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Kapitel 2
ОглавлениеNahe Beirut, Spätsommer 1982
Der große Ball der Sonne, der den Tag über die staubigen, mit Abfällen übersäten Straßen mit fast unerträglicher Hitze durchdrungen hatte, begann langsam, eine rötliche Färbung anzunehmen. Er war zwar noch ein gutes Stück vom Horizont, entfernt, doch die schmutzerfüllte Luft konnte ihm schon jetzt ein wenig von seinem grellen Strahlen und seiner unerbittlichen Glut abringen. Immerhin war das Hitzeflimmern, das bis eben über den schäbigen Blechbaracken und provisorischen Lehmziegelverschlägen erkennbar gewesen war, schon fast nicht mehr auszumachen. Doch selbst wenn ein kleiner Luftzug den feinen Staub aufwirbelte und dadurch mit den Augen wahrnehmbar wurde, brachte er kein bisschen Kühlung. Zu warm war die Luft, zu warm war der hartgetretene Lehmboden, als dass ein solch sanfter Hauch spürbar zur Abkühlung hätte beitragen können. Trotzdem waren viele Menschen unterwegs. Im Freien, und wenn man ein Plätzchen im Schatten finden konnte, war es immer noch angenehmer als in den Schuppen und Verschlägen, die für die Menschen hier als Unterkunft dienten und den meisten Kindern das einzige Gefühl von Heimat und Geborgenheit boten. Die Kleinsten unter ihnen, die hier geboren wurden oder bei ihrer Ankunft zu jung waren, um sich zu erinnern, kannten nichts anderes. Für sie war das Leben hier an diesem Fleck normal und sie hatten sich leichter an die Umstände angepasst als jene, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden oder aus Furcht vor Terror und Tod ihr Hab und Gut aufgegeben hatten, in der Hoffnung, hier ein besseres, vor allem sichereres Leben beginnen zu können. Doch diese Hoffnung war bei den Meisten von der brutalen Realität geradezu hinweggefegt worden; dieser Platz, einst nur als vorübergehende Station angesehen, wurde von vielen längst resigniert als Endstation akzeptiert.
Eine Gruppe von Kindern, in etwa zwischen acht und dreizehn Jahren alt, spielte auf einem freien Stück Land, wo noch keine Baracken errichtet worden waren, mit einem aus Plastiktüten, Folien und Klebebändern zusammengeschusterten Ball. Die Kinder hatten bei ihrem Spiel, das sie barfuß und mit schmutziger, eher Lumpen ähnelnder Kleidung mit lautem Geschrei und in wildem Getümmel vollführten, sichtlich Spaß. Ab und an brach eines der Kleineren, wenn es im rauen Geplänkel etwas zu ungestüm vom Ball getrennt oder zu Boden gestoßen wurde, in lautes Weinen aus. Doch nach wenigen Sekunden der Nichtbeachtung durch die anderen bemühte man sich, schnell wieder am Spielgeschehen teilzunehmen.
Eine Gruppe älterer Männer saß am Rand des provisorischen Spielfeldes und beobachtete amüsiert das Treiben. Ein dunkler, selbstfabrizierter Glimmstängel wanderte von Hand zu Hand. Mit rissigen Lippen sogen die Männer abwechselnd an dem unförmigen, notdürftig zusammengerollten Stück Tabak. Wenn sie ein Missgeschick beim Spiel der Kinder sahen, offenbarte ein breites Lachen so manche Lücke in den gelben, schief stehenden Zahnreihen der Männer. Wie die Kinder hatten auch sie trotz der Hitze an diesem Spätnachmittag ihre Freude. Sie diskutierten wild gestikulierend und laut, aber freundschaftlich, und klopften einander von Zeit zu Zeit auf die Schultern. Sie ließen sich auch von den Gerüchten, die seit einigen Tagen die Runde machten, nicht ihre Stimmung verderben. Die Zionisten sollen ihre Siedlung mittlerweile komplett eingeschlossen und abgeriegelt haben. Es soll unmöglich geworden sein, das Gebiet zu verlassen, schwer bewaffnet würde das Militär die Ausgänge kontrollieren.
Für die Männer war das kein Grund zur Besorgnis. Gängeleien seitens anderer, sei es durch die Milizen des Landes oder durch die Israelis, war man gewohnt, und wenn man nichts zu verbergen hatte und sich kooperativ zeigte, wurde man in der Regel auch in Ruhe gelassen. Auch die Kinder schenkten den gelegentlichen Schüssen und den Tumulten, die in der Ferne zu hören waren, keine Beachtung. Einer der Jungen, er mochte vielleicht neun oder zehn Jahre alt sein, verließ die Gruppe, und wedelte wild mit den Armen, um sich von seinen Kameraden zu verabschieden. Sein Vater hatte ihm erzählt, was draußen vorging, aber ihn gleichzeitig auch beruhigt. Die Soldaten waren gläubige und gottesfürchtige Menschen. Auch wenn sie ihren Gott nicht Allah sondern Jahwe nannten und ihrem Glauben anders Ausdruck verliehen als er und seine Familie. Vor solchen Menschen brauchte man, wenn man nichts Böses tat, keine Angst zu haben. Am Morgen war er zu einem der Posten geschlichen und hatte die Soldaten von einem sicheren Versteck aus beobachtet, wie sie untereinander scherzten und mit umgehängten Gewehren alle, die versuchten das Gebiet zu verlassen, zurückschickten. Er empfand diese Menschen, wie sein Vater es ihm gesagt hatte, nicht als unmittelbare Bedrohung. Dafür hatte er hier schon zu viel erlebt.
Für ihn war es nun an der Zeit, nach Hause zu seiner Familie zu gehen. Er hatte seinem Vater versprochen, wenn es kühler wurde, ihm dabei zu helfen, mit ein paar Sperrholzbrettern eine Wand in den einen Raum, den sie zu fünft bewohnten, zu ziehen. Seine Mutter würde in Kürze ein weiteres Baby bekommen. Mit dem Sperrholz wollte sein Vater seiner Mutter und dem Neugeborenen ein bisschen Ruhe ermöglichen, wenn er und seine zwei kleineren Geschwister zu Hause waren. Er schätzte ab, ob es wirklich schon an der Zeit war, zu der sein Vater mit den Arbeiten beginnen würde und entschied, dass er noch ein wenig durch die Gassen schlendern konnte. Vielleicht erlebte er ja etwas Spannendes oder konnte etwas Brauchbares organisieren. Als er aufmerksam um sich blickend ziellos durch die Gegend lief, fiel ihm auf, dass nun immer häufiger Gewehrfeuer zu hören war. Auch vernahm er zunehmend deutlicher lautes Geschrei. Ob das panische Gekreische und die bittenden, klagenden Rufe von Männern, Frauen oder Kindern kamen, konnte er nicht immer genau sagen. Manchmal waren die Stimmen fast unwirklich und verzerrt, so dass es ihm vorkam, sie wären nicht menschlicher Natur.
Der Lärm kam aus der Richtung, wo er mit seinen Freunden mit dem selbstgebastelten Ball gespielt hatte. So wie es klang, musste sich dort irgendetwas Furchtbares abspielen. Er beschloss, zurückzugehen und in Erfahrung zu bringen, was vor sich ging.
Je näher er dem Platz kam, desto mehr Menschen kamen ihm in Panik entgegengerannt, manche blutüberströmt. Jüngere stützten Alte oder Verletzte, alle blickten immer wieder angsterfüllt hinter sich. Einige versuchten, den kleinen Jungen zum Umdrehen zu bewegen, ihn mitzuzerren, doch in dem Tumult konnte er nicht verstehen, was ihm die Leute zu sagen versuchten. Also drängte er sich in eine enge Seitengasse, um nicht gegen den Strom der Menschen ankämpfen zu müssen und lief angsterfüllt weiter um nachzusehen, wie es seinen Freunden ging.
Auf dem letzten Wegstück, das er geduckt und von einem Versteck zum nächsten hetzend zurücklegte, waren die Gewehrsalven ungeheuer laut geworden, und das Geschrei hatte auch noch zugenommen. Er kam zu dem letzten Verschlag vor dem Spielplatz, etwas größer als die üblichen Hütten auf dieser Straße.
Vorsichtig lugte er um die Wellblechwand, um einen Blick auf den Spielplatz werfen zu können. Instinktiv ruckte er ein Stückchen zurück, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Es dauerte einen Moment bis er realisierte, was dort vor sich ging. Eine Anzahl von Männern, die mit automatischen Gewehren ausgestattet waren, feuerte wahllos in die Menge. Menschen stürzten zu Boden, wurden überrannt, auf den Körper getreten. Frauen versuchten weinend, ihre Kinder mit dem eigenen Körper zu schützen, einige Männer versuchten mutig, den Angreifern näherzukommen um ihnen eine Waffe zu entreißen. Einer nach dem anderen fiel mit blutenden Wunden in Brust oder Kopf zu Boden.
Am ganzen Körper zitternd versuchte der kleine Junge, seine Freunde auszumachen. Am anderen Ende des Spielplatzes sah er die Gruppe von Kindern, die weinend den Versuch unternahmen, über den Maschendrahtzaun zu fliehen. Die Männer, die sie beim Spielen beobachtet hatten, halfen ihnen dabei, das Hindernis zu überwinden. Doch dann wurde dem kleinen Jungen gewahr, dass einige der Schützen den Fluchtversuch bemerkten und in Richtung der Kinder gingen. Die alten Männer stellten sich schützend vor die Kinder, doch die Angreifer zögerten keinen Moment und streckten sie mit mehreren Feuerstößen nieder. Dann begannen sie auf die kletternden Kinder zu schießen, und eines nach dem anderen fiel getroffen von dem Zaun.
Als einem der Schützen die Munition ausgegangen war, fing er an, mit dem Gewehrkolben auf die Köpfe der Kinder einzuschlagen und der kleine Junge konnte mit vor Entsetzen geweiteten Augen erkennen, wie das Blut aus den kleinen Körpern spritzte, und die Männer, wenn ein Kind zu Boden gefallen war, mit den Füßen nach ihnen traten und auf den Körpern herumzuspringen.
Plötzlich nahm er ein hohes Surren wahr, das rasend schnell an seinem Kopf vorbeizischte und einige Meter hinter ihm mit einem lauten, blechernen Geräusch an einer Hütte verstummte. Erst danach durchzuckte ein stechender Schmerz seine linke Hand, wo der Querschläger auf seinem Handrücken eine Streifwunde verursacht hatte. Er beachtete den Schmerz nicht weiter. Kaum einer Bewegung fähig kroch er zwischen eine Ansammlung von Plastikkanistern, ertastete eine schwere, undurchsichtige Plane, zog sie langsam über sich und begann in seinem Versteck leise vor sich hin zu wimmern.
Die Luft hatte schon merklich abgekühlt und es hatte sich bereits die Dämmerung über sein Versteck gelegt, als der kleine Junge es endlich wagte, einen Blick nach draußen zu werfen. Er schob die Folien, die ihn die letzten Stunden vor Entdeckung geschützt und ihm ein schwaches Gefühl von Sicherheit vermittelt hatten, vorsichtig ein wenig beiseite und versuchte zu erkennen, was sich um ihn herum befand. Der Krawall, die Schreie und Schüsse, die ihn veranlasst hatten, in seinem Versteck mit beiden Händen die Ohren zuzuhalten und die Augen fest zuzukneifen, hatten sich langsam immer weiter entfernt. Er konnte hören, dass der Schrecken immer noch im Gange war, aber die Horde von Männern, die seine Freunde am Nachmittag getötet hatte, schien ihr Unwesen nun etliche Straßenzüge weiter zu treiben. Er horchte angespannt. Der Lärm war weit genug fort, er konnte es wagen, den ganzen Kopf hinauszustrecken, um sich ein besseres Bild machen zu können. Seine Augen hatten genug Zeit gehabt, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, also konnte er schnell die schemenhaften Umrisse der Baracken um ihn herum erkennen. Es war kein Mensch zu sehen, zumindest ging niemand den staubigen Weg entlang, der an seinem Unterschlupf vorbeiführte. Er konnte auch keine Stimmen hören, eine seltsame Stille umgab ihn, wo doch normalerweise gerade um diese Zeit Kindergeschrei, lautes Diskutieren unter Männern und herzhaftes Lachen von den Frauen zu hören war. Der Junge spürte, dass er hier an diesem Fleck im Moment alleine war. Er schlug die Folien mit einem Ruck zurück und stand langsam auf. Die Wunde an seiner Hand tat ihm weh, aber sie hatte aufgehört zu bluten. Vorsichtig begann er sich umzusehen. Ein paar Meter von ihm lag etwas, das aussah, wie ein Haufen hellen Stoffes, der zusammengeknüllt am Wegrand lag. Doch der kleine Junge musste nicht erst sehen, dass das Tuch an etlichen Stellen von Blut getränkt und zerfetzt war, um zu wissen, dass es sich hierbei um einen toten Menschen handelte. Er konnte um sich herum noch einige andere Leichen erkennen, ging aber zu keiner hin, um sie sich genau anzusehen. Dann durchfuhr es ihn wie ein Stich mit einem Messer! Seine Familie! Sein Vater! Seine Mutter, die ihm bald ein weiteres Geschwisterchen bringen sollte! Seine zwei kleinen Brüder, auf die aufzupassen er seinen Eltern immer versprochen hatte, wenn er sie zum Spielen mitgenommen hatte. Plötzlich von unbändiger Panik und Furcht erfasst, versuchte er sich vorzustellen, in welcher Richtung von hier aus sein Heim lag. Mehrmals drehte er sich um sich selbst, versuchte sich zu erinnern, auf welchem Weg er hierhergekommen war. Nachdem er sich erinnert hatte, wie er gelaufen war, als ihm die Menschen angsterfüllt entgegengekommen waren, hatte er seine Orientierung wieder gefunden.
Angestrengt lauschte er auf den Tumult, den er immer noch gut wahrnehmen konnte, und versuchte auch, ihm eine grobe Richtung zu geben. Waren die Männer schon in seinem Viertel gewesen? Konnte er seine Familie noch warnen oder mit seinem Vater zusammen etwas gegen die Männer unternehmen? Er stellte sich so, wie er glaubte, um in die Richtung seiner Hütte zu blicken, schloss die Augen und horchte auf das Geschrei und die Schüsse. Der Lärm schien von rechts zu kommen und der Junge meinte zu erkennen, dass er sich weiter entfernte.
Vielleicht waren sie noch nicht dort!, dachte er hoffnungsvoll! Vielleicht haben sie einen anderen Weg genommen oder vielleicht sogar sein Viertel verschont!
Er rannte los. Er achtete nicht auf die Toten, die hier und da verkrümmt auf der Straße oder in den Eingängen zu den Baracken lagen. Er war nur von dem Gedanken beseelt, seine Familie zu warnen und hetzte die schmutzigen Wege entlang, um Ecken herum, sprang aus dem Lauf heraus über Abfall, Bauschutt, Leichen. Er spürte nicht, dass ihm das Herz bis zum Halse schlug, dass er sich die Fußsohle an einem scharfkantigen Blech aufgeschnitten hatte und auch die Wunde an seiner Hand wieder angefangen hatte zu bluten. Er merkte nur, dass ihm heiße Tränen ungehemmt durch das Gesicht liefen. Ich muss nach Hause, ich muss sie warnen und ihnen helfen! Dieser Gedanke hämmerte sich während des ganzen Weges in seinen Kopf. Als er sich seiner Behausung näherte, verlangsamte er vollkommen erschöpft von der Hatz seinen Schritt. Die Kleider klebten schweißnass an seinem Körper und er musste einen Augenblick anhalten. Weit vornüber gebeugt stützte er sich an einer roh gezimmerten Wand ab, atmete er einige Male tief durch und versuchte, Klarheit in das Chaos in seinem Kopf zu bekommen. Er war nur noch eine Querstraße von seinem Heim entfernt, und wie er da stand und langsam zu Atem kam, wurde ihm bewusst, dass auch hier niemand unterwegs war. Angst beschlich ihn. Kam er zu spät? Hatten die bösen Männer ihr Zerstörungswerk bereits verrichtet? Doch dann keimte Hoffnung in ihm auf. Er hatte seit einigen Minuten keine Toten mehr gesehen. Sicher hatten seine Familie und seine Nachbarn das Unheil kommen hören und waren geflohen. Bestimmt hatte sein Vater sofort die Situation erkannt und alle in Sicherheit gebracht. Sein Vater war besonnen genug, um alle zu den ausländischen Soldaten an einem der Zugänge zu führen, und die haben sie dann vor den Männern beschützt. Der kleine Junge beruhigte sich ein wenig und ging mutig in Richtung seiner Hütte, die er nach der nächsten Wegbiegung schon sehen konnte. Auch hier war alles still.
Es ist bestimmt so, wie ich es vermute, dachte er bei sich und näherte sich ohne Umschweife seinem Heim.
Doch dann blieb er erstarrt stehen. Direkt vor dem Eingang zu seiner Hütte lag jemand auf dem Rücken, die Arme rechts und links ausgestreckt, so, als wäre er am Boden gekreuzigt worden. Seine Kleidung war über der Brust aufgerissen und von Blut durchtränkt. Eine Gewehrsalve musste den Mann derart zugerichtet haben. Doch auch sein Gesicht war grauenhaft entstellt, unkenntlich, Fleischfetzen, in denen man weder Augen noch Nase oder Mund erkennen konnte. Das Werkzeug der Verstümmelung konnte der kleine Junge neben dem Kopf des Toten sehen: eine blutverschmierte Axt, an der auch Stofffetzen und Haare klebten, lag im Staub. Ein Rinnsal aus Blut hatte sich aus dem Hals des Opfers ergossen und unter dem Stiel des schweren Beils eine dunkle Lache gebildet.
Ungläubig starrte der kleine Junge auf den Leichnam. Er hatte schon aus einigen Metern Entfernung am Muster des Kaftans erkannt, dass es sein Vater war, der so grausam hingeschlachtet vor ihm lag. Wortlos, unter Schock schob er den Jutevorhang zur Seite und betrat sein ehemaliges Heim. Zitternd machte er die verbeulte Petroleumlampe an, die er selbst irgendwo gefunden und voll Stolz mit nach Hause gebracht hatte. Als er den Docht zurückgedreht und die Flamme aufgehört hatte zu flackern, bot sich ihm das grauenvolle Bild, das er von diesem Moment an jeden Tag vor sich sehen sollte, das ihn jede Nacht seines weiteren Lebens in seinen Träumen begleiten würde. Minutenlang stand er da, unfähig, sich zu bewegen. Regungslos und ohne jede Träne stellte er sich dem Anblick. Dann, ohne erkennbaren Anlass, löschte er die Lampe aus, drehte sich um und ging wieder hinaus zur Leiche seines Vaters. Dort kniete er an seiner Rechten nieder und nahm seine Hand. Der Ring, von dem sein Vater ihm erzählt hatte, dass er seit beinahe tausend Jahren im Besitz der Familie sei, war wie durch ein Wunder noch an seinem Finger. In ihrem Eifer mussten die Männer das kostbare Stück übersehen haben. Der Junge streifte ihn ab, sah ihn einen Moment mit versteinertem Gesicht an und schob ihn dann über seinen Daumen. Einen Moment verharrte er noch, dann stand er wie in Trance auf und begann, ziellos durch die Gassen zu irren.
Freiburg
Morgen, Schwarz!
Thomas und Sarah betraten den Obduktionsraum, zu dem Fräulein Finkenbeiner – die Empfangsdame der Rechtsmedizin bestand auf dieser Anrede – sie nach einem prüfenden Blick über die Halbgläser ihrer Lesebrille geschickt hatte. Peter Schwarz saß hinter dem Schreibtisch etwas abseits der Seziertische, die durch eine Glaswand und eine ebensolche Tür von dem Arbeitsplatz abgetrennt waren. Er hob nur kurz den Kopf und tippte weiter auf seinem Laptop.
Schon bei der Kundschaft? Wir wollten zuerst in Ihr Büro, aber dann hat man uns direkt hierher geschickt.
Thomas reichte Dr. Schwarz die Hand.
Auch Sarah begrüßte den Rechtsmediziner, der noch ein paar Tasten betätigte, bis schließlich der Drucker in der Ecke des Raumes anfing zu surren und ein Papier nach dem anderen ausspuckte. Schwarz erhob sich.
Guten Morgen, Frau Hansen, guten Morgen, Herr Bierman, erwiderte er, ja, in meinem Büro stapeln sich zurzeit die Akten. Ich habe vorhin kurz reingeschaut, aber die Berge waren immer noch da, also bin ich lieber hier heruntergekommen. Kaffee?
Thomas nickte, „gerne“, sagte Sarah. Sie begleiteten Schwarz auf den Flur in Richtung der kleinen Teeküche. Während dieser an dem Kaffeevollautomaten hantierte und aus dem Kühlschrank ein Kännchen mit fettarmer Milch bereitstellte, begann Thomas, der gewohnt ungeduldig war, mit seinen Fragen.
Hatte der Tote Ausweis, Führerschein oder Ähnliches bei sich?
Schwarz schüttelte den Kopf. Er stellte die erste volle Kaffeetasse auf ein Edelstahltablett für Sezierbesteck, füllte ein Porzellankännchen mit Milch und platzierte dieses in der Mikrowelle.
Zucker?
Thomas und Sarah schüttelten beide den Kopf.
Er hatte gar nichts bei sich, was für die Identifizierung hilfreich wäre. Der Leichnam war komplett unbekleidet. Entweder er war bereits nackt, als er ermordet wurde, oder aber der Täter hat ihn nach der Tat komplett ausgezogen. Wenn die Laborergebnisse kommen, kann ich dazu sicher mehr sagen.
Es war also tatsächlich ein Mord, sagte Sarah, auch wenn die Möglichkeit der Entsorgung eines natürlich Verstorbenen auch für sie keine wirkliche Alternative gewesen war.
War es noch möglich, Fingerabdrücke zu nehmen?
Schwarz wartete mit seiner Antwort das laute Mahlen der Kaffeemaschine ab.
Nein, das war leider unmöglich. Ich zeige Ihnen gleich, warum.
Er bugsierte die zweite Kaffeetasse auf das Tablett und nahm das Kännchen mit Milch aus der Mikrowelle.
Und irgendwelche anderen Spuren im oder an dem Koffer? Oder der Folie, vielleicht Epithelgewebe auf dem Seil?, fuhr Thomas mit seinen Fragen fort.
Vor allem auf einem Seil konnten sich sehr gut Spuren festsetzen, wenn der Täter zum Beispiel, ohne Handschuhe zu tragen, Knoten gezurrt hatte.
Ich habe gestern, nachdem ich die Leiche hier ausgepackt habe, alles zur Spurensicherung geschickt, aber was erwarten Sie? Das war am frühen Nachmittag, da müssen Sie sich noch ein Weilchen gedulden.
Er komplettierte das Trio der Kaffeetassen, nahm sich das Tablett und wies mit dem Kopf Richtung Tür.
Alles, was ich Ihnen über den Koffer sagen kann, ist, dass er außen sehr dreckig war. Die Plane war außen ziemlich sauber, aber innen ordentlich versaut, sagte er auf dem Weg den Flur entlang, aber das können Sie sich ja sicher vorstellen.
Sarah und Thomas nickten beide. Sarah hielt Schwarz die schwere Tür zum Obduktionsraum auf. Ihr Blick fiel auf den großen Aufkleber, der den Verzehr von Speisen und Getränken ausdrücklich verbot. Sie schaute zu Thomas, der nur mit den Schultern zuckte und hinter Schwarz den Raum betrat. Dieser hatte das Tablett bereits abgestellt und den Stapel Papier aus dem Drucker geholt. Sarah und Thomas angelten sich je eine Tasse Kaffee.
Und, woran ist unser kleiner Asiat denn nun gestorben?, fragte Thomas.
Schwarz nahm den frisch gedruckten Obduktionsbericht und schob ihn Richtung Thomas.
Steht alles hier drin. Ist allerdings nur vorläufig, die meisten Ergebnisse stehen noch aus. Aber da ich weiß, dass Sie ungern lesen und sich auch dieses Mal niemand finden wird, der es verfilmt, werde ich es Ihnen wohl mal wieder mündlich mitteilen müssen, sagte er.
Welchen anderen Grund hätten wir denn sonst, Sie in Ihren Katakomben zu besuchen?, grinste Thomas.
Er mochte Schwarz, und das freundschaftliche Geplänkel mit ihm gehörte ebenso zum Alltag wie die feindselige Anmache zwischen ihm und Gröber.
Weil der Kaffee hier um Längen besser ist, als bei Ihnen auf dem Revier? Außerdem sind die Leute hier unten viel ruhiger. Oder aber Sie wollen einfach meine reizende Gesellschaft nicht missen. Mir fallen etliche Gründe ein, mich in meinen Katakomben, wie Sie es ausdrücken, aufzusuchen!
Auch Schwarz lächelte.
Aber zurück zu Ihrem Stichwort „Asiat“. Ich habe Schädelvermessungen durchgeführt und auch ein Schichten-CT gemacht. Die Datenbanken lassen vermuten, dass es sich wirklich um einen Asiaten handelt. Auch die oberflächliche Inaugenscheinnahme des Kiefers bestätigt diese Vermutung. Dr. Mayer, unser Spezialist in Sachen Zähnen, wird sich das heute Nachmittag noch genauer ansehen. Aber die bisherigen Merkmale sind so ausgeprägt, dass ich nichts anderes erwarte als eine Bestätigung. Auch die Körpergröße in Bezug zum Alter lässt diesen Schluss zu.
Wie alt war denn das Opfer zum Zeitpunkt des Todes?, hakte Sarah ein.
Irgendetwas zwischen 35 und 45, eher Richtung 45. Er war somit ein männlicher Erwachsener. Körpergröße so um die 1,65 Meter, Gewicht um die 60 Kilo.
Thomas, der nachdenklich zugehört hatte, nickte.
Ok, also mit ziemlicher Sicherheit ein Asiate. Kleine Statur, bei dem besagten Gewicht eher schlank aber nicht schmächtig. Und woran ist er jetzt gestorben?
Schwarz sah die beiden Ermittler mit ernster Miene an.
Todesursache ist eindeutig Herzversagen.
Sarah und Thomas setzten wie abgesprochen eine demonstrativ gelangweilte Miene auf. Thomas fing an sich im Raum umzusehen, Sarah begutachtete ihre Fingernägel und pfiff dabei leise „New York, New York“.
Also gut, den kannten Sie offensichtlich schon, fuhr Schwarz nach einem kurzen Moment der Stille fort. Er war ein wenig enttäuscht darüber, dass sein Rechtsmediziner-Witz über die Tatsache, dass letzten Endes fast jeder an Herzversagen starb, bei Sarah und Thomas nicht die erhoffte Reaktion zur Folge hatte. Er bedeutete ihnen zum Seziertisch mitzukommen. Seine Kaffeetasse noch in der Hand, öffnete er die hermetisch schließende Glastür und augenblicklich schlug Sarah und Thomas eiskalte Luft entgegen. Schwarz schlug das weiße Tuch, welches den Körper des Toten bedeckte und an manchen Stellen bereits bräunlich durchfleckt war, komplett zurück.
Fangen wir mit dem Offensichtlichen an! Die etwas merkwürdige Stellung der Beine mag Ihnen auffallen, aber das liegt daran, dass unser Täter, nachdem das Opfer tot war, beide Beine extrem nach oben gebogen hat, damit er in diesen Koffer überhaupt hineinpasste. Er hat ihn sprichwörtlich zusammengefaltet. Ich habe aus obduktionstechnischen Gründen die Beine wieder in eine normale Position gebracht, aber so richtig gut sieht das halt nicht aus.
Sarah verzog angewidert das Gesicht. Schwarz gab Thomas eine Reihe von Fotos. Es waren die Aufnahmen von dem Leichnam in dem Koffer, die das Freilegen des Körpers Schritt für Schritt dokumentierten. Zuerst einige mit der Gewebeplane, dann folgten die Bilder, auf denen der Tote immer weiter zum Vorschein kam. Es war grausam anzusehen, denn er hatte tatsächlich den Kopf zwischen den Füßen.
Warum hat er ihn nicht einfach in eine Hocke gebracht und dann in den Koffer gepackt?, fragte Thomas.
Dazu hat der Tote ein zu breites Kreuz. Seine Schultern sind doppelt so breit wie sein Brustkorb stark ist. Der Koffer war einfach nicht tief genug.
Und wenn er den Oberkörper gegenüber der Hüfte um 90 Grad verdreht hätte?
Sarah betrachtete die Bilder und versuchte sich vorzustellen, wie der Täter diese abscheuliche Verstümmelung hätte vermeiden können.
Dann hätte er dasselbe Problem mit der Hüfte bekommen. Hüfte und Schultern sind so breit, dass sie beide flach auf dem Boden des Koffers zu liegen kommen mussten. Es handelt sich hier also nicht um unnötige Gewalt sondern schlicht um Notwendigkeit. Offensichtlich war dieser Koffer das einzige Behältnis, in dem unser Täter die Leiche fortschaffen konnte. Die Alternative wäre gewesen, die Beine abzutrennen und sie dann neben den Körper zu packen. Aber warum eine riesige Sauerei veranstalten, wenn es auch ohne unnötiges Blutvergießen geht? Auf jeden Fall sind bei dieser Aktion beide Hüftgelenke aus den Pfannen gesprungen, eines ist sogar gebrochen. Sämtliche Bänder und Sehen sind massiv gedehnt oder gerissen. Ich muss es an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Dazu ist eine ziemliche Kraft notwendig. Ihr Täter dürfte also sehr kräftig gebaut sein oder aber zumindest über relativ große physische Kräfte verfügen. Und er dürfte auch relativ groß sein, aber darauf komme ich später. Was ich sagen wollte: das Brechen der Beine und alles, was ich sonst an dem Leichnam feststellen konnte, ist postmortal geschehen, außer diesem hier.
Er deutete auf eine Verletzung, die sich von der linken bis zur rechten Seite des Brustkorbes hinzog, augenscheinlich ein Stückchen unter dem letzten Rippenbogen.
Ursächlich für das Ableben unseres kleinen Freundes ist allein diese Stich-Schnittwunde. Keine Kampfspuren, keine Abwehrverletzungen, keine Hämatome. Keine weiteren Stich- oder Schnittverletzungen mit Ausnahme... aber darauf komme ich später zurück. Als tödliche Verletzung kommt nur diese eine in Frage.
Schwarz sah seine beiden Zuhörer aufmerksam an. Da sie keine Frage stellten, trank er von seinem Kaffee, die er neben die Leiche auf den Seziertisch gestellt hatte, und fuhr dann fort.
Der Stich, oder besser: der Schnitt ist sehr tief, ganz genau kann ich das wegen des Zustandes des umgebenden Gewebes nicht sagen, aber schätzungsweise 16 Zentimeter plus/minus maximal zwei Zentimeter.
Thomas maß die 16 Zentimeter zwischen seinen Händen.
Das ist dann in etwa die Länge der Mordwaffe. Gehen Sie von einem Messer aus? Oder kann es auch etwas anderes gewesen sein?
Schwarz schüttelte den Kopf.
Ich tippe in jedem Fall auf Messer, und zwar extrem scharf! Zumindest vermute ich das. Sehen Sie mal her.
Er hatte sich Gummihandschuhe übergezogen und zog die Wundränder etwas auseinander, damit Sarah und Thomas einen Blick hineinwerfen konnten.
Sehen Sie das? Über etwa zehn Zentimeter hinweg ist die Wunde in etwa gleich tief, dann fängt sie an, nach außen hin flacher zu werden. Der Täter hat auf der linken Seite zugestochen und dann die Wunde mit einem Schnitt immer dem Rippenbogen folgend nach rechts ausgeweitet. Selbst beim Herausziehen der Waffe hat er diese noch nach rechts bewegt und dabei den Schnitt weitergeführt.
Sarah ergriff das Wort.
Das bedeutet, wir können über die Breite des Werkzeuges keine Aussage machen? Gibt es Hinweise auf die Beschaffenheit oder Form, vielleicht den Schliff?
Schwarz musste verneinen
Leider nicht. Das hat zwei Gründe. Erstens ist das Gewebe, wie schon erwähnt, bereits zu stark angegriffen, als dass man Rückschlüsse auf Form und Schliff ziehen könnte. Und dann, und da muss ich sagen, haben wir ziemlich Pech, hat der Täter mit der Waffe weder Knochen noch Knorpel getroffen. Dort hätte er sonst Spuren hinterlassen, die uns unter Umständen weiter geholfen hätten. So aber hat er nur weiches Gewebe durchtrennt.
Sie sagten ja eben, dass der Täter über enorme körperliche Kräfte verfügt. Könnte die Wunde auch mit Gewalt gerissen worden sein, zum Beispiel mit einem Schraubenzieher oder etwas in der Richtung?, wandte Sarah ein.
Nein, soweit reichen die Spuren im Gewebe dann doch aus, um das auszuschließen, antwortete Schwarz. Außerdem: sehen Sie sich die Wunde an, sie ist über die komplette Länge fast gleichbleibend tief. So etwas bekommen Sie nur mit etwas von der Schärfe eines Sushimessers hin. Das menschliche Gewebe ist in diesem Bereich zu weich und auch zu dehnbar, als dass man eine solche Wunde mit etwas weniger Scharfem verursachen könnte!
Thomas trug die Fakten zusammen.
Das bedeutet, wir haben eine Mordwaffe, die etwa 14 bis 18 Zentimeter lang und auf jeden Fall spitz ist. Auf mindestens einer Seite besitzt sie außerdem eine extrem scharfe Schneide. Da kommt ja nur ein Messer in Frage!
Schwarz überlegte nur einen kleinen Augenblick.
Wenn ich mich festlegen sollte, ja, ein Messer. Dafür sprechen auch die folgenden Wunden. Sie erinnern sich, dass ich keine Fingerabdrücke nehmen konnte? Die Chance wäre bei dem allgemeinen Zustand der Leiche schon relativ gering gewesen, aber der Täter hat es ganz bewusst unmöglich gemacht.
Schwarz griff nach dem Handgelenk des Toten und drehte den Arm, der flach neben dem Körper auf dem Edelstahltisch lag, so, dass Sarah und Thomas die Handinnenflächen und die Finger sehen konnten. Obwohl die Verwesung auch hier bereits deutliche Spuren hinterlassen hatte, war auch für einen Laien leicht zu erkennen, dass an den Fingerkuppen erhebliche Verstümmelungen stattgefunden hatten.
Wie Sie sehen, fehlt an den Fingerspitzen erheblich mehr Gewebe, als sich durch die beginnende Verwesung erklären ließe. Der Täter hat unserem kleinen Freund hier die Fingerkuppen abgeschnitten. Nicht, wie in Mafiafilmen, das komplette erste Glied, sondern nur das Fleisch. Auch dafür muss er ein sehr scharfes Messer benutzt haben.
Schwarz gestattete Sarah und Thomas einen längeren Blick und legte dann den Arm wieder auf den Seziertisch.
Das ist ja grauenhaft!, entfuhr es Sarah.
Meinen Sie, er wurde gefoltert?
Schwarz und Thomas schüttelten beide den Kopf. Der Mediziner ließ Thomas den Vortritt mit seiner Interpretation.
Wenn nur eine geringe Anzahl an Fingerkuppen fehlen würde, könnte das auf eine Folter oder gezieltes Quälen hindeuten. Aber da alle zehn fehlen, würde ich stark vermuten, dass der Grund für die Verstümmelung einzig in der Erschwerung der Identifizierung zu suchen ist und diese postmortal stattgefunden hat.
Schwarz bestätigte das.
Medizinisch kann ich das nicht eindeutig sagen, aber es passt ins Bild: der abgelegene Fundort, keine Papiere, keine Kleidung. Der Täter wollte es uns wirklich nicht leicht machen!
Und weiter erschwerend ist die Tatsache, fügte Thomas hinzu, dass er auch hier nur durch weiches Gewebe geschnitten hat. Ob er mit Absicht vermieden hat, mit seinem Werkzeug Knochen zu treffen?
Er zuckte mit den Schultern.
Behalten wir diesen Zufall mal im Hinterkopf. Haben Sie in der Umgebung der verschiedenen Wunden Fremdblut oder andere Spuren feststellen können?
Sie meinen, falls sich der Täter im Umgang mit dem scharfen Werkzeug selbst verletzt hat? Nichts Offensichtliches. Aber selbstverständlich habe ich die üblichen Abstriche gemacht, auch um und in der Wunde. Das Labor untersucht auf mögliche Fremd-DNA. Diese Ergebnisse stehen aber noch aus. Ebenso die pharmakologischen Befunde. Auch wenn die Todesursache hier offensichtlich ist, habe ich die Standardtests veranlasst.
Er sah auf die Uhr an der Stirnseite des Raumes.
Mit sehr viel Glück bekommen wir da heute noch etwas, aber ich rechne nicht vor morgen früh damit. Die DNA-Tests dauern noch bis mindestens übermorgen.
Wir haben also ein bis etwa 18 Zentimeter langes, superscharfes Messer.
Thomas schloss das Thema Mordwaffe ab und nahm seinen letzten Schluck Kaffee.
Aber zurück zur Todesursache: ist er verblutet?
Das ist anhand der Größe und der Art der Wunde wahrscheinlich. Der Stich beziehungsweise Schnitt hat, das haben Sie vorhin sehen können, in einem aufwärtsgerichteten Winkel stattgefunden. Etwa 40 Grad. Der Einstich trifft Magen und linken Lungenflügel. Dann durchtrennt er, indem er die Waffe nach rechts führt, die Aorta und landet schließlich in Leber und rechtem Lungenflügel. Das hatte, neben der Aortaruptur, einen doppelseitigen Pneumothorax zur Folge. Die Lunge kollabiert, das Opfer kann nicht oder nur äußerst schwer atmen. Gleichzeitig schießt das Blut mit einem daumendicken Strahl aus dem Körper. Ob er letzten Endes erstickt oder verblutet ist, ist hier nicht von Relevanz, denke ich. Aber mit allergrößter Wahrscheinlichkeit verblutet.
Thomas und Sarah sahen sich die Verletzung noch einmal genau an, während Schwarz wie zuvor das Gewebe vorsichtig auseinanderhielt. Nach einigen Augenblicken richtete sich Sarah wieder auf und blickte etwas skeptisch in ihre Kaffeetasse. Schließlich nahm sie nach einigem Überlegen doch einen Schluck, den sie allerdings eher herunterzuwürgen schien, als ihn wirklich zu genießen. Thomas, der ihr Zögern ein wenig belustigt mitverfolgt hatte, wandte sich wieder Schwarz zu.
Haben Sie anhand der Spuren eine Theorie, wie es zu der Verletzung gekommen ist?, fragte er den Mediziner.
Ich habe über verschiedene Szenarien nachgedacht. Lage und Größe der Wunde, sowie die Richtung des Einstichs und der darauffolgenden Bewegung des Tatwerkzeuges, lassen für mich aber eigentlich nur einen Tathergang zu, sagte Schwarz, nachdem er Handschuhe ausgezogen und in einen Mülleimer unter dem Seziertisch geworfen hatte.
Der Täter, Rechtshänder und ein ordentliches Stück größer als das Opfer, kommt von hinten. Er sticht dem völlig ahnungslosen Kontrahenten vorne links vom Brustbein unter den Rippenbogen.
Schwarz stellte sich hinter Thomas und demonstrierte mit bloßer Faust die Bewegung.
Der Stich ist nach oben gerichtet und dringt aufgrund der Länge der Tatwaffe sehr weit in den Brustkorb ein, trifft die Lunge. Dann reißt er das Messer mit einer sehr kräftigen und schneidenden Bewegung unterhalb des Rippenbogens nach rechts und vergrößert so die Verletzung um ein Vielfaches.
Schwarz fuhr die Bewegung auf Thomas Körper nach.
Jetzt hat das Opfer keine Chance mehr. Die Lunge kollabiert augenblicklich, die Aorta ist durchtrennt, der Tod tritt innerhalb zwei, maximal drei Minuten ein.
Thomas löste sich aus Schwarz’ Griff und stellte sich hinter ihn.
Und wenn der Täter unserem kleinen Freund die linke Hand auf den Mund gelegt hat und ihn nach dem Stich zum Beispiel mit dem Knie, entgegen seiner natürlichen Schmerzreaktion, ins Hohlkreuz gezwungen hat – Thomas drückte Schwarz das Knie in den Steiß und hielt ihn, während sich dieser unweigerlich nach hinten krümmte, mit beiden Händen fest – dann hat die Wunde weit geklafft und das Kollabieren der Lunge ging so schnell, dass er keinen Ton rausgebracht hat, richtig?
Thomas ließ Schwarz los, der mit übertriebener Theatralik beide Hände an die Lendenwirbel legte und über seine Bandscheiben zu lamentieren begann. Dann lächelte er die doch leicht erschrockene Sarah verschmitzt an und wandte sich Thomas zu. Er brauchte nur einige Sekunden Bedenkzeit, um mit einem Nicken zu bestätigen.
Ja, sagte er, mehr als ein leises Röcheln war dann nicht mehr drin. Wenn es sich so abgespielt hat, ging das Ganze ziemlich flott und fast lautlos vonstatten. Allerdings – und das muss ich nochmals betonen, wenn man bedenkt wie viele Organe und Gewebe er mit dem einen Schnitt durchtrennen musste – muss man zu dem Schluss kommen, dass er äußerst kräftig und seine Tatwaffe fast schon rasiermesserscharf war!
Thomas sah Sarah und Schwarz erst eine Weile an und schien seine Gedanken zu ordnen. Dann schloss er kurz die Augen und nickte wie zu sich selbst, die Lippen leicht gespitzt. Sarah kannte diesen Ausdruck bei Thomas. Er hatte zumindest einen Verdacht. Sie überlegte, ob sie ihn fragen sollte, verwarf den Gedanken aber. Er würde es ihr zunächst unter vier Augen sagen wollen.
Können Sie uns sagen, wie lange er schon tot ist?, wollte Thomas nun wissen.
Das gehört noch zu den Dingen, die genau bestimmt werden müssen, entgegnete Schwarz.
Da die Überreste einigermaßen hermetisch von der Umwelt abgeschlossen waren, haben wir keinen Insektenbefall, der uns die Arbeit normalerweise erleichtern würde. So aber sind wir für die Eingrenzung auf die reinen biochemischen Prozesse der stattfindenden Verwesung angewiesen. Hängt bekanntlich von sehr vielen Faktoren ab. Ich habe die Daten der nächstgelegenen Wetterstationen angefordert. Tag- und Nachttemperaturen, Niederschläge, Bewölkung, alles, was eine Rolle spielt. Wenn ich das alles habe, werde ich es mit dem Computer noch genauer eingrenzen können. Außerdem habe ich heute Morgen einen Praktikanten zu der Fundstelle geschickt, der soll mal den Tag über feststellen, wie die Sonne so an diesen Fleck kommt und die Temperaturen am Boden messen. Er ist angewiesen, das über zwei, drei Tage zu machen, dann kann ich die spezifischen Abweichungen zu den Daten der Wetterstationen besser abschätzen. In diesen kleinen Tälern kann das Lokalklima ganz erheblich von der Großlage abweichen. Aber bis ich die Daten ausgewertet habe, nehmen Sie als Richtwert mal zwei bis drei Wochen.
Sarah löste den Blick von Thomas, den sie bis jetzt angesehen hatte.
Wie groß ist die maximale Abweichung?
Schwarz neigte den Kopf hin und her und zog Luft durch die Zähne.
Da ist im Moment noch relativ viel möglich, sagen wir plus/minus fünf bis sieben Tage. Ich schätze, dass ich es Ihnen nach Auswertung aller Daten aber auf ein, zwei Tage genau werde sagen können.
Thomas nahm Sarah die leere Kaffeetasse ab und stellte sie zusammen mit seiner auf das Tablett am Schreibtisch. Sarah nahm diese ungewohnte Geste erfreut wahr.
Ok, sagte er, dann erst mal danke. Wenn Sie noch etwas rausbekommen oder die Ergebnisse der Tests da sind...
... dann rufe ich sofort an, wie immer.
Schwarz drückte Thomas den vorläufigen Obduktionsbericht und den Stapel mit den Fotos in die Hand.
Dann wünsche ich Ihnen beiden einstweilen einen schönen Tag und grüßen Sie Herrn Dr. Gröber.
Er zwinkerte Sarah zu und hielt den beiden Ermittlern die Tür auf.
Sarah und Thomas warteten vor dem Aufzug, um zum Sitzungssaal zu gelangen. Die erste Besprechung, die Gröber persönlich leiten wollte, stand an. Da zum derzeitigen Zeitpunkt kaum konkrete Hinweise oder Spuren vorhanden waren und der Großteil der medizinischen und labortechnischen Befunde noch ausstand, diente die Besprechung hauptsächlich dazu, die Kollegen, die dem Fall zugeordnet wurden, zu informieren. Auf der Fahrt von der Gerichtsmedizin hatte Thomas Sarah bereits mitgeteilt, was er für ein Bild von der Todesursache, der Täter-Opfer-Beziehung und den möglichen Hintergründen hatte. Sarah fand es ganz wichtig, dass sie beide vor solchen Meetings den gleichen Wissensstand hatten, damit nicht einer von ihnen vor den Kollegen und vor allem vor Gröber in eine peinliche Situation geriet. Außerdem war ihr gegenseitiger Austausch immer sehr fruchtend gewesen. Thomas hatte Sarah von Beginn ihrer Zusammenarbeit an immer in seine Theorien eingeweiht und ihr kritisches Feedback eingefordert. Der erste Austausch, den er immer mit ihr alleine machte, und die darauf folgenden Diskussionen hatten meist zu sehr interessanten Ansätzen geführt und sie im Laufe der Zeit besser und eingespielter werden lassen. Außerdem waren die Sachverhalte dann schon von zwei Personen mit durchaus unterschiedlichen Standpunkten beleuchtet und dadurch gefiltert oder weiterentwickelt worden. Das versetzte sie in die Lage, die Kollegen nur mit fundierten und plausiblen Theorien zu konfrontieren. Auch nach außen gaben sie so ein äußerst kompetentes Duo ab. Letzten Endes war auch das mit ein Grund, warum Gröber trotz seiner offensichtlichen Abneigung Thomas gegenüber diesen fast immer zum Leiter der zusammengestellten Kommissionen machte. Und das, obwohl er mit seinen 36 Jahren noch zu den jüngeren Ermittlungsbeamten gehörte.
Als sie im Sitzungssaal ankamen, saßen dort bereits Hans Pfefferle und sein Partner Thorsten Neubauer sowie Karen Polocek und Nico Berner. Sarah sah auf die Uhr: absolut pünktlich. Gröber würde mindestens 15 Minuten später kommen, nur um seine Wichtigkeit zu demonstrieren.
Sarah und Thomas begrüßten ihre Kollegen und setzten sich auf die freien Plätze am oberen Ende des Tisches.
Und, wollen wir schon anfangen oder lieber warten, bis der Chef da ist?
Pfefferle war ein gemütlicher, ziemlich übergewichtiger Kollege von 52 Jahren, der, den Vorruhestand bereits im Blick, in Bezug auf Gröber eine ähnlich lässige Haltung hatte wie Sarah und Thomas. Auch Karen Polocek und Nico Berner konnten gut mit Gröber umgehen, sie, ähnlich wie Sarah, mit einer eher souveränen Art, er, fast im Stile von Gröber selbst, mit einem gehörigen Schuss an Überheblichkeit und Arroganz. Allein Thorsten Neubauer, der leptosome, kurzhaarige Neuling, den Pfefferle unter seine Fittiche hatte nehmen müssen, war geradezu panisch, wenn Gröber einen seiner Ausbrüche bekam. Wenn Gröber erste Anzeichen von Missbilligung erkennen ließ, trat bei Neubauer sofort der Schweiß auf die Stirn, er begann zu stammeln und sogar seine Pickel traten auf der blassen Haut weiter hervor und schienen an Farbe zuzunehmen. Er war wohl der einzige, der Gröber beflissen mit Herr Doktor anredete ohne zu wissen, dass er ihm damit bitterbösen Spott entgegenbrachte.
Wie würde er das aufnehmen, wenn wir ohne ihn anfangen würden?, fragte er und es war klar, dass er alles vermeiden wollte, was Gröbers Stimmung bereits zu einem so frühen Zeitpunkt könnte kippen lassen.
Der doppelte Konjunktiv verdeutlichte seine Unsicherheit.
Nun machen Sie sich mal nicht ins Hemd, Neubauer. Er wird Sie schon nicht auffressen, brummte Pfefferle.
Andererseits können wir die Zeit nutzen und noch einen Kaffee trinken. Ziehen Sie doch mal los und besorgen Sie uns sechs schöne Becher Automaten-Cappuccino.
Und wenn Gröber vor mir da ist?, entgegnete Neubauer und seine Nasenspitze begann schon etwas weiß zu werden.
Alle verdrehten die Augen, nur Nico Berner ignorierte die Situation völlig und betrachtete gelangweilt die Decke. Doch bevor jemand eine bissige Bemerkung in Richtung Neubauer machen könnte, öffnete sich die Tür und Gröber trat ein. Wie auf Kommando blickten alle mit mehr oder weniger gut verstecktem Erstaunen auf ihre Armbanduhren. Eine Sekunde Stille im Raum.
Uhrenvergleich, kommentierte Thomas lautstark und unverhohlen grinsend die komisch anmutendende Situation. Während Sarah „Rado“ sagte, Pfefferle „Citizen“ einwarf, Karen Polocek ihre leeren Unterarme hob und Berner ob des billigen Spaßes ein leicht angewidertes Gesicht zog, war von Thomas Neubauer ein „13.04 Uhr“ zu hören.
Naturgemäß hatte auch Gröber den Witz nicht verstanden oder gab das zumindest vor und ging ohne eine Reaktion oder einen Gruß zum Thema über, während Sarah, Thomas und Pfefferle noch den verwirrten Ausdruck auf Neubauers Gesicht genossen. Dieser blickte unsicher und nervös von einem zum anderen.
Legen wir gleich los! Bierman, die Fakten. Und, wie immer, zuerst nur die Fakten. Rückschlüsse und Theorien später.
Thomas nickte. Ohne in seine Unterlagen zu sehen begann er, die bisherigen Ergebnisse zu referieren.
Wir haben eine bisher nicht identifizierte männliche Leiche. Körpergröße etwa 165 Zentimeter. Mit großer Sicherheit Asiate oder asiatischer Abstammung. Opfer eines Gewaltverbrechens. Todesursache ein einziger sauberer aufwärtsgerichteter Schnitt unter dem rechten Rippenbogen, der die Lunge massiv verletzt hat. Keine Abwehrverletzungen oder Folterspuren. Todeszeitpunkt in etwa vor drei Wochen. Die Leiche sauber in einer Gewebefolie eingebunden und einem Reisetrolley verpackt. Dazu wurden dem Opfer posthum die Hüftgelenke gebrochen. Des Weiteren wurden die Fingerkuppen an allen zehn Fingern mit einem scharfen Gegenstand abgeschnitten, ohne die darunter liegenden Knochen zu verletzen. Das geschah nach Einschätzung des Rechtsmediziners auch nicht aus Zwecken der Folter, sondern ebenfalls nach Eintritt des Todes. Die Verstümmelung dürfte dazu dienen, die Identität des Opfers zu verschleiern.
Er griff zu dem Stapel von Fotos, den Schwarz seinem vorläufigen Obduktionsbericht hinzugefügt hatte, und warf die Bilder nacheinander für alle sichtbar mitten auf den Tisch. Dann griff er zu dem Umschlag der Spurensicherung, den sie auf dem Weg ins Besprechungszimmer noch abgeholt hatten, und entnahm diesem einen Packen ausgedruckter Digitalbilder vom Fundort. Er breitete auch diese für jeden sichtbar aus.
Der Koffer wurde mit einigem Aufwand in einem abgelegenen Stück Wald in Günterstal versteckt. Kleidung und amtliche Dokumente wurden vom Täter, analog zu den abgeschnittenen Fingerkuppen, zur Erschwerung der Identifizierung entfernt. Aufgrund der fortgeschrittenen Verwesung ist kein Lebendbild zu erstellen. Der Abgleich mit der bundesweiten Vermisstendatenbank, den wir gestern trotz der wenigen Fakten über Körpergröße, Geschlecht, Zeitpunkt des Verschwindens und möglicher Abstammung durchgeführt haben, hat zu keinem vielversprechenden Ergebnis geführt. Pharmakologische und toxikologische Befunde, DNA-Analyse, Gebissschema, Analyse des Mageninhaltes, Abstriche jeder Art, sowie die Ergebnisse der erkennungsdienstlichen Untersuchung von Koffer, Folie, Seil und des gesamten Tatortes stehen noch aus. Das ist im Wesentlichen alles, was wir zu diesem Zeitpunkt an Fakten haben.
Die Bilder wurden von allen eindringlich begutachtet. Einer nach dem anderen lehnten sich die Polizisten zurück und blickten mehr oder weniger erwartungsvoll in Richtung Gröber. Es lag an ihm, die nächste Runde einzuläuten. Als dieser das letzte Bild aus der Hand gelegt hatte, wandte er sich an den jüngsten Kollegen.
Neubauer!
Ein leichtes Zusammenzucken.
Ja, Herr Dr. Gröber?
Gehen Sie doch mal ein Stockwerk tiefer und bringen Sie jedem einen Cappuccino, während wir das mal auf uns wirken lassen.
Merkliches Lächeln in den Augen der meisten Besprechungsteilnehmer. Neubauer ausgenommen, war Nico Berner der einzige, der sich durch seine Nichtreaktion von den Übrigen zu distanzieren suchte.
Sarah fand sein Benehmen befremdlich, fast noch unangenehmer als das von Gröber. Sie wusste, dass Berner auf einer Hacienda in Argentinien aufgewachsen war, Enkel deutscher Auswanderer, der in den ersten Jahren seines Lebens vom Zimmermädchen bis zum Chauffeur alles hatte, was man sich als betuchte Familie in Südamerika leisten konnte. Das Geld und auch das Umfeld mussten ihn zu dem Macho gemacht haben, der er heute war. Seine Gestik und Mimik deuteten eigentlich ständig an, was er für eine Meinung von seinem Gegenüber oder dessen augenblicklichem Niveau hatte, und dass er sich selbst für etwas Besseres hielt. So gesehen war es nicht dumm von Gröber gewesen, ihm die blitzgescheite und selbstbewusste Karen Polocek zur Seite zu stellen. Trotz ihres polnischen Namens war sie ein mediterraner Typ mit langen schwarzen Haaren und fast ebenso dunklen Augen. Ihre ziemlich füllige Figur hatte sie anfangs zu einem Objekt Berners plumper Sprüche werden lassen. Aber da sie äußerst schlagfertig, gebildet und eine gute Ermittlerin war, musste dieser sehr schnell erkennen, dass ihm Karen überlegen war – auf so manchen Gebieten. Nach wenigen Versuchen, ihr auf verschiedenste Weise ihre Position ihm gegenüber klarzumachen, hatte er es aufgegeben und seitdem funktionierten die beiden als Team auf einer sehr distanzierten, professionellen Ebene recht gut.
Nach wenigen Minuten trat Neubauer ein, auf einem Tablett balancierte er sieben dampfende Becher. Angefangen bei Gröber stellte er jedem einen an seinen Platz. Dieser nahm einen Schluck Cappuccino.
Als Erstes irgendwelche Fragen an die Kollegen Bierman und Hansen?, lud er die Ermittler ein.
Pfefferle ergriff das Wort.
Fundort ist ja offensichtlich nicht der Tatort. Irgendwelche Hinweise auf das Transportmittel? Reifenabdrücke, Bremsspuren, Schleifspuren, Fußabdrücke?
Er blickte Sarah an. Sie schüttelte den Kopf.
Absolut nichts Verwertbares.
Irgendwelche Hinweise auf die Tatwaffe?
Sarah schilderte kurz, was sie mit Schwarz in der Gerichtsmedizin diskutiert hatten. Danach hielt im Sitzungsraum mehr oder weniger Stille Einzug.
Ok, dann lassen Sie Ihren Assoziationen mal freien Lauf, forderte Gröber auf, nachdem er einige Sekunden von Einem zum anderen geschaut hatte.
Wer schreibt am Whiteboard?
Ohne einen Ton zu sagen stand Berner auf, griff sich einen Stift und blickte ausdruckslos in die Runde.
Täter und Opfer standen in einer Beziehung zueinander. Bei einem Zufallsopfer, bei Raub oder einer Streiterei hätte der Täter sich nicht die Mühe gemacht, die Spuren so zu verwischen. Er hat Angst, dass man ihn über das Opfer identifiziert.
Karen hatte sich vorgebeugt.
Und diese Mühen zeugen davon, dass der Täter sich sicher ist, unerkannt bleiben zu können. Das spricht dafür, dass es bei der Tat keine Zeugen gab, er also mit dem Opfer alleine war.
Thomas nickte. ... oder mit den Tätern... was wiederum untermauert, dass Opfer und Täter sich gekannt haben. Oder aber der Angriff kam so überraschend und schnell, dass unser Toter seinen Angreifer nicht bemerkt hat. Es könnte auch eine Kombination von beidem sein.
Gibt es Grund zur Annahme, dass es mehrere Personen waren? Oder konkrete Hinweise, dass es sich nur um einen Einzelnen handelt?, hakte Karen nach.
Sarah nahm die Frage auf.
Weder das Eine, noch das Andere. Die Indizien zeigen eindeutig, dass es einem kräftigen Mann durchaus möglich war, sowohl das Opfer zu töten, als es auch mit einer gewissen Anstrengung zu verpacken und an die Fundstelle zu verfrachten. Es spricht nichts zwingend für Helfer. Aber wie gesagt, das bedeutet nur, dass es eine Person getan haben könnte und schließt das Vorhandensein Weiterer nicht aus!
Stichwort „Opfer töten“.
Nico Berner hatte auf dem Whiteboard die Möglichkeiten der alleinigen sowie mehrfachen Täterschaft notiert.
Gibt es Erkenntnisse darüber, wie die Tat genau stattgefunden hat?
Thomas nickte, riss den vollkommen ahnungslosen Thorsten Neubauer von seinem Stuhl und demonstrierte, was sie in der Rechtsmedizin mit Schwarz diskutiert hatten.
So kann man das Zustandekommen der Wunde perfekt erklären... Einzeltäter!
Er drehte sich, den verschüchterten Kollegen noch immer fest im Griff, zu Pfefferle und bat ihn, in der jetzigen Stellung als zweiter Täter auf verschiedene Arten zuzustechen. Es wurde allen schnell klar, dass, egal wie Pfefferle sich stellte oder wie er sein „Messer“ auch hielt, die Verletzung nur unter seltsamen Annahmen und unsinnigen Griffhaltungen zustande kommen konnte. Gegen jede Alternative gab es stichhaltige Einwände, die verdeutlichten, dass die Theorie vom hinter dem Opfer stehenden Einzeltäter die wahrscheinlichste war. Thomas ließ den leicht verkrampften Neubauer los und schlug ihm auf die Schulter.
Gut gemacht!
Ok, damit wissen wir allerdings nicht, ob noch andere anwesend waren, fasste Nico Berner zusammen.
Diese Frage ist also noch offen.
Ist zum derzeitigen Stand auch nicht von Relevanz, angesichts der verschwindend geringen Menge an Fakten, knurrte Gröber.
Was ziehen Sie aus den Umständen der Tat für Schlüsse, Bierman?
Zumindest ein Verdacht, der sich mir aufdrängt, ist ein sehr unangenehmer. Die Art, wie das Opfer unseren Vermutungen nach zu Tode kam, wird bei den Spezialeinheiten und Geheimdiensten als eine von verschiedenen perfekten Methoden gelehrt, einen einzelnen Gegner aus dem Hinterhalt heraus im Nahkampf zu töten.
Warum sticht man dann nicht von hinten ins Herz?, fragte Thorsten Neubauer, der sich zum Erstaunen der anderen zu Wort meldete.
Ist doch sicherer und schneller!
Falsch!, stellte Thomas richtig.
Erstens ist die Gefahr, bei der Attacke auf das Herz von hinten an der Wirbelsäule oder den Rippen hängen zu bleiben, viel zu groß. Zweitens führt der Stich ins Herz keinesfalls zum sofortigen Tod! Das Opfer kann noch eine ganze Weile leben und dabei, und das ist jetzt das Entscheidende, sprechen, weglaufen und auch schreien. Der wichtige Punkt dieser Methode hier ist, dass, wenn man es richtig macht, praktisch kein Laut mehr über die Lippen des Opfers kommt. So tötet man lautlos! Und da diese Methode ein spezielles Wissen und auch eine gewisse Übung voraussetzt, hege ich den Verdacht, dass es sich bei unserem Täter um einen Profi handeln könnte. Die Tat war so perfekt umgesetzt, dass ich hier nicht an einen Zufall glaube.
Betretenes Schweigen in der Runde zeigte an, dass jeder der Anwesenden Thomas’ Ausführungen für stichhaltig und glaubwürdig erachtete und zumindest die Möglichkeit gegeben war, dass er mit seiner Theorie, das Opfer könnte von einem Profi getötet worden zu sein, recht haben könnte. Dann war es wieder Thorsten Neubauer, der, für seine Verhältnisse fast schon vorlaut, mit einem neuen Gedanken aufwartete.
Aber wenn er ein Profi ist, dann weiß er auch, dass eine Person genauso gut wie über ihre Fingerabdrücke auch über ihr Gebissschema identifiziert werden kann. Wenn er sich, wie jetzt schon vielfach festgestellt, so unendliche Mühe gemacht hat und sogar die Fingerabdrücke verschwinden ließ, dann hätte er als Profi doch auch die Zähne ziehen oder ausschlagen müssen.
Sofort wanderten alle Augen zu Thomas, der wenige Augenblicke nachdachte und dann den Kopf schüttelte.
Da bin ich anderer Ansicht, entgegnete er, er versucht nur effizient zu sein. Nach Fingerabdrücken kann man in den mittlerweile schon international vernetzten Polizeidatenbanken systematisch suchen. Und da reicht bereits der Umstand, dass eine Person schon einmal wegen eines vergleichsweise geringen Tatbestandes wie Einbruch oder Autodiebstahl erkennungsdienstlich behandelt wurde. Oder die Person steht im öffentlichen Leben, gilt als gefährdet oder stand schon einmal unter Polizeischutz oder Ähnliches. Mittlerweile reicht es ja schon, per Flugzeug in die USA einzureisen, um seine Fingerabdrücke zur Identifizierung abgeben zu müssen! Sprich: die Chance, dass, aus welchen kriminellen oder nichtkriminellen Hintergründen auch immer, die Fingerabdrücke einer Person irgendwo in Computersystemen gespeichert sind, ist relativ groß. Dahingegen kann eine Person anhand des Gebissschemas ja nur dann identifiziert werden, wenn man beim entsprechenden Zahnarzt der Person die Unterlagen einsehen kann. Mit anderen Worten, man benötigt schon einen bestimmten Verdacht, wer die Person, die es zu identifizieren gilt, gewesen sein könnte. Eine blinde Treffersuche wie bei den Fingerabdrücken funktioniert nicht, allein mangels der Existenz und der Vernetzung entsprechender Datenbanken. Die einzige Chance bestünde in der Veröffentlichung des Gebissschemas in den einschlägigen zahnärztlichen Fachblättern mit der Bitte um Unterstützung. Haben wir auch schon einmal gemacht, brachte aber keinen Erfolg. Es gab allerdings schon Fälle, in denen das Opfer auf diese Weise identifiziert werden konnte.
Sarah nickte.
Wir hatten in den Grundkursen zur Kriminaltechnik einen Beispielfall. Aber die Wahrscheinlichkeit ist bedeutend geringer als bei einer computergestützten Suche nach Fingerabdrücken oder DNA.
Du meinst, fasste Karen Polocek an Thomas gewandt zusammen, dass der Täter deiner Überlegung folgend die Zähne verschonte, aber sehr wohl einkalkuliert hat, dass sich die Fingerabdrücke des Opfers möglicherweise bei einer Recherche hätten finden lassen können. Entweder weil er weiß, dass das Opfer bereits „Kontakt“ zu den Behörden hatte, oder aber, weil er das Risiko genauso wie du eingeschätzt hat und ihm ebendieses einfach zu groß war. Das würde dann sogar von einer Abgeklärtheit zeugen, die deine Profitheorie eher untermauert, als ihr zuwider spricht!
Alle, inklusiv Gröber und Neubauer, nickten, während Nico versuchte, das Wort Profikiller irgendwie sinnvoll in seine Aufzeichnungen am Whiteboard einzufügen.
Eines scheint mir sicher: Das war keine Zufallstat oder eine Handlung im Affekt, ließ Pfefferle verlauten, dagegen sprechen zu viele Details, die von einem durchdachten Vorgehen des Täters zeugen. Er wusste genau, was er tat und hat nie die Kontrolle verloren. Es war ein kaltblütiger und fast perfekt verübter Mord.
Wieder vermittelten die nachdenklichen Mienen der Tischrunde Zustimmung.
In die Stille hinein fragte Sarah Thomas: Woher weißt du eigentlich schon wieder so genau, wie bei den Geheimdiensten dieser Welt Menschen lautlos kaltgemacht werden?
Das fragen Sie ihn ein andermal, schnitt Gröber Thomas die Antwort ab, es geht jetzt um die zu erledigenden Aufgaben! Die Fakten, die wir haben, sind mehr als mager, die Theorie mit dem Profi halte ich nicht für abwegig, aber auch nicht wirklich für zwingend. Bierman, wie wollen Sie weiter vorgehen?
Solange wir nicht alle Untersuchungsergebnisse des Erkennungsdienstes und der Untersuchungen der Leiche haben, halte ich es für müßig, viel Energie in wenig versprechende Richtungen zu lenken. Ich denke, das Einzige, was wir derzeit machen können, ist die Suche in den Vermisstendatenbanken weniger restriktiv zu gestalten, in der Hoffnung, einige vage Treffer zu erhalten, die es sich lohnt, weiter zu untersuchen. Der Tote könnte Ausländer sein, deswegen schlage ich vor, dass wir Kontakt zu den Behörden der Nachbarländer aufnehmen und auch deren Vermisstendatenbanken auf mögliche Übereinstimmungen untersuchen. Ich denke, das wird die Beschäftigung für den Nachmittag sein. Morgen Vormittag können wir mit weiteren Laborergebnissen rechnen, dann sehen wir weiter.
Ok, einverstanden, gab Gröber zurück.
Wie sieht es mit der Presse aus?, fragte Karen Polocek.
Vielleicht können wir über einen sehr vorsichtig formulierten Artikel Informationen aus der Bevölkerung bekommen?
Nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt!, gab Gröber unumwunden und fast aggressiv zurück.
Ich bin froh, dass die Öffentlichkeit nichts über dieses Verbrechen weiß und dementsprechend auch kein Interesse hat! Die Lösung dieses Falles scheint für mich im Moment in so weiter Ferne, ich will nicht in die Schusslinie der Medien geraten und uns unter Druck setzen lassen. Bierman, was ist mit den Leuten, die die Leiche gefunden haben?
Sind entsprechend instruiert, antwortete er, als Weiteres gebe ich zu Bedenken, dass es von Nachteil für unsere Ermittlungen wäre, wenn der Täter erführe, dass sein Opfer gefunden wurde. Im Moment wiegt er sich in Sicherheit. Wenn er von der Entdeckung erfährt, könnte er unseren Ermittlungen gezielt entgegenwirken oder sich einfach absetzen. Immer vorausgesetzt, es handelt sich um eine Person hier aus dem süddeutschen Raum.
Und nicht um einen CIA-Agenten, ergänzte Nico Berner etwas spöttisch.
Du missverstehst meinen Ausdruck „Profi“! Wenn sich ein Geheimdienst des Opfers angenommen hätte, und sei es einer der unseren, dann hätten wir jetzt keinen Fall, da sei dir mal sicher!, entgegnete Thomas etwas gereizt.
Wenn ich Profi sage, meine ich, dass die Person das Töten gelernt hat und es vielleicht sogar gewöhnt ist!
Sarah hatte schon des Öfteren festgestellt, dass er auf Spötteleien seine Person oder Kompetenz betreffend mitunter recht wirsch reagieren konnte. Aber jetzt atmete er nur einmal tief durch, und während Gröber seine Unterlagen zusammenpackte und beim Verlassen des Raumes lediglich die Hand hob, begann er, die Rollen für den Nachmittag zu verteilen.
Ok, fangen wir mit den unmittelbaren Nachbarn an! Karen, du hattest doch letztens mit den Schweizer Kollegen in Basel zu tun... Kriminaloberkommissar Stimpfli wird sich bestimmt an dich erinnern, das heißt, Schweiz für dich.
Karen nickte beflissentlich. Noch bevor Thomas weiterreden konnte, steckte Gröber den Kopf noch einmal durch die Tür herein.
Bierman, fassen Sie alles, was wir bis jetzt haben, heute noch in einen kurzen Bericht. Ich habe um 9.30 Uhr ein Treffen mit dem Staatsanwalt. Das heißt: 8 Uhr auf meinem Schreibtisch!
Sofort war die Tür wieder geschlossen. Thomas runzelte die Stirn und nahm den Faden wieder auf.
Zu welchem Kollegen in Mulhouse oder Straßburg haben wir einen guten Draht?
Comissaire Dufour in Straßburg, meldete sich Sarah, den kann ich übernehmen.
Sehr gut, und da du auch die Einzige bist, die hier ein nennenswert gutes Französisch spricht, würde ich dich auch bitten, die Kollegen in Luxemburg zu kontaktieren. Nico, knöpf du dir bitte Bregenz vor. Hans, du und Herr Neubauer, Ihr könnt die Kollegen in Liechtenstein ansprechen, die Kollegen dort können ausgezeichnet Deutsch. Wenn ihr mit den nächsten Nachbarn ergebnislos durch seid, würde ich dich, Sarah, bitten, weiter Richtung Belgien zu gehen. Hans, ihr könnt Tschechien und die Slowakei mit einbeziehen. Karen, du kannst dich ja dann mit den grenznahen Städten in Polen in Verbindung setzen, da hast du ja keine Sprachbarriere. Wenn das alles nichts bringt, was ich leider befürchte, weiten wir die Suche entsprechend aus. Aber bis morgen die nächsten Untersuchungsergebnisse kommen, haben wir zumindest was zu tun. Alles klar soweit?
Zustimmendes Gemurmel und allgemeines Herumkramen in den Unterlagen war Thomas Zeichen genug, dass die Sitzung von allen als beendet angesehen wurde. Er selbst nahm den letzten Schluck seines nunmehr kalten Kaffees und packte auch seine Papiere zusammen. Die Anwesenden machten sich auf den Weg in ihre Büros, um mit den entsprechenden Nachforschungen zu beginnen.
Thomas und Sarah verließen gemeinsam als Letzte den Sitzungsraum und gingen schweigend den Gang hinunter. Als sie vor dem Aufzug warteten, griff Sarah ihre Frage von vorher noch einmal auf.
Gröber hat dich vorhin so rüde unterbrochen, als ich dich fragte, woher du die verschiedenen Arten der – nennen wir es mal „Spezialisten“ – zu töten, Bescheid weißt. Ist das nur wieder etwas von deinen unendlich vielen Interessensgebieten oder hat das einen anderen Hintergrund?
Thomas blickte sie etwas zerstreut an. Er hatte angenommen, ihre Frage sei einfach lapidar in den Raum geworfen gewesen, vielleicht eine witzig gemeinte Bemerkung. Dass sie tatsächlich eine Antwort erwartete und möglicherweise sogar mehr dahinter vermutete, überraschte ihn, zumal ja tatsächlich sein bisheriger Werdegang ursächlich für sein Wissen auf diesem Gebiet war. Das war zwar kein Geheimnis, aber er war sich sicher, dass keiner seiner Kollegen außer Pfefferle darüber Bescheid wusste, und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass Sarah mit Gröber über ihn geplaudert hatte. Einen Moment überlegte er, ob es der richtige Zeitpunkt war, ihr etwas von sich und seiner bewegten Vergangenheit zu erzählen, entschied sich aber dagegen. Er wusste, wenn er sich kurz fasste, würde eine Frage die nächste ergeben. Als sich die Fahrstuhltüren öffneten und er hinter Sarah in die Kabine trat, sagte er deswegen nur:
Das ist in der Tat eine etwas längere Geschichte.
Doch gleich darauf biss er sich wegen dieser Formulierung auf die Lippe, denn ihm war augenblicklich klar geworden, dass es für Sarah ja geradezu eine Herausforderung war, jetzt mehr zu erfahren. Doch sie reagierte sehr defensiv.
Vielleicht haben wir ja mal Zeit, dass du sie mir erzählen kannst, sagte sie nur knapp und beließ es auch während der Fahrt dabei.
Doch Thomas nahm den offensichtlich ausgelegten Köder nicht an. Als sich drei Stockwerke tiefer die Türen des Aufzuges öffneten, hörten sie schon in ihrem Büro schräg gegenüber ein Telefon klingeln. Thomas beeilte sich, zu seinem Schreibtisch zu kommen und versuchte, seine Unterlagen irgendwo auf den vorhandenen Stapeln zu platzieren, um das Gespräch, das auf seinem Apparat ankam, entgegenzunehmen, bevor es der Anrufer aufgab oder die Umleitung zur Zentrale einsprang. Da er keine ausreichend große, ebene Fläche vorfand, legte er seinen Stapel auf Sarahs Schreibtisch ab, die das Ganze stirnrunzelnd verfolgte. Während Thomas den Hörer abnahm und Bierman ins Telefon bellte, legte sie ihre eigenen Unterlagen ab und drohte Thomas mit erhobenem Zeigefinger. Dieser hob entschuldigend die Arme und schaltete den Lautsprecher des Telefons an. Am anderen Ende war Schwarz.
... was hat denn da gerade so furchtbar gekracht?, war das Erste, was Sarah von dem Rechtsmediziner hörte.
Ich habe Sie nur eben auf laut gestellt, damit Frau Hansen mithören kann, antwortete Thomas.
Ah, das ist gut! Hallo Frau Hansen, haben Sie den Besuch bei mir heute Morgen gut verkraftet?
Ganz der Charmeur ließ er es sich natürlich nicht nehmen, Sarah persönlich zu begrüßen.
Hallo Dr. Schwarz, gab sie zurück, na ja, schön war es wirklich nicht, um ehrlich zu sein. Ich frage mich, wie Sie wohl Ihr Mittagessen heute genossen haben. Ich jedenfalls hab es ausfallen lassen. Aber was haben Sie denn für uns?
Im Hintergrund hörte man das Rascheln von Papier.
Ich bin selber etwas erstaunt, wie schnell die nun folgenden Informationen ihren Weg zu mir gefunden haben... Wieder war das Blättern in Unterlagen zu hören, was darauf hindeutete, dass sich Schwarz selbst noch keinen Überblick verschafft hatte, bevor er zum Telefon griff. Es sind, wie ich gerade sehe, auch nur die Ergebnisse der Wundabstriche, die ich gestern noch ins Labor gegeben hatte... ohne die DNA-Analyse... verflucht warum haben die mir das denn überhaupt schon geschickt?
Thomas und Sarah grinsten sich schweigend an, während Schwarz weiter mit seinen Papieren kämpfte.
Ah, da haben wir es ja. Hmmm.... Ok. Also das Labor hat mich vorab über etwas informiert, das bei der Chromatographie der Wundabstriche auffällig erschien.
Wieder eine längere Pause, in der Schwarz den Bericht eingehender studierte.
Ja, das ist wirklich bemerkenswert, ließ er zwischendurch verlauten.
Jetzt spannen Sie uns nicht weiter auf die Folter, konnte Thomas seine Neugier nicht mehr zügeln, woraufhin sich Schwarz räusperte und dann begann, die neuen Erkenntnisse vorzutragen.
Wir haben sowohl in der Stichwunde als auch an den Wundrändern der Finger eine nicht unbeträchtliche Menge einer Mischung an n- und Iso-Paraffinen nachweisen können... hier folgen Einzelheiten zur Zusammensetzung... das Ganze wird bei diesem Mischungsverhältnis eine cremige Paste gewesen sein. In der Stichwunde, genauer, direkt beim Einstich war die höchste Konzentration. Der Verletzung Richtung rechten Rand folgend nahm die Konzentration ab. Und auch an den Fingern konnte das Labor von Schnitt zu Schnitt eine geringer werdende Menge dieser Substanz finden. Außer in den Wunden war sie am ganzen Körper nicht vorhanden. Zumindest was die Abstriche, die ich gemacht habe, angeht. Lassen Sie mich eines noch hinzufügen: An dieser Stelle wage ich zu behaupten, dass das Opfer zum Zeitpunkt der Tat nackt war oder zumindest aber am Oberkörper keine Kleidung trug. Sonst hätte sich die Substanz höchstwahrscheinlich an dem Stoff abgerieben und wäre nicht, oder zumindest nicht in dieser Konzentration, nachzuweisen gewesen.
Während Schwarz sich wieder in die Papiere zu vertiefen schien, sah Sarah zu Thomas, der angestrengt nachdachte.
Daraus lassen sich auf alle Fälle schon mal zwei Fakten ableiten, fasste er seine Gedanken nach einer Weile zusammen.
Erstens, da sich diese Paraffine außer in den Wunden nirgendwo sonst auf der Leiche befinden, können wir davon ausgehen, dass sie mit der Tatwaffe dorthin gelangt sind. Das bedeutet, dass die Tatwaffe mit der betreffenden Substanz kontaminiert war. Und zweitens zeigt uns die abnehmende Konzentration des Stoffes die zeitliche Abfolge, in der die Wunden verursacht wurden, da mit jedem Schnitt diese Creme, was auch immer es ist, zunehmend von dem Werkzeug, wir hatten uns auf ein Messer geeinigt, abgerieben wurde.
Genau!, ergänzte Sarah, zuerst der Stich, da war die Waffe noch voll von dem Zeug, deswegen ist hier auch am meisten davon zurückgeblieben. Bei der Wunderweiterung wurde es schon weniger, dann ging es an die Finger.
Jeweils vom Daumen Richtung kleiner Finger, mit der linken Hand angefangen, vervollständigte Schwarz, am Ring- und kleinen Finger der rechten Hand war es kaum noch nachzuweisen. Das Ganze bestätigt uns auch in der Annahme, dass unser Opfer nicht gefoltert wurde. Schließlich hatte er die tödliche Verletzung zu dem Zeitpunkt ja schon erhalten.
Irgendwie empfand Sarah an dieser Nachricht etwas Tröstliches.
Und selbst wenn er zu dem Zeitpunkt noch gelebt haben sollte, mitbekommen hat er es nicht. Da hatte er schließlich ganz andere Probleme, ruinierte Thomas mit nur einer Bemerkung Sarahs vorangegangene Gedanken.
Aber nun die spannende Frage: Was sollen wir uns unter einer, wie nannten Sie es, Mischung aus n- und Iso-Paraffinen vorstellen, und wo kommt so etwas vor?
Das Ganze, antwortete Schwarz, der seine Unterlagen jetzt sicher unter Kontrolle zu haben schien, ist ein Abfallprodukt aus der Erdölgewinnung, eine weißlich-transparente, salbenartige Mischung aus verschiedenkettigen Kohlenwasserstoffen. Die Art der Zusammensetzung ist sehr spezifisch. In der Technik ist die Substanz sehr beliebt, weil sie universell als Gleitmittel eingesetzt werden kann. So wird sie vielfach in Rollen-, Walz- und Gleitlagern benutzt. Des Weiteren werden auch unbewegte Werkstoffe mit der Substanz behandelt, weil sie einen hervorragenden Korrosionsschutz bietet. Darüber hinaus wirkt sie auf kein bekanntes Material aggressiv.
Das scheint ja ein wundersames Zeug zu sein, sagte Sarah, sagen Sie nur, man kann damit auch die Zähne putzen?
Schwarz lächelte am anderen Ende der Leitung.
Nein, Zähne putzen kann man damit nicht, zumindest nicht ohne Zugabe bestimmter Stoffe. Aber sie wirkt beim Menschen wundheilungsfördernd und wird auch in der Kosmetik vielfach eingesetzt. Und jetzt, Ohren auf: Sie kennen die Substanz unter der Bezeichnung Vaseline.
Vaseline, stöhnte Sarah, hätten Sie uns das nicht auch in kürzerer Form mitteilen können?
Das hätte ich, sagte Schwarz und das Schmunzeln hätte man fast greifen können, so eindrücklich gab der Lautsprecher seine kindliche Freude wieder, aber auf diese Weise macht es mir einfach viel mehr Spaß! Und Sie wissen ja, wenn man keinen Spaß mehr an seiner Arbeit hat...
Thomas überhörte die freundschaftlichen Kabbeleien zwischen seiner Partnerin und Schwarz. Er setzte sich auf seinen Bürostuhl, stellte die Ellenbogen auf die Tischkante und rieb sich seufzend mit beiden Handflächen durch das Gesicht. Dann legte er die Hände, wie zum Gebet gefaltet, zusammen, die Fingerspitzen an der Nase, die Daumen unter dem Kinn und wartete, bis die beiden mit ihrer Diskussion fertig waren. Als nach einem kurzen Abtausch beide still waren, teilte er die Erkenntnis, die ihn soeben ereilt hatte, mit.
Wir haben, sagte er, ein Mordwerkzeug, von dem wir wegen der notwendigen Schärfe annehmen, dass es sich um ein Messer handelt, und dessen Klinge mit Vaseline eingefettet wurde. Damit würde ich behaupten, ist klar, um was genau es sich dabei gehandelt hat.
Diesmal war es an Thomas, die spannungsgeladene Stille einige Momente länger als notwendig genüsslich auszukosten.
Ok, ich sag es euch. Es war ein Tauchermesser. Die Vaseline dient quasi dem Rostschutz der Klinge.
Ein Tauchermesser?, wiederholte Sarah mit einem ziemlich skeptischen Blick.
Konservieren Taucher etwa ihre Messer mit Vaseline?
Das mag für dich vielleicht komisch klingen, aber: Ja, Taucher konservieren ihre Messer mit Vaseline.
Thomas sagte das sehr bestimmt und Sarah hatte ein wenig Angst, dass er ihre spontane Reaktion als Kritik an seinen Rückschlüssen aufgefasst hatte. So oft er sehr zugänglich für ihre Anregungen und Ergänzungen war, manchmal reagierte er, ohne dass man es vorhersagen konnte, ihrer Meinung nach einfach ziemlich eingeschnappt. Ihr gegenüber war das zwar äußerst selten, aber es kam vor. Und trotz aller Anstrengung war es ihr noch nicht gelungen, dahinterzukommen, nach welchem Muster seine Reaktionen ausfielen. Vielleicht war es auch einfach nur Launenhaftigkeit.
Ich hätte nur gedacht, dass man auf die Idee kommt, bei Messern, die unter Wasser verwendet werden sollen, ein sehr widerstandsfähiges Material wie etwa rostfreiem Edelstahl zu verwenden, erklärte Sarah ihr Unverständnis und ihre Nachfrage.
Das ist natürlich auch so, sagte Thomas und seine Stimme verriet ihr, dass er nicht verärgert war
Aber selbst die allermeisten Edelstähle reagieren auf Meerwasser zumindest längerfristig korrosiv. Daher nehmen Taucher ihre Messer regelmäßig auseinander und fetten Klinge und Angel dick mit Vaseline ein, um das gute Stück zu schützen.
Gibt es denn keine Messer aus Titan oder einem ähnlich haltbaren Stoff?, fragte Schwarz nach.
Es gibt mittlerweile sogar solche aus Keramik, aber Fakt ist, es werden immer noch die allermeisten Taucheresser aus Edelstahl, in der Regel 420er, gefertigt, die der geflissentliche Taucher brav mit Vaseline einfettet, weil sie die beste Wirkung bietet, eine gute Haftung hat und obendrein spottbillig ist.
Kann denn nicht trotzdem irgendetwas Anderes in Frage kommen?, tönte Schwarz’ Stimme aus dem Telefon.
Ich will nicht ausschließen, dass man sich auch andere Szenarien ausdenken kann, bei dem sich ein scharfer Gegenstand in Verbindung mit Vaseline als Mordwaffe nutzen lässt, aber warum die Fantasie anstrengen, wenn wir so offensichtliche Indizien auf einen doch sehr gängigen Gegenstand haben?
Weder Schwarz noch Sarah gaben darauf eine Antwort.
Gehen wir also von einem Tauchermesser aus, hielt Thomas nach angemessener Bedenkzeit fest.
Sarah ergriff ereifert das Wort.
Das hilft uns bei der Tätersuche aber ein riesiges Stück weiter! Unser Täter ist auf jeden Fall ein aktiver Taucher! Ich könnte mir zwar vorstellen, dass die meisten Tauchermesser, die über die Ladentheke gehen, niemals mit Wasser in Berührung kommen. Aber wenn jemand ein solches Messer nicht zum Tauchen benutzt, wird er es ziemlich sicher nicht mit Vaseline einfetten. Alleine schon deswegen, weil er als Landratte nicht weiß, dass es „echte“ Taucher so machen. Wir haben somit eine erhebliche Einschränkung des Täterkreises.
Langsam, langsam, bremste Thomas den fast euphorischen Ausbruch von Sarah, die mit einer beachtlichen Geschwindigkeit diesen Schluss gezogen hatte.
Weißt du, wie viele aktive Taucher es alleine im südbadischen Raum gibt? Ich kenne keine Zahlen, aber der Sport ist mittlerweile so beliebt, das geht in die Zehntausende. Nicht zu vergessen, dass wir aber auch nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür haben, dass unser Täter überhaupt von hier ist. Solange wir vom Täter ausschließlich wissen, dass er Taucher und groß und kräftig gebaut sein könnte, gleicht unser Problem immer noch der Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Aber zumindest haben wir doch die Option, bei den Tauchshops und -schulen...
Thomas unterbrach sie mit einem Kopfschütteln.
Die Option, ja. Aber im Moment halte ich das für voreilig. Dafür ist die Anzahl der Shops und Schulen einfach zu groß. Wir können uns das immer noch offenhalten, wenn uns die anderen Ergebnisse und Recherchen nicht weiterbringen. Vergiss nicht, wir sind in diesem Fall nur mit sechs Ermittlern besetzt, mehr kriegen wir von Gröber derzeit sicher nicht. Für diesen immensen Aufwand ist das Indiz einfach zu vage.
Vage? Ich meine, der Täter ist Taucher..., begann Sarah
Stopp!, sagte Thomas.
Wir gehen nur mit einiger Sicherheit davon aus, dass es sich bei der Mordwaffe um ein Tauchermesser handelt! Das mit der Vaseline, da gebe ich dir natürlich recht, weist auf ein Messer hin, das auch tatsächlich zum Tauchen verwendet wird oder wurde. Aber vielleicht ist unser Täter ja schon lange nicht mehr aktiv und das Messer lag jahrelang in der Nachttischschublade. Die Vaseline wäre auch nach langer Zeit noch vorhanden.
Er machte eine kurze Pause und sah Sarah mit einem beruhigenden, fast liebevollen Blick an.
Natürlich teile ich deine Rückschlüsse, fuhr er fort, gerade auch, weil die Theorie von einem aktiven Taucher, der seine Ausrüstung pflegt und dabei sehr gewissenhaft ist, irgendwie gut in unser Bild von einem abgeklärten, präzise vorgehenden Profi passt. Ich will nur, dass wir keine Schnellschüsse machen.
Ich finde, das ist die beste Spur, die wir derzeit haben, konterte Sarah ein bisschen weniger trotzig als sie es ursprünglich wollte.
Es könnte die beste Spur werden! Ich will nur sehen, ob wir dem Puzzle noch ein paar Details hinzufügen können, bevor wir uns in vielleicht unnötige Berge von Arbeit stürzen. Schwarz, sind Sie noch da?
Jaha!, tönte es aus einiger Entfernung durch den Lautsprecher und das leise, gerade soeben noch wahrnehmbare Klirren von Glas ließ Thomas vermuten, dass er sich gerade an der Bar in der hinteren Ecke seines Büros einen Drink einschenkte.
Um diese Zeit greifen Sie schon zu Ihrem Highland Park?, fragte er in Richtung des Telefons.
Sie wissen, wenn Sie irgendwie Hilfe benötigen...
Diese Stichelei konnte er sich erlauben, weil Schwarz alles andere als ein Trinker war. Er war nur der pure Genussmensch und seinen mittäglichen Dram Malt ließ er sich einfach nicht nehmen. Thomas, für den der wuchtige Schottische Whisky ein fürchterliches Gebräu war, zog ihn bei Gelegenheit ein wenig mit seiner Vorliebe auf.
Nach ein paar Sekunden, in denen aus dem Lautsprecher nichts zu vernehmen war, zeigte das Ächzen eines ledernen Bürostuhls an, dass Schwarz wieder am Schreibtisch angekommen war.
Was kann ich denn noch für Sie tun?, fragte er.
Kann man bei einem Toten, der sich im Zustand unseres Mordopfers befindet, noch anhand irgendwelcher Parameter feststellen, ob er in der Zeit vor seinem Tod getaucht hat?
Schwarz stockte einen Moment.
Wenn es nicht zu lange vor dem Exitus war, und die Leiche noch nicht lange gelegen hat, denke ich schon, dass das möglich sein könnte. Allerdings ist bei unserem kleinen Freund hier das Problem, dass er schon seit drei Wochen vor sich hin gammelt. Die Fäulnisgase verfälschen die zum Zeitpunkt des Todes vorherrschenden Gaskonzentrationen und auch die der im Blut gelösten Gase sehr schnell. Letzten Endes wird der ursprüngliche Zustand nicht mehr rekonstruierbar sein. Wobei... mhmm – ich hätte da vielleicht jemanden, der uns weiterhelfen könnte. Ich werde mich drum kümmern.
Wenn Sie da heute noch aktiv würden, wäre es natürlich großartig!
Ich kann Ihnen allerdings nicht sagen, ob überhaupt, und wenn ja, wann ich Ihnen hier schlüssige Ergebnisse liefern kann, aber ich mache mich gleich daran.
Aus seiner Stimme konnte man heraushören, dass es ihn selber sehr interessierte, ob eine solche Untersuchung veritable Ergebnisse liefern konnte.
Danke, und viel Erfolg!, verabschiedete Thomas den Mediziner und legte den Telefonhörer zurück auf die Station.
Einfach nur so eine Idee, sagte er.
Aber vielleicht können wir nachweisen, dass zumindest unser Opfer aktiver Taucher war. Das Messer könnte ja schließlich auch von ihm selber stammen! Derweil lass uns, wie vorhin besprochen, mit den Vermisstendatenbanken weitermachen. Allerdings werde ich erst mal den Bericht für Gröber schreiben.