war sie außer Kontrolle geraten und er hatte das verloren, was ihm das Liebste gewesen war. Heute war Joanne in Gefahr. Die Geschichte durfte sich nicht wiederholen, er durfte Joanne nicht auch noch verlieren. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, und daran war nicht die Hitze schuld. Es war die reine, urtümliche Panik, die drohte, erneut von ihm Besitz zu ergreifen.
»Prometheus weiß das mit den Räumen, und es scheint ihn nicht überrascht zu haben.« Joannes Stimme riss Cutter aus seinen Gedanken und half ihm, den Anfall von Panik zu unterdrücken.
»Wie meinst du das?«, fragte er unsicher.
»Er hat mir in der Limousine zur Begrüßung die Hand gereicht. Ich sah ihm an, dass er wusste, ich würde ihn nicht fühlen können. Er hat mich mit einem Blick angeschaut, den ich nicht beschreiben kann. Dieser Blick, glaub mir, der war nicht von dieser Welt. Er mag sympathisch auf uns wirken, aber bin ich mir nicht sicher, ob er so harmlos ist«, erklärte Joanne mit zitternder Stimme.
»Mist!« war das einzige Wort, das Cutter hervorbrachte. Wenn Prometheus Bescheid wusste, konnte es gut sein, dass er diese Diskontinuität auch verursacht hatte. Doch wie und warum? Es gab allerdings noch eine andere Möglichkeit, die Cutter mehr Sorge bereitete als ein Blick, der nicht von dieser Welt war. Er konnte sich zwar weigern, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen, doch schien ihm das keine erfolgversprechende Strategie zu sein. Er musste sich mit einer äußerst unangenehmen Frage beschäftigen: Hatte ihn die Vergangenheit eingeholt? Trotz der hohen Temperaturen lief ein Frösteln durch seinen ganzen Körper. Er hatte lange gebraucht, um jene Ereignisse zu verarbeiten. Er hatte – zumindest oberflächlich betrachtet – schon vor Jahren seinen Frieden wieder gefunden, doch nun schien dies alles in Frage gestellt zu werden. »Lieber Prometheus, ich hoffe inbrünstig, dass du der Verursacher dieser seltsamen Situation bist«, stieß er zwischen zusammengepressten Lippen hervor, so dass nur er selbst es verstehen konnte.
Er blickte Joanne an, die ebenfalls tief in Gedanken versunken war. Er versuchte zu lächeln und so viel Optimismus in seine Stimme zu legen, wie ihm möglich war. »Hab keine Angst, wir werden das Kind schon schaukeln. Wir finden eine Lösung, und bald schon wirst du mich wieder fühlen können.«
Joanne blickte ihn ungläubig an. »Kannst du zwei Räume wieder zu einem machen?«
Cutter versuchte mit einem selbstsicheren Grinsen seine Unsicherheit zu überdecken. »Theoretisch ja, praktisch hat das noch kein Mensch geschafft, aber einmal ist immer das erste Mal.«
»Ich fühle mich unwohl als Versuchskaninchen«, erwiderte Joanne. Sie hätte alles darum gegeben, wenn ihr Vater sie nun in die Arme genommen hätte. Sie empfand einen beinahe körperlichen Schmerz bei dem Gedanken daran, dass das nicht möglich sein sollte.
Ihr Vater schien ihre Gedanken zu lesen. Er stand auf, ging um den Tisch herum, trat hinter sie und legte seine Hände auf ihre Schultern. Joanne blickte hinunter; sie konnte seine Hände zwar sehen, doch fühlte sie keine Berührung. Tränen traten ihr in die Augen.
Als Cutter ihre Hand ergriff und sie hochzog – natürlich konnte er ihre Hand nicht hochziehen, war er doch nicht in der Lage, eine Kraft auf sie auszuüben, doch versuchte sie mit ihrer Hand der seinen zu folgen –, spürte sie zum ersten Mal dieses Gefühl. Es war das Gefühl, das ein Mensch empfindet, wenn jemand neben ihm geht. Es ist physisch nur schwer fassbar, und doch existiert dieses Empfinden. Es war, als ob sie in einem dunklen Raum eingeschlossen wäre und, obwohl sie nichts sehen konnte, doch fühlte, dass sich noch eine weitere Person im Raum aufhalten musste. Es war also doch nicht nur das Licht, das die Grenze zwischen den Räumen überwinden konnte; auch Gefühle konnten sie passieren. Es war diese Tatsache, die sie neue Hoffnung schöpfen ließ. Wenn es für Gefühle keine Grenzen gab, so war auch die Liebe grenzenlos. Solange dies der Fall war, würde sie nie alleine sein, und sie und ihr Vater würden sich gegenseitig das geben können, was das Wichtigste für sie beide war: ihre Liebe.
Prometheus erwartete sie ungeduldig. Er schaute vorwurfsvoll auf seine Uhr, ohne jedoch ein Wort zu sagen. Cutter wusste, dass sie eine gute Stunden später als abgemacht zum Wagen zurückkamen, doch er entschuldigte sich nicht für die Verspätung, sondern warf Prometheus nur einen nichtssagenden Blick zu. Wortlos stieg er in die angenehm heruntergekühlte Limousine, als ob nichts geschehen wäre. Kaum hatten sie die Türen hinter sich geschlossen, fuhr der Wagen los.
Joanne blickte Prometheus einen kurzen Moment lang aufmerksam an. Er erwiderte ihren Blick und lächelte ihr herzlich zu. Joanne fühlte erneut, wie dieser Mann etwas Tiefes, Geheimnisvolles ausstrahlte. Sie konnte das Gefühl, das sie empfand, nicht einordnen, doch war daran nichts Böses oder Hassenswertes. Trotzdem ließ sie sich zu einer kindischen Reaktion hinreißen. Sie rutschte etwas nach links, holte mit dem Fuß aus und versetzte Prometheus einen kräftigen Tritt ans Schienbein. Ihr Fuß stieß bis zu seinem Bein vor, aber sie verspürte keinen Schlag, und auch Prometheus ließ – von einem kaum sichtbaren Heben der Augenbrauen abgesehen – keine Reaktion erkennen.
Die Dämmerung war bereits angebrochen, als die Limousine die Autobahn verließ, die Geschwindigkeit markant drosselte und kurz danach von einer schmalen, kurvenreichen Straße in ein Waldstück abbog. Der dichte Wald, den sie durchquerten, wurde mit jedem Kilometer urtümlicher. Anfänglich standen die Nadelbäume in Reih und Glied, dann wucherte immer mehr Unterholz zwischen den Bäumen und schließlich ging der Wald in einen richtigen Urwald mit umgestürzten Bäumen, Baumstrünken und Baumleichen über, die noch in die Luft ragten und von undurchdringlichem Dickicht überwuchert waren.
Joanne blickte ihren Vater unsicher an. Der dichte Wald machte ihr Angst. Doch Cutter schüttelte beruhigend den Kopf. Ihm machte nicht der Wald Angst; es waren andere Kräfte am Werk, die weitaus bedrohlicher waren als dieser dunkle, drohende Wald. Und wenn diese Kräfte freigesetzt wurden, war es zweifellos besser, wenn dies weitab von der nächsten menschlichen Siedlung geschah, auch wenn Cutter besser als jeder andere Mensch wusste, dass im schlimmsten aller Fälle weder eine räumliche noch eine zeitliche Distanz den Menschen auf diesem Planeten Sicherheit bringen konnte.
Kurze Zeit darauf machte der Urwald beinahe übergangslos einer parkähnlichen Landschaft Platz, die von Laubbäumen geprägt war. Nur wenige Meter später gaben die Bäume den Blick auf ein weitläufiges Gebäude frei, das Joanne unter anderen Umständen romantisch erschienen wäre. Das aus längst schon dunkel verwittertem Holz gebaute dreistöckige Gebäude besaß Dutzende von kleinen Türmchen, um die sich Efeu rankte. Ebenso viele Erker verliehen der Fassade ein Aussehen, das an ein romantisches Märchenschloss erinnerte. Vor den meist kleinen Fensterchen waren Kästen mit wild wuchernden hellroten Blumen befestigt. Das Dach war mit dunkelroten Ziegeln belegt, die Dachzinnen bestanden aus grün oxidiertem Kupfer.
Vor dem überdachten Eingang, der an eine Laube in einer mittelalterlichen Stadt erinnerte, lag ein großer, leerer Platz, in dessen Kies die Limousine eine deutlich sichtbare Spur hinterließ, als sie in einer weiten Kurve auf den Eingang zusteuerte. Mit einem kurzen Blick stellte Cutter fest, dass es die einzige Spur auf dem ganzen Platz war.
»Wir sind hier«, stellte Prometheus trocken fest und öffnete die Türe.
Cutter stieg aus, ging um die Limousine herum und öffnete seiner Tochter die Türe. Sie schauten sich um.
»Wunderschön«, sagte Cutter.
»Unheimlich«, antwortete Joanne leise, so dass Prometheus ihre Worte nicht verstehen konnte.
Cutter legte die Hand auf Joannes Schulter, zog sie jedoch rasch wieder zurück, als er keine Berührung fühlen konnte. »Wie oft haben wir schon in diesen Einheitshotels gewohnt, die es in allen Städten dieser Welt gibt. Wenn wir morgens auf dem Weg zum Frühstück in die Lobby kamen, mussten wir zuerst überlegen, in welcher Stadt wir eigentlich waren. Am Hotel selbst hätten wir es nicht erkennen können. Das hier ist dagegen einmalig. Ich glaube nicht, dass wir diesen Aufenthalt je wieder vergessen werden.« Er blinzelte seiner Tochter verschwörerisch zu.
Mit seinem letzten Satz war Joanne einverstanden. Sie glaubte auch nicht, dass sie diesen Aufenthalt je vergessen würde, auch wenn sie sich in ihren schlimmsten Alpträumen nicht hätte ausmalen können, wie schrecklich ihr Aufenthalt wirklich werden würde. Doch bei den übrigen Sätzen ihres Vaters war sich Joanne nicht sicher, ob sie für sie oder nur für Prometheus’ Ohren bestimmt gewesen waren.
Fritz ging mit den Koffern voraus, dicht gefolgt von Prometheus; Cutter und seine Tochter kamen mit einigem Abstand nach. Prometheus drückte sich an Fritz vorbei, hielt die schwere, hölzerne Eingangstüre auf, winkte zuerst den Zwerg durch und ließ dann seinen beiden Gästen den Vortritt. Sie betraten einen riesigen, von diffusem Licht durchfluteten Raum, der bis unter das Dach reichte und Cutter im ersten Moment an das Innere einer Kirche erinnerte. Unwillkürlich blickte er nach oben zum Dachstock, auf dem undeutlich Malereien zu erkennen waren, die das einfache Volk bei seinen täglichen Arbeiten zeigten. Ein Bauer mähte Gras, ein anderer drosch Stroh, eine Bäuerin rupfte ein Huhn. Diese und viele andere Szenen des bäuerlichen Lebens waren mit einfachen Strichen in bunten, wenn auch bereits leicht verblassten Farben auf quadratische Platten gemalt, die in Vierergruppen so angebracht waren, dass der Betrachter von jeder Stelle in der Empfangshalle einige der Bilder in seinem Blickfeld hatte.
Cutters Blick wanderte nach unten, vorbei an drei Galerien mit zahlreichen Türen, hinter denen sich wohl Gästezimmer befanden. Im Erdgeschoss führten zu seiner Linken jeweils fünf Stufen zu einer Holztüre hinauf. Die Nummern an den Türen ließen darauf schließen, dass es sich auch hier um Gästezimmer handelte. Rechts von ihm schien der Speisesaal zu liegen, dessen Türe jedoch geschlossen war. Dazwischen befand sich eine riesige Bar, auch sie ganz aus Holz, mit einem mächtigen Spiegel dahinter, der die gesamte obere Hälfte der Wand bedeckte. Darunter waren Dutzende von Flaschen mit zumeist hochprozentigem Inhalt in einer langen Doppelreihe angeordnet.
Der Zwerg blieb vor der Bar stehen und stellte die Koffer ab. Cutter warf einen Blick in den Spiegel. Deutlich spiegelten sich seine Koffer darin. Auch Joanne konnte er sehen, die neben dem Zwerg stand, ihm freundlich zulächelte und sich mit ihm unterhielt – nur das Spiegelbild des Zwerges, der unschlüssig und sichtlich von Joanne angetan neben den Koffern wartete, konnte er nicht erkennen. Cutter blickte genauer hin, doch das Spiegelbild blieb gleich. Auch als sich der Zwerg nun höflich von Joanne verabschiedete und an ihr vorbei zum Ausgang ging, um den Wagen wegzufahren, veränderte sich das Spiegelbild nicht. Cutter warf Joanne einen fragenden Blick zu.
Sie schien nichts bemerkt zu haben, sondern blickte nur fasziniert und mit einem milden, freundlichen Lächeln um ihre Mundwinkel dem Zwerg nach.
Prometheus zog Cutters Aufmerksamkeit auf sich. Er war unmittelbar nach ihrer Ankunft in einem Zimmer verschwunden, aus dem er nun, gefolgt von einer Frau, wieder heraustrat. Er ging auf Cutter und Joanne zu. »Darf ich Ihnen Margot Dreher vorstellen? Besitzerin und gute Seele dieses Gasthauses«, sagte er.
Die Frau näherte sich ihren Gästen mit einem offenen, herzlichen Lächeln. »Willkommen im Gasthaus zum Goldenen Adler! Sie können mich einfach Margot nennen«, begrüßte sie Cutter mit einem kräftigen Händedruck, wandte sich dann an Joanne und begrüßte auch sie herzlich.
Margot Dreher war eine große, feste Frau. Die zeitlose Tracht, die sie trug, betonte ihre dralle Figur, ihre ausladenden Brüste und das breite Becken. Schwarzes, halblang geschnittenes Haar umrahmte ihren Kopf wie der Helm eines Hunnenkriegers. Je nachdem, wie das Licht, das von den auf verschiedenen Ebenen angeordneten Lampen in die Empfangshalle fiel, ihr Gesicht beleuchtete, bekam es einen härteren, beinahe abweisenden Ausdruck oder es erhielt weiche, mütterliche Züge. Ihre dunklen Augen hatten etwas Geheimnisvolles an sich. Das rundliche Gesicht mit seinem hellen, reinen Teint war makellos schön. Augen, Nase, Mund und Wangen bildeten zusammen eine perfekte Einheit. Die Frau trug keine Spur von Make-up. Cutter verstand warum. Jeder Tupfer hätte die Wirkung dieses perfekten Gesichts nur beeinträchtigt.
Die Frau hatte Cutter in ihren Bann gezogen, lange bevor er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte. Doch war es nicht nur ihr Gesicht, das Cutter vom ersten Moment an faszinierte. Eine Aura umgab sie, die Cutter magisch anzog. Es war ihm nicht mehr möglich, den Blick von ihr zu wenden. Er musste all seine Konzentration darauf verwenden, die Frau nicht anzustarren.
»Seltsam«, dachte Cutter und fühlte, wie eine leichte Röte in sein Gesicht stieg, »sie ist so gar nicht mein Typ.« Trotzdem hatte ihn ihre Anziehungskraft längst umgarnt. Nicht zuletzt verspürte er auch ein körperliches Verlangen, wie er es schon lange nicht mehr gekannt hatte.
Sie schien nichts von seiner Reaktion bemerkt zu haben, streckte ihm nur immer noch freundlich lächelnd einen Schlüssel entgegen und sagte dazu: »Zimmer 1, gleich hinter Ihnen.« Dann entschuldigte sie sich dafür, dass es heute nicht möglich sein würde, im Speisesaal zu essen, da er von einer großen Gesellschaft belegt war. Sie bot ihnen an, einen kleinen Snack aufs Zimmer zu bringen.
Joanne und Cutter nahmen dankend an. Keiner von beiden war unglücklich darüber, den Abend nicht in einem lauten Speisesaal in Gesellschaft anderer Menschen verbringen zu müssen.
Cutter wollte eben in ihr Zimmer gehen, als er bemerkte, wie Prometheus eine Türe öffnete, die den Blick in einen Raum freigab, in dem rund dreißig Menschen an Vierertischen saßen. Einige von ihnen trugen Verbände um den Kopf, andere hatten den Arm oder ein Bein eingegipst. Zwischen den Tischen waren einige altertümliche Krücken an die Wand gelehnt. Es schien sich um lauter Männer zu handeln, zumindest konnte Cutter auf den ersten Blick keine Frau ausmachen. Der Raum wirkte auf ihn wie ein Aufenthaltsraum in einem Militärlazarett des Zweiten Weltkriegs, wie er sie in Kriegsfilmen gesehen hatte. Aus eigener Erfahrung konnte er es nicht beurteilen, da er erst viele Jahre nach dem Krieg auf die Welt gekommen war.
Die Männer spielten in Vierergruppen Karten. Trotzdem war es im Raum absolut still. Weder waren Laute der Freude oder des Ärgers zu vernehmen, noch wurde über das abgeschlossene Spiel diskutiert oder über den Fehler eines Mitspielers geschimpft. Cutter wollte eben nähertreten, um die seltsame Gesellschaft genauer zu betrachten, als Prometheus die Türe von innen mit einem lauten Knall schloss.
»Es muss sich um Kurgäste handeln, die aus irgendeiner Klinik hierhergeschickt worden sind, um sich von ihren Verletzungen zu erholen«, dachte Cutter und hatte die Männer schon wieder vergessen, als er der geschlossenen Türe den Rücken zukehrte.
Cutter und seine Tochter folgten einem Angestellten, der zwei ihrer Koffer ergriffen hatte und sie zu ihrem Zimmer führte, das gleich zu ihrer Linken lag.
Die Suite bestand aus zwei Räumen und einem Bad. Sie war einfach, aber gemütlich eingerichtet, wenn sie auch etwas dunkel wirkte. Das Mobiliar schien aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu stammen, befand sich jedoch in einem für ein ländliches Hotel eher unüblichen, hervorragenden Zustand. Über dem Bett hing ein riesiges Bild, das eine Landschaft unter einem dunkel drohenden Himmel zeigte. Die Bauersleute mit Kind und Kegel waren daran, das Heu vor dem nahenden Gewitterregen in Sicherheit zu bringen. Helle Vorhänge kompensierten einen Teil der düsteren Stimmung, die das Bild im Raum verbreitete. Im Gegensatz zu den beiden Zimmern war das Badezimmer freundlich, modern und mit allem Komfort ausgestattet.
Joanne warf einen Blick hinein, und ihre Augen begannen zu strahlen. »Ich bin zuerst dran«, sagte sie, nahm einige Sachen aus ihrem Koffer und schloss sich im Badezimmer ein.
»Ich geb dir eine halbe Stunde, nicht mehr!«, rief Cutter, der sich auch gerne den Schweiß vom Körper gespült hätte, noch hinter ihr her.
Ein lautes Lachen zeigte ihm, dass es noch einige Zeit dauern würde, bis er sein Bedürfnis stillen konnte.
Auf ein Klopfen hin öffnete er die Türe.
Die Wirtin stand mit einem Tablett vor ihm. »Darf ich?«, fragte sie, und als Cutter einen Schritt zur Seite trat und eine einladende Handbewegung machte, kam sie herein und stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch, der unmittelbar neben dem Fenster stand.
Cutter schloss unwillkürlich die Türe hinter der Wirtin und folgte ihr unsicher durch den Raum. Er spürte, dass mit der Frau ein bestimmtes Etwas eingetreten war, eine Aura, eine neue, unbekannte Atmosphäre, die den Raum erfüllte, Cutter faszinierte und ihn auf eine mystische Weise anzog.
»Ich habe einen hervorragenden Weißwein aus der Gegend mitgebracht«, sagte Margot. »Darf ich Ihnen ein Glas einschenken?«
»Gerne«, antwortete Cutter, »wenn Sie ein Glas mit mir trinken«. Er war von seiner Antwort selbst überrascht. Erstens trank er sehr selten Alkohol, höchstens ein Bier oder ein Glas Rotwein zum Essen, doch nie einen Aperitif, schon gar nicht am Ende eines heißen Tages. Und zweitens hatte er die Frau eigentlich nicht zum Bleiben auffordern wollen.
Margot schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, entkorkte routiniert die Flasche, goss zwei Gläser ein und reichte ihm eines. Sie prostete ihm zu. »Auf einen schönen Aufenthalt in Österreich!«, sagte sie.
Cutter bedankte sich und nahm einen kleinen Schluck. Der Wein war ausgezeichnet. Zwei Minuten später hatte er sein Glas geleert und Margot schenkte nach. Sie hatten sich an den kleinen, runden Tisch gesetzt und unterhielten sich ungezwungen, während Cutter den belegten Broten zusprach.
Margot erzählte von ihrem Hotel, von dem schweren Stand, den ein kleines Gasthaus gegen die multinationalen Hotelketten hatte, und den Problemen mit dem Personal. Sie jammerte und beschwerte sich jedoch nicht, was sie Cutter noch sympathischer machte. Sie stellte lediglich eine Realität dar, mit der sie konfrontiert war, und brachte ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, die Schwierigkeiten zu überwinden. Dann nahm das Gespräch eine von Cutter kaum bewusst wahrgenommene Wendung. Er begann von sich selbst zu erzählen, von seinem Leben, seinem Beruf, und er wunderte sich selbst, wie offen er zu der ihm fremden Frau sprach. Er sprach sogar von Jennifer. Cutter konnte sich nicht erinnern, dass er je mit einem fremden Menschen über seine tote Frau gesprochen hatte.
Die Badezimmertüre öffnete sich und Joanne trat ins Zimmer. Sie schien sich nicht über Margots Anwesenheit zu wundern; vermutlich hatte sie die Stimmen durch die Türe gehört. Sie trug nichts als ein überlanges T-Shirt, das ihr bis über die Knie reichte.
»Eine hübsche Tochter haben Sie«, sagte Margot und zauberte mit ihren Worten ein Strahlen auf Joannes Gesicht.
»Danke«, sagte Joanne und huschte an ihnen vorbei in ihr Zimmer.
»Zeit zu gehen«, sagte Margot, erhob sich, schüttelte Cutter die Hand und verließ das Zimmer.
Mit einem Blick auf die Uhr stellte Cutter fest, dass er weit über eine Stunde mit Margot gesprochen hatte. Die Zeit war ihm wie im Fluge vergangen.
Nachdem Cutter geduscht hatte, legte er sich auf das Doppelbett und streckte seine müden Glieder aus.
Joanne betrat das Zimmer. »Darf ich die Nacht bei dir schlafen?«, fragte sie mit flehendem Blick.
Cutter hatte während des Gesprächs mit Margot Joannes missliche Situation fast vergessen. Ein Blick auf seine völlig verunsicherte Tochter genügte, um sie sich wieder ins Bewusstsein zu rufen. »Komm«, forderte er sie auf.
Joanne ließ sich neben ihm auf das Bett sinken und legte ihren Kopf dorthin, wo die Schulter ihres Vaters war. Es war ein seltsames Gefühl, das sie empfand. Es war, als ob ihr Kopf in der Luft schweben würde, und doch wurde er von einer unsichtbaren, nicht fühlbaren Kraft abgestützt. Sie war hellwach. Auch wenn es draußen längst dunkel war, sagte ihre innere Uhr, dass es Nachmittag war. Und ein dumpfes Gefühl, das ihr wie eine schwere Mahlzeit im Magen lag, beunruhigte sie.
»Bist du müde oder möchtest du reden?«, fragte Cutter.
»Reden!«
Cutter seufzte. »Die Dinge fangen an kompliziert zu werden.«
Joanne fuhr hoch. »Warum, was ist passiert?«
Cutter wollte Joannes Kopf nehmen und ihn sanft und beruhigend auf seine Schulter hinunterdrücken, aber natürlich erreichte er mit seiner Bewegung nichts.
Joanne deutete den Versuch jedoch richtig und legte sich wieder hin. »Was ist denn passiert?«, fragte sie erneut.
Er erzählte ihr von dem Zwerg und seinem fehlenden Spiegelbild und fragte dann: »Du hast der Wirtin doch die Hand gereicht. Was hast du gespürt?«
»Es war ein normaler Händedruck. Warum fragst du?«
»Das habe ich befürchtet«, erwiderte Cutter, ohne Joannes Frage zu beantworten. »Genau wie bei mir.«
»Und?« Joanne verstand nicht, worauf ihr Vater hinauswollte.
Cutter holte tief Luft, bevor er zu sprechen begann.
Joanne brauchte einige Zeit, bis sie die Worte ihres Vaters richtig einordnen konnte. Als er eine Pause einlegte, war sie verwirrt, vor allem aber zutiefst beunruhigt. Die Logik ihres Vaters war messerscharf, nur half ihnen seine Analyse nicht weiter.
Der Zwerg war das erste Problem. Da er kein Spiegelbild warf, konnte er sich weder in Joannes Raum aufhalten noch in dem ihres Vaters. Ihr Vater vermutete, dass er sich in einem dritten Raum aufhielt, der überdies von einem der beiden anderen Räume überlagert wurde, so dass sein Spiegelbild einer optischen Interferenz zum Opfer fiel. Dies komplizierte in den Augen ihres Vaters ihre Lage beträchtlich.
»Jeder zusätzliche Raum erhöht die Komplexität um eine Potenz«, hatte er trocken erklärt.
Noch schlimmer war die Sache mit Margot. Sie hatte sowohl ihrem Vater als auch ihr selbst die Hand geschüttelt und war beiden dabei real erschienen. Sie hielt sich also in beiden Räumen auf. Da sich ein Körper zu einem bestimmten Zeitpunkt jedoch nur in einem Raum aufhalten konnte, blieben zwei Hypothesen: Entweder war Margot in der Lage, von einem Raum in den anderen zu wechseln und das innerhalb von Sekunden zwischen zwei Handschlägen, oder sie befand sich in einem eigenen Raum, der sich mit Joannes Raum und dem ihres Vaters überschnitt.
»Beides ist eigentlich nicht möglich«, hatte ihr Vater seine Ausführungen mit einem leisen Stöhnen beendet und sich dabei den Kopf gehalten.
Nach diesen Worten lagen sie schweigend nebeneinander. Noch immer lag Joannes Kopf auf der imaginären Schulter ihres Vaters, und wieder spürte sie dieses Gefühl der Nähe, das die Kluft zwischen ihnen zu überwinden schien.
»Und was heißt das alles nun?«, brach Joanne das Schweigen.
Cutter zuckte mit den Schultern.
Joanne sah seine Bewegung, konnte sie jedoch nicht fühlen.
»Es scheint, dass mehrere Räume ineinander verkeilt sind. Wir befinden uns mittendrin in dieser Grenzzone. Das allein ist schon schlimm genug, doch es kommt noch ein Aspekt hinzu, der mich echt beunruhigt.« Er wartete einige Sekunden. Erst als Joanne nicht reagierte, fuhr er fort: »Wenn die Räume sich überlagern, muss sich das gleiche Phänomen auch in der Zeit zeigen. Die Spur, die Prometheus hinter sich hergezogen hat, ist unter diesen Umständen noch eine sehr harmlose Erscheinung. Es könnte sein, dass wir beide jeden Moment auch in zeitlicher Hinsicht getrennt werden.«
»Wie muss ich mir das vorstellen?«, fragte Joanne mit belegter Stimme. Wieder sah sie das Zucken seiner Schultern.
»Vielleicht wachst du morgen früh auf und ich liege neben dir. Allerdings hättest du möglicherweise Mühe, mich zu erkennen, weil ich sowohl ein Baby als auch ein Greis sein könnte.«
Trotz der Ernsthaftigkeit in der Stimme ihres Vaters musste Joanne lächeln. »Du als Baby, das könnte mir gefallen.«
»Ein altersschwacher Greis neben dir würde dir wohl weniger Spaß machen«, nahm Cutter den Scherz auf.
Nach einer Weile fragte Joanne ihren Vater: »Warum weißt du das eigentlich alles? Ich habe das Gefühl, dass dich diese Situation nicht wirklich überrascht.«
Cutter bewegte sich unruhig. Er wich einer direkten Antwort aus. »Ich bin Physiker«, sagte er schließlich nur und wechselte dann rasch das Thema. Er sprach über Raum und Zeit, über die Relativitäts- und die Quantentheorie, über die Unfähigkeit der Menschen, das Universum so zu erfassen, wie es wirklich war. Er versuchte ihr zu erklären, warum es parallele Universen geben konnte und warum die Zeit ebenso variabel war wie der Ort. Er zeigte ihr auf, dass der Mensch mit seinem eingeschränkten Verstand die Welt immer nur in Form von unvollkommenen, stark vereinfachenden Modellen interpretieren konnte, dass also alles, was sie je in Chemie, Physik oder einer anderen Naturwissenschaft gelernt hatte, nicht der Realität, sondern nur dem Bild entsprach, das sich die Menschen von der Realität machten. Um ihre Verwirrung noch zu vergrößern, schloss er mit den Worten: »Wir sind besessen davon, alles erklären, alles messen zu können, und haben doch bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts feststellen müssen, dass die Welt weder im Kleinen noch im Großen so funktioniert, wie wir uns das eigentlich vorgestellt haben, und dass wir diese Zustände unmöglich messen können, weil wir sie mit jeder Messung gleichzeitig auch verändern. Wir haben uns damit getröstet, dass diese verrückten Regeln eben nur im ganz Kleinen oder im ganz Großen Gültigkeit haben würden, und dass unsere reale Welt noch immer nach den alten Gesetzen der klassischen Physik funktioniert. Doch im Laufe der Zeit wurden die Zweifel an diesen Gesetzen im gleichen Maße größer, wie der Abwehrreflex der Menschheit zunahm.«
Joanne sah ihren Vater fragend an. Sie versuchte die Worte, die er aussprach, zu ordnen und zu verstehen, aber es gelang ihr nur teilweise. Doch dann erinnerte sie sich an ein Gespräch, das sie vor etwa vier Jahren mit ihrem Vater geführt hatte. Sie hatte damals mehr über seine Arbeit erfahren wollen, über die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Ihr Vater hatte ihr als Erklärung eine einfache Geschichte erzählt, um ihr klarzumachen, wie unbegreiflich die Welt um sie herum eigentlich war.
Sie hörte seine Worte noch genau, als ob er sie gerade eben erst zu ihr gesprochen hätte.
*
Ihr Vater führte sie in sein Arbeitszimmer, bat sie, auf einem der Stühle um den großen Tisch Platz zu nehmen, setzte sich neben sie und begann zu erklären, wobei er sich alle Mühe gab, nicht belehrend zu wirken.
»Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel aus deinem täglichen Leben. Du hast an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit, sagen wir am 26. Juni 2010, eine Verabredung mit Tom, deinem Freund. Da Tom in einem anderen Viertel wohnt, muss er sich, um zu dir zu kommen, ins Auto setzen und durch die Stadt fahren. Im Auto, unmittelbar bevor er losfährt, telefoniert er noch mit dir. Ihr stellt beide fest, dass eure Uhren 17 Uhr 12 anzeigen. Tom hat verschiedene Routen zur Auswahl. Welche von ihnen er wählt, hängt von der aktuellen Verkehrssituation ab. Natürlich weißt du, dass Tom den schnellsten Weg nehmen wird; trotzdem bist du überrascht, dass er bereits fünfundzwanzig Minuten später bei dir ankommt. Auf deine Frage erklärt er, dass er die Straße dem Fluss entlang genommen hat, wo um diese Zeit nur schwacher Verkehr herrscht. Ihr vergleicht eure Uhren miteinander. Du empfindest es als völlig normal, dass eure Uhren das gleiche Datum und die gleiche Uhrzeit anzeigen. Beide Uhren zeigen natürlich immer noch den 26. Juni 2010 und – da Tom fünfundzwanzig Minuten unterwegs gewesen ist – als Zeit 17 Uhr 37 an. Später geht ihr gemeinsam ins Kino und anschließend eine Pizza essen. Während des Essens klingelt plötzlich dein Handy. Es ist Toms Mutter, die sich erkundigt, wo Tom sich im Moment gerade befindet, weil sie möchte, dass er sie etwas später in der Stadt abholt. Du erklärst seiner Mutter wahrheitsgemäß, dass ihr am Pizzaessen seid.«
»Soweit bin ich mitgekommen«, hatte damals Joanne mit einem unverkennbar spöttischen Unterton gesagt, auch wenn sie gespannt war, was ihr Vater mit dieser banalen Geschichte erklären wollte.
Ihr Vater lächelte augenzwinkernd und fuhr dann fort: »Nehmen wir nun mal an, Tom und du wärt keine Menschen, sondern die kleinsten Teilchen, die existieren, Elementarteilchen eben. Tom fährt also los, um möglichst rasch zu dir zu gelangen. Nach seiner Ankunft fragst du ihn, welchen Weg er denn heute genommen hat. Tom, der dich nie anlügen würde, erklärt, dass er alle möglichen Wege gleichzeitig genommen habt: die Straße am Fluss entlang und die Stadtautobahn und die Straße durch das Zentrum und den Weg über San Francisco, Houston, Miami, Washington und New York und ... Obwohl du ihm kaum glauben kannst, gehst du mit ihm ins Kino und danach in die Pizzeria. Wieder ruft Toms Mutter an, während ihr gerade am Pizzaessen seid. Auch du kannst nicht lügen und erklärst seiner Mutter daher wahrheitsgemäß, dass du nicht sagen kannst, wo sich Tom gerade aufhält. Die Mutter hat eigentlich nichts anderes erwartet und bittet dich, ihm doch etwas auszurichten, falls du ihm an diesem Abend zufällig noch begegnen solltest. Nachdem du ihr mitgeteilt hast, dass die Wahrscheinlichkeit dafür bei sechzig Prozent liegt, verabschiedet sie sich von dir.«
»Was willst du damit sagen?«, hatte Joanne gefragt, die nun etwas nachdenklich geworden war.
»Physikalisch gesehen habe ich damit zwei Behauptungen der Quantenmechanik aufgestellt, von denen die meisten Physiker glauben, dass sie wahr sind«, hatte Cutter erklärt. »Erstens, wir können nicht sagen, wo sich ein Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade aufhält, wir können nur eine Aufenthaltswahrscheinlichkeit definieren. Zweitens, wenn ein Elementarteilchen von Punkt A zu Punkt B geht, so nimmt es nicht nur einen Weg, sondern es nimmt alle erdenklichen Wege gleichzeitig.«
Joanne richtete sich auf und blickte ihren Vater mit leicht besorgter Miene an. »Das meinst du nicht ernst, oder?«
»Ich hab dir doch gesagt, dass die Welt im Kleinen verrückt ist!« Jetzt war es an ihrem Vater, eine Prise Spott in seine Stimme zu legen. »Aber gehen wir weiter. Ihr seid nun wieder normale Menschen, keine Elementarteilchen mehr, doch lebt ihr in einer Welt, in der es Fahrzeuge gibt, die sich beinahe mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen können. Tom ruft dich wie gehabt von seinem Handy aus an, bevor er abfährt. Aber er kommt nicht bei dir an, und du hörst nichts mehr von ihm, bis es zehn Jahre später eines Abends an der Türe klingelt. Vor dir steht Tom, der sich seit seinem Verschwinden kaum verändert hat. Du schimpfst mit ihm, fragst, wo er die letzten zehn Jahre gewesen ist, aber Tom zuckt nur ratlos mit den Schultern; er ist so rasch wie möglich zu dir gekommen. Ein Uhrenvergleich zeigt euch, dass ihr beide Recht habt: Auf Toms Uhr lest ihr das Datum 26. Juni 2010 und die Uhrzeit 17 Uhr 37 ab. Deine Uhr zeigt jedoch ebenso unzweifelhaft das Datum 26. Juni 2020 und die Uhrzeit 20 Uhr 12 an. Und doch ist keine der beiden Uhren defekt. Da du nun siebenundzwanzig Jahre alt bist und Tom immer noch achtzehn ist, verzichtest du darauf, den Abend mit ihm zu verbringen.«
»Du meinst, auch das ist möglich?«, fragte Joanne vorsichtig.
»Ja«, bestätigte er, »die Spezielle Relativitätstheorie besagt, dass für einen Menschen, der sich mit sehr hoher Geschwindigkeit fortbewegt – hoch nicht in menschlichen Begriffen, sondern verglichen mit der Lichtgeschwindigkeit, die dreihunderttausend Kilometer pro Sekunde beträgt – die Zeit langsamer vergeht als für jemanden, der stillsteht. Damit du keine falsche Vorstellung bekommst, muss ich allerdings noch zwei Dinge ergänzen. Erstens: Für Tom, der sich sehr rasch fortbewegt, wie auch für dich, die du scheinbar still stehst, vergeht die Zeit subjektiv betrachtet gleich schnell. Tom hat tatsächlich das Gefühl, nur fünfundzwanzig Minuten unterwegs gewesen zu sein – und er hat dabei auch wirklich nur fünfundzwanzig Minuten seines Lebens ›verbraucht‹ – und du hast tatsächlich zehn Jahre deines Lebens gelebt. Erst wenn du dich selbst mit Tom vergleichst, stellst du fest, dass er scheinbar weniger stark gealtert ist als du. Und zweitens: Wenn ich gesagt habe, dass du stillstehst, so ist das natürlich nicht korrekt. Keiner von uns steht still, doch maßgebend ist eben nicht primär unsere eigene Geschwindigkeit, sondern nur jene, die wir relativ zueinander haben.«
Ihr Vater legte eine Pause ein. Joanne wusste nicht, dass er in diesem kurzen Moment überlegte, was er ihr noch sagen sollte und was er besser für sich behielt. Er entschied sich dafür, ihr eine letzte Nuss zum Knacken zu geben: »Noch etwas Seltsames existiert in diesem Mikrokosmos. Wir nehmen wie selbstverständlich hin, dass es vier Dimensionen gibt: die drei Dimensionen des Raumes (rechts – links, vorne – hinten und oben – unten) sowie die Dimension der Zeit. Im Mikrokosmos ist das nicht mehr so. Es gibt mindestens neun Dimensionen des Raumes und eine der Zeit. Ich vermute, auch wenn ich damit ziemlich alleine stehe und es nicht abschließend beweisen kann, dass es sogar noch eine Dimension mehr gibt, möglicherweise sogar noch viele, und dass vielleicht eine dieser zusätzlichen Dimensionen nicht eine Dimension des Raumes, sondern eine der Zeit ist. Du fragst dich nun vielleicht, warum wir diese Dimensionen nicht wahrnehmen können. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie beunruhigend: Die zusätzlichen Dimensionen sind im submikroskopischen Bereich aufgewickelt, während die vier uns bekannten Dimensionen abgewickelt und folglich für uns begreifbar sind. Sich auf einer der zusätzlichen Dimension, auf einer solchen ›Schlaufe‹, zu bewegen, würde bedeuten, immer wieder den gleichen Raum zu durchschreiten, es sei denn, es wäre dir möglich, auf die nächste Schlaufe zu springen, die auch Teil dieser gleichen, aufgewickelten Dimension ist.«
Joanne verstand die letzten Worte ihres Vater nicht wirklich. Es schien ihr kaum möglich, sich einen solchen Zustand vorzustellen; man hätte ihn zeichnen müssen, doch selbst dann stünde man vor unüberwindlichen Schwierigkeiten. Wie sollte man eine fünfte oder sechste oder gar eine noch höhere Dimension auf einem zweidimensionalen Blatt Papier darstellen?
*
Damals war das für Joanne nur eine hübsche Geschichte gewesen, die sie vordergründig verstand, an die sie aber nicht wirklich glaubte. An diesem Abend erhielten die Aussagen ihres Vaters jedoch eine neue Bedeutung. Erstaunlicherweise beruhigte Joanne diese streng wissenschaftliche Sichtweise ihres Vaters. Sie versuchte sich in seine physikalische Welt zu versetzen. Im Laufe dieses erfolglosen Versuchs fiel sie in einen tiefen, traumlosen, erschöpfungsähnlichen Schlaf.
Während sie schlief, dachte Cutter genau über jenes Gespräch nach, das ihr eben selbst durch den Kopf gegangen war. Er hatte sich damals überlegt, ob er seiner Tochter auch etwas über Schrödingers Gedankenexperiment mit seiner Katze erzählen sollte, hatte dann jedoch darauf verzichtet, da Joanne ohnehin schon reichlich verwirrt gewesen war. Heute war er froh darüber. Es wäre für Joanne in der momentanen Situation sicher sehr beunruhigend gewesen, von einer Katze zu wissen, die gleichzeitig tot und doch lebendig ist. Zu diesem Zeitpunkt konnte Cutter noch nicht ahnen, dass Joanne in den kommenden Tagen viel schlimmeren Dingen als Schrödingers Katze begegnen würde, und es hätte ihn entsetzt, wenn er gewusst hätte, dass er in wenigen Tagen den Zustand eines ihm lieben Menschen mit jenem von Schrödingers Katze vergleichen würde.
Etwas anderes beunruhigte ihn zutiefst. Und das war nicht Schrödingers Katze. Dieses Paradoxon glaubte er – wie auch die anderen Vertreter der theoretischen Physik – längst überwunden zu haben, auch wenn, wie eigentlich gerade er selbst am besten wissen sollte, einige letzte Zweifel daran bestehen blieben, ob das Rätsel der Katze wirklich abschließend gelöst war. Nein, er machte sich Sorgen über sein eigenes Alter. Nicht dass Cutter besonders eitel gewesen wäre. Noch nie hatte er versucht, den Alterungsprozess mit irgendwelchen künstlichen Mitteln zu verlangsamen oder auch nur seine Auswirkungen zu übertünchen. Doch stand er vor einem Problem, das ungewohnte Dimensionen angenommen hatte. Er fürchtete, dass er sein ganzes Wissen über Bord werfen musste, weil es ihn bei der Lösung des anstehenden Problems nur behinderte, und dass er gerade dazu aufgrund seines Alters nicht mehr in der Lage sein würde, weil seine große Erfahrung ihn daran hinderte, frei zu denken.
Die großen Leistungen der Physik – namentlich auf den Gebieten der Relativität, der Quanten und der Strings, aber auch der Kosmologie – waren von jungen Wissenschaftlern erbracht worden, die unbelastet von Dogmen die alten, bisher gültigen Regeln über Bord geworfen und nach neuen, unkonventionellen Antworten gesucht hatten. Keiner von ihnen – der große Einstein nicht ausgenommen – war Jahrzehnte später in der Lage gewesen, einen weiteren vergleichbar mächtigen Gedankenschritt zu machen.
Cutter selbst war über fünfzig Jahre alt. Sein Hirn war vollgestopft mit Wissen. Vollgestopft mit Theorien, die er für richtig und wahr hielt, mit verworfenen Hypothesen, mit allgemeingültigen Formeln. Da war wenig Platz für einen Neuanfang. Kein Platz, an dem ein völlig neuer Gedanke den lebensnotwendigen Nährboden finden konnte. Er war zu alt. Dieser Umstand sprach zugunsten von Männern wie Prometheus – Cutter wusste noch immer nicht, was er von diesem Mann halten sollte, maß ihm aber eine große Bedeutung bei den aktuellen Ereignissen zu – und könnte für ihn selbst zu einem unüberwindlichen Handicap werden.
Er hatte seinen großen Moment bereits gehabt, hatte dort zu forschen begonnen, wo sich die anderen nicht mehr hingewagt hatten. Er selbst hatte es überlebt, doch Jennifer war dabei umgekommen. Er hatte keine Angst davor, dass ein nächster genialer Gedanke sein eigenes Leben beenden könnte. Was er befürchtete, war, dass er nie wieder einen solchen Gedanken haben könnte. Von einer Sekunde zur nächsten realisierte Cutter, dass genau das in den letzten Jahren sein Problem gewesen war. Er hätte Großartiges vollbringen können, hatte diese Fähigkeit jedoch seiner Liebe zu Jennifer geopfert. »Ja«, dachte er resigniert, »du bist wirklich zu alt.«
Er warf Joanne einen liebevollen Blick zu und sprach halblaut vor sich hin: »Und du bist noch viel zu jung.«