Читать книгу Der Alpenkönig - Andre Mairock - Страница 5
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ОглавлениеÜber das Gebirge zogen weiße Föhnwolken. Wochenlang hatte winterlicher Dunst den gewaltigen Alpengürtel eingehüllt und fast unsichtbar gemacht; nun traten plötzlich die Berge zum Greifen nahe heran.
Föhn! Die Menschen in der Gegend wussten, welche Gefahr das für Unerfahrene und Leichtsinnige bedeuten konnte. Der weiße Tod drohte durch Schneebretter, durch Grundlawinen und durch die entfesselten Fluten der Wildbäche.
Es war am Nachmittag eines Februartages. An der Kreuzalphütte, die hoch am Berg, von einzelnen Wettertannen gegen Wind und Schneegestöber geschützt, auf einer frei hängenden Kanzel lag, stand die Tür offen. Der Hüttenwirt, ein noch junger, stämmiger Bursche, der erst im vergangenen Sommer zusammen mit seiner Schwester aus dem Tannheimertal zugezogen war und die Hütte in Pacht genommen hatte, stand davor und schaute mit unruhiger Miene hinaus.
Am Mittag waren die Skifahrer, die einige Zeit bei ihm zu Gast gewesen waren, abgezogen, denn nach dem Wetterbericht, den sie im Radio gehört hatten, wollten sie lieber ins Tal entkommen, bevor die Pracht der Winterwelt sich unter dem Ansturm des Föhns auflöste.
Der Hüttenwirt war nicht deswegen bekümmert, weil er nun aller Voraussicht nach einige Zeit ohne Gäste sein würde; das hatte er zwischendurch einmal sehr gern, zumal er den ganzen Winter hindurch in dieser Hinsicht nichts zu klagen gehabt hatte.
Aber er ängstigte sich um seine Schwester, die vor einigen Stunden zur Schönbuch-Alm aufgebrochen war. Der Weg dorthin war im Sommer bequem und führte über die Berghöhe hin – mit einem herrlichen Ausblick auf die Lechtaler Felstürme – und dann über das Mädelejoch in ein wildromantisches Hochtal hinein. Aber im Winter, auch wenn man mit den Skiern umzugehen verstand, war der Weg nicht ganz ungefährlich. Er machte sich immer Sorgen, wenn Luzie so unbekümmert in die Winterlandschaft hinausfuhr.
Und heute lag Föhn über den Bergen! Hoffentlich kehrte sie heim, ehe es wirklich gefährlich da draußen wurde!
Er rechnete die Zeit nach und sagte sich, dass sie eigentlich schon zurück sein könnte. Aber sie hatte wohl noch einen Abstecher gemacht und eine zügige Abfahrt gesucht, denn Skifahren war ihre Leidenschaft.
Lange stand Richard Böhmer, der Hüttenwirt von der Kreuzalpspitze, vor der Tür und schaute hinauf zu dem weißen Berg – in Erwartung des jungen Mädchens. Er hörte bereits das Grollen und Glucksen erwachender Wildbäche und vernahm das Rauschen des Windes in den Wettertannen.
Wenn sie doch endlich heimkommen würde! Wie lange mochte es noch dauern, dann würden die ersten Grundlawinen niedergehen?
Da hörte er plötzlich einen Ruf.
Am Steilhang, auf dem Weg, der ins Tal führte, klomm die hünenhafte Gestalt eines jungen Mannes empor. Er schlug mit den Skiern eine Stiege in den Schnee und kletterte behände den Berg herauf.
Ein markantes, frisches Gesicht mit ein paar dicken Schweißperlen auf der Stirn wurde unter der Mütze sichtbar.
»Auf wen wartest du, Richard? Auf mich?«, lachte der junge Mann dem Wirt entgegen.
»Bruno! Dich habe ich heute nicht erwartet bei dem Föhn!«
»Warum nicht? Ich bin doch gleich wieder drunten, wenn es ernst wird!«
»Die Luzie ist zur Schönbuch-Alm gefahren, und sie kommt und kommt einfach nicht heim! Ich fange an, mir Sorgen zu machen, und habe mir gerade überlegt, ob ich nicht nach ihr suchen soll …«
Richards besorgter Miene war anzumerken, wie bitter ernst es ihm dabei war. Bruno konnte nicht umhin, Richards Besorgnis zu teilen. Mit dem Föhnwetter war nicht zu spaßen.
»Soll ich sie suchen gehen?«, schlug er vor.
Richard schien ein Stein vom Herzen zu fallen vor Erleichterung.
»Wenn du das tun könntest, Bruno! Ich wäre dir aufrichtig dankbar! Du bist viel sicherer auf den Brettern als ich selbst und kennst die Gegend viel besser. Gut, dass du gekommen bist! Diese Luzie, das leichtsinnige Mädel! Ich habe ihr noch gesagt, sie soll hierbleiben, aber auf mich hört sie ja nicht.«
Bruno nickte, wandte sich der Berghöhe zu und machte sich umgehend auf den Weg.
Der Falken-Bruno, wie der Bursche allgemein genannt wurde, war der zweite Sohn des Falkenhofers vom Taldorf. Eigentlich hieß er Bruno Schwaiger. Er war ein häufiger Gast in der Kreuzalphütte. Seit die beiden Geschwister aus dem Tannheimertal zugezogen waren und Luzie sich rasch als ebenso begeisterte Freundin von ausgedehnten Bergtouren herausgestellt hatte, waren die beiden schon mehrmals zusammen auf Kletterpartien gewesen. Im Winter dann hatte sich rasch herausgestellt, dass das Mädchen auch auf Skiern eine gute Figur machte und Rücksichtnahme weder erwartete noch nötig hatte, wenn man mit ihr unterwegs war.
Zur Hochachtung und Anerkennung vor ihren sportlichen Fähigkeiten, die sie zu einem Bergkameraden machten, auf den man sich mehr verlassen konnte als auf die meisten Männer, waren inzwischen längst auch andere, unausgesprochene Bande des Gefühls hinzugekommen.
Das wusste Richard, und das wussten auch die Leute vom Dorf. Es war ein offenes Geheimnis, und niemand wunderte sich darüber. Die beiden schienen wie für einander gemacht.
Der Bruno war schon ein Bursche, den es sich zweimal anzusehen lohnte. Seine Geschicklichkeit beim Skifahren war bemerkenswert, ebenso wie beim Bergsteigen. Sein Mut war so groß wie seine Kraft. Dabei war er zwar keineswegs leichtsinnig oder gar tollkühn, doch wo es nötig war, ging er durchaus auch ein Risiko ein.
So ging er auch jetzt ohne zu zögern dem Föhnsturm entgegen, obwohl ihm die Gefahren, die dort drohen konnten, durchaus klar waren. Er kannte sie und hatte sie alle schon einmal bei früheren Gelegenheiten überwunden.
Niemand war weit und breit zu sehen. Kein Einheimischer wäre so verrückt gewesen, sich bei diesen Witterungsverhältnissen ohne Not in den Bergen aufzuhalten, und auch die Urlauber waren alle schon in die Täler geflohen. Selbst das Wild hatte sich verkrochen und in den Bannwäldern Schutz gesucht.
An den Steilhängen klafften schon tiefe Sprünge in der Schneedecke. Die Wälder, die bislang weiß verschneit gewesen waren, wurden wieder tiefschwarz, und die Berge schienen näher zu rücken. Der Wind blies heftig über die Höhe.
Bruno stieg unentwegt weiter und schaute immerzu nach Luzie aus – und er fand schließlich die Spur eines Skifahrers. Dieser Skifahrer war offensichtlich zunächst dorthin unterwegs gewesen, wo er selbst herkam, nämlich zur Kreuzalphütte. Doch dann hatte dieser sich entschieden, statt dessen noch eine weitere steile Anhöhe zu erklimmen, wohl um eine interessantere und längere Abfahrt genießen zu können.
Das war typisch für Luzie! Bruno war sich sicher, dass er nun auf der richtigen Fährte war. Doch was für ein Leichtsinn von dem Mädchen bei diesem Wetter! Er beeilte sich, der Spur so rasch wie möglich zu folgen, und vor Anstrengung brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Er musste sich beeilen; das Tageslicht würde bald anfangen zu schwinden. Dann schließlich hatte er die steile Höhe fast ganz erklommen – und jetzt sah er das Mädchen. Luzie stand droben am Kamm und schwang die Stöcke zum Zeichen, dass sie aus irgendeinem Grund nicht weiterkonnte und Hilfe brauchte.
Er hielt die Hände trichterförmig an den Mund. »Ich komme!«, schrie er laut in den Wind. Ein paar Regentropfen schlugen ihm in das erhitzte Gesicht. Der Schnee war nun schwer und klebrig, und nur mühsam kämpfte er sich voran.
Als er näher kam, sah er, was geschehen war. Über den ganzen Hang zog sich ein tiefer Riss. Die Schneemassen waren in Bewegung geraten und drohten abzustürzen; und wenn das geschah, würde die Lawine ihren Weg hinab zum Wald nehmen. Das konnte nun jeden Augenblick geschehen.
Durch die Erde ging ein Beben, und durch die Luft grollte ein Donner. Irgendwo war gerade eine schwere Lawine niedergegangen.
Der Regen wurde stärker.
»Bruno!«, rief das Mädchen.
»Bleib, wo du bist, Luzie!«, schrie er.
Immer näher schob er sich auf der Schneedecke hinauf, die ihm nun immer unsicherer vorkam und zu schwanken schien.
Abermals lief ein Beben durch die Erde, und
Bruno überlief es eiskalt.
Luzie bemerkte es ebenfalls und schloss die Augen. Denn sie glaubte, sie müsste jeden Augenblick sehen, wie der Bursche von den stürzenden Schneemassen verschlungen würde.
Aber es geschah nichts.
»Aufpassen!«, rief er. »Wirf die Skistöcke weg!«
Sie folgte seinem Befehl.
»Fahr direkt auf mich zu! Anders kommst du hier nicht raus! Keine Angst – es wird gutgehen, das verspreche ich dir! Also – abspringen! Los!«
Einen Augenblick zögerte sie noch.
»Los!«, schrie er noch einmal, aber diesmal klang es schroff und ungeduldig.
Da sprang sie ab. Ihr Sprung war keineswegs ungeschickt – aber es geschah, was sie befürchtet hatte und der Grund dafür gewesen war, dass sie so lange hier oben verharrt hatte: die Schneedecke geriet in Bewegung, und hinter ihr erklang ein donnerndes Getöse, als stürze der Berg ein. Die Lawine hatte sich gelöst.
Damit hatte Bruno gerechnet. Mit seinen starken Armen fing er Luzie geschickt auf, schwang sie auf seine Schulter und sauste wie der Wind den steilen Hang hinab.
Sie wussten in diesem Augenblick beide, worum es ging – wenn Bruno jetzt versagte oder gar stürzte, dann waren sie beide verloren. Er musste jetzt schneller sein als die Lawine. Und er musste so rasch wie möglich aus der Bahn herauskommen, die die herabstürzenden Schneemassen nehmen würden.
Nur wenige Minuten dauerte das Spiel mit dem Tod. Den beiden aber schien die Zeit sich während dieser wilden Fahrt ins Endlose auszudehnen, bis Bruno schließlich langsamer wurde und dann anhielt und Luzie auf die Füße stellte.
»Das war knapp!«, sagte er keuchend.
Nicht weit entfernt verhallte schon der Donner der niedersausenden Lawine. Sie hatte ihren Weg genommen und musste nun gerade in ein Kar gestürzt sein. Aber die beiden Menschen waren kurze Zeit im Bereich ihrer Bahn gewesen und ihr nur knapp entronnen.
»Gewonnen, Luzie!«, rief er lachend und zeigte eine Reihe blendend weißer Zähne.
Luzie schwieg; sie vermochte sich noch nicht zu fassen. Da ergriff er ihre Hände. »Luzie, Mädel, was ist denn mit dir? Was schaust du mich so an?«
Jetzt regte es sich in ihrem Gesicht. Ein Lächeln zuckte um ihren Mund. »Bruno, das hätte dir kein Mensch nachmachen können. Ich hatte schon fast mit meinem Leben abgeschlossen, als du gekommen bist. Einen zweiten Skifahrer wie dich gibt es auf der ganzen Welt nicht, einen der so viel Mut und so viel Kraft hat wie du. Du bist … der Alpenkönig!«
»Meinst du?«, fragte Bruno zurück, halb stolz und halb verlegen über ihr überschwängliches Lob. »Das war doch halb so wild, so ein zierliches Ding wie dich auf die Schulter zu nehmen …«
»Und ich sage, diese Lawine hätte jeden anderen als dich unter sich begraben. Dir aber konnte sie nichts anhaben, Alpenkönig!«
Sein Lachen erlosch. Er schaute sie plötzlich ganz ernst an.
»Vielleicht hast du ja Recht, Luzie: Mit dir und für dich bringe ich Dinge zustande, die ich sonst vielleicht auch nicht könnte.«
Sie wurde etwas verlegen und wusste nicht, was sie darauf sagen sollte.
Doch im selben Moment ließ ein donnerndes Rumpeln ganz in der Nähe die beiden erschrocken zusammenfahren. Der Moment der Verzauberung war vorbei, in dem die beiden Sportskameraden vielleicht schon jetzt zu einem Liebespaar hätten werden können.
»Machen wir, dass wir hier fortkommen, Bruno«, sagte Luzie. »Nicht dass die nächste Lawine uns doch noch erwischt!«
Schweigend fuhren sie nun hintereinander talwärts.
Die Kreuzalphütte lag im tiefen Dunkel. Erst als sie schon ganz nahe gekommen waren, erkannten sie, dass die Fensterläden geschlossen waren; durch die Ritzen drang das Lampenlicht.
Die Tür stand jedoch offen. Richard war immer wieder dort aufgetaucht, um nach den beiden Ausschau zu halten. Als er nun endlich zwei Gestalten aus dem Dunkel auftauchen sah, lief er ihnen voller Erleichterung entgegen. Luzie umarmte ihn stürmisch.
»Armer Richard! Hast du dir große Sorgen um mich gemacht? Ich hatte auch Angst. Heute sind wir ihm wirklich begegnet …«
»Von wem sprichst du, Mädel?«
»Vom Bergtod!«, sagte sie versonnen.
»Luzie!«, keuchte Richard entsetzt. »Was ist denn gewesen? Erzähl es mir!«
»Später, Richard! Jetzt bin ich müde.« Sie schnallte die Schneeschuhe ab.
Bruno stand schweigend und unschlüssig abseits.
»Du kommst doch noch mit herein, Bruno?«, sagte Luzie.
Aber Bruno schüttelte den Kopf.
»Ich muss los, wenn ich noch ohne Probleme heimkommen will.«
»Bloß ein paar Minuten!«, bat sie. »Du hast doch sicher auch Hunger? Was hast du zu essen da, Richard?«
»Kässpatzen.«
»Fein. Bruno, ich bitte dich, komm mit herein!«
Da streifte auch er die Skier ab und folgte den Geschwistern ins Haus. Richard schloss die Tür.
Als sie die kleine getäfelte Stube betraten, schlug ihnen dicker Tabaksqualm entgegen, dass man hätte meinen können, an den Tischen säße ein Dutzend rauchende Männer. Aber es war nur ein einziger Gast da, der Jäger-Barthl, ein Mann in vorgerückten Jahren, mit einem dichten ungepflegten Bart, die Tabakspfeife im Mundwinkel, aus der er dicke Rauchwolken gegen die Decke stieß. Auf den offenen, karierten Hemdkragen stützte sich ein mächtiger Kropf, der immer in bedenkliches Schwanken geriet, wenn sein Besitzer einen kräftigen Zug aus seinem Krug nahm.
Ein kurzhaariger Dackel fuhr knurrend unter dem Tisch hervor, aber er zog sich sofort gehorsam wieder zurück, als sein Herr seine brummige Befehlsstimme ertönen ließ.
Voller Freude über die glückliche Wiederkehr der verlorengegangenen Schwester und des Freundes trug der Wirt sogleich ein schmackhaftes Kässpatzengericht auf, das den beiden vortrefflich mundete. Nebenbei erzählte Luzie ihr Erlebnis am Berg.
Allmählich entwickelte sich zwischen den vier Menschen ein recht lebhaftes Gespräch, und auch Bruno vergaß mehr und mehr, dass er doch eigentlich nach Hause gehen wollte, und geriet schließlich in eine geradezu übermütige Laune. Plötzlich nahm er die Gitarre von der Wand, stimmte die Saiten und begann ein Lied zu singen.
Auch Luzie hatte ihre Müdigkeit und die ausgestandene Angst längst vergessen. Ihre tiefblauen Augen sprühten vor Fröhlichkeit.
»Bravo, Bruno!«, rief sie und klatschte in die Hände. »Bitte, noch ein Lied!«
Und Bruno sang.
Der Jäger-Barthl leerte einen Krug Bier nach dem anderen und hatte schon ein wenig über den Durst getrunken. Es gefiel ihm gar zu gut in der heiteren Gesellschaft, so dass auch er nicht an Aufbruch dachte – und nun fing er zum Vergnügen der anderen plötzlich an zu jodeln.
So geschah es, dass niemand bemerkte, dass der Wind immer mehr zunahm und sich schließlich zu einem heftigen Sturm entwickelte. Sie wurden erst darauf aufmerksam, als er einen Fensterladen losriss und mit heftigem Gepolter auf- und zuschlug.
Erst jetzt ließ Bruno die Gitarre auf die Knie sinken, und der Jäger-Barthl stellte den Krug auf den Tisch zurück, den er eben an den Mund führen wollte. Erschrocken horchten sie hinaus auf den Sturm – und dann hörten sie den Regen rauschen, so heftig, dass man meinen konnte, das Rauschen und Grollen eines entfesselten Sturzbaches zu hören.
»Sakrament!«, stieß der Jäger-Barthl hervor. »Das wird ein Hochwasser geben!«
Bruno fuhr bei diesen Worten vom Stuhl auf. Mit heißem Erschrecken fiel ihm jetzt ein, dass die Schleuse an der kleinen, mit Wasserkraft betriebenen Säge offen stand. Wenn nun das Hochwasser mit seiner ganzen Kraft in die Säge einbrach, konnte das Werk beschädigt oder ganz zerstört werden.
Die kleine Talsäge, zu der eine roh gezimmerte, fest gefügte Hütte mit einem Wohnstübchen und einer kleinen Schlafkammer gehörte, war ein Bestandteil des Falkenhofes. Sie stand an einem mutwilligen Wildbach, der mit junger, ungehemmter Kraft vom Berg herabstürzte. Wenn dieses Sägewerk auch nur mit altertümlichen Arbeitsvorrichtungen ausgestattet war, so lieferte es doch für die Bauern des Dorfes und auch der näheren Umgebung das ganze Jahr über das nötige Bau- und Schnittholz. Die Arbeit in der Säge war Bruno zugeteilt worden, und nichts in der Welt liebte er so sehr wie diese kleine, idyllische Talsäge.
Hastig zog er deshalb die Mütze über den Kopf und wollte mit einem kurzen Abschiedsgruß zur Tür gehen.
Aber Luzie vertrat ihm den Weg. »Bleib da, Bruno! Du kannst jetzt nicht abfahren!«
»Ich muss heim, Luzie!«
»Es geht nicht mehr, Bruno«, sagte auch Richard, der eben von draußen zurückkam, wo er den Fensterladen wieder befestigt hatte. »Es regnet in Strömen, und der Sturm ist furchtbar!«
Aber es half nichts; Bruno ließ sich nicht aufhalten.
»Der Wildbach wird in kürzester Zeit anschwellen, und ich habe die Schleuse bei der Säge nicht geschlossen. Ich muss daheim sein, bevor das Hochwasser sie ruiniert hat.«
Er stürmte hinaus in die Nacht, wo der Sturm ihm fast die Mütze vom Kopf riss.
Richard und Luzie folgten ihm, aber sie konnten ihn nicht daran hindern, dass er hastig die Skier anschnallte und gleich darauf in der Dunkelheit verschwand.
Sie schauten ihm besorgt nach und hofften, dass er doch noch die Unmöglichkeit der Abfahrt erkennen und zurückkehren würde.
Aber er kam nicht wieder.
»Er ist sehr eigensinnig«, sagte Richard.
Luzie schüttelte den Kopf.
»Nein, Richard, Eigensinn ist das nicht. Er kennt einfach keine Furcht; ich habe es heute erst wieder erlebt. Und er übersteht jede Gefahr mit heiler Haut. Er ist der Alpenkönig!«
Der Bruder schaute sie kopfschüttelnd an.
»Komm!«, sagte er dann.
Sie kehrten in das schützende Haus zurück und horchten aus behaglicher Geborgenheit schaudernd auf das Wüten der entfesselten Naturgewalten.
Nicht jeder hätte es geschafft, durch Nacht und Sturm bei schmelzendem Schnee den Weg ins Tal zu finden. Aber Bruno Schwaiger kannte kein Zaudern. Er musste unbedingt die Schleuse schließen, ehe das ungebändigte Hochwasser durch den Wildbach heranbrauste, und das konnte schneller geschehen, als man sich versah.
Der Weg ins Tal durch den schmelzenden Schnee war nun wirklich gefährlich geworden. Wiederholt stürzte er über Eisschollen. Aber er richtete sich immer wieder auf und fuhr weiter. Endlich kam er schweißgebadet bei der Säge an. Zu seiner großen Verwunderung musste er jedoch feststellen, dass die Schleuse bereits geschlossen war – und doch hätte er schwören können, dass sie offen gestanden hatte, als er zur Kreuzalpspitze aufgebrochen war.
Da sah er oben im Sägestübchen Licht.
War der Vater herübergekommen?
Rasch schnallte Bruno die Skier ab und eilte die schmale Treppe hinauf.
An dem kleinen Tisch in der Ecke saß der alte Falkenhofer, sein Vater. Sinnend blies er den Rauch aus seiner Pfeife vor sich hin und machte ein unzufriedenes Gesicht.
»Guten Abend, Vater! Du bist heute noch herübergekommen?«
»Woher kommst du so spät?«, kam darauf die Frage statt einer Antwort.
»Von der Kreuzalphütte.«
Das Gesicht des Falkenhofers blieb finster.
»Du weißt, dass ich es nicht gern hab, wenn du bei einem solchen Sauwetter in den Bergen herumfährst. Eines Tages wird dir doch noch etwas passieren.«
»Das glaube ich nicht, Vater. Die Berge tun mir nichts!«
»Und die Schleuse vor der Säge hast du auch noch offen gelassen«, sagte der Falkenhofer tadelnd. »Wenn das Hochwasser eingebrochen wäre, hätte es den Antrieb weggerissen.«
»Darum bin ich jetzt so schnell wie möglich von der Hütte zurückgekommen, um dem Hochwasser noch zuvorzukommen. Ich hätte aber wirklich nicht vergessen dürfen, die Schleuse zu schließen, da hast du Recht. Das soll mir nicht noch einmal passieren!«
Der alte Falkenhofer war damit zufrieden gestellt und nickte vor sich hin.
»Dann ist’s gut! Und jetzt setz dich her zu mir, ich hab mit dir ein paar sehr wichtige Dinge zu besprechen. Deswegen bin ich heute auch zu dir gekommen.«
Der Falkenhofer legte die Pfeife weg und strich sich den zähen Bart aus den Mundwinkeln. Die Einleitung zu seiner Rede schien ihm einige Schwierigkeit zu bereiten.
»Bruno«, begann er dann, »sag mal, Bub – und sei aufrichtig –, bist du überhaupt mit deiner Arbeit in der Säge zufrieden? Oder würdest du lieber etwas anderes machen?«
»Was für eine seltsame Frage, Vater! Wie kommst du denn darauf?«
»Ich weiß es eben nicht, deshalb frage ich dich ja. Es ist nun einmal so: Dein Bruder, der Schorsch, wird den Hof übernehmen. Aber auszahlen kann er dich einstweilen noch nicht, dazu ist nicht genügend Geld da. Er wird auf dem Hof auch manches erneuern müssen. Jetzt habe ich mir überlegt, dass du einstweilen die alte Säge übernehmen könntest, um deinen Lebensunterhalt zu verdienen. Ich kann das testamentarisch festlegen, dass sie bei der Hofübergabe aus Schorschs Besitz herausgenommen wird.«
Nun war es heraus, was ihn bedrückte. Er hob den Blick und schaute seinem Sohn ins Gesicht, um die Wirkung seiner Worte zu erkennen.
Aber Bruno zeigte keinerlei Unzufriedenheit; im Gegenteil – sein Gesicht hellte sich auf.
»Damit würdest du mir einen großen Wunsch erfüllen, Vater. Ich habe an der kleinen Säge mehr Freude, als du anscheinend glaubst, und ich möchte mich nicht von ihr trennen.«
»Dann ist’s ja gut!«, sagte der Alte aufatmend. »Ich werde die Talsäge aus dem Besitz, der Schorsch übergeben wird, herausnehmen und dich als Besitzer eintragen lassen.«
Daraufhin stand er auf und knöpfte die Joppe zu. Es bedurfte keiner weiteren Worte mehr zwischen ihnen.
»Ich begleite dich heim, Vater; es ist finster, und der Weg ist schlecht«, sagte Bruno und zog sich ebenfalls seine Jacke nochmals über.
Schweigend gingen sie durch die Nacht. Die Straße war überschwemmt, und unter dem Wasser lag eine schlüpfrige Eiskruste. Dazu kam der Sturm, der die beiden anfiel, sowie sie das Haus verlassen hatten, so dass sie sich seiner Wucht entgegenstemmen mussten. Bruno hielt es für geraten, den alten Vater am Arm zu nehmen und zu führen.
»Morgen Abend will Schorschs Zukünftige mit dem Brautvater kommen, um alles zu besprechen, was vor der Hochzeit und der Hofübergabe nötig ist«, begann der Alte plötzlich. »Es wäre mir recht, wenn du mit dabei wärst.«
»Wenn du es willst, Vater, dann komme ich gerne.«
»Und schau dir die Henriette etwas näher an.«
»Ich kenne sie schon, Vater.«
»Und? Was sagst du?«
»Ehrlich gesagt, ich würde mir eine Falkenhoferin anders vorstellen. Sie hat keine Ahnung von der Arbeit auf einem Bauernhof und wird eine Menge lernen müssen. Aber das macht ja nichts, wenn sie es wirklich lernen will.«
»Glaubst du, sie wird es vielleicht nicht wollen? Das wäre schlimm!«
»Ich weiß es nicht. Sie wirkt auf mich zu städtisch, als dass ich es mir so recht vorstellen könnte. Vielleicht tue ich ihr damit auch Unrecht. Aber wir werden ohnehin nichts daran ändern können, falls es so wäre, Vater. Der Schorsch hat sie ausgesucht und will keine andere. Die Hauptsache ist, dass sie gut miteinander auskommen, alles andere lässt sich notfalls auch mit mehr Angestellten regeln, wenn es gar nicht anders geht.«
»Ja, Bub – hoffen wir, dass Schorsch keinen Fehler gemacht hat, als er gerade die und keine andere haben wollte! Ich habe, ehrlich gesagt, auch ein ungutes Gefühl bei dem Mädchen, deshalb wollte ich deine Meinung wissen.«
Bruno führte seinen Vater bis ans Haus, das dunkel und still in der Nacht lag. In keinem Fenster sah man mehr Licht; alle waren schon zu Bett gegangen. Als sich die Haustür hinter dem Vater geschlossen hatte und in der Stube das Licht aufflammte, kehrte Bruno um und ging wieder auf die Säge zu.
Oft wandte er heute den Blick zurück und hinauf zu dem alten, väterlichen Hof, hinter dem sich das Felsmassiv des Gebirges auftürmte. Der Sturm rauschte durch das Geäst der alten Ahornbäume, die um ein großes Feldkreuz herum aufragten.
Ein Ausdruck grübelnder Nachdenklichkeit überschattete das Gesicht des jungen Falkenhofers. Eine Hochzeit sollte morgen ausgemacht werden. Das sollte eigentlich ein Grund zur Freude sein. Doch sein Vater freute sich nicht. Statt dessen machte er sich Sorgen.