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Kapitel 3
ОглавлениеSo, ein Viertele Rioja für dich, das Ganter alkoholfrei war bei dir. Was darf ich euch denn zu essen bringen?
Die junge Dame, zweifellos eine der vielen Studenten, die in der Freiburger Gastronomie als Kellner jobbten, stellte den Wein vor Sarah ab, angelte einen Bierdeckel, ließ ihn an Thomas’ Platz auf den Tisch fallen und stellte das Bier darauf. Dann zückte sie einen Block und Kugelschreiber und sah die beiden Ermittler erwartungsvoll an. Nachdem der Nachmittag mit mühevoller, aber nicht zu neuen Erkenntnissen führender Arbeit zu Ende gegangen war, hatte Sarah die Initiative ergriffen und Thomas gefragt, ob er mit ihr nicht eine Kleinigkeit essen wolle. Spontan hatte er zugesagt und so saßen sie nun in den urigen, alten Kellergewölben des Tacheles. Sarah kannte das Restaurant noch nicht und Thomas, der schon bei Gelegenheit von den Schnitzeln und Steaks gesprochen hatte, brauchte keine Überredungskunst, um Sarah für einen Besuch hier zu gewinnen. Mit Glück hatten sie einen Zweiertisch in einer der unzähligen Nischen ergattern können, wo sie im Halbdunkel sogar ein wenig Privatsphäre hatten.
Nun überlegte Sarah, ob sie eines der vielgepriesenen Fleischgerichte nehmen oder doch lieber, wie es für sie unter der Woche abends eigentlich üblich war, einen leichten, knackigen Salat bestellen sollte.
Was nimmst Du?, fragte sie Thomas, der im Gegensatz zu ihr die Karte bereits geschlossen und vor sich hingelegt hatte.
Er schaute zu der Kellnerin auf.
Für mich bitte das Jägerschnitzel mit grünen Pfefferkörnern.
Die Bedienung notierte.
Was dazu?, fragte sie, Spätzle? Bratkartoffeln? Pommes? Salat?
Pommes und einen kleinen Beilagensalat, lautete die Antwort.
Und für mich..., Sarah war sich immer noch unschlüssig, ... mhmm, den gemischten Sommersalat bitte.
Putenstreifen, Rinderfiletspitzen oder Gambas?
Gambas, bitte.
Wenig, mittel oder richtig scharf?
Wenn es frische Chilis sind, ruhig scharf!
Die junge Dame nickte, steckte den Kugelschreiber weg, entzündete die Kerze, die sich in der Tischmitte befand, mit einem Feuerzeug, sammelte die Karten ein und entschwand auf der Treppe, nicht ohne noch lächelnd ein „Dankeschön, ich brings euch gleich“, in Richtung der Beiden geworfen zu haben.
Das muss deine jugendliche Ausstrahlung sein, kommentierte Thomas ihren Abgang mit gespielt säuerlicher Miene, wenn ich hier alleine bin, werde ich immer gesiezt.
Dabei hast du dich doch auch ganz gut gehalten, für einen Mann deines Alters...
Sarah stützte sich auf beide Ellenbogen und lehnte sich, frech lächelnd, nach vorne.
Aber wenn dir das gut tut, komme ich gerne öfters mit dir hierher.
Thomas sah sie mit leicht gehobenen Augenbrauen an.
Na, wenn das kein Angebot ist..., sagte er, doch dann fiel ihm nichts Geistreiches ein, um irgendwie in eine Unterhaltung überleiten zu können.
Sarah erkannte das und rettete ihn, indem sie ihren Rioja ergriff, das Glas anhob und Thomas in die Augen sah.
Zum Wohl! Schön, dass es mal wieder geklappt hat!, sagte sie, und auch er nahm sein Glas, prostete ihr zu und trank einen Schluck.
Als sie die Gläser abgestellt hatten, griff Sarah ihre Frage vom Vormittag wieder auf.
Gröber hat mich ja ziemlich abgewürgt vorhin, und so richtig gesprächig warst du im Aufzug ja auch nicht.
Thomas weitete seinen Blick ein wenig und tat, als habe er Angst, was nun kommen würde.
Aber ich finde, wir kennen uns ja nun schon eine Weile und irgendwie weiß ich so gut wie nichts von dir. Und als dann heute das Gespräch auf die Art und Weise des Mordes kam...
Ach so, Thomas atmete übertrieben grimassierend auf.
Er lächelte.
Ja, das hat tatsächlich mit meinem früheren Betätigungsfeld zu tun. Und da unser Täter sich einer derart ungewöhnlichen Methode bedient hat..., ich meine, mittlerweile schneidet man in solch einer Situation dem Opfer die Kehle durch, das ist genauso effizient und leichter anzuwenden.
Sarah reichte über den Tisch und legte ihre Hand auf die seine, um ihn zu unterbrechen.
Stopp, sagte sie, heute Abend reden wir nicht über den Fall! Ich würde einfach gern mehr über dich erfahren!
Da gibt es nicht viel zu erzählen, entgegnete er und zuckte mit den Achseln.
Aber als du neulich von deiner Malerei angefangen...
Schhhhhhh!, unterbrach Sarah mit dem Zeigefinger vor den Lippen. Von dir will ich ein bisschen mehr erfahren.
Sie hatte sich vorgenommen, jegliches Ausweichmanöver seinerseits sofort und konsequent zu unterbinden. Ihr beider Umgang war so ungezwungen, dass sie sich das erlauben konnte. Sie lächelte ihn erwartungsvoll an.
Ähh... ja..., wo soll ich anfangen?
Sarah war klar, dass er es nicht gewohnt war, einfach so von sich zu erzählen.
Zum Beispiel: bist du hier aufgewachsen? Leben deine Eltern noch? Hast du Geschwister? Was hast du vor deiner Karriere als Kriminalhauptkommissar getan?, gab sie ihm bereitwillig Starthilfe.
Auf die Frage „hast oder hattest du schon mal eine Freundin?“ verzichtete sie in dem Bewusstsein, dass dies zu diesem Zeitpunkt vollkommen unangebracht war und durchaus einen Konversationskiller darstellen konnte.
Ja gut, also du hast es mit einem echten Freiburger Bobbele zu tun, fing er nach einigen Augenblicken des Nachdenkens an.
Meine Großeltern haben hier gelebt, meine Eltern leben hier immer noch, und ich habe auch die meiste Zeit meines Lebens hier verbracht.
Hast du viel Kontakt zu deinen Eltern?, hakte Sarah ein und vermied es zu fragen, ob er gar noch zu Hause wohnte.
Wir telefonieren ein, zwei Mal die Woche und ich helfe ihnen hin und wieder im Haus und im Garten oder bei schweren Einkäufen. Gesundheitlich geht es den Beiden nicht so gut. Sie sind zwar noch nicht so alt, aber mein Vater hat sich seinerzeit im Kieswerk um seine Gesundheit geschuftet und auch meine Mutter hat sehr hart gearbeitet, um das kleine Reihenhäuschen, in dem ich groß geworden bin, abzahlen zu können.
Sarah nippte an ihrem Rotwein. Auch Thomas nahm einen Schluck. Ohne dass Sarah einen weiteren Anstoß geben musste, fuhr Thomas fort.
Meine Eltern haben alles getan, damit meine Schwester – sie ist zwei Jahre älter – und ich eine unbeschwerte Kindheit und Jugend verbringen konnten. Und sie haben auch alles darangesetzt, dass wir beide zumindest Abitur machen konnten.
Habt ihr irgendwie Kontakt?, fragte Sarah nach.
Ich meine, du und deine Schwester?
Wir verstehen uns eigentlich ganz gut, sehen uns aber nur sehr selten. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit ihrem Mann, der irgendwas mit Investment Banking zu tun hat, in New York.
Der Mimik und dem Tonfall konnte Sarah entnehmen, dass sich Thomas und sein Schwager wohl nicht ganz grün zu sein schienen. Aber sie entschied, nicht näher darauf einzugehen.
Und du, was hast du gemacht, nachdem du dein Abi in der Tasche hattest?
Tja, ich stand natürlich vor der Wahl: Bund oder Zivildienst.
In diesem Augenblick trat die hübsche Bedienung wieder an den Tisch. Sie balancierte geschickt zwei Teller und eine Schale mit Brot sowie ein Henkelkörbchen, in dem sich eine Salz- und eine Pfeffermühle befanden. Das Brot und den Henkelkorb platzierte sie in der Mitte des Tisches und stellte dann den Teller mit einer riesigen Portion Salat vor Sarah, den anderen, auf dem zwei gigantische Schnitzel und ein Berg Pommes Frites prangten, vor Thomas.
Den Beilagensalat bringe ich dir gleich noch, flötete sie und war schon wieder verschwunden.
Thomas wartete schweigend die zwei Minuten, bis die junge Dame wieder auftauchte, ihm seinen Salat in Reichweite stellte und sich mit: „So, ich wünsch euch einen guten Appetit“, freundlich verabschiedete.
Ja, den wünsche ich dir auch, sagte Sarah, einerseits über das appetitliche Arrangement vor sich sehr erfreut, andererseits etwas enttäuscht, dass Thomas’ ungewohntem Redefluss nun eine Zäsur widerfuhr.
Danke, ebenso!, sagte er und breitete seine Serviette auf dem Schoß aus.
Die ersten Minuten aßen beide schweigend.
Ist das gut?, fragte Thomas Sarah, als diese gerade eine der Riesengarnelen angebissen und den Schwanz auf den Rand des Tellers gelegt hatte.
Sarah stöhnte und verdrehte die Augen.
Ein Traum! Lecker gewürzt mit Zitrone, Salz und Chili. Genau die richtige Schärfe.
Sie kam aus dem Schwärmen kaum heraus.
Willst du mal probieren?, fragte sie und hielt ihm eine Garnele über den Tisch.
Sehr gerne.
Thomas nahm sie ihr nicht aus der Hand, sondern biss einfach ab.
Mhmmm! Das ist wirklich toll!, sagte er.
Und dein Schnitzel?, wollte Sarah wissen.
Auch sehr lecker, gab Thomas zurück, aber im Vergleich dazu, er deutete auf Sarahs Teller, natürlich ziemlich derbe Hausmannskost.
Kann doch auch sehr gut sein, sagte Sarah, lehnte jedoch mit einem Kopfschütteln ab, als Thomas ihr den Teller zum Probieren anbot.
Für was hast du Dich denn entschieden?, knüpfte sie stattdessen an die Unterhaltung zuvor an und fügte noch „Zivi oder Bund“ hinzu, als sie Thomas’ leicht verwirrte Miene erkannte.
Bund!, antwortete er und begann nach einer kurzen Pause wieder von sich aus zu erzählen.
Nicht als Wehrdienstleistender. Ich wollte die Chance nutzen, mal für eine Zeit von Zuhause wegzukommen. Und damit wären wir auch bei dem Thema von heute Morgen.
Er schnitt ein Stück Schnitzel ab, spießte noch einige Pommes Frittes dazu und fuhr durch die üppig vorhandene Sauce. Sarah wartete geduldig und nahm ihrerseits auch einen Bissen.
Ich habe damals schon viel Sport gemacht und meinen Tauchschein hatte ich schon, also habe ich mich entschlossen, mich für acht Jahre bei der Marine zu verpflichten und die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Und da es sich anbot, und es mich auch wahnsinnig interessierte, habe ich die Aufnahmeprüfung für die Kampfschwimmer gemacht.
Haben sie dich genommen?
Sarahs Frage war eher rhetorisch, ging sie doch davon aus, dass Thomas dieses sicherlich sehr anspruchsvolle Auswahlverfahren mit Bravour bestanden hatte. Thomas nickte.
Ja, sie haben mich genommen. Übrigens war Leon, der, mit dem ich neulich am Gardasee war, einer meiner Ausbilder. Wir haben uns von Anfang an richtig gut verstanden, obwohl er eigentlich als Schleifer verrufen war.
Wieder gönnte sich Thomas einen Bissen und rundete mit einem Schluck Bier ab.
Ich weiß nicht, warum, aber vielleicht sind wir einfach seelenverwandt. Was mir natürlich zugutekam, war, dass ich in vielen Disziplinen, bedingt dadurch, dass ich schon Vieles als Hobby gemacht habe, gegenüber den anderen Rekruten einen Vorsprung hatte. Ich konnte tauchen, Karate habe ich seit dem fünfzehnten Lebensjahr gemacht, Schwimmen war immer schon eine Leidenschaft, und da ich auf einem technischen Gymnasium war, konnte ich auch in der Ausbildung in Elektronik, Funk, Zünder Basteln und so, richtig gut punkten.
Sarah überraschte das nicht.
Ich glaube allerdings, schon damals war das Surfen mit ausschlaggebend, fuhr Thomas fort, die Kampfeinheit ist ja nicht weit von Kiel stationiert, wir waren viel in der Freizeit zusammen auf den Brettern.
Du warst in Kiel!, jetzt war Sarah wirklich fast beleidigt.
Du hast mich nicht darauf angesprochen? Du weißt doch, dass ich von da oben stamme... ich glaube es nicht!, sagte mit sie mit spürbarer Enttäuschung in der Stimme.
Wie kann man nur so derart verschlossen sein!
Thomas sah, von dem Ausbruch etwas erschrocken, hilflos zu ihr herüber. Offensichtlich fand er wirklich nichts dabei, Sarah nicht auf ihre Heimatstadt angesprochen zu haben, in der auch er einige Zeit verbracht hatte.
Doch sie beruhigte sich schnell wieder.
Und da wundert man sich, dass man nach der langen Zeit noch so wenig voneinander weiß, brummelte sie schon etwas zahmer und in einem verbindlicheren Tonfall.
Sie aßen beide ein paar Bissen. Die Bedienung kam vorbei und fragte, ob alles recht sei. Nachdem sich sowohl Thomas als auch Sarah sehr lobend über das Essen geäußert hatten, fand Sarah wieder den Einstieg in Thomas’ Erzählung.
Du warst also bei den Kampfschwimmern, – jetzt lag sogar etwas Anerkennung in ihrer Stimme – das ist doch das Härteste, was die Bundeswehr so zu bieten hat, oder?
Die Ausbildung und auch der Dienst bringen einen schon an den Rand der physischen und psychischen Belastbarkeit, stimmte er Sarah zu, aber es ist auch unglaublich befriedigend und vor allem natürlich aufregend.
Und daher kennst du dich im lautlosen Töten aus?
Sarah hatte keine genaue Vorstellung davon, wie Ausbildung und Einsatzprofil eines Kampfschwimmers aussahen.
Thomas nickte.
Alles, was man aus Film und Fernsehen über Spezialeinheiten – und eine solche sind die Kampfschwimmer – sieht, ist nur ein kleiner Teil von dem, was sich tatsächlich in so einem Verband abspielt. Die Kampftechniken, waffenlos, mit Messer, mit Faustfeuerwaffen über Maschinengewehre bis hin zum Granatwerfer und mobilen Boden-Luftraketen, muss man aus dem FF beherrschen. Besonderer Wert wird natürlich auf Annäherung und Absetzen gelegt, Tarnen und Täuschen. Verhörtechniken und Methoden, eben solchen zu widerstehen. Fallschirmspringen, Schnellbootfahren, all das gehört dazu. Des Weiteren hat jeder mindestens eine Einzelkämpferausbildung und ist Präzisionsschütze. Manche sind ausgebildete Sprengmeister, andere können Helikopter fliegen. Und die im Actionfilm gezeigte Technik ist in der Regel auch keine Science Fiction. Vieles davon wird so oder ähnlich tatsächlich eingesetzt.
Als Thomas wieder die Gabel zum Mund führte, ließ Sarah seinen Redeschwall eine Weile auf sich wirken. Sie war sicher, dass er nicht angeben wollte, sondern ihr lediglich mitzuteilen versuchte, was er so alles bei den Streitkräften gemacht hatte. Dass er in seiner Begeisterung, die ihm anzumerken war, ein wenig über das Ziel hinausschoss, verzieh sie ihm. In diesem Fall, dachte sie, war viel reden besser als nicht reden.
Und was für Einsätze hattet ihr so?, fragte sie deshalb interessiert.
Da kann ich leider nicht drüber reden.
Thomas schien über die ihm auferlegte Schweigepflicht dankbar.
Soviel sei gesagt: wir hatten in der Tat einige brenzlige Situationen und ich bin froh, dass unser Team immer ohne einen Todesfall wieder aus dem Einsatz zurückgekehrt ist.
Waren das Antiterroreinsätze? Oder Geiselbefreiungen? Sarah war eifrig bei der Sache.
Nein, Thomas’ Stimme nahm einen geheimnisvollen Unterton an, denn dafür ist, wie du weißt, die Polizei mit den SEKs zuständig. Die Bundeswehr darf auf deutschem Boden außer im Verteidigungsfall und zu zivilen Hilfseinsätzen, wie zum Beispiel bei den Hochwasserkatastrophen, nicht eingesetzt werden.
Das heißt, eure Übungen waren derart gefährlich..., begann Sarah verständnislos zu fragen, dann glaubte sie, verstanden zu haben und hielt inne.
Thomas, der ihr Stocken richtig interpretierte, huschte ein Lächeln über das Gesicht.
Ja, genau. Wir haben gezielte Operationen in Kriegs- und Krisengebieten durchgeführt. Immer mit einem brisanten Auftrag und fast immer auch mit Feindberührung.
Das bedeutet, ihr wart wirklich auf Kampfeinsätzen!, sagte Sarah leise und ein wenig ungläubig.
Ich dachte, das wäre rein rechtlich gar nicht möglich...
Nun musste Thomas wirklich lachen.
Was glaubst du?, fragte er etwas spöttisch.
Meinst du, dass, als dieser US General sich neulich verplappert hat und vor laufenden Kameras die exzellente Arbeit des KSK in Afghanistan lobte, deutsche Soldaten zum ersten Mal im Kampfeinsatz waren? Also ich spreche nicht von humanitärer Hilfe mit dem Recht auf Selbstverteidigung. Ich spreche davon, zum Beispiel eine Anzahl von Torpedobooten im Hafen mit Haftminen zu versenken. Oder aus getarnter Stellung heraus mit Lasern Panzer, Radarstationen oder Ähnliches zu markieren, die dann von den Amis mit ein paar F16 in einem Luftschlag dem Erdboden gleichgemacht werden.
Thomas atmete durch.
Seien wir ehrlich, eine Spezialeinheit steht und fällt nicht zuletzt mit ihrer Erfahrung. Und glaube mir, davon haben wir eine ganze Menge! Und verfalle nicht dem Irrglauben, dass die Politik das nicht wüsste. Solche Einsätze gab und gibt es schon seit Langem!
Ohne Bundestagsmandat!, hauchte Sarah leise, und es war ihr anzumerken, dass ihr Glaube in das System gerade einen ziemlichen Knacks zu erleiden drohte.
Ich dachte, so was machen immer nur „die Anderen“.
Solche Einsätze sind durch spezielle Klauseln rein rechtlich von der Pflicht der Beauftragung durch den Bundestag ausgenommen. Hier kommen sehr raffiniert ausgearbeitete, multilaterale NATO-Verträge zum Zuge. Rein verfassungstechnisch ist das wasserdicht. Nur von der Öffentlichkeit will man das natürlich fernhalten. In Deutschland herrscht einfach ein anderes Bewusstsein als zum Beispiel in den USA oder in England. Deswegen wird darüber das Mäntelchen des Schweigens gelegt.
Sarah atmete tief durch.
Ja, wenn man mal nüchtern darüber nachdenkt... irgendwie überrascht das ja nicht. Schließlich spielen wir seit Jahrzehnten wieder auf internationalem Parkett. Aber richtig wahrhaben will man es halt doch nicht. Hast du... musstest du...
Ob ich schon jemanden getötet habe, möchtest du wissen?, half Thomas Sarah bei der Vollendung ihrer Frage.
Würde es etwas an deiner Meinung über mich ändern?
Sarah überlegte keine Sekunde
Nein! Natürlich nicht!, sagte sie schnell.
Ich meine, ich bin bei der Polizei, ich trage eine Waffe. Auch ich kann in die Situation kommen, einen Menschen sehr schwer zu verletzen oder sogar zu töten. Es hat mich einfach interessiert... falls... wie... wie es ist!
Thomas sah sie mit weichem Blick schweigend an.
Es ist nicht schön, sagte er leise.
Das heißt, du warst schon in dieser Situation!
Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, aber Thomas antwortete trotzdem.
Mehr als nur einmal!
Sein Blick hatte etwas Nachdenkliches. Dann lächelte er aber wieder.
Komm, sagte er, lass uns von etwas anderem reden. Wie wäre es zum Beispiel mit einem Nachtisch?
Sarah schüttelte sich kurz, ihr war der Wechsel von diesem Thema zu abrupt gekommen. Aber sie respektierte, dass Thomas diesen Abschnitt seines Lebens hier und jetzt nicht vertiefen wollte und versuchte, für einen Nachtisch Begeisterung aufzubringen. Als sie die Karte studierte, welche die Bedienung ihnen auf Nachfrage ausgehändigt hatte, fiel ihr das auch schon um Einiges leichter.
Wow, sagte sie, das klingt ja alles ganz köstlich. Was ist denn besonders gut?
Thomas schüttelte den Kopf.
Ich habe hier noch nie ein Dessert bestellt, sagte er und wandte sich an die junge Frau.
Kannst du uns was empfehlen? Er hatte sich mit der Anrede der Studentin angepasst.
Sie lachte.
Hier ist alles gut! Aber wir haben heute ein geeistes Zimtparfait mit Kakaostaub und exotischen Früchten, das steht nicht auf der Karte. Das würde ich an eurer Stelle mal probieren.
Thomas sah Sarah an, sie nickte. Er gab die beiden Karten der Bedienung zurück.
Zweimal das Zimtparfait dann!
Kaffee, Cappuccino, Espresso, Grappa?
Zu einem Espresso würde ich mich überreden lassen, ließ Sarah vernehmen, also setzte Thomas noch: „Und zwei Espresso, bitte!“ hinzu.
Und? Was ist bei Ihren Untersuchungen herausgekommen?
Die sechs an dem Fall beteiligten Ermittler und Henning Gröber saßen im Sitzungsraum. Den vorigen Nachmittag und den größten Teil des Tages hatten sie mit den Vermisstendatenbanken der meisten europäischen Länder zugebracht, ohne einen wirklich vielversprechenden Hinweis zu bekommen.
Die wenigen Fälle, in denen eine vermisste Person theoretisch das Opfer hätte sein können, wurden akribisch untersucht, aber alle konnten letzten Endes aufgrund irgendeines Details ausgeschossen werden. Eine Liste von Tauchcentern und -schulen in Baden-Württemberg, die Thomas vorsorglich schon einmal recherchiert hatte, wies an die 270 Positionen aus. Selbst im südbadischen Raum waren es noch gut 80 Unternehmen, die in irgendeiner Form mit Tauchausrüstung, Ausbildung, Reparatur oder Schulung zu tun hatten. Gerade als man Gröber über den bisherigen Stand informiert hatte, klingelte das Telefon im Konferenzraum, auf das Thomas seinen Apparat umgeleitet hatte. Es war Schwarz.
Herr Dr. Schwarz!, begrüßte ihn Gröber.
Sie haben neue Erkenntnisse für uns?
Die habe ich, antwortete dieser und fuhr ohne Zögern fort.
Ich bin der Idee nachgegangen, die Herr Bierman in Bezug auf die löslichen Gase bei einer Leiche im fortgeschrittenen Verwesungsstadium hatte.
Bei den meisten Anwesenden machte sich eine deutliche Neugier auf den Gesichtern breit. Thomas und Sarah hatten dem Team noch nichts von Schwarz’ Aktivitäten bezüglich des Leichnams gesagt. Thomas setzte die Ermittler mit zwei Sätzen ins Bild, dann griff Schwarz den Faden wieder auf.
Zunächst möchte ich Folgendes zu Ihrer aller Information vorausschicken: Ich war vor ein paar Jahren auf einem Kongress für medizinische Forensik in Brüssel, mit hochkarätigen internationalen Referenten. Ein wirklich interessantes Symposium, wenn man den perfekten Mord plant...
Kommen Sie zur Sache, sagte Gröber scharf.
Allen außer ihm war klar, dass solch ein Verhalten Schwarz bestenfalls dazu verleiten würde, genüsslich seine Recherchen weiter vor ihnen auszubreiten – zumal Gröber ja nicht sein Vorgesetzter war.
Lieber Herr Dr. Gröber, Sie verlangen doch immer fest untermauerte Fakten. Wenn Sie mir also erlauben, Ihnen darzulegen, dass die Analysemethoden und Rückschlüsse, die ich Ihnen gleich mitteilen werde, von dem anerkannten Spezialisten auf diesem Gebiet stammen?
Er wartete nicht auf Gröbers Antwort, sondern fuhr einfach fort:
Damals in Brüssel hatten wir einen Referenten, der ursprünglich Tauchmediziner bei den U.S. Navy Seals war und sich später als Rechtsmediziner beim Naval Criminal Investigative Service in Norfolk, Virginia, auf die wissenschaftliche Untersuchung von Todesopfern im Zusammenhang mit Wasser spezialisiert hat. Er galt und gilt auf diesem Gebiet als die Koryphäe. Er ist mittlerweile berentet und genießt seinen wohlverdienten Ruhestand in Coronado, im sonnigen Südkalifornien. Dort wird er allerdings sowohl von der San Diego State Police als auch von der Navy immer noch um Rat gefragt, wenn es um mysteriöse Todesfälle geht, speziell was Ertrinken und Ähnliches betrifft. Genaugenommen wird er zu jedem komplizierten Fall in ganz Südkalifornien hinzugezogen.
Schwarz ließ das kurz auf die Ermittler wirken, dann fuhr er fort.
Als Sie, Herr Bierman gestern mit Ihrer Frage bezüglich der Gassättigung kamen, habe ich mich erinnert, dass Dr. Lang bei seinem Vortrag andeutete, an einem Verfahren zu arbeiten, um eben genau unserer Fragestellung Rechnung zu tragen. Es geht genaugenommen darum, auch bei vor längerer Zeit Verstorbenen Nachweise für gelöste Gase im Blut beziehungsweise im Gewebe zu erbringen und so Rückschlüsse auf Atemgemische und Gaskontamination vor dem Zeitpunkt des Ablebens zu ziehen. Ihn habe ich gestern Abend angerufen und er war freundlicherweise sofort bereit, mir zur Seite zu stehen. Wissen Sie, ich hatte ihn am Abend nach dem Vortrag in das Brüsseler Nachtleben eingeführt... aber das führt zu weit.
Diesmal atmete selbst Thomas erleichtert durch, verschonte Schwarz sie doch mit den sicherlich amüsanten Details des besagten Abends.
Um es kurz zu machen, er hat in den letzten Jahren auch in Zusammenarbeit mit dem FBI empirisch unter Berücksichtigung aller externen und internen Faktoren Kriterien aufgestellt und eine Tabelle erarbeitet, mit der man, so behauptet er, in der Lage ist, entsprechende Rückschlüsse zu ziehen.
Karen Polocek meldete sich zu Wort.
Und dieses Verfahren hat noch nicht Einzug in die weltweite Forensik gehalten?
Aus verschiedenen Gründen: nein!, antwortete Schwarz.
Zum einen ist seine Arbeit noch nicht abgeschlossen und auch noch nicht soweit wissenschaftlich unterlegt, als dass man das als Standardverfahren aufnehmen könnte. Zum anderen sind Fälle, bei denen unsere Fragestellung relevant ist, ja weiß Gott sehr selten! Insofern kann man sagen, er ist derzeit möglicherweise der Einzige weltweit, der sich mit dieser Problematik wissenschaftlich auseinandersetzt.
Karen nickte und Thomas, der sich erst mit Blicken in die Runde versichert hatte, dass niemand mehr eine Frage hatte, forderte Schwarz auf, weiterzumachen.
Dr. Lang hat mich um eine ganze Reihe sehr spezifischer Werte gebeten, für die meisten habe ich letzte Nacht im Labor noch einmal jede Menge Untersuchungen machen müssen. Ich will nicht ins Detail gehen, aber das sind Dinge, die normalerweise bei einer Obduktion komplett unter den Tisch fallen.
Ein deutlich vernehmbares Gähnen unterstrich die Tatsache, dass Schwarz wohl sein Bett in der vorausgegangenen Nacht, wenn überhaupt, nur sehr kurz gesehen hatte.
Diese ganzen Werte habe ich Dr. Lang auf elektronischem Wege übermittelt und er hat sie umgehend in sein Modell eingegeben.
Schwarz machte eine kurze Pause.
Der Zeitverschiebung sei Dank, vor 20 Minuten rief er zurück: Er betonte nochmals, dass seine Methode lediglich ein Abgleich mit empirischen Daten ist, wenngleich auch ein sehr komplexer und gut durchdachter. Seiner Meinung nach bestätigten die Werte unsere Vermutung, dass unser Opfer in den Tagen, möglicherweise Wochen, vor seinem Tod viel Zeit mit einem DTG unter Wasser verbracht hat.
DTG?, flüsterte Sarah fragend zu Thomas
Drucklufttauchgerät, raunte er leise, aber für alle verständlich, zurück.
Also das, was der Normalbürger gemeinhin, aber fälschlicherweise als Sauerstoffflasche bezeichnet.
Wieso fälschlicherweise?, fragte Gröber nach.
Bevor Bierman antworten konnte, fuhr Schwarz mit seinem Bericht fort.
... aber damit noch nicht genug! Dr. Lang hat aufgrund der... Moment... 47 Werte, die ich ihm durchgegeben habe, ein weiteres, möglicherweise für die Ermittlungen wichtiges Detail geäußert: Er ist sich sicher, dass unser Opfer mit einem erhöhten Sauerstoffanteil im Atemgas getaucht ist.
Er ist ein Nitroxgemisch getaucht?, hakte Thomas ein.
Konnte Dr. Lang eingrenzen, welchen O2-Anteil das Atemgas hatte?
Er wollte sich nicht mit Sicherheit festlegen, aber nachdem ich ihn um eine Schätzung gebeten hatte, nannte er 35% bis 40?%. Allerdings unter Vorbehalt, wir sollten das wirklich nur als Anhaltspunkt nehmen.
Sarah konnte erkennen, wie sich auf Thomas’ Gesicht ein klein wenig Zuversicht breitmachte. Auch an seiner Körperhaltung konnte sie ablesen, dass er sich ein wenig entspannte. Mit leicht geschürzten Lippen und funkelnden Augen blickte er in die Runde.
Na also, wir haben die erste wirklich heiße Spur, sagte er und musste lächeln.
An was für Zufällen wir uns doch manchmal durch so einen Fall hangeln müssen!
Gespannt sah er alle an und schien nach Zustimmung zu suchen. Ihm war offensichtlich nicht bewusst, dass keiner der Anwesenden außer ihm in der Lage war zu beurteilen, wie wichtig die Rückschlüsse aus den von Schwarz mitgeteilten Fakten zu bewerten waren. Nach kurzer Stille war es Pfefferle, der sich erbarmte nachzufragen.
Thomas!, er räusperte sich.
Da wir nicht alle über dein Hintergrundwissen verfügen, sei doch bitte so freundlich und erkläre uns, wieso diese Ergebnisse deiner Meinung nach einen so großen Fortschritt bedeuten.
Die allgemeine Zustimmung der Runde quittierte Thomas mit einem einsichtigen Nicken. Er hatte erkannt, dass er, wie so oft, seine weitreichenden Kenntnisse auf den unterschiedlichsten Gebieten immer auch bei anderen voraussetzte. Mit Äußerungen wie „das ist ja klar“ oder „logisch“ war er dem ein oder anderen Kollegen schon kräftig auf die Füße getreten. Er wandte sich zu Gröber:
Wie ausführlich soll es denn sein? Ich könnte auch nur die Rückschlüsse...
Nein! Auch die Hintergründe.
Gröber sah auf die Uhr.
Ich möchte, dass es jeder versteht.
Thomas schloss für wenige Augenblicke die Augen und schien in diesen Sekunden das recht komplexe Thema in seinem Kopf auf ein verständliches, aber mit einem Höchstmaß an Informationen gefülltes Minimum zu reduzieren. Er nahm einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse geräuschvoll wieder auf den Tisch und ging zu dem Whiteboard am Kopfende des Konferenztisches.
Also gut, dann ein paar Grundlagen zum Tauchen. Normalerweise befindet sich in den Flaschen, die einen Taucher unter Wasser mit Luft versorgen, einfach Pressluft, das heißt, ganz normale Luft, wie wir sie mit jedem Atemzug einatmen. Nur hochkomprimiert. In der Regel auf 200 Bar, es gibt aber auch 300 Bar-Systeme.
Wow, entfuhr es Pfefferle, wenn dir so ein Ding mal um die Ohren fliegt!
Er hatte wie alle anderen eine möglichst entspannte Sitzposition eingenommen, um dem kurzen Vortrag konzentriert folgen zu können. Auch Gröber, der normalerweise, wenn er nichts zu sagen hatte, demonstrativ an seinem Blackberry herumnestelte, hatte sich zurückgelehnt und sah Bierman interessiert an.
Unsere Atemluft besteht im Wesentlichen aus zwei Gasen, nämlich zu 78?% aus Stickstoff, der dem Menschen unter Oberflächenbedingungen nicht weiter schadet, und zu 21?% aus Sauerstoff, den wir ja zum Atmen zwingend benötigen.
Er schrieb die beiden Zahlen mit einem Boardmarker an die weiße Fläche. Der Rest sind unbedeutende Beimengungen. Unter Druck reagiert unser Körper aber auf die Atemgase anders als an der Oberfläche. In Bezug auf den Stickstoff hat das zwei nennenswerte Effekte. Zum einen haben wir den Tiefenrausch, auch Stickstoffnarkose genannt, der je nach Verfassung und Situation ab etwa 30 Meter Wassertiefe auftreten kann und zu Benebelung, Konzentrationsschwäche, Angstzuständen oder auch Euphorien führen kann. Vergleichbar mit der Wirkung einer Droge, ein Rausch eben.
Er vergewisserte sich mit einem prüfenden Blick, ob das Gesagte bei allen angekommen war. Dann fuhr er fort.
Der zweite Effekt ist, was gemeinhin als Taucherkrankheit bezeichnet wird. Der Stickstoff löst sich unter Druck zu einem weit größeren Teil in unserem Blut als an der Oberfläche, und zwar abhängig von der Tiefe und der Zeit, die man in einer bestimmten Tiefe verbringt. Hat sich der Stickstoff im Blut gelöst und taucht der Taucher schnell oder zu schnell auf, perlt der Stickstoff im Körper aus, vergleichbar mit dem Öffnen einer Sektflasche. Das zieht im weniger schwerwiegenden Fall Muskel- und Gelenkschmerzen nach sich, kann aber auch tödliche Folgen haben.
Deswegen machen Taucher beim Auftauchen die Zwischenstopps auf einer geringen Tiefe?
Karen Polocek hatte nicht nur aufmerksam zugehört, sondern offensichtlich auch schon mal etwas von der Materie gehört.
Richtig! Diese sogenannten Dekompressionsstopps in geringer Tiefe ermöglichen es, den Stickstoff wieder aus dem Blut auszuscheiden, ohne dass es zu dem Sektflascheneffekt kommt. Dekompressionstauchgänge sind zwar mittlerweile Gang und Gäbe, aber sie sind natürlich weitaus risikoreicher als Tauchgänge im sogenannten Nullzeit-Bereich.
Was genau bedeutet Nullzeit-Bereich?, wollte Sarah wissen.
Die Nullzeit ist die Zeit, die sich ein Mensch auf einer bestimmten Tiefe maximal aufhalten darf, um ohne Dekompression, also zu jedem Zeitpunkt, sofort wieder auftauchen zu können. Früher musste man das Tauchprofil genau planen, heute hat man in der Regel einen Tauchcomputer am Handgelenk, der einem immer genau sagt, wie lange man noch in der momentanen Tiefe verbleiben kann, ohne zu dekomprimieren. Ein solches Gerät zeigt auch Tiefe und Dauer eines Dekostopps an, wenn denn einer vonnöten werden sollte.
Sarah, die gern Menschen zuhörte, wenn sie begeistert von einem Thema sprachen, über das sie sich auskannten, ließ Thomas nicht aus den Augen. Er war in seinem Element.
Pfefferle lehnte sich voller Eifer nach vorne.
Aha, und jetzt kommt wohl der erhöhte Sauerstoffanteil beim Nitrox-Atemgemisch ins Spiel! Ich könnte wetten, dass man damit die Nullzeiten erhöhen kann. Richtig?
Auch er hatte genau aufgepasst und die richtigen Schlüsse gezogen. Thomas nickte anerkennend.
Sehr gut! Das liegt daran, dass die Wirkung der Gase auf den menschlichen Körper nicht vom Gesamtdruck, sondern vom sogenannten Partialdruck abhängt. Dieser wiederum steht in direktem linearen Zusammenhang mit dem Anteil des Gases am Gesamtgemisch.
Wie habe ich das zu verstehen? Gröber hakte nach.
Am besten mal ein Beispiel. Wir haben hier an der Oberfläche so in etwa 1 Bar Luftdruck. Da der Stickstoff 78?% der Atemluft ausmacht, haben wir für den Stickstoff an der Oberfläche einen Partialdruck von ca. 0,78 Bar. Nun ist es so, dass je 10 Meter Wassertiefe der Gesamtdruck um 1 Bar zunimmt. Das heißt, in einer Tiefe von 20 Metern haben wir einen Gesamtdruck von ca. 3 Bar.
Er schrieb die Zahlen an die Tafel. Nun war es Sarah, die kombinierte:
Wenn ich das richtig verstehe, bedeutet das, dass in 20 Meter Wassertiefe ein Stickstoffpartialdruck von drei mal 0,78, macht ca. 2,4 Bar, haben.
2,34 Bar, um genau zu sein.
Thomas lächelte sie an und in seinen Augen lag die Aufforderung, den Gedanken weiterzuspinnen.
Das würde bedeuten, wenn man, wie unser Toter es getan hat, den Stickstoffanteil des Atemgases durch die Zugabe von Sauerstoff auf 60?% senkt, hätte man in 20 Meter Tiefe nur noch einen Stickstoffpartialdruck von drei mal 0,6, macht nur noch 1,8 Bar. Damit löst sich weniger Stickstoff im Blut und wir haben die gewünschte Verlängerung der Nullzeit. Sprich, wir können länger unten bleiben.
Summa cum Laude, lobte Thomas und schrieb die Berechnung für alle verständlich an.
Genauso verhält es sich.
Und wieso taucht man dann nicht mit 100?% Sauerstoff? Wäre doch praktisch: Kein Tiefenrausch, keine Dekompression, und mit genügend großem Vorrat könnte man fast unbegrenzt unter Wasser bleiben.
Sichtlich von dem Thema interessiert war es Karen Polocek, die noch weitere Informationen haben wollte. Thomas setzte schon zur Erklärung an, Gröber winkte jedoch ab.
Bringt uns das in Bezug auf den Fall weitere Erkenntnisse?, fragte er.
Thomas nickte.
Ja, vielleicht nichts Bahnbrechendes, aber es kann uns zumindest ein weiteres Detail liefern.
Also gut, dann legen Sie los, knurrte Gröber, und im Anschluss erläutern Sie uns endlich, was an all dem nun so wichtig ist.
Thomas nahm sich einen anderen Stift und wandte sich wieder den Kollegen zu.
Gut! Die Frage von Karen ist sehr berechtigt, klingen die Fakten bezüglich der Dekompression und des Tiefenrausches doch recht verlockend! Die Sache hat nur einen Haken: Nicht nur der Stickstoff hat unter Druck eine andere Wirkung auf den Organismus, sondern auch der Sauerstoff. Man spricht hier vom Paul-Bert-Effekt: Das für uns lebensnotwendige Gas wird nämlich ab einem Partialdruck von etwa 1,6 Bar schwer toxisch. Und zwar ziemlich plötzlich und ohne Anzeichen. Eine solche Sauerstoffvergiftung führt in kürzester Zeit zu schweren Krampfanfällen bei komplettem Verlust der Koordination. Wir sprechen hier von einem Zeitraum von wenigen Sekunden! Über die Dauer von Minuten kann das Überschreiten des Partialdrucks von 1,6 Bar unter Wasser natürlich tödliche Folgen haben! Um eine gewisse Sicherheitsreserve zu haben und weil auch hier, wie beim Tiefenrausch, die individuelle körperliche Konstitution und besonderen Umstände der jeweiligen Situation eine Rolle spielen können, wird in der Tauchtiefenberechnung in der Regel sogar von einem Wert von 1,5 Bar ausgegangen, beim Sporttauchen sogar zum Teil von 1,4.
Sarah dachte angestrengt nach.
Das bedeutet für die Praxis, dass ich mit 100?% Sauerstoff nur, ... gehen wir mal von einem höchstzulässigen Wert von 1,6 Bar aus ... Moment... 1 Bar haben wir alleine schon für den Luftdruck... bleiben 0,6 Bar für den maximalen Wasserdruck... etwa 6 Meter tief tauchen kann, ohne Gefahr zu laufen, an der Sauerstoffvergiftung zu sterben oder wegen unkontrollierter Krämpfe mein Mundstück zu verlieren und jämmerlich zu ertrinken?
Besser hätte ich es nicht ausdrücken können, meinte Thomas.
Wieder notierte er auf dem Board.
Allgemein ausgedrückt: Es gibt einen Trade-off zwischen Vermeidung der Dekompression und Unterdrückung des Tiefenrausches auf der einen, und der maximal erreichbaren Tauchtiefe auf der anderen Seite. Für Pressluft ergibt sich die maximale Tauchtiefe mit 1,6 geteilt durch 0,21, das ergibt einen zulässigen Gesamtdruck von 7,6 Bar. Minus das eine Bar Luftdruck ergibt einen maximal zulässigen Wasserdruck von 6,6 Bar, was einer Tiefe von 66 Metern entspricht.
Oder für unseren Fall, wenn wir ein 40?% Nitroxgemisch annehmen: 1,6 geteilt durch 0,4 ergibt 4,0 Bar Gesamtdruck minus 1 Bar Luftdruck, bleiben 3 Bar Wasserdruck. Das entspricht 30 Meter Wassertiefe. Mehr war für unseren Toten folglich nicht drin.
Thomas legte den Boardmarker auf die Seite und ging wieder zurück an seinen Platz.
Ich finde nicht, dass uns die Information, dass unser John Doe maximal 30 Meter tief tauchen konnte, sonderlich weiter bringt. Warum also Ihre Zuversicht?
Gröber bediente sich des amerikanischen Ausdruckes für eine nicht identifizierte Person wahrscheinlich, um seine Untergebenen zu beeindrucken. Das Ganze klang bei seiner stark schwäbisch gefärbten Aussprache allerdings irgendwie aufgesetzt.
Thomas konterte:
Das war nur die kleine Information am Rande, von der ich sprach. Sie haben Recht, denn viel wichtiger ist für uns die Information, dass er überhaupt mit Nitrox getaucht ist. Denn: Prinzipiell kann jeder, der eine gewisse Ahnung hat, seine Flaschen mit einem dafür geeigneten Kompressor selber befüllen. Aber da er ein Nitroxgemisch benutzt hat, können wir fast zu 100?% davon ausgehen, dass er sich seine Luft bei einem Tauchshop geholt hat. Das führt uns zu zurück auf unseren gestern verworfenen Vorschlag mit den Tauchcentern.
Ok, verstanden.
Gröber schien Thomas‘ Begeisterung nicht zu teilen.
Noch was?
Ich bin mir relativ sicher, dass die Zahl der Tauchcenter, die Nitrox abfüllen, nur ein Bruchteil dieser Endlosliste ausmachen. Das grenzt unsere Suche ganz erheblich ein! Ich werde mich gleich im Anschluss daran machen herauszufinden, welche Tauchshops das überhaupt anbieten, dann können wir ganz gezielt bei unserer Befragung vorgehen. Des Weiteren ist von großem Vorteil, dass es unser Opfer war, das getaucht ist und nicht oder nicht nur unser Täter! Denn, sowenig wir zwar von ihm wissen, wir haben ein Vielfaches mehr an Informationen über das Opfer als über den Täter! Mit ein bisschen Glück können wir unseren Toten in Kürze identifizieren.
Thomas setzte sich wieder auf seinen Platz und gewährte der nun einsetzenden Stille den nötigen Raum.
Das heißt, ich habe mal so ganz nebenbei Ihr „Nadel-im-Heuhaufen-Problem“ flugs auf eine überschaubare und lösbare Aufgabe reduziert, tönte es nach einigen Augenblicken mit einem leichten Unterton der Selbstzufriedenheit aus dem Konferenzlautsprecher.
Brauchen Sie mich im Moment noch? Ich hätte da noch Kundschaft...
Nein, das war, denke ich, alles, bellte Gröber ins Gerät, ohne sich bei den Anwesenden zu vergewissern, ob noch Fragen bestanden.
Er langte Richtung Tischmitte, doch bevor er den Ausschalter betätigte, konnte Sarah noch ein „Danke, Sie haben uns wie immer sehr geholfen“ in das Mikrofon sprechen.
Eine mögliche Antwort von Dr. Schwarz wurde allerdings von Gröber per Knopfdruck abgewürgt.
Ok, wir haben also eine neue Situation, eine vielversprechende Spur!
Gröber sah zuerst auf die Uhr und dann zu Thomas.
Bierman, die nächsten Schritte sprechen Sie im Team ab und verteilen die Aufgaben. Ich habe einen wichtigen Termin.
Er packte seine Notizen und Unterlagen zusammen und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.
Nachdem die Tür, wie immer eine winzige Spur zu laut, ins Schloss gefallen war, grinste Thomas in die Runde.
Heute ist der Ball der Juristischen Fakultät an der Uni, das ist sein „wichtiger Termin“. Und das Beste: er ist wieder nicht eingeladen worden, sondern nur wegen seiner Frau da.
Woher willst du das wissen?, fragte Sarah nach.
Helen hat es mir vorhin gesteckt.
Helen war eigentlich Gröbers Sekretärin, aber auch Mädchen für alles, bei allen beliebt und kam mit der Rolle als „Frau zwischen den Fronten“ bestens klar.
Er hat sich allem Anschein nach bei ihr ausgeheult. Da wird er wohl wieder den ganzen Abend als „Mann von Frau Professor Tessenbrink“ vorgestellt, weil ihn sonst kein Arsch kennt. – Mensch, nicht mal seinen Namen hat sie angenommen! Irgendwie kann er einem ja schon leidtun.
Na, jetzt übertreib mal nicht, brummte Pfefferle, jeder kommt auf Dauer so rüber, wie er nun mal ist und wir wissen ja...
Können wir nicht einfach die Einsatzbesprechung beenden und dann an die Arbeit gehen?, wurde er ziemlich rüde von Nico Berner unterbrochen.
Pfefferle runzelte sichtlich verärgert die Stirn und Thomas hatte schon den Mund geöffnet, um einen entsprechenden Kommentar loszuwerden, als Karen die Situation gekonnt witzig rettete:
Was ist los, Nico, hast‘ heute Abend eine Maus am Start? Na, dann wollen wir doch seinem Sexualleben nicht im Wege stehen, findet ja eh selten genug statt.
Alle bis auf Nico Berner, der die Augen verdrehte, grinsten unverhohlen.
Nachdem wir das nun geklärt haben..., jetzt blickte auch Thomas auf die Uhr..., es ist kurz nach halb sechs. Mein Vorschlag: Geht nach Hause. Von der Nitrox-Spur verspreche ich mir Einiges. Ich werde schauen, was ich heute noch rausbekommen kann. Ich denke, morgen im Laufe des Vormittages können wir dann bei den entsprechenden Tauchshops unsere Arbeit aufnehmen. Ich schreibe euch per SMS, wo ihr morgen mit den Ermittlungen beginnen könnt. Vorgehensweise ist klar: Wir fragen nach, ob in dem Zeitraum von vor drei Wochen ein Asiate, auf den unsere spärliche Beschreibung passt, regelmäßig oder zumindest öfters Flaschen mit einem Nitroxgemisch befüllen ließ und so ungefähr vor drei Wochen zum letzten Mal da war. Vielleicht kann sich ja jemand an ihn erinnern. Das war es von meiner Seite, mehr können wir im Moment nicht tun.
Einer nach dem Anderen erhob sich. Als Erster verließ Nico Berner den Raum, immerhin nicht ohne ein einigermaßen klares „Schönen Abend zusammen“ gemurmelt zu haben. Auch Hans Pfefferle, Thorsten Neubauer und Karen Polocek verabschiedeten sich und gingen Richtung Fahrstuhl. Sarah blieb noch sitzen und beobachtete Thomas, der noch ein paar Notizen machte.
Soll ich dir bei deiner Recherche noch etwas helfen?, fragte sie nach einer Weile.
Thomas blickte auf und sah sie gedankenversunken an.
Nein, brauchst du nicht. So wie ich das einschätze, ist es kein besonders großer Aufwand herauszufinden, wer hier im Umkreis Nitrox abfüllt.
Ich dachte nur, wenn ich dir helfe, könnten wir hinterher noch etwas trinken.
Sie versuchte, ihn so aufmunternd wie möglich anzuschauen. Er ging auf den Flirt ein.
Die Aussicht auf einen weiteren netten Abend mit dir ist sehr verlockend, sagte er, zumal wir zur Abwechslung über dich und deine dunkle Vergangenheit reden könnten, aber wenn ich hier fertig bin, und das geht vielleicht noch anderthalb Stunden, gehe ich noch ins Krav Maga. Ich habe mich da als Co-Trainer verpflichtet und kann schlecht absagen.
Schade! Wirklich schade, entgegnete Sarah und machte ein enttäuschtes Gesicht.
Thomas rümpfte die Nase und zuckte leicht resignierend die Achseln, um ihr zu signalisieren, dass er auch lieber mit ihr weggehen würde, als sich beim Krav Maga blaue Flecken zu holen.
Ja, das finde ich auch sehr schade, sagte er.
Wie sieht es bei dir denn die nächsten Tage aus?
Ein leichtes Lächeln zeigte sich in Sahras Augen.
Er wollte sich also wirklich wieder mit ihr treffen!
Gut!, sagte sie, und in einem Anflug von Spontaneität hörte sie sich selbst sagen:
Was hältst du von Samstagabend? Dann würde ich zu Hause was kochen... nur wenn du magst...
Selbst erschrocken über ihren plötzlichen Vorstoß war am Schluss ein wenig Unsicherheit in ihrer Stimme. Doch Thomas schien von dem Vorschlag angetan. Er blickte ihr gerade in die Augen und in seinem Gesicht konnte sie sehen, dass er den Gedanken durchaus gut fand.
Ja, sehr gerne! Halten wir Samstag fest! Dann sehe ich endlich auch mal, wie du wohnst.
Er scheut den privaten Rahmen nicht, dachte sie mit freudiger Erregtheit, das ist doch schon mal etwas!
Ok, dann gehe ich jetzt mal nach Hause und wälze Rezeptbücher für Samstag!, sagte sie zum Abschied.
Und dir wünsche ich einen schönen Abend im Krav Maga Studio.
Danke, dir auch einen schönen Abend, bis morgen!
Er hob kurz die Hand, sie tat es ihm gleich und ging dann den Gang hinunter. Sarah, Sarah dachte sie bei sich, als sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte, jetzt hast du es auf ein Rendezvous angelegt und auch tatsächlich eines bekommen.