Читать книгу Der Alpenkönig - Andre Mairock - Страница 6

2

Оглавление

Am folgenden Morgen war Bruno Schwaiger schon frühzeitig bei seiner Arbeit in der Säge. Die Bauern hatten mehrere Fuhren Baumstämme angefahren, um Bauholz und Bretter schneiden zu lassen; damit wollten sie die Winterschäden an ihren Häusern und Stadeln beheben, ehe die Arbeit auf den Wiesen und Feldern einsetzte.

Am späten Vormittag kam wie immer die alte Paula, die seit dem Tod der Mutter das Regiment über Haus und Küche im Falkenhof führte, zur Säge herab, um Bruno die Brotzeit zu bringen. Sie brachte auch die kleine Stube in Ordnung und machte sein Bett.

Solange die beiden Söhne Schorsch und Bruno noch klein waren, hatte sie ihnen die Mutter ersetzt – besonders Bruno, dem Jüngeren, den sie von Anfang an in ihr Herz geschlossen hatte.

Trotz ihres Alters schritt sie noch rüstig und aufrecht einher. Ihr kantiges Gesicht verriet Gesundheit, und ihre dürre, zähe Gestalt war von starker Lebenskraft erfüllt. Kein Weg und kein Wetter schreckte sie, keine Arbeit war ihr zu viel oder zu schwer.

Heute trug sie ihre spitze, lange Nase noch einige Zoll höher als sonst. Das war bei ihr ein Zeichen von Trotz und verdrießlicher Auflehnung.

Bruno schaute ihr durch das verstaubte kleine Fenster von der Säge aus entgegen, als sie mit weit ausholenden Schritten auf der überschwemmten Straße herankam.

Dann trat er vor das Tor.

»He, Paula! Warum machst du so ein finsteres Gesicht?«, rief er ihr lachend zu. »Gefällt es dir nicht, dass der Frühling anbrechen will?«

»So ein Sauwetter!«, schimpfte die Paula. »Man sinkt bis an die Knöchel im Matsch ein.«

»Und darüber ärgerst du dich so sehr?«, fragte er zweifelnd und betrachtete erheitert ihr finsteres Gesicht.

Sie gingen hintereinander die schmale Holzstiege zur Stube hinauf.

Paula stellte die Brotzeit auf den Tisch, band eine Schürze um und ging an die Arbeit.

Bruno begann mit dem Essen.

»Die Hochzeit will man heut Abend ausmachen!«, sagte sie plötzlich. In ihrem Gesicht regte sich ein unwilliges Mienenspiel.

»Ich weiß es, Paula. Der Vater war gestern noch bei mir. Er hat gemeint, dass ich dabei sein soll.«

Sie schaute ihn an und stemmte die Hände in die Hüften.

»Wirst du kommen?«

»Vielleicht.«

»Vielleicht? Nein, du musst auf jeden Fall kommen, Bruno!«

»So? Es ist doch aber nicht meine Hochzeit, die ausgemacht wird, Paula!«

»Trotzdem.« Paula suchte ersichtlich nach Worten, um deutlich zu machen, worauf sie hinauswollte, und rang sich schließlich mürrisch den Satz ab: »Ich glaube, das wird etwas werden, wenn die ins Haus kommt!«

»Oho! Hast du so einen Heidenrespekt vor ihr?«, lachte Bruno.

»Den Heidenrespekt werden noch ganz andere vor ihr kriegen! Der Schorsch wird bald nicht mehr recht viel zu sagen haben im Haus, wenn die einmal da ist! Lach jetzt nicht, Bruno. Es ist mein Ernst.«

»Du übertreibst, Paula! Warum meinst du denn, dass es gar so schlimm werden wird?«

Die Alte kam mit geheimnisvoller Miene näher und wollte ihm etwas ins Ohr sagen, aber sie kam nicht mehr dazu.

»Bruno!«, ertönte eine tiefe, laute Männerstimme vom Hof herauf. »He, Bruno!«

Bruno öffnete das Fenster und schaute hinab. Ein Bauer stand dort unten mit einem mit Baumstämmen voll beladenen Bodenschlitten.

Das war der Fallmüller, der im ganzen Dorf als wohlhabendster Bauer der Gegend bekannt war. Doch beliebt war er kaum, neben Geiz und Verschlagenheit wurde ihm auch sein hochfahrendes Wesen zum Vorwurf gemacht. Schon die Art, wie er jetzt laut und ungeduldig den jungen Falkenhofer herausrief, verriet sein rechthaberisches Wesen.

Bruno kannte den Fallmüller und sein Hauswesen gut. Sein Hof lag dem Falkenhof direkt gegenüber, getrennt von ihm durch eine tiefe Mulde, durch die eine Straße führte. Beide Höfe lagen abseits vom Dorf und waren Einödhöfe, deren Grundstücke sich jeweils rings um das Haus erstreckten. Und damit grenzten sie teilweise aneinander.

Auch das Schicksal der Höfe schien sich in einigen Dingen ähnlich entwickelt zu haben: Sowohl der Falkenhofer als auch der Fallmüller hatten frühzeitig ihre Bäuerinnen verloren – und beide waren Witwer geblieben. Während es jedoch auf dem Falkenhof zwei Söhne gab, hatte der Fallmüller nur eine einzige Tochter. Sie war ein paar Jahre jünger als Bruno; doch sie waren noch zusammen in die Schule gegangen. Und während der Falkenhofer durch Nachlassen seiner Kräfte schon jetzt zur Übergabe des Hofes gezwungen wurde, hatte der Fallmüller im selben Alter immer noch eine eiserne Kraft und Gesundheit, als hätte die Zeit überhaupt keine Gewalt über ihn.

Bruno stieg die Treppe hinab, trat auf den Hof hinaus und half dem Mann dabei, die entrindeten Baumstämme vom Schlitten zu rollen.

»Zweizöllig schneiden!«, ordnete der Fallmüller an. »Und übermorgen möchte ich die Bretter abholen. Geht das?«

»Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, geht das schon«, entgegnete Bruno und zeichnete mit einem Rötel die Baumstämme an.

Der Fallmüller blieb noch stehen und schaute ihm dabei zu; er wollte offenbar noch mehr sagen. Dann schob er den Hut aus der Stirn und kratzte sich im Haar.

»Ist es richtig, dass dein Bruder bald heiratet?«, fragte er dann unvermittelt.

»Ja, es ist richtig.«

»Die vom Ostrachtal?«

»Ja.«

Der Fallmüller machte eine Bewegung zu seinem Fahrzeug hin – aber dann wandte er sich noch einmal zu Bruno herum.

»Wenn man weit greift und nicht weiß, wohin man greift, dann greift man gewöhnlich in Dreck, Bruno!«, sagte er in seiner derben Art.

»Was willst du mir damit sagen, Fallmüller?«, warf ihm Bruno noch die Frage hinterher.

Der Fallmüller wendete sein Gefährt und rief, schon im Wegfahren, über seine Schulter hinweg zu Bruno zurück: »Genau das, was du verstanden hast! Also bis übermorgen!«

Bruno schaute dem Fallmüller nach. Dessen Rede wollte ihm nicht gefallen; sie war grob und gehässig gewesen. Freilich – der Fallmüller sah sich durch Schorschs Heirat vielleicht in seinen Plänen enttäuscht. Man hatte einige Zeit lang davon gesprochen, dass seine Tochter Wally eine passende Bäuerin für den Falkenhof sein könnte. Vielleicht hatte der Fallmüller sich mit dem ehrgeizigen Plan getragen, die beiden Einödhöfe zusammenzulegen und ein prächtiges Gut daraus zu machen.

Doch Schorsch hatte sich für eine andere entschieden, die seine künftige Bäuerin werden sollte. Und wenn der Schorsch damit »in Dreck greifen« sollte, dann ging es den Fallmüller ebensowenig an wie andere Menschen.

Die Fallmüller-Wally war schon ein recht tüchtiges und anständiges Mädchen, und hässlich war sie auch nicht. Mancher junge Bursch drehte sich nach ihr um, wenn sie sonntags von der Kirche kam. Aber man konnte schließlich nicht einfach dem Schorsch befehlen, er müsse sie heiraten. Er selbst hätte das an seiner Stelle auch nicht getan – nicht zuletzt auch deshalb, weil der Fallmüller ihr Vater war.

Während Bruno immer noch in Gedanken verloren die Straße hinaufschaute, auf der eben der Fallmüller davongefahren war, tauchte hinter der Säge ein junger Mann auf, der sich durch seine Kleidung und die umgehängte Büchse als Forstmann auswies.

Dieser junge Jäger war Robert Haller, der in den Diensten des staatlichen Forstamtes kurz vor Abschluss seiner dortigen Ausbildung stand. Als leidenschaftlicher Bergsteiger hatte er sich an Bruno angeschlossen, und aus der Bergkameradschaft war mit der Zeit eine Freundschaft erwachsen. Sie führte dazu, dass Robert auch bei der kleinen Theatergruppe des Dorfes Hochwies mitwirkte, der Bruno als eifriger Laienspieler angehörte.

»Bruno!«, rief der Jäger und kam näher.

Bruno wandte sich nach ihm um, und sein Gesicht entspannte sich.

»Ach, du bist’s, Robert! – Wo kommst du denn heute schon so früh her?«

»Von der Kreuzalpspitze. Ich soll dir einen schönen Gruß bestellen.«

»Von wem?«

»Von wem wohl, wenn man von der Kreuzalphütte kommt! Du scheinst gestern wieder einmal ein gewagtes Stück geliefert zu haben.«

»Hat dir die Luzie davon erzählt?«

»Sie hat jedem davon vorgeschwärmt, der bereit war, ihr zuzuhören. Du seist der Alpenkönig, meint sie«, sagte er schmunzelnd.

Auch Brunos Gesicht heiterte sich auf. »Alpenkönig!«, sagte er lächelnd. »Das hat sie zu mir gestern Abend auch schon gesagt. Dabei war die Sache so großartig nun auch wieder nicht.«

»Na, ich hätte es jedenfalls nicht gewagt, einer Lawine vor den Füßen herumtanzen!«

»Ich würde dir das auch nicht raten!«, erwiderte Bruno. »Glaub du bloß nicht, dass ich es getan hätte, wenn ich eine andere Möglichkeit gesehen hätte, mit heiler Haut von dort wegzukommen.«

Robert stieß Bruno in die Seite und zwinkerte ihm zu. »Ich glaube, Bruno – ich glaube, die Luzie hat sich in dich verliebt.«

»Soll das ein Scherz sein, Robert?«, fragte Bruno und gab sich Mühe, sich das freudige Herzklopfen nicht anmerken zu lassen, das ihn bei diesen Worten jäh überfallen hatte. So dicht davor war er gestern gewesen, ihr seine Liebe offen zu gestehen, und doch hatte er wie ein Holzkopf die Gelegenheit wieder verstreichen lassen!

»Keineswegs. Hättest du denn etwas dagegen?«, schmunzelte Robert, der ja schon längst begriffen hatte, dass Bruno und Luzie sich zueinander hingezogen fühlten und vermutlich früher oder später ein Paar werden würden, auch wenn sie immer noch vorgaben, nur kameradschaftlich und in aller Freundschaft miteinander zu verkehren.

Bruno antwortete nicht. Er horchte zur Säge hinunter, in der eben ein Baum aus dem Vollgatter gelaufen war. Es musste ein neuer Stamm eingelegt werden; deshalb ließ er den Freund stehen und lief in die Säge.

»Wir studieren übrigens demnächst ein neues Theaterstück ein«, sagte Robert, als sie wieder beisammen waren. »Heute Abend ist eine Besprechung, und dann beginnen die Proben. Kommst du auch?«

»Nein, ich muss heute Abend heim. Die Hochzeit meines Bruders wird ausgemacht«, entgegnete Bruno.

»Ach so – dann freilich! Aber du spielst doch mit?«

»Ich spiele natürlich mit!«

Von droben rief die Paula, Bruno solle doch endlich seine Brotzeit zu Ende bringen.

»Ich komm schon, Paula!«, rief Bruno hinauf.

Robert Haller klopfte ihm auf die Schulter.

»Mach’s gut, Bruno! Und entschuldige, falls ich dir mit meiner Bemerkung über Luzie zu nahe getreten sein sollte …«

Bruno lachte. »Nein, das bist du auf keinen Fall, Robert.«

»Das hoffe ich doch. Aber das sage ich dir, ihr zwei wäret schon ein schönes Paar – du und die Luzie vom Kreuzalphaus – der Alpenkönig und das goldene Herz!«

Lachend trennten sich die Freunde.

Als der Abend kam, stand im Hofraum des Falkenhofes unter den drei alten Ahornbäumen ein fremdes Auto. Besuch war angekommen – ein sehr wichtiger Besuch.

An dem Tisch im Herrgottswinkel saßen vier Menschen beisammen und erörterten wichtige Dinge. Da war der Falkenhofer und neben ihm sein Sohn Schorsch; den beiden gegenüber saß ein Mädchen in städtischer Kleidung, und neben ihm hatte der Brautvater Platz genommen.

Sie hörten eben schweigend dem alten Bauern zu, der langsam und bedächtig eine Reihe von Gründen aufzählte, die ihn veranlassten, zum Frühjahr den Hof an seinen Sohn zu übergeben. Sein Blick glitt immer wieder forschend über das Gesicht des Mädchens, das sein Sohn heiraten wollte.

Henriette entging diese augenscheinliche Prüfung des alten Bauern keineswegs, und sie ließ sie selbstbewusst über sich ergehen. Ihr Vater war ein bekannter Viehhändler mit einem schönen, modernen, erst wenige Jahre alten Haus im Ostrachtal.

Sie wusste von Schorsch, dass ihr künftiger Schwiegervater Bedenken hatte, weil sie nicht aus einer Bauernfamilie stammte und die Arbeit auf einem Hof wie dem Falkenhof nicht gewohnt war. Henriette war empört gewesen, als Schorsch ihr das erste Mal davon erzählt hatte. Warum sollte sie nicht imstande sein, diese Arbeit zu tun? Aber Schorsch hatte nur gelacht, und so hatte sie schließlich mit eingestimmt und gemeint: »Was ich nicht kann, das kann ich ja lernen, oder? Du musst es mir nur zeigen.«

Und beide waren sich einig gewesen, dass alles sich finden würde, wenn sie nur erst einmal verheiratet waren. Schließlich liebten sie sich, und das war doch die Hauptsache.

Unter dem Tisch tastete das Mädchen verstohlen mit dem Fuß nach dem von Schorsch und blinzelte ihm zu, als sie ihn erreicht hatte und er zu ihr hinübersah. Schorsch, der ohne großes Interesse den beiden Alten zugehört hatte, sah auf, lächelte und blinzelte zurück.

In seiner äußerlichen Erscheinung glich Schorsch sehr seinem Bruder Bruno. Nur sein Haar war dunkler, und seine Gesichtszüge waren weniger markant gezeichnet; er wirkte nachgiebiger und weniger entschlossen.

»Und viel Arbeit gibt es auf dem Hof«, sagte eben der alte Falkenhofer. »Auch die Bäuerin muss fest mit anpacken. Deswegen brauchst du mich jetzt nicht so finster anzuschauen, Henriette; ich will dir damit keineswegs unterstellen, dass du nicht arbeiten kannst, sondern ich wollte nur noch einmal ohne Umschweife betonen, dass ein Berghof kein Platz ist, auf dem man es sich allzu bequem machen kann. Der Hof wird schuldenfrei an euch übergeben, wenn man einmal davon absieht, dass dem Bruno noch sein Anteil ausgezahlt werden muss, und damit habt ihr beide einen günstigen Anfang. Wenn ihr gut wirtschaftet, dann kann eigentlich nichts schief gehen.«

Danach war es eine Weile still. Jeder schien über die Dinge nachzudenken.

»Dann ist doch auch noch eine Säge da«, sagte schließlich der Viehhändler. »Was ist damit?«

»Die Säge wird vom Hof abgetrennt, die übergebe ich dem Bruno«, antwortete der Falkenhofer. »Damit ist auch ein Teil seiner eigenen Erbansprüche schon getilgt. Was den Rest betrifft, so werde ich testamentarisch eine Zahlung in mehreren Teilzahlungen festlegen, beginnend ab dem Jahr meines Todes.«

Darauf erfolgte kein Einspruch.

Nach dem Essen führte Schorsch seine Braut durch das Haus, und sie kamen dabei auch in die Küche.

Paula, die eben das Geschirr spülte, trat ein wenig beiseite, ohne sich in ihrer Arbeit stören zu lassen. Ihr Blick streifte nur zuweilen missbilligend die Braut, die ihrer Ansicht nach kritischer als nötig diesen wichtigen Raum der Hausfrau musterte.

Und die Braut nahm ihre Prüfung offenbar sehr genau. Sie musterte die Wandrahmen, in denen die Töpfe säuberlich nach der Größe eingeordnet waren, sie betrachtete die blinkenden Kupfer- und Messingpfannen, die über dem großen Kachelofen hingen, und es schien ihr kein Gegenstand zu entgehen.

Schorsch beobachtete ihr Gesicht.

»Nun, wie gefällt’s dir bei uns?«, fragte er dann – in der sicheren Meinung, dass hier bestimmt nichts auszusetzen sei.

»Im Großen und Ganzen nicht schlecht«, antwortete sie und schaute dann über den roten Boden hin. »Aber ihr habt ja noch einen alten Steinboden! Sollte man da nicht einen PVC-Boden darüberlegen? Das ist viel schöner und bequemer zum Putzen.«

Sie hatte ihren Blick bereits einem weiteren Mangel zugewandt: »Der Herd hier muss ja schon mindestens dreißig Jahre alt sein, und gespült wird bei euch wohl noch von Hand, oder? Und die Kücheneinrichtung finde ich unpraktisch angeordnet, da muss man ja andauernd hin- und herlaufen, von der Spüle zum Herd und wieder zurück. Wenn beides direkt nebeneinander ist, spart man sich eine Menge Zeit, Schorsch. Daheim, da haben wir eine Einbauküche mit Glaskeramikkochfeld und Dunstabzugshaube, und eine Spülmaschine ist auch integriert, und eine Mikrowelle. Wir haben einen Küchenspezialisten alle Einzelteile der Küche nach ergonomischen Gesichtspunkten optimieren lassen.«

Da verließ die alte Paula die Küche. Sie musste es tun, denn sonst hätte sie Henriette etwas an den Kopf werfen müssen. Ergonomische Gesichtspunkte! Da hörte sich doch alles auf!

Als sie durch den langen breiten Hausflur schritt, um sich irgendein Geschäft zu suchen, das sie in möglichst sichere Entfernung von der Frevlerin brachte, die gerade ihr Heiligtum, die Küche des Hofes, so entweiht hatte, kam eben Bruno herein.

»Wo sind sie, Paula?«, fragte er. »Ich habe das Auto schon gesehen.«

»Sie sind gerade in der Küche – sie und der Schorsch. Kritisieren tut sie. Der alte Steinboden ist ihr nicht fein genug. Eine neue Küche mit ärgernomischen Gesichtspunkten von einem optimistischen Küchenspezialisten will sie haben, das überspannte Frauenzimmer!« Ihre Stimme, anfangs leise, wurde immer lauter und erregter, während sie sprach.

»Pst! Paula!«

»Es ist doch wahr!«, schimpfte die alte Frau, die maßlos darüber gekränkt war, dass ihre Küche so bekrittelt worden war. »Weißt du, wie lange ich in dieser Küche schon koche? Ich war immer zufrieden damit, und jetzt kommt die da daher und sagt, unsere Küche sei unpraktisch. Eine Spülmaschine will sie haben, und eine Dunstabzugshaube, und was weiß ich noch alles!«

»Ist ja gut, Paula! Sei bloß still!«

Bruno ließ sie stehen und ging in die Stube. Er begrüßte den Brautvater und setzte sich auf einen Stuhl neben dem eigenen Vater nieder. Gleich darauf kehrte das Brautpaar von seiner Inspektionsreise zurück.

Alle fünf setzten sich um den Tisch unter den Efeuranken des Herrgottswinkels. Die Ansprüche Brunos am väterlichen Erbe wurden besprochen, und man kam überein, dass der Restbetrag, der diesem neben der Säge zustehe, erst nach dem Tode seines Vater fällig und danach in mehreren Teilzahlungen beglichen werden sollte. Der Tag der Hochzeit wurde festgesetzt. Man einigte sich darauf, dass er noch vor Beginn der Fastenzeit sein sollte, und das Brautpaar wollte möglichst rasch den Ortspfarrer aufsuchen, damit alles seinen geregelten Weg gehen konnte.

In den folgenden Wochen ging es im Falkenhof drunter und drüber. Die Maurer hatten Gerüste errichtet und tünchten die altersgrauen Wände. Türen und Fensterläden wurden frisch gestrichen. So wollte es der Brauch: Vor der Übergabe musste der Hof innen und außen erneuert werden.

Gleichzeitig schaffte der alte Falkenhofer seine Habe hinüber in das Pfründhäuschen, wo er seinen Lebensabend verbringen wollte. Er war vernünftig genug, sich schon jetzt zurückzuziehen und dem Sohn die Leitung der Erneuerungsarbeiten zu überlassen. Und Schorsch Schwaiger, der junge Falkenhofer, hatte sich alle Wünsche seiner Braut zu Herzen genommen und suchte ihnen nach Möglichkeit gerecht zu werden. Auch die Küche wurde von Grund auf nach ihren Wünschen modernisiert, und der Küchenspezialist, von dem sie bei der Besichtigung des Hofes gesprochen hatte, kam tatsächlich dabei zum Einsatz.

Doch der alte Bauer stand während all dieser Betriebsamkeit oft am Fenster seiner Austragsstube und schaute versonnen über die Berge hin, die bereits einen neuen Frühling ankündigten. Er sah, wie das erste Grün auf den schneefreien Hängen zu sprießen begann, er sah den Krokus und den Enzian blühen, er sah das Erwachen der Natur. Und wenn er in sonnigen Stunden das Fenster öffnete, dann hörte er das Rauschen und Gurgeln der Wildbäche.

All das hatte er sein Leben lang gesehen – und doch war nun alles anders: Er hatte die Verantwortung für seinen Hof an seinen Sohn abgegeben. Es war hoch an der Zeit dafür gewesen, denn mit seiner Gesundheit stand es nicht zum Besten. Und dennoch war ihm das Herz schwer.

Bruno Schwaiger war auf dem Weg durch die Höhenklamm hinauf zur Kreuzalphütte. Mit lautem Getöse schoss der übermütige Wildbach über die glatt gewaschenen Felsbänke.

Bruno stand eine Weile nahe am Grat und schaute gedankenverloren auf das wilde, schäumende Wasser hinab. Es ging ihm dieser Tage viel durch den Kopf. Der Umzug des Vaters bereitete ihm Kummer. Freilich war es unumgänglich, dass die Alten Platz machen mussten für die Jungen – aber es tat Bruno halt weh, den Vater so ungern und bekümmert von der Arbeit scheiden zu sehen.

Auch über seinen Bruder und dessen Frau, die neue Bäuerin, dachte er nach. Es war offensichtlich, wie verliebt die beiden ineinander waren, und er konnte Henriette auch nicht absprechen, dass sie sich bisher Mühe gab, alles, was sie als Bäuerin zu tun hatte, gut und richtig zu machen.

Dennoch, sie war in vieler Hinsicht ihrer Aufgabe kaum gewachsen. Dass sie Paula schon gleich zu Anfang so bitter gekränkt hatte, machte die Sache nicht besser. Denn Paula war nachtragend, und auch wenn sie Henriette nicht offen widersprach, so hätte sie der jungen, unerfahrenen Bäuerin so manchen dummen Schnitzer ersparen können. Doch das tat sie nicht, denn es bereitete ihr Genugtuung, wenn die Gegnerin bei einem handfesten Fehler ertappt wurde.

Henriette hatte durchaus gemerkt, dass die alte Haushälterin nicht gut auf sie zu sprechen war. Doch sie unternahm keinen Versuch, mit ihr ins Reine zu kommen, sondern gab sich alle Mühe, ihrer Feindin bei jeder Gelegenheit klar zu machen, wer von beiden auf dem Hof das Sagen hatte. Dabei hätte sie den Rat der erfahrenen alten Frau so bitter nötig gehabt. Doch ihr Stolz verbot Henriette, das zuzugeben, und so schwelte der Groll der beiden unausgesprochen weiter, zum Schaden für den Hof und alle, die dort lebten.

Bruno vermied es inzwischen, den Hof aufzusuchen, denn meist konnte man die Spannung, die dort herrschte, förmlich mit Händen greifen. Seinen einzigen Versuch, zwischen Henriette und Paula zu vermitteln, hatten beide Frauen ihm übel genommen, deshalb zog er es vor, sich so weit wie möglich aus ihrem Streit herauszuhalten.

Trotz aller Bemühungen, beiden in seinem Urteil Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, konnte er nicht umhin, Paulas Klagen im Geiste Recht zu geben. Henriette war seiner Meinung nach ein verzogenes junges Ding, das im väterlichen Haushalt weitgehende Narrenfreiheit gehabt und kaum Verantwortung getragen hatte. In ihrer Rolle als Bäuerin wirkte sie wie ein Kind, das ein neues Spiel ausprobierte. Noch hatte der Falkenhof als Spielzeug für sie den Reiz nicht verloren. Was aber, wenn sie eines Tages keine Lust mehr auf dieses Spiel hatte?

Von der gegenüberliegenden Höhe ertönte plötzlich ein lautes, in seinen Ohren höhnisch klingendes Gelächter, als hätten böse Geister Bruno bei seinen Gedanken belauscht und amüsierten sich nun über die Zustände auf dem Falkenhof.

Bruno blickte auf, um nach dem Spötter Ausschau zu halten, und nach einigen Augenblicken entdeckte er eine Gestalt, deren Aussehen den Vorstellungen von einem bösen Berggeist nicht allzu weit entfernt war. Sie stand vor dem so genannten »Wilden Männle«, einem gezackten, grotesk geformten Felskopf, an den sich etliche Sagen um wegen böser Taten verzauberte Menschen knüpften. Das war der Geyer-Franz, ein Sonderling, der einsam in einer abgelegenen, halb zerfallenen Berghütte hauste. Der Geyer-Franz galt als harmlos, doch sein seltsames Benehmen und dazu sein verlottertes Aussehen schreckten die Leute ab. Er war ein noch junger Mann um die Dreißig, doch er ließ sich selten im Dorf sehen.

Es hieß, sein Vater sei ein gefährlicher Wilderer gewesen, der auf frischer Tat ertappt und erschossen worden sei, als der Franz noch ein kleiner Junge gewesen war. Die Mutter hatte ihn alleine großgezogen, doch der Gram hatte sie verbittert und menschenscheu gemacht und dann später, wie es im Dorf hieß, frühzeitig ins Grab gebracht.

So war es kein Wunder, dass auch der Franz ein sonderbarer Zeitgenosse war. Er züchtete Bergziegen, und davon ernährte er sich, so gut es eben ging. Seine Hütte lag hinter den Wäldern auf einer steinigen Bergwiese, und von den Menschen im Dorf wollte er so wenig wissen wie sie selbst von ihm. Und der wollte sich über ihn lustig machen? In Bruno stieg der Zorn auf.

»Was hast du da zu lachen, du Depp?«, schrie er laut, um das Rauschen des Wildbaches zu übertönen.

Der Geyer-Franz wich sofort von der Höhe zurück und verschwand.

Bruno ging weiter und schämte sich plötzlich seines Zornes gegen den anderen.

Warum sollte der Mann dort nicht lachen dürfen, nur weil Bruno selbst so düster zumute war? Schließlich hatte der Geyer-Franz keine Ahnung von Brunos Sorgen und freute sich wahrscheinlich nur über den Frühling.

Immerhin lenkten diese Überlegungen Bruno von seinem Grübeln über die missliche Lage auf dem Falkenhof ab. Wie oft war er dem Geyer-Franz schon begegnet auf seinen Bergfahrten – bei jeder Tag- und Nachtzeit schon. Doch sie hatten sich gegenseitig nie beachtet. Was mochte im Kopf dieses sonderbaren Menschen vorgehen?

Bruno nahm sich vor, sich nicht noch einmal von seiner gereizten Stimmung zu solch ungerechtem Zorn hinreißen zu lassen.

Für die Bewohner der Kreuzalphütte war die Zeit der Schneeschmelze eine einsame Angelegenheit. Das Gebirge war in dieser Zeit so unwegsam, dass sich kaum ein Mensch bei ihnen einfand, höchstens einmal der Jäger-Barthl, wenn er seinen Dienstgang durch das Revier machte.

Luzie beschäftigte sich in diesen Tagen mit allerlei Dingen des Haushaltes, zu denen sie zu anderen Zeiten nicht kam. Die kleine Gaststube wurde in eine Näh- und Flickstube verwandelt.

Aber ihre Arbeit war von einer merkwürdigen Unruhe begleitet. Immer wieder suchte ihr Blick das Fenster, um hinauszuschauen auf den schmalen Weg, der ins Tal führte.

Sie wartete auf Bruno. Er war lange nicht mehr gekommen, und sie begriff erst jetzt so richtig, wie sehr ihr seine Gesellschaft fehlte.

Es verging ein Tag nach dem anderen, doch Bruno kam nicht. Aber als er dann endlich doch auftauchte, sah sie ihn gar nicht kommen; plötzlich und unvermutet trat er in die Stube.

»Grüß dich Gott, Luzie!«, ertönte seine Stimme hinter ihr.

Sie sprang in freudiger Überraschung auf und drehte sich zu ihm um. »Bruno!«

Der Besucher schmunzelte über ihre offensichtliche Freude über sein Auftauchen. »Hast du denn auf mich gewartet?«

Luzie nickte. »Und wie! Du bist schon eine Ewigkeit nicht mehr bei uns gewesen!«

Sie rückte einen Stuhl für ihn zurecht.

»Mein Vater hat meinem Bruder den Hof übergeben, und der hat geheiratet. Es gab eine Menge zu tun, auch für mich«, sagte er.

Er erzählte ihr, was sich seit ihrem letzten Zusammensein alles zugetragen hatte, aber es blieb ihr nicht verborgen, dass in dieser Sache irgend etwas nicht stimmte. Mit feinem Gespür hörte sie einen verborgenen Kummer heraus.

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie, als er schließlich schwieg. »Mir scheint, es gibt bei dieser Sache etwas, das dich bedrückt, Bruno.«

»Das mag schon sein. Es geht einem manchmal etwas gegen den Strich.« Er machte eine fahrige Bewegung, als hätte er es satt, darüber zu sprechen. »Und was treibt ihr hier auf der Hütte? Es ist wohl recht einsam geworden?«, fragte er ablenkend.

Da fing auch sie an zu erzählen von ihrem Tun und Treiben an den einsamen Tagen. Sie wusste von ein paar Hänseleien zwischen dem Jäger-Barthl und dem jungen Robert Haller zu berichten, die als Einzige zur Kreuzalphütte gekommen waren. Der Jäger-Barthl betreute ein umfangreiches Waldgebiet in den Bergen, das in Gemeindebesitz und an einen privaten Jagdherren verpachtet war, daran angrenzend befand sich der Staatswald, für den andere Leute, Staatsbedienstete, zuständig waren, darunter der junge Auszubildende Robert Haller. Wenn die beiden zusammentrafen, die gewissermaßen Konkurrenten in ihrem Gewerbe waren, dann kam es jedes Mal zu scherzhaften Sticheleien, doch Robert Haller konterte Barthls bissige Bemerkungen meist so schlagfertig, dass der Barthl oft am Ende einen hochroten Kopf bekam und seinen jungen Widersacher einen Grünling und Angeber nannte.

Je länger Bruno ihr zuhörte, desto mehr fühlte er, wie seine Sorgen von ihm abfielen. Wie gut tat es doch, endlich einmal wieder bei Luzie in der Hütte zu sitzen, ohne pausenlos über die Probleme des Falkenhofs nachzudenken! Er musste zusehen, dass er öfter Gelegenheit bekam, diese Gedanken von sich abzuschütteln.

»Schade, dass ich gleich wieder heimkehren muss, Luzie«, sagte er mit ehrlichem Bedauern.

»Ja, das ist schade«, erwiderte sie.

Er überlegte einen Moment und sagte dann: »Wenn das Wetter am Sonntag schön ist, dann könnten wir einen Ausflug hinüber zur Geißalpe machen. Sie ist wieder bewirtschaftet. Hast du Lust?«

»Gern!«, antwortete sie mit freudiger Zustimmung.

»Also – sag dem Richard einen schönen Gruß! Bis zum Sonntag! Ich werde dich hier abholen.«

Rasch drückte er ihr die Hand, und ehe sie ihm vor die Tür hinaus folgen konnte, sprang er schon über die Felsblöcke den Hang hinab.

Der Alpenkönig

Подняться наверх