Читать книгу Zeitenwende - André Graf - Страница 4

Der erste Tag

Оглавление

Die Sekundenzeiger der fünf Uhren in der Lobby des Münch­ner Luxushotels liefen synchron. Man glaubte, das Ticken der lautlosen Uhrwerke hören zu können. Man glaub­te fühlen zu können, wie die Zeit verstrich, ohne eine Spur zu hinterlassen. Und doch änderte sich mit jeder Se­kun­de der Zustand in der Lobby. Dieser Vorgang war so selbst­verständlich, dass sich keiner der Menschen in die­sem Hotel darüber Gedanken machte. Es war ein uraltes, ein­faches Gesetz: Die Zeit schreitet unaufhaltsam in die glei­che Richtung, die Zukunft, voran, und der Zustand un­se­rer Umgebung verändert sich im Laufe der Zeit.

Auch wunderte sich keiner der Hotelgäste darüber, dass an der Wand neben der Rezeption nicht nur eine, son­dern gleich fünf Uhren angebracht waren und dass jede von ihnen eine andere Zeit anzeigte. Die mittlere zeigte die Lokalzeit in München an, 8 Uhr 56, die beiden Uhren rechts von ihr die Uhrzeit in Singapur beziehungsweise Pe­king und die beiden links von ihr jene von New York be­zie­hungsweise San Francisco.

Jedem Reisenden des 21. Jahrhunderts, ob Tourist oder Ge­schäftsmann, sind die Zeitzonen ein Begriff. Reist er nach Osten, so muss er seine Uhr, am Bestimmungsort an­gekommen, vorstellen – schließlich geht die Sonne ja im Os­ten auf. Reist er nach Westen, so stellt er sie dem­ent­sprechend zurück. Wir alle kennen dieses alltägliche Phä­no­men, das noch Alexander dem Großen, der mit seinem Heer bis nach Indien vorstieß, ebenso fremd gewesen ist wie Dschingis Khan, der durch die Steppen Asiens bis nach Europa zog, oder Kolumbus, der den Atlantischen Ozean durchsegelte.

Doch kennen bedeutet nicht zwangsläufig verstehen. Auch heute, zu Beginn des 3. Jahrtausends, verstehen die meisten Menschen das Phänomen Zeit noch immer nicht viel besser als ihre Vorfahren vor einigen Jahrhunderten oder Jahrtausenden. Bereits die Frage nach der Da­tums­grenze überfordert viele von uns. Und seit am Anfang des 20. Jahrhunderts ein gewisser Albert Einstein eine neue Theo­rie postulierte, die als »Spezielle Relativi­täts­theo­rie« in die Wissenschaftsgeschichte einging, ist die Zeit end­gül­tig zu etwas schwer Verständlichem ge­wor­den. Dieser erst vor etlichen Jahrzehnten entdeckte Aspekt der Zeit wird noch von viel weniger Menschen verstanden als das Phä­nomen der Datumsgrenze. Und selbst viele von denen, die begriffen haben, dass die Natur – und dort vor allem Raum und Zeit – anders funktioniert, als es die Wissenschaft jahr­hundertelang gelehrt hat, haben große Mühe, sich die wirk­li­che Beschaffenheit von Raum und Zeit vorzustellen, er­scheint sie uns doch so fremd, so ungeheuerlich, dass sie die Vorstellungskraft der meisten Menschen übersteigt. Nur wenige verstehen, dass jedes Objekt – ob lebend oder tot – seine eigene persönliche Uhr bei sich trägt, die durchaus nicht gleich schnell laufen muss wie die Uhren der anderen Lebewesen oder Objekte. Natürlich sind diese Abwei­chun­gen im täglichen Leben des 21. Jahrhunderts absolut ir­re­le­vant, denn selbst die Uhr eines europäischen Geschäfts­mannes, der einen beträchtlichen Teil seines Lebens bei gro­ßen Geschwindigkeiten in Flugzeugen verbringt, weicht von jener eines asiatischen Bauern, der sich noch nie schnel­ler als mit der Geschwindigkeit eines von Wasser­büffeln gezogenen Wagens fortbewegt hat, nur um einige Milliardstel einer Sekunde ab. Erst bei Geschwindigkeiten, die die Möglichkeiten der Menschen dieses Jahrhunderts weit übersteigen, würde es zu relevanten Unterschieden zwi­schen den verschiedenen, ganz persönlichen Uhren kom­men.

Jonathan Cutter, der mit seiner Tochter Joanne in der Lob­by des Münchner Luxushotels saß, hatte den Uhren den Rücken zugewandt. Cutter verstand im Gegensatz zu allen anderen Gästen des Hotels die Bedeutung der Rela­tivi­tätstheorie. Mehr noch, er verstand sogar bis ins Detail die Zusam­menhänge zwischen der Relativitätstheorie und der Quan­tentheorie, die wiederum zur Postulierung der Super­stringtheorie und später zur M-Theorie geführt hatten. Die­ses Wissen machte ihn zum Mitglied eines sehr kleinen und sehr exklusiven Clubs von Menschen, die in der Lage waren, die unglaubliche Beschaffenheit von Raum und Zeit zumindest annähernd zu verstehen, während die meisten Men­schen schon mit einer der Theorien hoffungslos über­fordert waren – was nicht weiter verwunderlich war, hatte doch selbst Albert Einstein, der Begründer der Rela­tivi­täts­theorie, viele Aspekte der Quantenmechanik vehement ab­gelehnt und mit immer neuen Experimenten zu beweisen ver­sucht, dass die Aussagen der Quantenmechanik falsch waren. Einsteins Pech war nur, dass die Resultate seiner Experimente den Aussagen der Quantenmechanik nur auf den ersten Blick widersprachen. Auf den zweiten Blick stan­den sie alle in völliger Übereinstimmung mit den quan­tenmechanischen Vorhersagen. Da half es auch wenig, dass Einstein den Quantenmechanikern seinen berühmten Ausspruch »Gott würfelt nicht!« entgegenschleuderte. Denn Einstein wusste genau, dass Gott nicht als Zeuge in diesem wissenschaftlichen Streit angerufen werden konn­te. Ob Gott ein Spieler war oder nicht, ob er die Welt in die­ser oder einer anderen Art geschaffen hatte, war Stoff für die Theologen, nicht die Physiker. Die Naturwissenschaft­ler hatten nur die Aufgabe, die Naturgesetze so zu be­schrei­ben, wie sie sich den Menschen offenbarten.

Joanne hatte sich eng an ihren Vater geschmiegt und schlief, während Jonathan Cutter, die Augen halb ge­schlos­sen, seinen Gedanken nachhing. Er dachte nicht über Aspekte der Zeit oder des Raumes nach, sondern über die Ferien, die vor ihnen lagen und die ihnen drei unbeschwerte Wochen in Europa, der Heimat seiner Vor­fahren, bescheren sollten. Dass in diesem Moment das Schick­sal eine andere Wendung nahm, ahnte Cutter nicht; zu friedlich und alltäglich hatte der Morgen in diesem Luxushotel begonnen.

*

Auch einem aufmerksamen Beobachter wären die beiden Ho­telgäste kaum aufgefallen. Der knapp fünfzigjährige Mann mit dichtem, leicht ergrautem, kurz geschnittenem schwar­zem Haar und einem ebenso dichten, dunkel­schwar­zen Schnurrbart, der sich von dem eher blassen Gesicht abhob, saß entspannt auf dem schwarzen Leder­sofa. Er trug sportliche, farblich perfekt aufeinander abge­stimmte Kleidung, die es nur in den exklusivsten Boutiquen zu kaufen gab. Er war von durchschnittlicher Statur, doch machte sein Körper einen durchtrainierten Eindruck. Das einzig wirklich Auffällige an ihm waren seine großen, schau­felförmigen Hände, die nicht zu seinem ansonsten schlanken Körper passten.

Der zierliche Teenager neben ihm mochte siebzehn Jah­re alt sein und war – die Ähnlichkeit zwischen den bei­den ließ keinen Zweifel zu – die Tochter des Mannes. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit leicht hervorstehenden Ba­cken­knochen, das nur dezent geschminkt war. Ihre langen, dunkelblonden Haare waren zu einem Knoten zu­sam­men­gesteckt. Sie trug ebenfalls teure, wenngleich unauffällige Sportkleidung, die farblich auf die ihres Vaters abge­stimmt war. Ihr Gesicht strahlte Ruhe und Geborgenheit aus. Sie schien sich in den Armen ihres Vaters wohl und sicher zu fühlen.

Neben dem Sofa stapelten sich einige Koffer, die dar­auf schließen ließen, dass die beiden Gäste auf einen Wa­gen warteten, der sie zu ihrer nächsten Destination bringen sollte.

Es gab für den imaginären Beobachter keinen Hinweis darauf, dass sich das Schicksal dieser beiden Personen vor einem gewaltigen Umbruch befand, dass sie bald in ei­nen Sog geraten sollten, aus dem ein Entrinnen unmöglich war.

Hätte es jemanden gegeben, der in der Lage gewesen wäre, diesen Sog wahrzunehmen, so hätte er den Zustand der beiden mit jenem eines Schwimmers verglichen, der sich träge von der Strömung eines Flusses dahintreiben lässt. Er würde bemerken, wie diese Strömung allmählich stärker wurde, den Schwimmer erfasste und ihn nicht mehr losließ. Der ahnungslose Schwimmer – so würde der Be­ob­achter feststellen – wurde unaufhaltsam auf einen Was­serfall zugetrieben, der ihn ins Verderben reißen würde. Doch noch immer realisierte der Schwimmer nichts von der Gefahr, die langsam und völlig lautlos auf ihn zukam. Der Be­obachter wusste längst, dass es für den Schwimmer kein Entrinnen mehr gab, bevor jener auch nur bemerkt hatte, dass er sich auf einen Wasserfall zubewegte.

Im Gegensatz zu der sichtbaren Dynamik eines Flus­ses war an diesem ruhigen Morgen nichts von einer Strö­mung zu bemerken, die den beiden Hotelgästen zum Ver­hängnis werden könnte. Trotzdem war sie vorhanden – doch keiner der fünf menschlichen Sinne konnte sie wahr­nehmen.

Jonathan Cutter und seine Tochter wurden un­auf­haltsam und mit zunehmender Geschwindigkeit von einer mäch­tigen Strömung weggetragen, die die Menschen Zeit nannten. Doch die Zeit, so der Glaube der Menschheit, war ein langsamer, gleichmäßiger Fluss, in dem keine plötz­liche Strömung, kein Wasserfall existieren durfte. Ein un­steter Fluss der Zeit widersprach jeder Logik.

War der Weg der beiden von einer höheren Macht vor­bestimmt, oder waren es nur scheinbare Kleinigkeiten, die die beiden Menschen – vorerst nur leicht, dann immer stär­ker, immer schneller – von der vorbestimmten Lebensbahn abbrachten?

Gewiss war, dass kein plötzlicher Schicksalsschlag die bei­den treffen sollte, kein einschneidendes, einmaliges Er­eignis, das seine unauslöschlichen Spuren in ihrem Leben hinterlassen würde. Nein, der Lauf ihres Schicksal wurde von drei unscheinbaren Dingen bestimmt: einem defekten Han­dy, einer Ecstasy-Tablette und Joannes Jetlag.

*

Jonathan Cutter hatte die Überreste seines Handys am Mor­gen achtlos in den Koffer geworfen. Seine Sekretärin hatte ihn angerufen, als er gerade unter der Dusche gestanden war. Platschnass war er aus der Dusche ge­sprun­gen, dabei auf dem glitschigen Boden beinahe aus­ge­rutscht, hatte gerade noch rechtzeitig das Handy ge­schnappt, bevor die Sekretärin wieder auflegte. Nach ei­nem kurzen Gespräch wollte er das Handy beiseitelegen, wobei es ihm aus den feuchten Händen rutschte, auf dem Marmorboden des Bades aufschlug und in zwei Teile zer­brach.

So erreichte der Anrufer, der in diesen Minuten meh­re­re Male versuchte, Cutter zu sprechen, nur dessen An­ruf­beantworter. Er hinterließ eine Nachricht, von der er nicht ahnte, dass Cutter sie nie abhören sollte.

Sandra fühlte sich elend. Sie hatte nur knappe zwei Stun­den geschlafen, bevor sie am frühen Morgen ihren Dienst angetreten hatte. Ihr Freund hatte ihr um Mitternacht eine dieser Tabletten aufgedrängt, von denen sie genau wuss­te, dass sie ihr eine süße Nacht und einen höllischen Tag bescheren würden. Sie hatte sich anfänglich geweigert, schließ­lich aber seinem Drängen nachgegeben, die rot­grüne Tablette mit einem Wodka hinuntergespült und war dann ihrem Freund auf die Tanzfläche gefolgt.

Längst hatte die Wirkung der Tablette nachgelassen, ob­wohl ihr Arbeitstag hinter der Theke der Rezeption erst vor kurzem begonnen hatte. Jetzt dröhnte ihr Kopf, und als das Telefon läutete, schrillte es in ihren Ohren wie eine al­les durchdringende Alarmanlage, die direkt neben ihr aus­ge­löst worden war.

»Ja?«, fauchte sie unwirsch in den Hörer. Dieses Ver­halten hätte ihr augenblicklich eine scharfe Rüge ihres Vor­gesetzten eingebracht, doch zum Glück hatte dieser ihren rüden Ton nicht bemerkt, da er gerade mit zwei über­ge­wich­tigen, grell geschminkten Engländerinnen beschäftigt war, die sich ebenso empört wie lauthals über den schlech­ten Zimmerservice beschwerten.

Sandra verstand die Stimme kaum, die aus dem Hörer drang. Neben dieser einen Stimme, die beinahe ihr Trom­melfell zum Platzen brachte, drängten sich hundert ver­zerr­te Echos durch die Leitung, und Sandra war sicher, dass noch mindestens zwei weitere Stimmen, wiederum be­gleitet von unzähligen Echos, völlig überflüssigerweise die glei­che Frage stellten. Nein, eigentlich stellten sie die Frau­ge nicht, sie brüllten sie durch das Telefonkabel direkt in Sandras Ohr.

Sie musste sich schon konzentrieren, um die Frage über­haupt zu verstehen. Sie zu beantworten bedurfte einer ungleich größeren Anstrengung. Ja, sie erinnerte sich dar­an, heute morgen einen Kunden namens Custer bedient zu haben. Er hatte, begleitet von seiner großen, hässlichen, spin­deldürren Frau, ein Taxi zum Flughafen genommen.

»Er ist bereits abgereist«, sagte sie deshalb mit be­leg­ter Stimme.

»Sind Sie sicher, dass Herr Cutter nicht mehr in der Lob­by wartet?«, insistierten die hundert Stimmen am an­deren Ende der Leitung. Eine der Stimmen dröhnte dabei der­art laut in ihr Ohr, dass sie beinahe den Hörer hätte fallen lassen.

Es hätte nur einiger klärender Worte bedurft, um das Miss­verständnis zu beseitigen. Sandra hätte den Namen des Gesuchten wiederholen können, dann hätte ihr Ge­sprächs­partner sofort bemerkt, dass sie von einem ge­wis­sen Custer sprach und nicht von Herrn Cutter, nach dem er gefragt hatte. Sie hätte auch erwähnen können, dass der Ge­suchte mit seiner Frau reiste, oder dass er ein Taxi zum Flughafen genommen hatte. Jede dieser Bemerkungen und viele andere hätten ausgereicht, ihrem Ge­sprächs­partner und sehr rasch auch ihr selbst die Verwechslung auf­zu­zeigen. Doch Sandras Kopf pochte und die lauten, grel­len Stimmen aus dem Telefonhörer bereiteten ihr noch mehr Schmerzen, als sie ohnehin schon hatte. Sie hatte nicht die geringste Lust, lange Erklärungen abzugeben und damit das Martyrium des Gesprächs zu verlängern.

So bedankte sich der Anrufer leicht verwirrt und un­terbrach die Verbindung. Er dachte kurz nach und wählte dann die Nummer seines Vorgesetzten, um ihn über die Schwie­rigkeiten, mit denen er konfrontiert war, zu infor­mie­ren. Wohl hatte er vor wenigen Minuten eine Nachricht auf Cutters Handy hinterlassen, doch wann würde der Kunde die­se Nachricht abhören? Bis dahin würde er vergeblich auf seine Limousine warten und sich dann bestimmt sehr verärgert bei ihnen beschweren. Cutter war ein VIP-Gast. Sein Vorgesetzter würde gar nicht erfreut sein, wenn er ge­rade mit diesem Kunden Ärger bekam. Doch was sollte er tun? Der Wagen war kurzfristig ausgefallen. Es würde min­destens eine Stunde dauern, bis der Ersatzwagen im Hotel eintraf. Sollte der Chef doch selbst versuchen, diesen Cut­ter zu erreichen.

Sandra blickte in die Lobby. »Cutter!«, fuhr es ihr durch den Kopf, als sie den Mann und seine Tochter neben ihren Koffern auf einem der Sofas sitzen sah. »Der Kerl hat Herrn Cutter gesucht!«

Sie wollte zu Cutter gehen, um ihn über den Anruf zu in­formieren, wurde jedoch von zwei Franzosen auf­ge­halten, die sich wort- und gestenreich nach dem kürzesten Weg zum Bahnhof erkundigten. Als sie den beiden den Weg auf ihrem Stadtplan eingezeichnet hatte, hatte sie Cut­ter und den Anruf schon längst wieder vergessen. Der nächste Gast wartete bereits ungeduldig am Empfangs­tresen, und ihr Chef warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, weil sie nicht auf ihrem Posten war.

Und Joanne schlief. Sie waren erst gestern von Montreal nach Deutschland geflogen. Ihre innere Uhr ging noch nach kanadischer Zeit. Der Jetlag hatte sie fest im Griff. Wäre sie wach gewesen, so hätte sie ihren Vater vielleicht vor dem Mann gewarnt, der eben zielstrebig auf ihn zuging. Ob er ihre Warnung beachtet hätte? Vermutlich schon. Immer öfter hörte er auf ihre Eingebungen, auch wenn er sich manchmal noch dagegen sträubte, obwohl er oft genug Zeuge von Ereignissen geworden war, die ihn ver­anlasst hatten, nicht von vornherein auszuschließen, dass seine Tochter tatsächlich in vielen Lebenslagen über Fähigkeiten verfügte, die mit den bekannten physikalischen Gesetzen nicht erklärt werden konnten. Er musste dafür nicht einmal an eine Reise nach Mexiko denken, die sie vor einigen Jahren zusammen unternommen hatten.

Doch Joanne schlief, und der Mann kam unaufhaltsam durch die beinahe leere Lobby auf ihren Vater zu.

Waren es also nur drei Zufälle, die das Leben dieser beiden Menschen aus seiner geordneten Bahn drängten? Jonathan Cutter hätte auf diese Frage eine passende Ant­wort gewusst: Er hätte sie verneint, hätte sich vielleicht an eine Diskussion erinnert, die er Jahrzehnte zuvor in einem Kreis junger Studenten im Beisein des gestrengen Pro­fes­sors O’Hara geführt hatte und in der er dem Zufall jegliche Bedeutung abgesprochen hatte.

*

Ben, der muskelbepackte, hünenhafte Mathematikstudent aus Nebraska, sah aus, als ob er sich jeden Moment auf Cutter stürzen wollte.

»Du bist so was von halsstarrig!«, brüllte er mit fun­keln­den Augen. »Nicht einmal theoretisch wird es dir möglich sein, die Zukunft aufgrund der Eigenschaften der Materie und der Naturgesetze vorherzusagen. Einer der Gründe da­für ist sehr simpel und stammt von den Vertretern deiner Gattung, den Physikern. Wie du vielleicht weißt« – Ben leg­te genüsslich eine rhetorische Pause ein – »gibt es im Weltall sogenannte Schwarze Löcher, die alles in sich auf­saugen, was in ihre Nähe kommt, und aus denen nichts wie­der herausgelangen kann. Da also dem Gesamtsystem laufend Masse und Energie entzogen wird, ist es ab­so­lut unmöglich vorherzusagen, wie sich das Gesamtsystem zu einem bestimmten Zeitpunkt X verhalten wird.« Ben grinste Cutter breit an und tippte ihm gegen die Stirn. »Das solltest du eigentlich wissen, großer Physiker. Ich hoffe zumindest, du hast schon etwas von Schwarzen Löchern gehört, Meis­ter. Ich fürchte fast, auch dein Hirn ist so etwas wie ein Schwarzes Loch: Vieles geht rein, aber nichts Gescheites kommt mehr raus.«

Ben hatte die Lacher auf seiner Seite. Die anderen Stu­denten im Kreis – die meisten von ihnen studierten Philo­so­phie oder andere geisteswissenschaftliche Fächer – ge­nos­sen die Auseinandersetzung zwischen dem Mathe­mati­ker und dem Physiker. Sie waren immer wieder überrascht, wie grundlegend verschieden die Denkweisen dieser bei­den verwandten Disziplinen zu sein schienen.

Die Lacher waren jedoch nicht gegen Cutter gerichtet; sie waren Ausdruck einer beinahe kindlichen Freude an har­ten intellektuellen Auseinandersetzungen.

Professor O’Hara, der diesen Zirkel leitete, hatte sie da­zu angespornt. »Wie die jungen Löwen spielerisch den Kampf und die Jagd lernen, wenn sie miteinander herum­tollen, so sollt ihr hier die harte wissen­schaftliche Dis­kus­sion einüben, damit ihr gewappnet seid, wenn ihr euch eines Tages allein gegen eure dummen, jedoch ebenso skrupel- wie rücksichtslosen und einflussreichen Feinde im wissenschaftlichen Dschungel verteidigen müsst.«

Cutter hatte also keinen Anlass, bei seinem Gegen­an­griff besonders rücksichtsvoll zu sein. »Mein lieber Ben«, begann er deshalb sarkastisch, »vor einigen Monaten erst hast du mich daran gehindert, Professor O’Hara zu er­schie­ßen. Ich habe dir diese Dummheit noch nicht ver­zie­hen, und schon begehst du die nächste.«

Jetzt hatte Cutter die Lacher auf seiner Seite. Keiner der Anwesenden hatte Cutters Attentat auf ihren Professor vergessen.

»Es war tatsächlich der kluge Hawking«, fuhr Cutter fort, nachdem das Gelächter verstummt war, »der die The­o­rie aufgestellt hat, dass nichts aus einem Schwarzen Loch entweichen kann. Keine Materie, keine Energie. Nichts. Es scheint jedoch leider noch nicht in die Welt der Mathematiker vorgedrungen zu sein, dass Hawking in­zwi­schen diesen Aspekt seiner Theorie über die Schwar­zen Löcher widerrufen hat.«

Cutter genoss den Moment des Triumphes und über­leg­te gleichzeitig, wie er den Zuhörern, die weder Physiker noch Mathematiker waren, dieses Phänomen erklären sollte.

»Stellt euch vor, ihr macht im Garten eine Grillparty. Ihr zündet die Holzkohle im Grill an und bratet eure Steaks. Nachdem ihr fertig gegessen habt, betrachtet ihr den Grill aus einer Distanz von einigen Metern. Ihr bekommt dabei den Eindruck, dass die Holzkohle erkaltet ist. Geht ihr je­doch näher zum Grill hin und haltet die Hand ganz nahe über die Holzkohle, so spürt ihr die Wärme, die sie noch immer ausstrahlt. Sie glimmt beinahe unsichtbar.«

Cutter hielt einen Moment inne, bevor er auf den ent­schei­denden Punkt zu sprechen kam. »Genauso müsst ihr euch ein Schwar­zes Loch vorstellen. Zuerst haben wir Phy­siker ge­glaubt – genauso wie Ben, unser Mathematikgenie, es noch heute tut –, dass nichts aus einem Schwarzen Loch entweichen kann. Doch wir wissen nun, dass das nicht stimmt. Wie eure Holzkohle, so glimmen auch die Schwar­zen Löcher und emittieren dabei Materie und Ener­gie.«

Nach einer erneuten kurzen Pause fuhr er fort: »Ihr seht also, meine Theorie ist durch Bens Einwand nicht entkräftet. Ich wiederhole: Wenn es einem Menschen – mit einem unbegrenzt leistungsfähigen Computer und der Kennt­nis über die Beschaffenheit der Naturgesetze aus­gestattet – möglich gewesen wäre, nur wenige Sekunde nach dem Urknall alle Teilchen zu katalogisieren, die es da­mals gab, so könnte er exakt die Zukunft vorhersagen. Er hätte also bereits damals, vor rund 14 Milliarden Jahren, gewusst, dass wir heute hier zusammensitzen und dass un­ser lieber Ben eine absolut idiotische Behauptung auf­stellen würde.«

Cutter wurde von lautem Gelächter unterbrochen.

»Stopp!«, rief Ben in die Runde und brachte mit diesem einen energischen Wort die Lacher zum Schweigen. Ben glaubte, dass Cutter mit diesen Ausführungen den ent­schei­denden Fehler gemacht hatte. Er fuhr deshalb tri­um­phierend fort: »Ihr müsst wissen, dass Jonathan ein glü­hen­der Vertreter einer Denkrichtung ist, die sich immer mehr Kritikern gegenübersieht: der Quantenmechanik. Als solcher hat er allerdings ein gewaltiges Problem, denn schließ­lich besagen gerade deren Gesetze, dass der Zufall regiert. Ja, die Väter der Quantenmechanik haben ge­wis­ser­maßen den Zufall zum Gott erklärt. Sie haben Wis­sen­schaftler, die die Vorhersagbarkeit von Ereignissen pos­tuliert haben, scharf angegriffen. Newton wurde ebenso gnadenlos attackiert wie Einstein; beide hatten eine etwas mechanistische Vorstellung von den Naturgesetzen, wäh­rend die Quantenmechaniker der Ansicht sind, dass nicht einmal Position und Geschwindigkeit eines Elementar­teil­chens gleichzeitig bestimmt werden können.«

An Jonathan gewandt fuhr er fort: »Wenn schon das nicht möglich ist, wie willst du dann irgendwelche präzisen Vorhersagen machen? Unser großer Jonathan Cutter will uns weismachen, dass er die Zukunft vorhersagen kann, ob­wohl er uns nicht einmal sagen kann, wo sich ein be­stimmtes Elementarteilchen zu einem vorgegebenen Zeit­punkt befindet.«

Alle Augen richteten sich gespannt auf Cutter. Die meis­ten der Anwesenden hatten den Eindruck gewonnen, dass Ben mit seinem Argument die Schlacht für sich ent­schieden hatte.

Doch Cutter blieb ganz ruhig, auch wenn er genau wuss­te, dass dieses Argument nicht nur die Schlacht, son­dern den ganzen Krieg zwischen ihnen entscheiden konn­te, denn Ben hatte in diesem einen Punkt absolut recht. Jeder ernstzunehmende Quantenphysiker konnte ihm nur zustimmen. Doch Cutter hatte zu diesem Thema seine eigene Meinung, hatte sich seine eigenen Überlegungen gemacht. Es war für einen Stundenten im dritten Jahr sehr gewagt, einen von der Lehrmeinung abweichenden Stand­punkt einzunehmen, vor allem in einer derart zentralen Frage; trotzdem tat er es, nicht nur in diesem Kreis, son­dern – ungeachtet aller Widerstände und offenen An­fein­dungen – auch gegenüber seinen Professoren.

Cutter zeigte zum geöffneten Fenster hinaus, durch das der blaue Himmel zu sehen war, an dem nur einige we­nige, helle Wolken die Strahlen der milden Frühlings­sonne davon abhielten, bis zur Erdoberfläche vorzu­drin­gen.

»Keiner von uns fürchtet sich davor, dass in diesem Mo­ment plötzlich ein Blitz vom Himmel fahren und uns hier alle erschlagen könnte. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit für ein solches Ereignis nicht gleich null. Diese Wahr­schein­lichkeit ist jedoch selbst nur die Summe der Wahr­scheinlichkeiten für den Zustand jedes einzelnen Teilchens in der Atmosphäre. Obwohl wir die exakten Zustände all die­ser Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht ken­nen, ist es uns doch möglich, den Gesamtzustand der At­mosphäre zu beschreiben.

Genauso ist es bei meinem Bei­spiel: Auch wenn ich den Zustand jedes Teilchens nur mit einer bestimmten Wahr­scheinlichkeit beschreiben kann, ist es mir doch mög­lich, den Zustand des ganzen Systems ex­akt zu be­schrei­ben und folglich die Zukunft vorherzusagen. Viele Wissen­schaftler verwechseln, genauso wie unser lie­ber Ben es tut, Wahrscheinlichkeit mit Unsicherheit. Doch sind das nur Narren, von denen wir uns nicht beeinflussen lassen soll­ten. Fazit ist«, fasste er mit einem breiten La­chen zusam­men, »dass es keine Zufälle gibt. Alles ist vor­herbestimmt. Euer Schicksal liegt nicht in euren Händen, es ist bereits vor vierzehn Milliarden Jahren besiegelt wor­den.«

Dann wurde Cutter ernst. Er ergriff die Hand von Jen­nifer, die rechts von ihm saß, und drückte sie kräftig, ja er klammerte sich an ihr fest, als er mit beinahe religiöser Andacht fortfuhr: »Doch etwas macht diese Berechnungen noch komplizierter, als sie ohnehin schon sind, ja, ich möch­te beinahe Ben zustimmen und es aufgrund der un­glaublichen Größe dieser Herausforderung als unmöglich bezeichnen, dass es dem Menschen je gelingen könnte, die Zukunft vorherzusagen – was jedoch natürlich nicht heißt, dass die Zukunft nicht doch vorbestimmt ist. Uns fehlt noch das Wissen über unzählige Elementarteilchen, von deren Existenz wir wohl ausgehen, die wir jedoch nicht oder noch nicht direkt nachgewiesen haben. Gibt es die dunk­le Materie wirklich? Existieren die Gravitationswellen tatsächlich, die Einstein vorhergesagt hat? Diese und Dut­zen­de anderer Fragen müssen zuerst beantwortet werden, bevor wir auch nur daran denken dürfen, den Ablauf von Raum und Zeit vorherzusagen.« Cutters Stimme klang noch belegter, als er schloss: »Auch wenn wir glauben, die wichtigsten zentralen Prozesse sowohl im ganz Großen des Universums als auch im ganz Kleinen der Ele­men­tar­teilchen zu verstehen, so müssen wir doch zugeben, dass es in der Natur noch unzählige Vorgänge gibt, die uns vor scheinbar unlösbare Rätsel stellen. Wir sind wie Ameisen, die versuchen, globale Prozesse zu verstehen.« Diese Aus­sage hatte etwas Religiöses, Erhabenes an sich. Ehr­furcht lief Cutter wie kalter Schweiß den Rücken hinunter, und nur Jennifers Hand, die er immer fester drückte, hin­der­te ihn daran, zu erschaudern.

O’Hara zerstörte Cutters Hochgefühl jäh, als er das Wort ergriff. »Ich ziehe gerne die Erkenntnisse fremder Dis­ziplinen in unsere philosophischen Überlegungen mit ein. Darum schätze ich die Anwesenheit Jonathans als Ver­treter der Physik in unserem kleinen Kreis sehr. Doch leider legt unser junger Freund immer wieder ein sehr ein­dimensionales Denken an den Tag. Zahlen, Formeln, Wahr­scheinlichkeiten prägen sein Denken. Dabei geht oft der Blick fürs Ganze verloren. Anstatt auf Jonathans Argu­mente einzugehen, möchte ich lieber einen Aspekt der Hirn­forschung in Erinnerung rufen, der besagt, dass zum Beispiel die für Handbewegungen zuständige Hirnregion ei­nige Zehntelsekunden vor der eigentlichen Bewegung der Hand erhöhte Aktivitäten zeigt. Ist diese Erkenntnis ein Hinweis darauf, dass unsere Handlungen vorbestimmt sind?«

Cutter ärgerte sich über O’Haras Ignoranz. O’Hara konn­te argumentieren, so lange er wollte; nie würde Cutter eingestehen, dass etwas anderes als die Physik und deren mathematisch definierbaren Gesetze am Ursprung alles Seins standen. Auch eine Hirnaktivität war nicht mehr als eine komplexe Abfolge von physikalischen und chemi­schen Prozessen, die letztendlich von den Grundgesetzen der Natur und der Beschaffenheit von Materie und Energie abhingen.

*

Der Mann hatte inzwischen die Lobby durchquert. Er blieb vor Cutter stehen, lächelte ihm freundlich zu und fragte: »Herr Cutter?«

Die Antwort blieb Cutter im Hals stecken, als er den zweiten Mann sah, der dem ersten dicht auf den Fersen ge­folgt war und erst jetzt in Cutters Sichtfeld geriet, als er einen Schritt zur Seite machte.

»Ein Zwerg«, fuhr es Cutter durch den Kopf, »und ein seltsamer dazu!«

Er betrachtete den Mann, der kaum einen Meter vierzig groß war und von dessen ansonsten kahlem Kopf nur noch ein paar isolierte Büschel grauer Haare wirr abstanden. Der Kopf, der auf einem unglaublich dünnen Hals saß, bekam durch die Schweinsaugen und das abgemagerte Ge­sicht mit den übergroßen, hervorstehenden Backen­knochen ein groteskes Aussehen. Der spindeldürre Körper, der im Entwicklungsstadium eines halbwüchsigen Kindes ste­ckengeblieben zu sein schien, war in eine zu große, schlaff herabhängende Uniform gehüllt, die den Zwerg als Fahrer eines Limousinen-Services auswies, der sämtliche Modeentwicklungen der letzten achtzig Jahre verpasst hat­te. Mit den Absätzen seiner schwarzen, glänzenden, über­dimensionierten Schuhe stand der Zwerg auf seinen Ho­sen­säumen.

Cutter zwang sich, den Blick von dem Zwerg ab­zu­wen­den; er wollte ihn nicht unhöflich anstarren. Stattdessen mus­terte er den anderen Mann, der noch immer mit fra­gendem Blick vor ihm stand. Der Gegensatz zwischen beiden konnte nicht frappierender sein und ließ den Zwerg noch kleiner erscheinen. Der Mann war über zwei Meter groß und hatte einen imposanten, muskulösen Körper. Seine Statur, verbunden mit dem strohblonden Haar, das leicht auf dem Kragen seines Hemdes aufstand, hätte jedem Teutonen zur Ehre gereicht. Obwohl er einen un­auffälligen, leichten Anzug und ein blassblaues Hemd mit of­fe­nem Kragen trug, fiel es Cutter schwer, in ihm den erwarteten Fremdenführer zu sehen. Sein offenes Gesicht wirkte freundlich, und er besaß eine Ausstrahlung, die ihn auf den ersten Blick sympathisch wirken ließ. Und doch glaub­te Cutter eine undefinierbare Gefahr zu spüren, die von ihm ausging. Der Versuch, diesen Eindruck zu kon­kre­tisieren, schlug fehl. So betrachtete Cutter den Mann auf­merksam, doch fiel ihm nichts weiter an ihm auf, ab­ge­sehen von einem massiven goldenen Siegelring mit drei ineinander verschlungenen Buchstaben, die Cutter jedoch nicht entziffern konnte.

»Ja, mein Name ist Cutter«, antwortete er.

»Freut mich.« Der Mann streckte ihm die Hand ent­gegen. »Nennen Sie mich einfach Prometheus. Ich bin Ihr Rei­seleiter. Ich werde Sie in den nächsten drei Wochen auf Ihrer Tour durch Europa begleiten.«

»Freut mich«, erwiderte Cutter seinerseits und schüt­tel­te dem Reiseleiter die Hand, ohne sich zu erheben, da der Kopf der schlafenden Joanne noch immer an seiner Schul­ter lehnte.

»Ein seltsamer Name«, dachte Cutter. Er hatte nicht ge­wusst, dass in Deutschland ein solcher Vorname exis­tierte. Natürlich kannte er die Sage von Prometheus, doch wer kam wohl auf die Idee, seinen Sohn nach dem Un­sterb­lichen zu benennen, den Zeus zur Strafe an einem Felsen des Kaukasus hatte anketten lassen und dessen im­mer wieder nachwachsende Leber von einem Adler ge­fressen wurde?

»Und das ist Fritz, unser Fahrer«, ergänzte Pro­me­theus, Cutters Gedanken unterbrechend, mit einem kur­zen, freundlichen Blick in Richtung des Zwerges.

Cutter begrüßte den Fahrer, was dieser mit einem Kopf­nicken quittierte.

Cutter war ein Mensch, der sehr viel auf den ersten Eindruck gab, den andere auf ihn machten. Er war damit sein ganzes Leben lang gut gefahren, hatte also keinen An­lass, diese Eigenheit gerade heute abzulegen. Pro­me­theus hatte eben bei ihm gepunktet. Manch anderer hätte eine versteckte abschätzige Bemerkung über den Zwerg ge­macht, doch Prometheus, das spürte Cutter, mochte die­sen kleinen, seltsamen Mann. Und doch blieb da dieses Gefühl der Gefahr, das Cutter mit dem Fremdenführer as­soziierte. Und Fritz, der Zwerg, verstärkte diesen Eindruck noch. Mit was für einem Paar würden sie die nächsten drei Wochen verbringen? Fremdenführer und Fahrer. Ein selt­sameres Team hatte er in seinem Leben noch nicht ge­se­hen, und Cutter war schon in aller Herren Länder gewesen und hatte genügend außergewöhnliche Situationen erlebt, um mehr als nur ein Buch damit füllen zu können. Schade, dass Joanne schlief. Er musste sie möglichst rasch fragen, was sie von den beiden Begleitern hielt. Ihre Men­schen­kenntnis war oftmals der seinen überlegen.

Cutter schob diese Gedanken beiseite. Er wollte eben Joanne wecken, als sein Blick erneut auf den Zwerg fiel, der sich den Koffern zugewandt hatte. Er klemmte sich die beiden kleineren Koffer links und rechts unter die Arme, packte dann die beiden schwersten und hob sie hoch, als ob es sich um leeres Handgepäck handelte. So schlurfte er zum Ausgang. Dabei hielt er die beiden großen Koffer mit fast waagerecht vom Körper abgespreizten Ar­men – eine durch die ungünstige Auswirkung des Hebel­ge­setzes ex­trem kraftaufwendige Haltung. Der Zwerg muss­te Muskeln aus Stahl besitzen, sonst wären ihm die Koffer längst ent­glitten. Cutter selbst wäre nicht in der Lage ge­wesen, die Kof­fer auf diese Weise weiter als zwei Meter zu tragen, ob­wohl er fast täglich im Kraftraum mit Gewichten trainierte.

Prometheus stand noch immer unschlüssig neben Cutter, als der Zwerg bereits durch die Türe verschwunden war.

»Gehen Sie schon vor«, forderte Cutter ihn mit einem Blick auf Joanne auf. »Wir kommen gleich nach.«

Prometheus schien auf eine seltsame Art erleichtert zu sein. Hastig machte er kehrt und folgte dem Zwerg. Erst jetzt fiel Cutter auf, dass der Reiseleiter das linke Bein leicht nachzog.

Cutter küsste Joanne auf die Stirn, und als sie darauf nicht reagierte, fuhr er ihr sanft über die Wangen.

»Aufwachen, Joanne«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wir sind in München, es ist neun Uhr und wir sollten uns auf den Weg machen.«

Joanne richtete sich auf, wischte sich den Schlaf aus ihren großen, grünen Augen und streckte sich ge­räusch­voll. Erst jetzt, bei geöffneten Augen, wurde ihre ganze Schön­heit sichtbar. Ihre Augen bestimmten das Gesicht weit mehr als die wohlgeformte Nase oder die weichen Kon­turen ihrer Lippen.

»Ist unser Wagen schon hier?«, wollte sie wissen und blickte sich fragend um.

»Unsere Koffer sind schon draußen. Prometheus und Fritz warten dort auf uns.«

»Prometheus und Fritz?«, fragte sie.

»Unser Reiseleiter und der Fahrer«, erklärte Cutter. »Pro­metheus, der Reiseleiter, macht auf den ersten Blick ei­nen ganz normalen Eindruck, auf den zweiten Blick hat er jedoch eine Ausstrahlung, die mich etwas unsicher macht. Der Fahrer hingegen ist ein Kobold. Ich hoffe, er fährt besser, als er aussieht, sonst gnade uns Gott.«

»Schauen wir uns die beiden doch einmal an«, forderte Joanne ihn auf. Sie erhob sich und ging ihrem Vater vor­aus.

In der Auffahrt stand ein mächtiger, schwarzer, sechs­türiger BMW. Fritz hatte sich bereits hinter das Steuer ge­setzt, so dass Joanne ihn durch die getönten Scheiben nur schemenhaft erkennen konnte. Prometheus stand vor dem Wagen und riss die Türe auf, als er Cutter und seine Toch­ter das Hotel verlassen sah. Zu Cutters Überraschung hink­te er anschließend beinahe hektisch um den Wagen herum und stieg auf der anderen Seite ein, noch bevor sie bei der Limousine angekommen waren.

Joanne bemerkte nur noch einen Schatten, der hinter dem Wagen verschwand. Etwas an seinem Verhalten und an seiner Ausstrahlung, die sie in den wenigen Zehntel­sekunden gefühlt hatte, irritierte sie, doch es blieb ihr zu wenig Zeit, um darüber nachzudenken.

»Nette Menschen hier in Deutschland«, flüsterte sie Ihrem Vater zu. »Normalerweise wartet man doch wohl, bis die Gäste eingestiegen sind, und schließt dann die Tü­re hinter ihnen.«

Sie ließ ihrem Vater den Vortritt, stieg nach ihm in den geräumigen Fonds des Wagens ein und zog die Türe hin­ter sich zu. Augenblicklich setzte sich die Limousine bei­na­he geräuschlos in Bewegung.

Joanne sah sich um. Etwas stimmte nicht mit diesem Wagen. Ihr Blick fiel zuerst auf den großen Fern­seh­appa­rat, dann auf die gut ausgestattete Bar, die ihr Vater, der aus Prinzip nur sehr mäßig trank, kaum benutzen würde, und schließlich auf die einander gegenüberstehenden wie­chen Sitze, in denen sie beinahe versank. Ihr Vater und sie blickten in Fahrtrichtung. Der Reiseführer, der freundlich und doch etwas herausfordernd lächelte und ihr die Hand ent­gegenstreckte, saß ihrem Vater gegenüber.

Sie blickte am Reiseführer hoch und wollte ihm eben die Hand reichen, als sie einen Schlag verspürte, als ob sie gegen eine Wand gelaufen wäre. Sie musste sich da­zu zwingen, ihren Arm auszustrecken und Prometheus’ Hand zu ergreifen. Sie erwartete nichts Gutes von diesem Händedruck.

Trotzdem fuhr ihr der Schreck durch alle Glieder, als sie nichts spürte, obwohl sich ihre Finger um seine Hand schlossen. Genauso gut hätte sie der Luft die Hand schüt­teln können. Sie zog verunsichert die Hand zurück, wäh­rend ihr Prometheus einen verschwörerischen Blick zuwarf. Er zwinkerte ihr zu und legte den rechten Zeigefinger auf die Lippen. Er wollte, dass sie schwieg. Doch warum hatte er ihr die Hand entgegengestreckt? Wollte dieser seltsame und doch sympathische Fremdenführer, dass sie seine An­dersartigkeit bemerkte? Wenn ja, was bezweckte er damit? Sie überlegte fieberhaft, doch außer unzähligen Frag­men­ten von Fragen konnte sie keinen vernünftigen Gedanken formulieren.

Ihr Vater hatte nichts von diesem kurzen Intermezzo be­merkt. Er blickte auch nicht nach rechts, wo seine Toch­ter mit entsetztem Gesicht in die Ferne starrte und um Fas­sung rang.

Cutter unterhielt sich mit Prometheus über die be­vor­ste­hen­de dreiwöchige Reise. Ihre Rundfahrt sollte sie von Mün­chen aus noch heute nach Österreich führen, wo sie kreuz und quer durch das Land seiner Vorfahren reisen und schließlich über Ungarn, die Slowakei und Tschechien wieder zurück nach München fahren würden.

Es war eben eine kurze Pause eingetreten, als Pro­me­theus ohne die geringste Vorwarnung fragte: »Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod, Herr Cutter?«

»Ich bin noch nicht einmal sicher, ob ich an ein Leben vor dem Tod glaube«, antwortete Cutter instinktiv und schein­bar zynisch, ohne auch nur einen Moment überlegt zu haben.

Eine Sekunde später hätte er sich dafür ohrfeigen kön­nen. Prometheus hatte ihn mit seiner unerwarteten Frage überrascht. Hätte man ihm die gleiche Frage in Amerika gestellt, so wäre ihm dieser Fehler nicht passiert. Im Land der sehr begrenzten unbegrenzten Möglichkeiten trugen im­mer mehr Menschen ihren Glauben auf der Zunge, ge­nauso wie sie ihn durch religiöse Sprüche auf ihren T-Shirts manifestierten. Zwischen Patriotismus und Religion war dort eine Art Symbiose entstanden, die es einem in­teressierten Beobachter unmöglich machte, ernsthafte Ge­spräche zu führen, ohne früher oder später beim Thema Religion zu landen. Doch hier waren sie in Deutschland, in Europa. Auf einem Kontinent, in dem ein Mensch, der re­gelmäßig in die Kirche ging, sich fast schon entschuldigen musste. Religion war bestenfalls Privatsache, die hinter ver­schlossenen Türen praktiziert wurde, wobei manche Prak­tiken eher an östliche Religionen erinnerten als an jene, denen der Stammvater Abraham gemeinsam war. So war denn auch in mehr Haushalten eine Buddhastatue an­zutreffen – und sei es nur als Souvenir eines Asien-Aufenthaltes – als ein Kruzifix.

Prometheus’ Frage war daher so überraschend für Cut­ter gekommen, dass er eine vorschnelle, viel zu per­sön­liche Antwort gegeben hatte, die Prometheus nur falsch interpretieren konnte. Weder wollte er in Abrede stellen, dass es ein Leben nach dem Tod gab, noch die Existenz der Menschheit als solche in Frage stellen. Natürlich hing der Tod letztlich mit der Frage nach der Körperlichkeit des Lebens zusammen, war es doch unbestreitbar, dass unser Körper nur für eine begrenzte Zeitspanne geschaffen war. Doch der Tod, wie auch das Leben selbst, setzte neben der Körperlichkeit noch etwas Weiteres voraus: die Zeit. Seit dreißig Jahren befasste sich Cutter als Physiker mit dem Phänomen von Raum und Zeit, doch erst vor gut zwölf Jahren hatten seine Frau Jennifer und er begonnen, an der Dimension Raum, wie die Menschen sie zu kennen glaubten, zu zweifeln. Da Raum und Zeit untrennbar mit­ein­ander verbunden waren, war es nicht überraschend ge­wesen, dass sie kurze Zeit später auch die Beschaffenheit der Zeit in Frage gestellt hatten. Diese Zweifel waren zur schmerzhaften Gewissheit geworden, als Jennifer starb. Seit jenem Ereignis lag er nachts oft wach im Bett und über­legte, wo die Seele seiner Frau sich in diesem Mo­ment wohl befinden mochte und in welcher Form Jennifer weiterexistierte. Diese Fragen waren bis heute offen­ge­blie­ben, war es ihm doch nie gelungen, sie befriedigend und widerspruchsfrei zu beantworten, weil er Jennifer sein Wort gegeben hatte, den letzten, entscheidenden Schritt nicht zu Ende zu führen, den er mit ihr begonnen und den seine Frau mit dem Leben bezahlt hatte. Hätte er den einmal ein­geschlagenen Weg weitergehen können – das wurde ihm in dieser Situation einmal mehr mit aller Brutalität bewusst –, so hätte er inzwischen vielleicht schon die Antwort auf diese uralte Frage gefunden.

»Eine gute Antwort, die vieles – wenn nicht alles – offenlässt«, sagte Prometheus mit einem kaum sichtbaren Lächeln um die Lippen. Er war offensichtlich mit der Ant­wort zufrieden. Elegant wechselte er das Thema und plau­derte über eine Belanglosigkeit, die in fast schmerzhaftem Kontrast zu der eben gestellten Frage stand. »Immer diese Baustellen«, sagte er und zeigte nach draußen. Der Wa­gen war beinahe zum Stillstand gekommen. Auf drei Spu­ren stauten sich die Fahrzeuge auf der Autobahn. »Unsere Politiker haben nichts Besseres zu tun, als alljährlich wäh­rend der Urlaubszeit möglichst viele Reparaturarbeiten auf den Autobahnen in Auftrag zu geben. Das Resultat sind kilo­meterlange Kolonnen wie diese hier«, schimpfte der Rei­seführer scheinbar echt entrüstet, um nur einen Atem­zug später erneut das Thema zu wechseln. »Die Zeit ist das Problem!«, sagte er beiläufig.

Cutter blickte ihn fragend an.

»Nun«, meinte Prometheus, »wenn es keine Zeit gibt, kann es auch kein Leben geben; weder vor noch nach dem Tod.«

Cutter zuckte zusammen. Prometheus bohrte weiter in sei­ner Seele, und Cutter spürte die Schmerzen wie bei ei­ner Wurzelbehandlung beim Zahnarzt.

»Wie, glauben Sie, ist die Zeit beschaffen?«, ver­grö­ßer­te der Reiseführer erneut Cutters Schmerzen.

»Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier«, wich Cut­ter aus, »dann würde ich in Stockholm den Nobelpreis für Physik in Empfang nehmen.«

»Nicht mitten im Sommer«, grinste Prometheus, nur um gleich wieder ernst zu werden. »Was steht im Zentrum, Raum oder Zeit? Oder sind die beiden nicht vielmehr gleich­wertig?«, bohrte er weiter.

Cutter spürte, dass jetzt der Moment gekommen war, das Gespräch zu beenden, wenn er nicht riskieren wollte, die Tiefe seiner Seele vor diesem Fremden bloßzulegen oder sich in unlösbare Widersprüche zu verwickeln.

»Ich bin Physiker, wie Sie sicherlich den Unterlagen Ih­rer Firma entnommen haben«, erklärte er deshalb. »Raum und Zeit gehören zu meinem Fachgebiet. Doch da ich hier im Urlaub bin, möchte ich nicht über berufliche An­ge­le­gen­heiten sprechen. Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür.«

»Natürlich«, sagte Prometheus mit einem bedauernden Ausdruck. »Natürlich akzeptiere ich Ihren Wunsch.« Ohne zu zögern wechselte er das Gesprächsthema und begann über die Sehenswürdigkeiten Süddeutschlands zu spre­chen.

*

Joanne hatte zuerst geglaubt, dass es sich bei dem Frem­denführer um ein körperloses Wesen handelte, doch hatte sie zwischenzeitlich entdeckt, dass alles viel schlimmer war: Sie war nämlich mit einem Mal auch von ihrem Vater getrennt, obwohl sie im Fonds der gleichen Limousine saßen. Scharf wie die Klinge eines Rasiermessers und gleich­zeitig unscharf wie ein weicher, warmer Luftzug ver­lief irgendwo zwischen ihr und den beiden Männern eine Grenze. Auf ihrer Seite dieser Grenze war sie alleine, auf der anderen saßen ihr Vater, Prometheus und der Fahrer, der seinerseits durch eine Glasscheibe von den beiden Män­nern im Fond getrennt war.

Zum ersten Mal seit neun Jahren war sie von ihrem Vater getrennt. Die ersten acht Jahre ihres Lebens hatte sie ih­ren Vater kaum je zu Gesicht bekommen. Er war ein Workaholic gewesen, den sie höchstens einmal am Abend für einige Minuten oder an einem Wochenende für wenige Stunden gesehen hatte. So hatte sie nie einen Vater ge­habt, dem sie sich nahe und vertraut genug gefühlt hätte, um ihre kleinen Sorgen oder Geheimnisse mit ihm zu tei­len. Dann kam der unerwartete Tod ihrer Mutter, die Be­erdigung, bei der ihr Vater sie zum ersten Mal tröstend in die Arme geschlossen hatte, und die zehn dem Begräbnis fol­gen­den Tage, während denen ihr Vater verschwunden war. Niemand konnte ihr sagen, wo er sich aufhielt, nicht einmal ihre Großmutter, bei der sie nach dem Tod ihrer Mut­ter eingezogen war und die sich große Sorgen um ih­ren Schwiegersohn zu machen schien. In diesen zehn Ta­gen begann sie ihren Vater, zu dem sie zuvor ein emo­tions­loses Verhältnis gehabt hatte, zu hassen. Von Tag zu Tag wuchs der Hass auf ihn, bis dieses Gefühl die Trauer um den Verlust ihrer Mutter fast völlig verdrängt hatte.

Nach zehn Tagen tauchte ihr Vater wieder auf, ebenso überraschend und kommentarlos, wie er verschwunden war. Entgegen den Wünschen ihrer Großeltern und zu ih­rer eigenen beträchtlichen Überraschung schickte er sie nicht in ein Internat, sondern forderte sie auf, ihre Sachen zu packen, und fuhr mit ihr zurück in die gemeinsame Woh­nung.

Er gab seine Professur an der Universität auf, verkaufte seine zahlreichen Firmen, stellte all seine geschäftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten von einem Tag auf den anderen ein und kümmerte sich von diesem Moment an nur noch um seine Tochter, bis er zwei Jahre später be­hutsam, immer auf die Bedürfnisse seiner Tochter Rück­sicht nehmend, damit begann, sich eine neue Karriere auf­zubauen und seinen Platz in der Gesellschaft der Schönen und Reichen Montreals wieder einzunehmen.

Es vergingen Monate, in denen sie ihrem Vater mit of­fener Ablehnung und rebellischem Widerstand begegnete, bis der Hass in ihrer Seele allmählich der Liebe Platz mach­te. Heute waren sie unzertrennlich. Joanne glaubte nicht, dass es irgendwo auf diesem Planeten eine Tochter gab, die ein innigeres Verhältnis zu ihrem Vater hatte, auch wenn sie nie herausgefunden hatte – und auch nie den Mut aufgebracht hatte, ihn danach zu fragen –, wo er in den für sie so schweren zehn Tagen nach dem Begräbnis ihrer Mutter gewesen war.

Doch nun, in einem fremden Land, war sie von ihrem Vater getrennt worden. Die Trennung war tiefgreifend und schien – zumindest im Moment – unüberwindbar zu sein. Sie hatten sich nicht, wie es früher schon vorgekommen war, in einer Menschenmenge oder in einem Warenhaus aus den Augen verloren und sich dann wenige Stunden spä­ter im gemeinsamen Hotelzimmer wieder in die Arme geschlossen. Nein, sie saßen in der gleichen geräumigen Limousine und waren doch durch etwas getrennt, das Jo­anne nicht zu ergründen wagte.

Sie berührte die unsichtbare Grenze mit dem Zeige­finger und spürte, ohne davon überrascht zu sein, dass dort, wo sie diese vermutet hatte, gar keine existierte. Sie konnte ihren Finger ohne Widerstand über die Grenze hin­ausführen, bis er den Arm ihres Vaters berührte. Doch konn­te sie diese Berührung ebenso wenig spüren wie zu­vor den Handschlag des Fremdenführers. Sie glaubte nur, ein beinahe unmerkliches Kribbeln in ihrem Finger zu füh­len. Auch ihr Vater schien die Berührung nicht zu be­mer­ken; zumindest reagierte er in keiner Weise darauf.

Sie zog die Hand zurück und berührte den Türgriff, das Polster des Sitzes, auf dem sie saß, die getönte Scheibe der Türe und die kühle Colabüchse, die in einer Halterung steckte. All das konnte sie fühlen. Auch das Polster des Sitzes jenseits der imaginären Grenze leistete ihren tas­ten­den Händen Widerstand. Doch kaum glitt ihre Hand in Rich­tung ihres Vaters, fühlte sie sich an, als ob sie sich im luftleeren Raum bewegen würde. Das Auto war als Ganzes hier – wie hätte es sonst auch fahren sollen? Doch die bei­den Männer, jenseits der unsichtbaren Grenze, waren ih­rem Zugriff entzogen. Sie streckte ihren Fuß weit über die imaginäre Grenze hinaus und trat gegen den Boden. Kein Zweifel, der Fuß prallte mit einem dumpfen, kaum hörbaren Geräusch gegen den dicken, weichen Teppich, der den Bo­den der Limousine bedeckte.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Grenze weiter zu erforschen, wenn sie die Situation nicht tatenlos ak­zep­tieren wollte.

Sie brauchte einige Minuten, bis sie soweit war. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, atmete einige Male tief durch und hielt dann den Atem an. Langsam bewegte sie ihren Kopf auf die Grenze zu, kam ihrem Vater immer näher, bis ihre Stirn an der Schulter ihres Vaters angelangt war – und doch sendeten ihre Nerven keine Signale an ihr Gehirn, konnte sie den Körper ihres Vaters in keiner Weise füh­len.

Einen Sekundenbruchteil bevor sie das Entsetzen über­mannte, riss sie ihren Kopf heftig zurück. Sie ließ sich in den weichen Sitz sinken, schloss die Augen und atmete tief durch. Sie überlegte fieberhaft, doch fielen ihr nur zwei Interpretationen ein für das, was sie eben erlebt hatte: Sie war entweder wahnsinnig geworden, oder etwas ganz Un­glaubliches war mit ihr, mit ihrem Vater, ja möglicherweise mit der ganzen Welt geschehen. Je länger sie darüber nach­dachte, desto wahrscheinlicher erschien ihr die Vari­an­te, selbst wahnsinnig geworden zu sein; sie war wesent­lich einfacher zu verstehen. Die zweite Möglichkeit er­schien ihr unnatürlich, zutiefst erschreckend, ja unge­heu­er­lich. Allein der Gedanke daran erschien ihr ebenso abartig wie blasphemisch.

»Wir sind gleich dort«, sagte Prometheus. »Es wird heute un­ser einziger Zwischenstopp sein. Danach fahren wir oh­ne Halt bis nach Österreich weiter, wo ich Sie für die Nacht in einem romantischen Hotel einquartieren werde.«

Cutter war froh, dass er den Wagen verlassen konnte. Aus einem Grund, der weit über die bohrenden Fragen des Reiseführers hinausging, fühlte er sich in der Limousine nicht wohl, und irgendetwas schien mit Joanne nicht zu stim­men. Sie saß ungewohnt unbeteiligt neben ihm und hat­te auf der ganzen Fahrt noch keine Silbe gesprochen. Gewiss, er hatte sie dazu überredet, nach Europa zu fliegen. Joannes Liebe galt dem spanisch sprechenden Teil des amerikanischen Kontinents. Sie wäre lieber in die Berge Guatemalas gefahren als nach Europa, das in ihren Augen ein durch und durch langweiliger, dekadenter Konti­nent ohne Kraft und ohne Visionen war.

»Du willst deine Ferien auf einem Kontinent verbringen, in dem die Menschen auf Schritt und Tritt einer großartigen Vergangenheit begegnen und doch jeden Gedanken daran verworfen, jede Rücksicht darauf längst aufgegeben ha­ben, genauso wie sie den Glauben an ihre Zukunft für ein paar ebenso unbedeutende wie kurzfristige wirtschaftliche Vorteile weggeworfen haben. Was willst du dort? Deine Wur­zeln suchen? Die sind längst mit Stumpf und Stiel aus­gerottet worden. Alles, was du finden wirst, wird eine große Leere sein, die du nach Kanada mitnehmen oder besser noch im leeren Europa zurücklassen kannst«, hatte Jo­anne gesagt und dabei jedes Wort mit eleganten Hand­bewegungen unterstrichen.

Cutter hatte seine ganze Überzeugungskraft auf­ge­wandt: »Mein Großvater ist mit seiner Familie nach dem Zwei­ten Weltkrieg von Österreich nach Kanada aus­ge­wan­dert. Du willst doch sicher auch einmal sehen, wo die Wur­zeln unserer Familie liegen. Sie sind dort, du musst nur bereit sein, sie auch zu sehen. Und etwas verspreche ich dir: So langweilig und dekadent, wie du glaubst, ist Europa ganz gewiss nicht.«

Joanne hatte wenig überzeugt nachgegeben, nachdem Cutter ihr versprochen hatte, dass die nächste gemein­sa­me Reise sie nach Mittelamerika führen würde. Doch dass sie deswegen nun schlechter Laune war und – mehr noch – diese Laune so offen zeigte, wunderte Cutter sehr, denn eigentlich passte ein solches Verhalten nicht zu ihrem Charakter. Gewiss hatte Joanne einen Dickschädel und war zwei­fellos nicht weniger starrsinnig als ihr Vater, doch wenn sie sich einmal – und sei es noch so widerwillig – zu etwas entschlossen hatte, so bewirkte dieselbe Eigen­schaft auch, dass sie die Sache durchzog, ohne lange mit dem Schicksal zu hadern.

Auf ihr unüblich ruhiges, distanziertes Verhalten an­ge­spro­chen, grinste Joanne nur leicht gequält. »Der Jetlag«, log sie.

Cutter kannte sie gut genug, um zu spüren, dass das nicht die ganze Wahrheit war, doch insistierte er nicht wei­ter. Wenn es für ihn von Bedeutung war, so würde ihm Jo­anne den Grund für ihr Verhalten aus freien Stücken mit­teilen, wenn sie die Zeit für gekommen hielt. So folgte er Prometheus, der nicht zu viel versprochen hatte, als er von diesem Ort in den höchsten Tönen geschwärmt hatte.

Vor einigen Jahren hatten Bauarbeiter hier im Osten des Bun­deslandes Bayern die Überreste einer mittelalterlichen Siedlung freigelegt. Die Archäologen waren derart be­geis­tert von den sensationellen Funden gewesen, dass sie be­wirkten hatten, dass die Autobahn um einige Hundert Me­ter weiter nach Norden verlegt wurde und so das Gebiet der ehemaligen Siedlung der Nachwelt erhalten blieb.

Die Siedlung war zwischen dem 5. und 12. Jahrhundert bewohnt gewesen, war mehrmals niedergebrannt, schließ­lich von einer letzten Feuersbrunst zerstört und dann auf­ge­geben worden. Die Überreste des Städtchens waren im wasserdurchsetzten, moorigen Boden überraschend gut kon­serviert worden. Nach fünf Jahren intensiver Aus­gra­bungs­arbeiten hatten sich die Wissenschaftler ent­schie­den, die Siedlung zu rekonstruieren.

So war eine mittelalterliche Kleinstadt entstanden, in der alle Aspekte des Alltags jener Zeit aufgezeigt wurden. Die verantwortlichen Wissenschaftler hatten bewusst dar­auf verzichtet, den Besuchern ein Spektakel à la Disney­land zu bieten. Sie stellten die Siedlung so dar, wie sie nach den Resultaten der Ausgrabungen und dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung einmal aus­ge­se­hen haben mochte. In den einzelnen Vierteln war die Stadt jeweils so dargestellt, wie sie in einer bestimmten Periode zwischen dem 5. und 12. Jahrhundert ausgesehen hatte. Ein Gang durch die Stadt war also gleichzeitig auch ein Gang durch die Zeit, ein Gang durch die Geschichte. So zeigte sich in den ersten Vierteln, die die frühe Zeit des Städtchens darstellten, ein recht trostloses Bild einer ärm­lichen Siedlung, während das letzte Viertel bereits recht schmucke, wenn auch einfach gebaute Häuser aufwies.

Die Szenen wurden zusätzlich durch verschiedene De­monstrationen aufgelockert, bei denen mittelalterlich ge­klei­dete Mitarbeiter Handwerk und Brauchtum einer längst vergangenen Zeit neu aufleben ließen.

Gerade diese Schnörkellosigkeit beeindruckte Cutter. Er folgte interessiert den Ausführungen eines Führers, den Prometheus für sie angeheuert hatte.

Joanne ging mit etwas Abstand hinter den drei Män­nern her. Sie wollte nicht hören, was der Führer ihnen er­zählte. Sie hatte eine ungleich wichtigere Entdeckung ge­macht, von der sie gleichermaßen fasziniert wie entsetzt war: Prometheus zog wie ein Motorschiff auf dem ruhigen Wasser eines Sees eine Spur hinter sich her, die un­mit­tel­bar hinter ihm deutlich zu erkennen war, sich dann zu bei­den Seiten ausbreitete, mit zunehmender Entfernung all­mäh­lich schwächer wurde und schließlich völlig ver­schwand. Unter dieser Spur kamen wie eine Fata Morgana Bilder aus einer anderen Zeit zum Vorschein. Es war zwei­fellos die gleiche Siedlung, die sie durch diese Spur hin­durch sah, doch war sie noch elender als ihre Nachbauten. Die Straße bestand aus einer Schlammbahn, durch die in Sackleinen gekleidete Menschen mit nackten Füßen hastig stapften, während ein mit Schnee durchmischter kalter Re­gen auf sie niederprasselte. Die Häuser waren nicht mehr als Bretterbuden, die nur ungenügenden Schutz gegen die Witterung boten. Bei einzelnen Häusern drang dichter Rauch aus einer Öffnung im Dach und zwischen den Rit­zen in den Wänden hindurch, die nur unzureichend mit Moos abgedichtet waren.

Joanne vergrößerte ihren Abstand zu den Männern etwas mehr, um einen breiteren Bereich von Prometheus’ Spur überblicken zu können. Dies hatte den Vorteil, dass sie einen besseren Überblick über die Szene erhielt, je­doch den Nachteil, dass die Bilder undeutlicher wurden, je weiter sie von Prometheus entfernt waren.

Dann wurde von einer Sekunde zur nächsten das Bild völlig klar, als ob Joanne mitten in dieser Welt stehen wür­de. Schreiende Menschen rannten in Panik an ihr vorbei, als links und rechts von ihnen eine Hütte nach der anderen Feuer fing. Ein starker Wind trieb das Feuer unaufhaltsam von einer der eng beieinanderstehenden Hütten zur nächs­ten. Die wenigen Menschen, die eine Schlange gebildet hat­ten und mit Wasserkrügen versuchten, das Feuer zu stop­pen, standen auf verlorenem Posten. Bald mussten auch sie dem Feuer weichen. Nach wenigen Minuten stand Joanne allein inmitten von rauchenden Trümmern, und nur von ferne drang das Wehklagen der Menschen an ihr Ohr. Sie zwang sich, einige Schritte zur Seite zu machen. Da­durch bewegte sie sich aus der Spur hinaus, die Pro­metheus hinter sich herzog. Sobald sie die Spur verlassen hatte, befand sie sich wieder in der Gegenwart, inmitten von lauten, fröhlichen Touristen, die durch die enge Gasse in Richtung des Dorfplatzes strömten und in ihrer Sorg­losig­keit nichts von dem ahnten, was Joanne soeben erlebt hatte und was sich, so vermutete Joanne, hier vor einigen Hundert Jahren tatsächlich abgespielt hatte.

Joanne vermied es, erneut in den Sog von Prometheus zu treten. Sie hatte für den Moment genug gesehen und genug zu überlegen. Was ging hier vor? Und vor allem: Wie sollte sie ihrem Vater oder irgendeinem Menschen auf dieser Erde erklären, was sie erlebt hatte? Der Gedanke, dass sie wahnsinnig war, drohte allmählich zur schreck­li­chen Gewissheit zu werden.

»Dort drüben gibt es ein Restaurant mit Spezialitäten, wie sie unsere Vorfahren im Mittelalter gegessen haben mö­gen. Ich habe Ihnen einen Tisch reserviert«, sagte Pro­me­theus, als sie auf dem Dorfplatz angekommen waren, der von kleinen Läden gesäumt war, und zeigte mit aus­ge­strecktem Arm auf einige Holzgebäude, die etwas abseits standen. »Genießen Sie das Essen und schauen Sie sich noch etwas um. Wir treffen uns in spätestens zweieinhalb Stunden beim Wagen. Bitte seien Sie pünktlich, wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

Mit diesen Worten entfernte er sich. Joanne schaute ihm mit besorgtem Gesichtsausdruck nach. Noch immer zog er die unerklärliche Spur hinter sich her. Joanne schloss rasch die Augen. Sie hatte genug gesehen und keine Lust, noch einmal in die Vergangenheit zu blicken. Sie folgte ihrem Vater in eines der Restaurants, wo sie sich einen Wildschweinbraten bestellten, zu dem dunkles, gro­bes Roggenbrot serviert wurde. Sie aßen schweigend, Cutter mit sichtlich großem Appetit, während Joanne sich zwin­gen musste, etwas zu sich zu nehmen, obwohl sie zugeben musste, dass das Schweinefleisch außer­or­dent­lich zart und würzig war und sie noch nie in ihrem Leben ein derart schmackhaftes Brot genossen hatte.

Als sie das Essen mit einem erfrischenden, gekühlten Kräutertee abschlossen, sah Cutter seine Tochter ernst an. »Joanne, etwas stimmt nicht mit dir! Was ist los? Du wirkst völlig desinteressiert; ist es wirklich so schlimm hier in Eu­ropa?« Er streckte den Arm aus, um seine Hand auf die ihre zu legen.

Reflexartig zog Joanne ihre Hand zurück und hob ab­wehrend beide Hände.

Ihr Vater starrte sie erschrocken und verständnislos an. »Mein Gott, was ist mit dir?«, stammelte er überrascht. Das Mädchen, das ihm gegenübersaß, reagierte völlig un­ver­ständ­lich. Er konnte sich nicht erinnern, Joanne in den letz­ten Jahren je so erlebt zu haben.

Joanne blickte ihn aus ernsten, traurigen Augen an. »Es ist schwierig, es dir zu erklären«, antwortete sie mit kaum hörbarer Stimme.

»Versuch es trotzdem«, forderte ihr Vater sie auf. Er war froh, dass Joanne wieder vernünftig mit ihm sprach. »Wir haben Zeit und ich bin ganz Ohr.«

Joanne überlegte fieberhaft, doch die Worte fehlten ihr. Es gab keine passenden Worte, weder für das, was sie empfand, noch für das, was sie erlebt hatte. Ihr Vater muss­te es selbst fühlen, nur dann würde er verstehen kön­nen. Doch Joanne hatte Angst. Angst davor, dass ihr Vater etwas fühlen könnte, und noch mehr Angst davor, dass er ebenso wenig fühlen könnte wie sie selbst.

»Mir fehlen die Worte«, wiederholte sie mit rauer Stim­me. Langsam, vorsichtig legte sie ihre linke Hand auf den Holztisch. Sie blickte ihrem Vater tief in die Augen, in den­en sich die Sorge um seine Tochter spiegelte. »Leg jetzt deine Hand auf meine. Aber sei nicht überrascht, was im­mer auch geschehen mag.«

Cutter zog überrascht die Augenbrauen hoch, tat dann jedoch, worum ihn seine Tochter gebeten hatte. Er streckte den Arm aus und berührte Joanne. Nachdem er zweimal zugegriffen und versucht hatte, Joannes Hand zu um­fas­sen, war es an ihm, seine Hand mit einem Ruck zurück­zuziehen. Eine grenzenlose Verblüffung legte sich auf sein Gesicht. Vorsichtig streckte er die Hand erneut aus. Seine Finger zitterten dabei deutlich. Er berührte Joannes schlan­ke Hand – oder genauer gesagt: er berührte sie eben nicht, obwohl seine Hand jetzt auf der ihren lag. Zumindest fühlte er keine Berührung. Er fühlte nichts. Und doch berührte sei­ne Hand ihre Finger, das konnte er deutlich sehen. Sei­ne Sinne verwirrten ihn. Sein Tastsinn sendete eine In­for­mation an sein Gehirn, seine Augen eine andere. Ge­mein­sam ergaben die beiden Informationen keinen Sinn, konn­ten von seinem Gehirn nicht korrekt verarbeitet werden.

Cutter wäre dieser Situation wohl hilflos gegen­über­ge­standen, wenn er sich nicht an eine Begebenheit erinnert hätte, die sich während seiner Studienzeit zugetragen hat­te. Mit einigen seiner Kommilitonen hatte er sich auf einer Party einen Spaß daraus gemacht, den Gästen grasgrüne Erdbeeren, dunkelblaue Gurken und rote Kiwi zum Kosten zu geben, die sie mit harmloser Lebensmittelfarbe be­han­delt hatten. Die meisten Gäste hatten – irritiert durch die un­gewohnte Farbe – Mühe gehabt, die Nahrungsmittel auf­grund ihres Geschmacks und Aussehens zu erkennen. So­bald sie jedoch die Augen schlossen und sich aus­schließ­lich auf den Geschmack der Speisen konzentrierten, er­rie­ten die meisten von ihnen, was sie gerade aßen.

Sein Erlebnis hier war ähnlich geartet. Zwei Sinne sen­deten unterschiedliche Signale. Also ging es nun nur dar­um, das echte vom falschen Signal zu unterscheiden, dann würde sich das Rätsel auflösen. Er war schließlich Wis­sen­schaftler. Mit einem wissenschaftlichen Vorgehen konnte er zweifellos eine Erklärung für dieses scheinbare Para­do­xon finden.

Cutter zog langsam seine Hand zurück. Er beobachtete Joannes Hand, die noch immer unbeweglich auf dem Tisch ruhte. Es gab keinen Zweifel daran, dass ihre Hand auf dem Tisch lag. Es gab keinen Grund, an eine optische Täu­schung zu glauben. Sie saßen im Schatten unter einem Strohdach, das sie vor der prallen Mittagssonne schütz­te. Das Licht war etwas diffus, doch Joannes Hand war deutlich sichtbar. Vorsichtig streckte er seine Hand wie­der aus. Hätte er mit seiner Hand durch Joannes hin­durchgreifen können, so hätte ihn das nicht völlig über­rascht. Des Rätsels Lösung wäre damit gefunden ge­we­sen: Es hätte sich bei Joanne um ein perfektes Hologramm handeln können. Irgendjemand hätte sich dann mit ihm ei­nen ebenso üblen wie geschmacklosen, wenn auch sünd­haft teuren Scherz erlaubt. Doch er konnte nicht durch Jo­annes Hand hindurchgreifen; er blieb auf geheimnisvolle Wei­se stecken, ohne dass sein Tastsinn irgendein Signal an sein Hirn gesendet hätte. Er fuhr Joannes Hand ent­lang, den Unterarm hinauf, er lehnte sich über den Tisch, er­griff ihren Oberarm und drückte mit aller Kraft zu. Es gelang ihm nicht, seine Hand zu schließen, und trotzdem spür­te er keinen Widerstand. Und Joanne, die nor­ma­ler­weise unter dem harten Griff seiner Hand aufgeschrien hät­te, verzog keine Miene.

Joannes Körper war real. Ein uraltes physikalisches Ge­setz besagte, dass sich nicht zwei Körper am gleichen Ort befinden konnten. Es war also nicht verwunderlich, dass seine Hand nicht durch Joannes Körper hin­durch­grei­fen konnte. So etwas war höchstens in drittklassigen Gru­sel­filmen möglich.

Doch gab es ein anderes physikalisch-biologisches Ge­setz, das besagte, dass bei der Berührung zwischen zwei menschlichen Wesen Reize an die Gehirne der Be­trof­fenen gesendet werden, die diese als Berührung inter­pre­tie­ren. Aber nichts dergleichen geschah; sein Tastsinn schien nicht mehr zu funktionieren. Und doch – wenn er den Tisch berührte, konnte er das raue Holz fühlen. Nur Jo­anne schien auf eine geheimnisvolle Weise immateriell zu sein. Panik stieg in ihm auf und vernebelte seine Sinne.

»Kannst du mich fühlen?«, fragte er, nachdem er kräftig gehustet hatte, um seiner Stimme wieder einen mensch­lichen Klang zu verleihen.

»Nein.« Joanne schüttelte heftig den Kopf und erzählte dann ihre Erlebnisse von dem Zeitpunkt, an dem sie in die Limousine gestiegen war, bis zum dem Moment, als sie in Prometheus’ Sog geraten war.

»Wahnsinn!«, stieß Cutter hervor. »So was gibts doch nicht!« Nach einer langen Pause fuhr er fort: »Es gibt nur eine vernünftige Erklärung dafür, aber die ist zu phan­tas­tisch, um wahr zu sein.«

»Welche denn?« Es gab viele Eigenschaften, die Jo­anne an ihrem Vater bewunderte, doch am stärksten im­po­nierte ihr, dass er sich zeitlebens mit Dingen beschäftigt hatte, von denen die meisten Menschen keine Ahnung hat­ten. Er hielt an der Universität Vorlesungen zur Quanten­theorie, denen nur die wenigsten Studenten und lange nicht alle Professoren folgen konnten. Auch sie selbst ver­stand nur oberflächlich, wenn ihr Vater über sein Stu­diengebiet sprach, selbst wenn er sich Mühe gab, seine phan­tastische Welt mit einfachen Worten zu erklären, und den­noch übte diese Welt, in der Zeit und Raum zu ver­schmelzen schienen, eine faszinierende Anziehungskraft auf sie aus. Trotzdem war sie überrascht, dass ihr Vater so­gar in einer derart ungewöhnlichen Situation eine Er­klärung praktisch aus dem Ärmel schütteln konnte. Sie hör­te ihm konzentriert zu, als er zu erklären begann.

»Wir befinden uns in zwei unterschiedlichen Räumen, die nebeneinanderliegen. Die Grenze ist durchlässig für Licht, jedoch nicht für Materie. Ich kann dich also sehen, aber nicht berühren, weil meine Hand die Grenze zwischen den Räumen nicht durchdringen kann. Sie bleibt ge­wis­ser­maßen in einem Zwischenraum stecken. Das ist noch nie vorgekommen, oder zumindest noch nie dokumentiert wor­den, aber unmöglich ist es nicht. Fragt sich nur, wie du es geschafft hast, die Grenze zu überwinden und in einen an­deren Raum zu gelangen.«

Joanne wurde schwindelig. Ihr Vater hatte mit diesen we­nigen, schlichten Worten eine Ungeheuerlichkeit aus­gesprochen, so gelassen, als ob er ihr die Reiseroute des Nach­mittags geschildert hätte. Immerhin wusste sie nun, dass sie nicht wahnsinnig geworden war, sondern dass die Welt um sie herum begonnen hatte, verrückt zu spielen. Die­ser Gedanke beruhigte sie zuerst ein wenig, doch als sie kurz darüber nachgedacht hatte, kam sie zu dem Schluss, dass dies doch die schlimmere der beiden Vari­anten war.

»Und der Sog hinter Prometheus, wie passt der ins Bild?«, wollte sie wissen. Joanne glaubte – sehr bald wür­de sie diesen Glauben ablegen –, mit jedem Mehr an Wis­sen die Situation ein klein bisschen besser in den Griff be­kommen zu können.

»Du kannst mir tausend Fragen stellen, meine Ant­worten wären meist nichts als reine Spekulationen.« Cutter leg­te eine kurze Pause ein, während der er die Fach­begriffe in eine allgemeinverständliche Sprache über­setzte. »Die Wissenschaftler haben früher vermutet, dass es zu Ris­sen in der Raumzeit kommen könnte. Diese Lehr­mei­nung ist jedoch schon längst revidiert worden. So etwas dürfte eigentlich nicht vorkommen. Aber wer weiß, wir ha­ben schon so oft unsere Meinung geändert, warum nicht einmal mehr?«

»Raumzeit?«, fragte Joanne. Natürlich hatte sie als Tochter eines Physikers schon von diesem Begriff gehört, den Einstein vor Jahrzehnten geprägt hatte, doch schien er ihr in diesem Zusammenhang keinen Sinn zu machen.

Cutter überlegte einen kurzen Moment, bevor er zu er­klären begann: »Jedes Objekt, also auch jeder Mensch, nimmt Raum und Zeit auf eine ganz eigene Art war. Früher haben wir geglaubt, Raum und Zeit seien so etwas wie Kon­stanten, die für jedes Objekt identisch sind. Mit der Re­lativitätstheorie ist das etwas schwieriger geworden. Wenn nun also jeder Mensch Raum und Zeit individuell wahr­nimmt, so stellt sich die Frage, wie denn Raum und Zeit wirklich gestaltet sind. Gibt es überhaupt den Raum und die Zeit, oder werden Raum und Zeit gewissermaßen erst durch den Beobachter geschaffen? Die Antwort ist klar: Es gibt Raum und Zeit, sie sind nicht relativ! Das ist übrigens auch der Grund, warum Einstein den Begriff ›Relativi­täts­theorie‹ eigentlich abgelehnt hat. Jedes Objekt – also auch jeder Mensch – nimmt die Zeit aus einem bestimmten Blick­winkel wahr, sieht also eine andere Perspektive der gleichen Realität. Um diese Realität, Raum und Zeit eben, beschreiben zu können, genügen die herkömmlichen Me­thoden nicht mehr. Die Physiker mussten einen neuen Be­griff einführen, jenen der Raumzeit eben, mit dem die reale Welt ein-eindeutig beschrieben werden kann, völlig unab­hän­gig von der Position, die ein Beobachter gerade ein­nimmt.«

Cutter blickte seine Tochter prüfend an, um sich zu ver­gewissern, dass sie verstanden hatte. Einige Falten auf ihrer Stirn zeigten ihm, dass sie noch dabei war, das Ge­hör­te zu verarbeiten.

Er machte deshalb eine kleine Pause, bevor er mit sei­nen Erläuterungen fortfuhr: »Wie gesagt ha­ben die Über­legungen der Physiker gezeigt, dass es im­mer wieder zu Rissen in der Raumzeit kommt, doch besagt die gleiche Theorie, dass solche Risse unmittelbar nach ihrem Entste­hen wieder repariert werden. Es würde zu weit führen, dir den Mechanismus zu erklären; glaub mir ein­fach, dass die Materie – genau gesagt die kleinsten Teile, aus denen sich die Materie zusammensetzt – derart be­schaf­fen ist, dass dieses Phänomen im gleichen Moment be­hoben wird, in dem es auftritt. Doch vielleicht«, fügte Cut­ter nachdenklich hinzu, »ist diese Theorie ja auch falsch und die Risse wer­den nicht in jedem Fall geflickt. Dann würde es an einer sol­chen Grenze möglicherweise auch Turbulenzen geben und Raum wie Zeit würden in­stabil werden.«

Cutter lächelte verlegen. »Soweit der et­was hilflose Ver­such deines Vaters, eine einfache Frage zu beant­wor­ten.«

Joanne schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie hatte nicht die geringste Lust, über einen solchen Wahnsinn auch nur eine Sekunde länger nachzudenken, zumal solange sie selbst in diesem Riss der Raumzeit gefangen war. Sie hatte die Worte ihres Vaters verstanden, doch überstieg die von ihm skizzierte Möglichkeit ihr Vor­stellungs­ver­mö­gen. Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, so musste sie zugeben, dass sie gar nicht verstehen wollte, dass sie sich schlichtweg weigerte, eine solche Ungeheuerlichkeit auch nur in Betracht zu ziehen.

Während Joannes Verwirrung weiter zunahm, hatte sich Cutters Panik etwas gelegt. Gewiss, das Phänomen, dem sie ausgesetzt waren, war im höchsten Maße un­ge­wöhnlich und beunruhigend, doch letztlich war es nur eine physikalische Aufgabenstellung, der er sich gegenübersah. Trotzdem war er tief im Innern beunruhigt und in höchstem Maße nervös. Ja, er spürte, wie erneut die kalte Angst in ihm aufstieg. Die aktuelle Situation erinnerte ihn zu stark an jene vor neun Jahren. Damals war sie außer Kontrolle geraten und er hatte das verloren, was ihm das Liebste ge­wesen war. Heute war Joanne in Gefahr. Die Geschichte durfte sich nicht wiederholen, er durfte Joanne nicht auch noch verlieren. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, und daran war nicht die Hitze schuld. Es war die reine, urtümliche Panik, die drohte, erneut von ihm Besitz zu ergreifen.

»Prometheus weiß das mit den Räumen, und es scheint ihn nicht überrascht zu haben.« Joannes Stimme riss Cutter aus seinen Gedanken und half ihm, den Anfall von Panik zu unterdrücken.

»Wie meinst du das?«, fragte er unsicher.

»Er hat mir in der Limousine zur Begrüßung die Hand gereicht. Ich sah ihm an, dass er wusste, ich würde ihn nicht fühlen können. Er hat mich mit einem Blick an­ge­schaut, den ich nicht beschreiben kann. Dieser Blick, glaub mir, der war nicht von dieser Welt. Er mag sympathisch auf uns wirken, aber bin ich mir nicht sicher, ob er so harmlos ist«, erklärte Joanne mit zitternder Stimme.

»Mist!« war das einzige Wort, das Cutter hervor­brach­te. Wenn Prometheus Bescheid wusste, konnte es gut sein, dass er diese Diskontinuität auch verursacht hatte. Doch wie und warum? Es gab allerdings noch eine andere Möglichkeit, die Cutter mehr Sorge bereitete als ein Blick, der nicht von dieser Welt war. Er konnte sich zwar weigern, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen, doch schien ihm das keine erfolgversprechende Strategie zu sein. Er musste sich mit einer äußerst unangenehmen Frage beschäftigen: Hatte ihn die Vergangenheit eingeholt? Trotz der hohen Temperaturen lief ein Frösteln durch seinen ganzen Kör­per. Er hatte lange gebraucht, um jene Ereignisse zu ver­arbeiten. Er hatte – zumindest oberflächlich betrachtet – schon vor Jahren seinen Frieden wieder gefunden, doch nun schien dies alles in Frage gestellt zu werden. »Lieber Prometheus, ich hoffe inbrünstig, dass du der Verursacher dieser seltsamen Situation bist«, stieß er zwischen zu­sam­mengepressten Lippen hervor, so dass nur er selbst es ver­stehen konnte.

Er blickte Joanne an, die ebenfalls tief in Gedanken versunken war. Er versuchte zu lächeln und so viel Op­timismus in seine Stimme zu legen, wie ihm möglich war. »Hab keine Angst, wir werden das Kind schon schaukeln. Wir finden eine Lösung, und bald schon wirst du mich wie­der fühlen können.«

Joanne blickte ihn ungläubig an. »Kannst du zwei Räu­me wieder zu einem machen?«

Cutter versuchte mit einem selbstsicheren Grinsen sei­ne Unsicherheit zu überdecken. »Theoretisch ja, praktisch hat das noch kein Mensch geschafft, aber einmal ist immer das erste Mal.«

»Ich fühle mich unwohl als Versuchskaninchen«, er­widerte Joanne. Sie hätte alles darum gegeben, wenn ihr Vater sie nun in die Arme genommen hätte. Sie empfand einen beinahe körperlichen Schmerz bei dem Gedanken dar­an, dass das nicht möglich sein sollte.

Ihr Vater schien ihre Gedanken zu lesen. Er stand auf, ging um den Tisch herum, trat hinter sie und legte seine Hän­de auf ihre Schul­tern. Joanne blickte hinunter; sie konn­te seine Hände zwar sehen, doch fühlte sie keine Be­rührung. Tränen traten ihr in die Augen.

Als Cutter ihre Hand ergriff und sie hochzog – natürlich konnte er ihre Hand nicht hochziehen, war er doch nicht in der Lage, eine Kraft auf sie auszuüben, doch versuchte sie mit ihrer Hand der seinen zu folgen –, spürte sie zum ers­ten Mal dieses Gefühl. Es war das Gefühl, das ein Mensch empfindet, wenn jemand neben ihm geht. Es ist physisch nur schwer fassbar, und doch existiert dieses Empfinden. Es war, als ob sie in einem dunklen Raum eingeschlossen wäre und, obwohl sie nichts sehen konnte, doch fühlte, dass sich noch eine weitere Person im Raum aufhalten muss­te. Es war also doch nicht nur das Licht, das die Gren­ze zwischen den Räumen überwinden konnte; auch Gefühle konnten sie passieren. Es war diese Tatsache, die sie neue Hoffnung schöpfen ließ. Wenn es für Gefühle kei­ne Grenzen gab, so war auch die Liebe grenzenlos. Solan­ge dies der Fall war, würde sie nie alleine sein, und sie und ihr Vater würden sich gegenseitig das geben können, was das Wichtigste für sie beide war: ihre Liebe.

Prometheus erwartete sie ungeduldig. Er schaute vor­wurfs­voll auf seine Uhr, ohne jedoch ein Wort zu sagen. Cutter wusste, dass sie eine gute Stunden später als abgemacht zum Wagen zurückkamen, doch er entschuldigte sich nicht für die Verspätung, sondern warf Prometheus nur einen nichts­sagenden Blick zu. Wortlos stieg er in die angenehm heruntergekühlte Limousine, als ob nichts geschehen wä­re. Kaum hatten sie die Türen hinter sich geschlossen, fuhr der Wagen los.

Joanne blickte Prometheus einen kurzen Moment lang aufmerksam an. Er erwiderte ihren Blick und lächelte ihr herzlich zu. Joanne fühlte erneut, wie dieser Mann etwas Tiefes, Geheimnisvolles ausstrahlte. Sie konnte das Ge­fühl, das sie empfand, nicht einordnen, doch war daran nichts Böses oder Hassenswertes. Trotzdem ließ sie sich zu einer kindischen Reaktion hinreißen. Sie rutschte etwas nach links, holte mit dem Fuß aus und versetzte Pro­me­theus einen kräftigen Tritt ans Schienbein. Ihr Fuß stieß bis zu seinem Bein vor, aber sie verspürte keinen Schlag, und auch Prometheus ließ – von einem kaum sichtbaren He­ben der Augenbrauen abgesehen – keine Reaktion er­ken­nen.

Die Dämmerung war bereits angebrochen, als die Limou­sine die Autobahn verließ, die Geschwindigkeit markant dros­selte und kurz danach von einer schmalen, kurven­rei­chen Straße in ein Waldstück abbog. Der dichte Wald, den sie durchquerten, wurde mit jedem Kilometer ur­tüm­licher. Anfänglich standen die Nadelbäume in Reih und Glied, dann wucherte immer mehr Unterholz zwischen den Bäu­men und schließlich ging der Wald in einen richtigen Ur­wald mit umgestürzten Bäumen, Baumstrünken und Baum­leichen über, die noch in die Luft ragten und von un­durch­dringlichem Dickicht überwuchert waren.

Joanne blickte ihren Vater unsicher an. Der dichte Wald machte ihr Angst. Doch Cutter schüttelte beruhigend den Kopf. Ihm machte nicht der Wald Angst; es waren an­dere Kräfte am Werk, die weitaus bedrohlicher waren als dieser dunkle, drohende Wald. Und wenn diese Kräfte freigesetzt wurden, war es zweifellos besser, wenn dies weitab von der nächsten menschlichen Siedlung geschah, auch wenn Cutter besser als jeder andere Mensch wusste, dass im schlimmsten aller Fälle weder eine räumliche noch eine zeitliche Distanz den Menschen auf diesem Planeten Sicherheit bringen konnte.

Kurze Zeit darauf machte der Urwald beinahe über­gangslos einer parkähnlichen Landschaft Platz, die von Laub­bäumen geprägt war. Nur wenige Meter später gaben die Bäume den Blick auf ein weitläufiges Gebäude frei, das Joanne unter anderen Umständen romantisch erschienen wäre. Das aus längst schon dunkel verwittertem Holz ge­baute dreistöckige Gebäude besaß Dutzende von kleinen Türmchen, um die sich Efeu rankte. Ebenso viele Erker ver­liehen der Fassade ein Aussehen, das an ein roman­tisches Märchenschloss erinnerte. Vor den meist kleinen Fensterchen waren Kästen mit wild wuchernden hellroten Blumen befestigt. Das Dach war mit dunkelroten Ziegeln belegt, die Dachzinnen bestanden aus grün oxidiertem Kup­fer.

Vor dem überdachten Eingang, der an eine Laube in einer mittelalterlichen Stadt erinnerte, lag ein großer, leerer Platz, in dessen Kies die Limousine eine deutlich sichtbare Spur hinterließ, als sie in einer weiten Kurve auf den Ein­gang zusteuerte. Mit einem kurzen Blick stellte Cutter fest, dass es die einzige Spur auf dem ganzen Platz war.

»Wir sind hier«, stellte Prometheus trocken fest und öff­nete die Türe.

Cutter stieg aus, ging um die Limousine herum und öff­nete seiner Tochter die Türe. Sie schauten sich um.

»Wunderschön«, sagte Cutter.

»Unheimlich«, antwortete Joanne leise, so dass Pro­me­theus ihre Worte nicht verstehen konnte.

Cutter legte die Hand auf Joannes Schulter, zog sie je­doch rasch wieder zurück, als er keine Berührung fühlen konnte. »Wie oft haben wir schon in diesen Einheitshotels ge­wohnt, die es in allen Städten dieser Welt gibt. Wenn wir morgens auf dem Weg zum Frühstück in die Lobby kamen, mussten wir zuerst überlegen, in welcher Stadt wir ei­gent­lich waren. Am Hotel selbst hätten wir es nicht erkennen können. Das hier ist dagegen einmalig. Ich glaube nicht, dass wir diesen Aufenthalt je wieder vergessen werden.« Er blinzelte seiner Tochter verschwörerisch zu.

Mit seinem letzten Satz war Joanne einverstanden. Sie glaubte auch nicht, dass sie diesen Aufenthalt je ver­ges­sen würde, auch wenn sie sich in ihren schlimmsten Alp­träumen nicht hätte ausmalen können, wie schrecklich ihr Aufenthalt wirklich werden würde. Doch bei den übrigen Sät­zen ihres Vaters war sich Joanne nicht sicher, ob sie für sie oder nur für Prometheus’ Ohren bestimmt gewesen waren.

Fritz ging mit den Koffern voraus, dicht gefolgt von Pro­me­theus; Cutter und seine Tochter kamen mit einigem Ab­stand nach. Prometheus drückte sich an Fritz vorbei, hielt die schwere, hölzerne Eingangstüre auf, winkte zuerst den Zwerg durch und ließ dann seinen beiden Gästen den Vor­tritt. Sie betraten einen riesigen, von diffusem Licht durch­fluteten Raum, der bis unter das Dach reichte und Cutter im ersten Moment an das Innere einer Kirche erinnerte. Unwillkürlich blickte er nach oben zum Dachstock, auf dem undeutlich Malereien zu erkennen waren, die das einfache Volk bei seinen täglichen Arbeiten zeigten. Ein Bauer mäh­te Gras, ein anderer drosch Stroh, eine Bäuerin rupfte ein Huhn. Diese und viele andere Szenen des bäuerlichen Lebens waren mit einfachen Strichen in bunten, wenn auch bereits leicht verblassten Farben auf quadratische Platten gemalt, die in Vierergruppen so angebracht waren, dass der Betrachter von jeder Stelle in der Empfangshalle einige der Bilder in seinem Blickfeld hatte.

Cutters Blick wanderte nach unten, vorbei an drei Galerien mit zahlreichen Türen, hinter denen sich wohl Gäste­zim­mer befanden. Im Erdgeschoss führten zu seiner Linken jeweils fünf Stufen zu einer Holztüre hinauf. Die Nummern an den Türen ließen darauf schließen, dass es sich auch hier um Gästezimmer handelte. Rechts von ihm schien der Speisesaal zu liegen, dessen Türe jedoch geschlossen war. Dazwischen befand sich eine riesige Bar, auch sie ganz aus Holz, mit einem mächtigen Spiegel dahinter, der die gesamte obere Hälfte der Wand bedeckte. Darunter wa­ren Dutzende von Flaschen mit zumeist hoch­pro­zen­tigem Inhalt in einer langen Doppelreihe angeordnet.

Der Zwerg blieb vor der Bar stehen und stellte die Koffer ab. Cutter warf einen Blick in den Spiegel. Deutlich spie­gelten sich seine Koffer darin. Auch Joanne konnte er sehen, die neben dem Zwerg stand, ihm freundlich zu­lächelte und sich mit ihm unterhielt – nur das Spiegelbild des Zwerges, der unschlüssig und sichtlich von Joanne an­getan neben den Koffern wartete, konnte er nicht er­ken­nen. Cutter blickte genauer hin, doch das Spiegelbild blieb gleich. Auch als sich der Zwerg nun höflich von Joanne ver­abschiedete und an ihr vorbei zum Ausgang ging, um den Wagen wegzufahren, veränderte sich das Spiegelbild nicht. Cutter warf Joanne einen fragenden Blick zu.

Sie schien nichts bemerkt zu haben, sondern blickte nur fas­ziniert und mit einem milden, freundlichen Lächeln um ihre Mundwinkel dem Zwerg nach.

Prometheus zog Cutters Aufmerksamkeit auf sich. Er war unmittelbar nach ihrer Ankunft in einem Zimmer ver­schwunden, aus dem er nun, gefolgt von einer Frau, wie­der heraustrat. Er ging auf Cutter und Joanne zu. »Darf ich Ihnen Margot Dreher vorstellen? Besitzerin und gute Seele dieses Gasthauses«, sagte er.

Die Frau näherte sich ihren Gästen mit einem offenen, herzlichen Lächeln. »Willkommen im Gasthaus zum Gol­de­nen Adler! Sie können mich einfach Margot nennen«, be­grüß­te sie Cutter mit einem kräftigen Händedruck, wandte sich dann an Joanne und begrüßte auch sie herzlich.

Margot Dreher war eine große, feste Frau. Die zeitlose Tracht, die sie trug, betonte ihre dralle Figur, ihre aus­la­den­den Brüste und das breite Becken. Schwarzes, halb­lang geschnittenes Haar umrahmte ihren Kopf wie der Helm eines Hunnenkriegers. Je nachdem, wie das Licht, das von den auf verschiedenen Ebenen angeordneten Lam­pen in die Empfangshalle fiel, ihr Gesicht beleuchtete, bekam es einen härteren, beinahe abweisenden Ausdruck oder es erhielt weiche, mütterliche Züge. Ihre dunklen Au­gen hatten etwas Geheimnisvolles an sich. Das rundliche Gesicht mit seinem hellen, reinen Teint war makellos schön. Augen, Nase, Mund und Wangen bildeten zu­sam­men eine perfekte Einheit. Die Frau trug keine Spur von Make-up. Cutter verstand warum. Jeder Tupfer hätte die Wirkung dieses perfekten Gesichts nur beeinträchtigt.

Die Frau hatte Cutter in ihren Bann gezogen, lange be­vor er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte. Doch war es nicht nur ihr Gesicht, das Cutter vom ersten Moment an faszinierte. Eine Aura umgab sie, die Cutter magisch an­zog. Es war ihm nicht mehr möglich, den Blick von ihr zu wenden. Er musste all seine Konzentration darauf ver­wenden, die Frau nicht anzustarren.

»Seltsam«, dachte Cutter und fühlte, wie eine leichte Röte in sein Gesicht stieg, »sie ist so gar nicht mein Typ.« Trotzdem hatte ihn ihre Anziehungskraft längst umgarnt. Nicht zuletzt verspürte er auch ein körperliches Verlangen, wie er es schon lange nicht mehr gekannt hatte.

Sie schien nichts von seiner Reaktion bemerkt zu ha­ben, streckte ihm nur immer noch freundlich lächelnd einen Schlüssel entgegen und sagte dazu: »Zimmer 1, gleich hin­ter Ihnen.« Dann entschuldigte sie sich dafür, dass es heute nicht möglich sein würde, im Speisesaal zu essen, da er von einer großen Gesellschaft belegt war. Sie bot ih­nen an, einen kleinen Snack aufs Zimmer zu bringen.

Joanne und Cutter nahmen dankend an. Keiner von bei­den war unglücklich darüber, den Abend nicht in einem lauten Speisesaal in Gesellschaft anderer Menschen ver­bringen zu müssen.

Cutter wollte eben in ihr Zimmer gehen, als er be­merk­te, wie Prometheus eine Türe öffnete, die den Blick in ei­nen Raum freigab, in dem rund dreißig Menschen an Vie­rertischen saßen. Einige von ihnen trugen Ver­bände um den Kopf, andere hatten den Arm oder ein Bein ein­gegipst. Zwischen den Tischen waren einige alter­tüm­liche Krücken an die Wand gelehnt. Es schien sich um lau­ter Männer zu handeln, zumindest konnte Cutter auf den ers­ten Blick keine Frau ausmachen. Der Raum wirkte auf ihn wie ein Aufenthaltsraum in einem Militärlazarett des Zwei­ten Welt­kriegs, wie er sie in Kriegsfilmen gesehen hat­te. Aus eige­ner Erfahrung konnte er es nicht beurteilen, da er erst viele Jahre nach dem Krieg auf die Welt gekommen war.

Die Männer spielten in Vierergruppen Karten. Trotzdem war es im Raum absolut still. Weder waren Laute der Freu­de oder des Ärgers zu vernehmen, noch wurde über das abgeschlossene Spiel diskutiert oder über den Fehler ei­nes Mitspielers geschimpft. Cutter wollte eben näher­treten, um die seltsame Gesellschaft genauer zu betrachten, als Pro­metheus die Türe von innen mit einem lauten Knall schloss.

»Es muss sich um Kurgäste handeln, die aus irgend­einer Klinik hierhergeschickt worden sind, um sich von ih­ren Verletzungen zu erholen«, dachte Cutter und hatte die Männer schon wieder vergessen, als er der geschlossenen Türe den Rücken zukehrte.

Cutter und seine Tochter folgten einem Angestellten, der zwei ihrer Koffer ergriffen hatte und sie zu ihrem Zim­mer führte, das gleich zu ihrer Linken lag.

Die Suite be­stand aus zwei Räumen und einem Bad. Sie war einfach, aber gemütlich eingerichtet, wenn sie auch etwas dunkel wirkte. Das Mobiliar schien aus der zwei­ten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu stammen, befand sich jedoch in einem für ein ländliches Hotel eher unüb­lichen, hervorragenden Zu­stand. Über dem Bett hing ein riesiges Bild, das eine Land­schaft unter einem dunkel dro­hen­den Himmel zeigte. Die Bauersleute mit Kind und Ke­gel waren daran, das Heu vor dem nahenden Gewit­ter­regen in Sicherheit zu bringen. Hel­le Vorhänge kompen­sier­ten einen Teil der düsteren Stim­mung, die das Bild im Raum verbreitete. Im Gegensatz zu den beiden Zimmern war das Badezimmer freundlich, modern und mit allem Kom­fort ausgestattet.

Joanne warf einen Blick hinein, und ihre Augen be­gan­nen zu strahlen. »Ich bin zuerst dran«, sagte sie, nahm ei­nige Sachen aus ihrem Koffer und schloss sich im Bade­zimmer ein.

»Ich geb dir eine halbe Stunde, nicht mehr!«, rief Cut­ter, der sich auch gerne den Schweiß vom Körper gespült hätte, noch hinter ihr her.

Ein lautes Lachen zeigte ihm, dass es noch einige Zeit dauern würde, bis er sein Bedürfnis stillen konnte.

Auf ein Klopfen hin öffnete er die Türe.

Die Wirtin stand mit einem Tablett vor ihm. »Darf ich?«, fragte sie, und als Cutter einen Schritt zur Seite trat und ei­ne einladende Handbewegung machte, kam sie herein und stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch, der unmittelbar neben dem Fenster stand.

Cutter schloss unwillkürlich die Türe hinter der Wirtin und folgte ihr unsicher durch den Raum. Er spürte, dass mit der Frau ein bestimmtes Etwas eingetreten war, eine Au­ra, eine neue, unbekannte Atmosphäre, die den Raum erfüllte, Cutter faszinierte und ihn auf eine mystische Weise anzog.

»Ich habe einen hervorragenden Weißwein aus der Ge­gend mitgebracht«, sagte Margot. »Darf ich Ihnen ein Glas einschenken?«

»Gerne«, antwortete Cutter, »wenn Sie ein Glas mit mir trinken«. Er war von seiner Antwort selbst überrascht. Ers­tens trank er sehr selten Alkohol, höchstens ein Bier oder ein Glas Rotwein zum Essen, doch nie einen Aperitif, schon gar nicht am Ende eines heißen Tages. Und zwei­tens hatte er die Frau eigentlich nicht zum Bleiben auf­for­dern wollen.

Margot schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, ent­kork­te routiniert die Flasche, goss zwei Gläser ein und reichte ihm eines. Sie prostete ihm zu. »Auf einen schönen Auf­ent­halt in Österreich!«, sagte sie.

Cutter bedankte sich und nahm einen kleinen Schluck. Der Wein war ausgezeichnet. Zwei Minuten später hatte er sein Glas geleert und Margot schenkte nach. Sie hatten sich an den kleinen, runden Tisch gesetzt und unterhielten sich ungezwungen, während Cutter den belegten Broten zu­sprach.

Margot erzählte von ihrem Hotel, von dem schweren Stand, den ein kleines Gasthaus gegen die multinationalen Hotelketten hatte, und den Problemen mit dem Personal. Sie jammerte und beschwerte sich jedoch nicht, was sie Cut­ter noch sympathischer machte. Sie stellte lediglich eine Realität dar, mit der sie konfrontiert war, und brachte ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, die Schwierigkeiten zu überwinden. Dann nahm das Gespräch eine von Cutter kaum bewusst wahrgenommene Wendung. Er begann von sich selbst zu erzählen, von seinem Leben, seinem Beruf, und er wunderte sich selbst, wie offen er zu der ihm frem­den Frau sprach. Er sprach sogar von Jennifer. Cutter konn­te sich nicht erinnern, dass er je mit einem fremden Menschen über seine tote Frau gesprochen hatte.

Die Badezimmertüre öffnete sich und Joanne trat ins Zim­mer. Sie schien sich nicht über Margots Anwesenheit zu wundern; vermutlich hatte sie die Stimmen durch die Türe gehört. Sie trug nichts als ein überlanges T-Shirt, das ihr bis über die Knie reichte.

»Eine hübsche Tochter haben Sie«, sagte Margot und zauberte mit ihren Worten ein Strahlen auf Joannes Ge­sicht.

»Danke«, sagte Joanne und huschte an ihnen vorbei in ihr Zimmer.

»Zeit zu gehen«, sagte Margot, erhob sich, schüttelte Cutter die Hand und verließ das Zimmer.

Mit einem Blick auf die Uhr stellte Cutter fest, dass er weit über eine Stun­de mit Margot gesprochen hatte. Die Zeit war ihm wie im Fluge vergangen.

Nachdem Cutter geduscht hatte, legte er sich auf das Dop­pelbett und streckte seine müden Glieder aus.

Joanne be­trat das Zimmer. »Darf ich die Nacht bei dir schlafen?«, fragte sie mit flehendem Blick.

Cutter hatte während des Gesprächs mit Margot Jo­annes miss­liche Situation fast vergessen. Ein Blick auf sei­ne völlig verunsicherte Tochter genügte, um sie sich wie­der ins Bewusstsein zu rufen. »Komm«, forderte er sie auf.

Joanne ließ sich neben ihm auf das Bett sinken und legte ihren Kopf dorthin, wo die Schulter ihres Vaters war. Es war ein seltsames Gefühl, das sie empfand. Es war, als ob ihr Kopf in der Luft schweben würde, und doch wurde er von einer unsichtbaren, nicht fühlbaren Kraft abgestützt. Sie war hellwach. Auch wenn es draußen längst dunkel war, sagte ihre innere Uhr, dass es Nachmittag war. Und ein dumpfes Gefühl, das ihr wie eine schwere Mahlzeit im Magen lag, beunruhigte sie.

»Bist du müde oder möchtest du reden?«, fragte Cut­ter.

»Reden!«

Cutter seufzte. »Die Dinge fangen an kompliziert zu wer­den.«

Joanne fuhr hoch. »Warum, was ist passiert?«

Cutter wollte Joannes Kopf nehmen und ihn sanft und beruhigend auf seine Schulter hinunterdrücken, aber na­tür­lich erreichte er mit seiner Bewegung nichts.

Joanne deu­tete den Versuch jedoch richtig und legte sich wieder hin. »Was ist denn passiert?«, fragte sie er­neut.

Er erzählte ihr von dem Zwerg und seinem fehlenden Spiegelbild und fragte dann: »Du hast der Wirtin doch die Hand gereicht. Was hast du gespürt?«

»Es war ein normaler Händedruck. Warum fragst du?«

»Das habe ich befürchtet«, erwiderte Cutter, ohne Jo­annes Frage zu beantworten. »Genau wie bei mir.«

»Und?« Joanne verstand nicht, worauf ihr Vater hin­aus­wollte.

Cutter holte tief Luft, bevor er zu sprechen begann.

Jo­anne brauchte einige Zeit, bis sie die Worte ihres Vaters richtig einordnen konnte. Als er eine Pause ein­leg­te, war sie verwirrt, vor allem aber zutiefst beunruhigt. Die Logik ihres Vaters war messerscharf, nur half ihnen seine Ana­lyse nicht weiter.

Der Zwerg war das erste Problem. Da er kein Spie­gel­bild warf, konnte er sich weder in Joannes Raum aufhalten noch in dem ihres Vaters. Ihr Vater vermutete, dass er sich in einem dritten Raum aufhielt, der überdies von einem der beiden anderen Räume überlagert wurde, so dass sein Spiegelbild einer optischen Interferenz zum Opfer fiel. Dies komplizierte in den Augen ihres Vaters ihre Lage be­trächt­lich.

»Jeder zusätzliche Raum erhöht die Komplexität um eine Potenz«, hatte er trocken erklärt.

Noch schlimmer war die Sache mit Margot. Sie hatte so­wohl ihrem Vater als auch ihr selbst die Hand geschüttelt und war beiden dabei real erschienen. Sie hielt sich also in beiden Räumen auf. Da sich ein Körper zu einem be­stimm­ten Zeitpunkt jedoch nur in einem Raum aufhalten konnte, blieben zwei Hypothesen: Entweder war Margot in der La­ge, von einem Raum in den anderen zu wechseln und das in­nerhalb von Sekunden zwischen zwei Handschlägen, oder sie befand sich in einem eigenen Raum, der sich mit Joannes Raum und dem ihres Vaters überschnitt.

»Beides ist eigentlich nicht möglich«, hatte ihr Vater sei­ne Ausführungen mit einem leisen Stöhnen beendet und sich dabei den Kopf gehalten.

Nach diesen Worten lagen sie schweigend neben­ein­ander. Noch immer lag Joannes Kopf auf der imaginären Schulter ihres Vaters, und wieder spürte sie dieses Gefühl der Nähe, das die Kluft zwischen ihnen zu überwinden schien.

»Und was heißt das alles nun?«, brach Joanne das Schweigen.

Cutter zuckte mit den Schultern.

Joanne sah seine Bewegung, konnte sie jedoch nicht fühlen.

»Es scheint, dass mehrere Räume ineinander verkeilt sind. Wir befinden uns mittendrin in dieser Grenzzone. Das allein ist schon schlimm genug, doch es kommt noch ein Aspekt hinzu, der mich echt beunruhigt.« Er wartete einige Sekunden. Erst als Joanne nicht reagierte, fuhr er fort: »Wenn die Räume sich überlagern, muss sich das gleiche Phänomen auch in der Zeit zeigen. Die Spur, die Pro­me­theus hinter sich hergezogen hat, ist unter diesen Um­ständen noch eine sehr harmlose Erscheinung. Es könnte sein, dass wir beide jeden Moment auch in zeitlicher Hin­sicht getrennt werden.«

»Wie muss ich mir das vorstellen?«, fragte Joanne mit belegter Stimme. Wieder sah sie das Zucken seiner Schul­tern.

»Vielleicht wachst du morgen früh auf und ich liege ne­ben dir. Allerdings hättest du möglicherweise Mühe, mich zu erkennen, weil ich sowohl ein Baby als auch ein Greis sein könnte.«

Trotz der Ernsthaftigkeit in der Stimme ihres Vaters muss­te Joanne lächeln. »Du als Baby, das könnte mir ge­fallen.«

»Ein altersschwacher Greis neben dir würde dir wohl we­niger Spaß machen«, nahm Cutter den Scherz auf.

Nach einer Weile fragte Joanne ihren Vater: »Warum weißt du das eigentlich alles? Ich habe das Gefühl, dass dich diese Situation nicht wirklich überrascht.«

Cutter bewegte sich unruhig. Er wich einer direkten Ant­wort aus. »Ich bin Physiker«, sagte er schließlich nur und wechselte dann rasch das Thema. Er sprach über Raum und Zeit, über die Relativitäts- und die Quan­ten­theo­rie, über die Unfähigkeit der Menschen, das Universum so zu erfassen, wie es wirklich war. Er versuchte ihr zu er­klären, warum es parallele Universen geben konnte und wa­rum die Zeit ebenso variabel war wie der Ort. Er zeigte ihr auf, dass der Mensch mit seinem eingeschränkten Ver­stand die Welt immer nur in Form von unvollkommenen, stark vereinfachenden Modellen interpretieren konnte, dass also alles, was sie je in Chemie, Physik oder einer anderen Naturwissenschaft gelernt hatte, nicht der Reali­tät, sondern nur dem Bild entsprach, das sich die Men­schen von der Realität machten. Um ihre Verwirrung noch zu vergrößern, schloss er mit den Worten: »Wir sind be­ses­sen davon, alles erklären, alles messen zu können, und haben doch bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts fest­stellen müssen, dass die Welt weder im Kleinen noch im Großen so funktioniert, wie wir uns das eigentlich vor­gestellt haben, und dass wir diese Zustände unmöglich mes­sen können, weil wir sie mit jeder Messung gleichzeitig auch verändern. Wir haben uns damit getröstet, dass diese verrückten Regeln eben nur im ganz Kleinen oder im ganz Großen Gültigkeit haben würden, und dass unsere reale Welt noch immer nach den alten Gesetzen der klassischen Physik funktioniert. Doch im Laufe der Zeit wurden die Zwei­fel an diesen Gesetzen im gleichen Maße größer, wie der Abwehrreflex der Menschheit zunahm.«

Joanne sah ihren Vater fragend an. Sie versuchte die Worte, die er aussprach, zu ordnen und zu verstehen, aber es gelang ihr nur teilweise. Doch dann erinnerte sie sich an ein Gespräch, das sie vor etwa vier Jahren mit ihrem Vater geführt hatte. Sie hatte damals mehr über seine Arbeit er­fahren wollen, über die Relativitätstheorie und die Quan­ten­mechanik. Ihr Vater hatte ihr als Erklärung eine ein­fa­che Geschichte erzählt, um ihr klarzumachen, wie un­be­greiflich die Welt um sie herum eigentlich war.

Sie hörte seine Worte noch genau, als ob er sie gerade eben erst zu ihr gesprochen hätte.

*

Ihr Vater führte sie in sein Arbeitszimmer, bat sie, auf ei­nem der Stühle um den großen Tisch Platz zu nehmen, setz­te sich neben sie und begann zu erklären, wobei er sich alle Mühe gab, nicht belehrend zu wirken.

»Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel aus deinem täglichen Leben. Du hast an einem bestimmten Tag zu ei­ner bestimmten Zeit, sagen wir am 26. Juni 2010, eine Ver­abredung mit Tom, deinem Freund. Da Tom in einem an­deren Viertel wohnt, muss er sich, um zu dir zu kommen, ins Auto setzen und durch die Stadt fahren. Im Auto, un­mit­telbar bevor er losfährt, telefoniert er noch mit dir. Ihr stellt beide fest, dass eure Uhren 17 Uhr 12 anzeigen. Tom hat verschiedene Routen zur Auswahl. Welche von ihnen er wählt, hängt von der aktuellen Verkehrssituation ab. Na­türlich weißt du, dass Tom den schnellsten Weg nehmen wird; trotzdem bist du überrascht, dass er bereits fünf­undzwanzig Minuten später bei dir ankommt. Auf deine Frage erklärt er, dass er die Straße dem Fluss entlang genommen hat, wo um diese Zeit nur schwacher Verkehr herrscht. Ihr vergleicht eure Uhren miteinander. Du emp­findest es als völlig normal, dass eure Uhren das gleiche Datum und die gleiche Uhrzeit anzeigen. Beide Uhren zei­gen natürlich immer noch den 26. Juni 2010 und – da Tom fünfundzwanzig Minuten unterwegs gewesen ist – als Zeit 17 Uhr 37 an. Später geht ihr gemeinsam ins Kino und anschließend eine Pizza essen. Während des Essens klin­gelt plötzlich dein Handy. Es ist Toms Mutter, die sich er­kundigt, wo Tom sich im Moment gerade befindet, weil sie möchte, dass er sie etwas später in der Stadt abholt. Du erklärst seiner Mutter wahrheitsgemäß, dass ihr am Pizza­essen seid.«

»Soweit bin ich mitgekommen«, hatte damals Joanne mit einem unverkennbar spöttischen Unterton gesagt, auch wenn sie gespannt war, was ihr Vater mit dieser banalen Geschichte erklären wollte.

Ihr Vater lächelte augenzwinkernd und fuhr dann fort: »Nehmen wir nun mal an, Tom und du wärt keine Menschen, sondern die kleinsten Teilchen, die existieren, Elemen­tarteilchen eben. Tom fährt also los, um möglichst rasch zu dir zu gelangen. Nach seiner Ankunft fragst du ihn, welchen Weg er denn heute genommen hat. Tom, der dich nie anlügen würde, erklärt, dass er alle möglichen We­ge gleichzeitig genommen habt: die Straße am Fluss ent­lang und die Stadtautobahn und die Straße durch das Zen­trum und den Weg über San Francisco, Houston, Mia­mi, Washington und New York und ... Obwohl du ihm kaum glauben kannst, gehst du mit ihm ins Kino und danach in die Pizzeria. Wieder ruft Toms Mutter an, während ihr ge­rade am Pizzaessen seid. Auch du kannst nicht lügen und erklärst seiner Mutter daher wahrheitsgemäß, dass du nicht sagen kannst, wo sich Tom gerade aufhält. Die Mut­ter hat eigentlich nichts anderes erwartet und bittet dich, ihm doch etwas auszurichten, falls du ihm an diesem Abend zufällig noch begegnen solltest. Nachdem du ihr mitgeteilt hast, dass die Wahrscheinlichkeit dafür bei sechzig Prozent liegt, verabschiedet sie sich von dir.«

»Was willst du damit sagen?«, hatte Joanne gefragt, die nun etwas nachdenklich geworden war.

»Physikalisch gesehen habe ich damit zwei Be­haup­tun­gen der Quantenmechanik aufgestellt, von denen die meis­ten Physiker glauben, dass sie wahr sind«, hatte Cut­ter erklärt. »Erstens, wir können nicht sagen, wo sich ein Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade aufhält, wir können nur eine Aufenthaltswahrscheinlichkeit definie­ren. Zweitens, wenn ein Elementarteilchen von Punkt A zu Punkt B geht, so nimmt es nicht nur einen Weg, sondern es nimmt alle erdenklichen Wege gleichzeitig.«

Joanne richtete sich auf und blickte ihren Vater mit leicht besorgter Miene an. »Das meinst du nicht ernst, oder?«

»Ich hab dir doch gesagt, dass die Welt im Kleinen verrückt ist!« Jetzt war es an ihrem Vater, eine Prise Spott in seine Stimme zu legen. »Aber gehen wir weiter. Ihr seid nun wieder normale Menschen, keine Elementarteilchen mehr, doch lebt ihr in einer Welt, in der es Fahrzeuge gibt, die sich beinahe mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen kön­nen. Tom ruft dich wie gehabt von seinem Handy aus an, bevor er abfährt. Aber er kommt nicht bei dir an, und du hörst nichts mehr von ihm, bis es zehn Jahre später eines Abends an der Türe klingelt. Vor dir steht Tom, der sich seit seinem Verschwinden kaum verändert hat. Du schimpfst mit ihm, fragst, wo er die letzten zehn Jahre gewesen ist, aber Tom zuckt nur ratlos mit den Schultern; er ist so rasch wie möglich zu dir gekommen. Ein Uhren­vergleich zeigt euch, dass ihr beide Recht habt: Auf Toms Uhr lest ihr das Datum 26. Juni 2010 und die Uhrzeit 17 Uhr 37 ab. Deine Uhr zeigt jedoch ebenso unzweifelhaft das Datum 26. Juni 2020 und die Uhrzeit 20 Uhr 12 an. Und doch ist keine der beiden Uhren defekt. Da du nun siebenundzwanzig Jahre alt bist und Tom immer noch acht­zehn ist, verzichtest du darauf, den Abend mit ihm zu verbringen.«

»Du meinst, auch das ist möglich?«, fragte Joanne vor­sichtig.

»Ja«, bestätigte er, »die Spezielle Relativitätstheorie be­sagt, dass für einen Menschen, der sich mit sehr hoher Geschwindigkeit fortbewegt – hoch nicht in menschlichen Begriffen, sondern verglichen mit der Lichtgeschwindigkeit, die dreihunderttausend Kilometer pro Sekunde beträgt – die Zeit langsamer vergeht als für jemanden, der stillsteht. Damit du keine falsche Vorstellung bekommst, muss ich allerdings noch zwei Dinge ergänzen. Erstens: Für Tom, der sich sehr rasch fortbewegt, wie auch für dich, die du scheinbar still stehst, vergeht die Zeit subjektiv betrachtet gleich schnell. Tom hat tatsächlich das Gefühl, nur fünf­und­zwanzig Minuten unterwegs gewesen zu sein – und er hat dabei auch wirklich nur fünfundzwanzig Minuten seines Lebens ›verbraucht‹ – und du hast tatsächlich zehn Jahre deines Lebens gelebt. Erst wenn du dich selbst mit Tom vergleichst, stellst du fest, dass er scheinbar weniger stark gealtert ist als du. Und zweitens: Wenn ich gesagt habe, dass du stillstehst, so ist das natürlich nicht korrekt. Keiner von uns steht still, doch maßgebend ist eben nicht primär unsere eigene Geschwindigkeit, sondern nur jene, die wir relativ zueinander haben.«

Ihr Vater legte eine Pause ein. Joanne wusste nicht, dass er in diesem kurzen Moment überlegte, was er ihr noch sagen sollte und was er besser für sich behielt. Er entschied sich dafür, ihr eine letzte Nuss zum Knacken zu geben: »Noch etwas Seltsames existiert in diesem Mikro­kos­mos. Wir nehmen wie selbstverständlich hin, dass es vier Dimensionen gibt: die drei Dimensionen des Raumes (rechts – links, vorne – hinten und oben – unten) sowie die Dimension der Zeit. Im Mikrokosmos ist das nicht mehr so. Es gibt mindestens neun Dimensionen des Raumes und ei­ne der Zeit. Ich vermute, auch wenn ich damit ziemlich alleine stehe und es nicht abschließend beweisen kann, dass es sogar noch eine Dimension mehr gibt, mög­li­cher­weise sogar noch viele, und dass vielleicht eine dieser zusätzlichen Dimensionen nicht eine Dimension des Rau­mes, sondern eine der Zeit ist. Du fragst dich nun vielleicht, warum wir diese Dimensionen nicht wahrnehmen können. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie beunruhigend: Die zusätzlichen Dimensionen sind im submikroskopischen Be­reich aufgewickelt, während die vier uns bekannten Di­mensionen abgewickelt und folglich für uns begreifbar sind. Sich auf einer der zusätzlichen Dimension, auf einer sol­chen ›Schlaufe‹, zu bewegen, würde bedeuten, immer wie­der den gleichen Raum zu durchschreiten, es sei denn, es wäre dir möglich, auf die nächste Schlaufe zu springen, die auch Teil dieser gleichen, aufgewickelten Dimension ist.«

Joanne verstand die letzten Worte ihres Vater nicht wirk­lich. Es schien ihr kaum möglich, sich einen solchen Zu­stand vorzustellen; man hätte ihn zeichnen müssen, doch selbst dann stünde man vor unüberwindlichen Schwie­rigkeiten. Wie sollte man eine fünfte oder sechste oder gar eine noch höhere Dimension auf einem zwei­di­men­sionalen Blatt Papier darstellen?

*

Damals war das für Joanne nur eine hübsche Geschichte gewesen, die sie vordergründig verstand, an die sie aber nicht wirklich glaubte. An diesem Abend erhielten die Aus­sagen ihres Vaters jedoch eine neue Bedeutung. Erstaun­licherweise beruhigte Joanne diese streng wissen­schaft­liche Sichtweise ihres Vaters. Sie versuchte sich in seine physikalische Welt zu versetzen. Im Laufe dieses erfolg­lo­sen Versuchs fiel sie in einen tiefen, traumlosen, erschöp­fungsähnlichen Schlaf.

Während sie schlief, dachte Cutter genau über jenes Gespräch nach, das ihr eben selbst durch den Kopf ge­gangen war. Er hatte sich damals überlegt, ob er seiner Tochter auch etwas über Schrödingers Gedanken­experi­ment mit seiner Katze erzählen sollte, hatte dann jedoch darauf verzichtet, da Joanne ohnehin schon reichlich ver­wirrt gewesen war. Heute war er froh darüber. Es wäre für Joanne in der momentanen Situation sicher sehr be­un­ruhigend gewesen, von einer Katze zu wissen, die gleich­zeitig tot und doch lebendig ist. Zu diesem Zeitpunkt konn­te Cutter noch nicht ahnen, dass Joanne in den kom­menden Tagen viel schlimmeren Dingen als Schrödingers Katze begegnen würde, und es hätte ihn entsetzt, wenn er gewusst hätte, dass er in wenigen Tagen den Zustand eines ihm lieben Menschen mit jenem von Schrödingers Katze vergleichen würde.

Etwas anderes beunruhigte ihn zutiefst. Und das war nicht Schrödingers Katze. Dieses Paradoxon glaubte er – wie auch die anderen Vertreter der theoretischen Physik – längst überwunden zu haben, auch wenn, wie eigentlich ge­rade er selbst am besten wissen sollte, einige letzte Zwei­fel daran bestehen blieben, ob das Rätsel der Katze wirklich abschließend gelöst war. Nein, er machte sich Sor­gen über sein eigenes Alter. Nicht dass Cutter besonders eitel gewesen wäre. Noch nie hatte er versucht, den Al­terungsprozess mit irgendwelchen künstlichen Mitteln zu ver­langsamen oder auch nur seine Auswirkungen zu über­tünchen. Doch stand er vor einem Problem, das unge­wohn­te Dimensionen angenommen hatte. Er fürchtete, dass er sein ganzes Wissen über Bord werfen musste, weil es ihn bei der Lösung des anstehenden Problems nur be­hinderte, und dass er gerade dazu aufgrund seines Alters nicht mehr in der Lage sein würde, weil seine große Er­fahrung ihn daran hinderte, frei zu denken.

Die großen Leistungen der Physik – namentlich auf den Gebieten der Relativität, der Quanten und der Strings, aber auch der Kosmologie – waren von jungen Wissen­schaft­lern erbracht worden, die unbelastet von Dogmen die alten, bisher gültigen Regeln über Bord geworfen und nach neu­en, unkonventionellen Antworten gesucht hatten. Keiner von ihnen – der große Einstein nicht ausgenommen – war Jahrzehnte später in der Lage gewesen, einen weiteren ver­gleichbar mächtigen Gedankenschritt zu machen.

Cutter selbst war über fünfzig Jahre alt. Sein Hirn war voll­gestopft mit Wissen. Vollgestopft mit Theorien, die er für richtig und wahr hielt, mit verworfenen Hypothesen, mit allgemeingültigen Formeln. Da war wenig Platz für einen Neuanfang. Kein Platz, an dem ein völlig neuer Gedanke den lebensnotwendigen Nährboden finden konnte. Er war zu alt. Dieser Umstand sprach zugunsten von Männern wie Prometheus – Cutter wusste noch immer nicht, was er von diesem Mann halten sollte, maß ihm aber eine große Be­deutung bei den aktuellen Ereignissen zu – und könnte für ihn selbst zu einem unüberwindlichen Handicap werden.

Er hatte seinen großen Moment bereits gehabt, hatte dort zu forschen begonnen, wo sich die anderen nicht mehr hingewagt hatten. Er selbst hatte es überlebt, doch Jennifer war dabei umgekommen. Er hatte keine Angst da­vor, dass ein nächster genialer Gedanke sein eigenes Le­ben beenden könnte. Was er befürchtete, war, dass er nie wieder einen solchen Gedanken haben könnte. Von einer Sekunde zur nächsten realisierte Cutter, dass genau das in den letzten Jahren sein Problem gewesen war. Er hätte Groß­artiges vollbringen können, hatte diese Fähigkeit je­doch seiner Liebe zu Jennifer geopfert. »Ja«, dachte er re­signiert, »du bist wirklich zu alt.«

Er warf Joanne einen liebevollen Blick zu und sprach halblaut vor sich hin: »Und du bist noch viel zu jung.«

Zeitenwende

Подняться наверх