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1. Bulletin

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Moll wusste nicht warum und fragte nicht mehr danach. Und wenn er doch einmal fragte, nützte es nichts. Vielleicht nützte es auch etwas, aber das zeigte sich ihm nicht. Er war erstarrt. Erstarrung ist möglicherweise das falsche Wort: Etwas regte sich in ihm. Da war ein Jammern und Wehklagen, ein saugendes Loch, durch den ein Wasserstrudel sich dreht, ein Gift, welches den Sauerstoff aus seinem Blut zog.

Er saß an seinem Schreibtisch, betrachtete das leere Blatt, den Kugelschreiber in seiner Hand, den Kaktus, den Garten jenseits der Scheibe. Er ließ sich Zeit.

Jetzt malte er Formen an den Rand des Papiers: Ein Dreieck; ein Viereck; ein Fünfeck; einen Hund; eine Krähe, die auf dem Hund sitzt; ein Flugzeug; eine Bananenstaude; ein kleines Kind; einen Waran, der das Kind frisst. Er zog ein Rechteck, um es mit eigentlichen Gedanken zu füllen. Er drückte die Spitze des Kugelschreibers aufs Blatt, doch da erstarrte die Hand.

Dem Wort eines in Vergessenheit geratenden Dichters zufolge sind Leiden „Taten nach innen“. Starke Taten nach innen gehen starken Taten nach außen voraus, glaubte Moll, und der Schmerz, den er gerade ertrug, ging aus einem Bekenntnis zum Eigentlichen hervor. Die Suche nach dem Eigentlichen hinderte ihn am ersten Satz.

Eine Weile betrachtete er die Punkte, die sich wie kleine Fliegen im oberen Eck des Papiers tummelten. Jeder erzählte die Geschichte eines zurückgenommenen Gedankens. Moll zerknüllte das Blatt und zog ein Frisches aus der Packung.

Er verbat sich, die Spitze des Kugelschreibers ins Blatt zu drücken. Auch gestattete er sich nicht mehr, kleine Zeichnungen an den Rand zu kritzeln. Nun fehlte ihm auch der Grund, sich frische Blätter aus der Packung zu ziehen. Schade, das schneidende Schleifen hatte ihm gefallen.

Eine Weile dachte er darüber nach, sich in eine Ecke zu stürzen. Doch war das eigentlich? Folgte es einem authentischen Impuls? Nein! Zwischen Schmerz und Impuls nistete das fahle Kalkül, die dramatische Selbstinszenierung des eigenen Leidens.

Selbstgeißelungen waren immer Orgien der Lust, da war er sich sicher. Die Flagellanten ergötzten sich an dem, was sie zu bekämpfen vorgaben. Ein interessanter Betrug.

Moll tat nun nichts mehr, außer da zu sein. Es gab nichts mehr zu tun. Auch glaubte er, für den Schreibtisch nicht geboren zu sein. Er glaubte aber, im Schmelztiegel des Schmerzes umgeschmolzen zu werden. Solche Umschmelzungen waren jetzt überall nötig, da viele Menschen zu nichts mehr geboren waren. Moll fühlte sich Zeit seines Lebens zu etwas geboren, wusste aber nicht zu was. Er beneidete die, die sich zu nichts geboren fühlten. Frank und frei lebten sie, wie es ihnen gefiel. Und das tat er jetzt auch: Er ging in die Küche und kochte Tee.

Der Schmerz versetzte ihn in einen Zustand jenseits von Glück und Traurigkeit. Er war nicht heiß oder kalt, nicht weich oder spitz. Moll glaubte, dass er nichts ausdrückte außer sich selbst. Worte waren nicht gemacht, ihn zu beschreiben.

Früher hatte er einmal versucht, gegen den Schmerz zu rebellieren. Auf dem Schreibtisch stand ein dicker Kaktus mit gelben Streifen. Als nun der Schmerz immer stärker wurde, setzte Moll seine Fingerkuppe auf eine Stachelspitze und drückte. Er drückte langsam und der Stachel bohrte sich ins Fleisch, bis er an den Knochen stieß. Dieser andere Schmerz strahlte bis in die Füße, ja er brachte den ganzen Körper zum strahlen. Moll hatte damals den Eindruck, dass sich die beiden Arten des Schmerzes gegenseitig verklärten. Diese Vorstellung rührte vielleicht aus seiner Jugend, als er dachte, der Heilige bewahre auch unter der Folter seinen Glauben. Der Heilige leidet nicht nur im eigenen Fleisch. Ihn peinigt eine verdunkelte Welt, in der gefoltert wird. Er fühlt den Schmerz aller Gefolterten und die Sünde der Folterer.

So hatte er früher gedacht.

Er trank seinen Tee und setzte sich wieder an den Schreibtisch.

Im Gang der Minuten und Stunden, die Moll jetzt reglos an seinem Schreibtisch saß, verwandelte sich der Schmerz. Obgleich es in ihm schmerzte, schien der Schmerz vor ihm zu sein, während er selbst hinter sich stand. Der Schmerz schmolz alle uneigentlichen Handlungen ein. Dieser Zustand ist nicht so zu denken, dass nun eine Fliege hätte unbemerkt über seine Pupille laufen können. Er war hellwach. Doch hätte er möglicherweise die Fliege laufen lassen.

Warum aber reizte ihn gerade das Uneigentliche und Unsinnige? Er schmunzelte über die abwegigsten Gedanken, hätte sogar laut gelacht, wenn er zu lautem Lachen fähig gewesen wäre. Er glaubte, dass sich niemand tiefgreifender amüsierte als er, so leicht, so närrisch-frei fühlte er sich, wenn er den Unsinn zuließ. Dabei war es ihm mit dem Eigentlichen todernst. War das die Ursache seiner närrischen Freude?

Durch das Uneigentliche fühlte sich Moll „verurteilt“ zum Schmutz. Da er an keinen Verurteiler glaubte, nahm er dieses Wort wieder zurück, ohne es durch ein anderes zu ersetzen. So blieb eine Lücke im Satz, eine Art Wunde.

Der Schmerz teilte ihn. Er fühlte etwas in sich „aufsteigen“, was er für das Eigentliche hielt. Etwas anderes fühlte er „hinabsinken“. Auch diese Worte verwendete er aus Verlegenheit, denn er hielt Kategorien wie "Oben" und "Unten" diesbezüglich für fragwürdig.

Jetzt zeigte sich ihm, was er den „Antischöpfer“ nannte. Der „Antischöpfer“ – Moll benutzte gerade dieses Wort unter Vorbehalt – hinderte ihn am ersten Satz. Der "Antischöpfer" forderte ihn auf, bedingungslos am Eigentlichen festzuhalten, denn alles, was er uneigentlich täte, sei im höchsten Maß gleichgültig, sei nichts. Gleichgültiges zu schaffen würde ihm immer gleichgültiger werden. Gleichgültigkeit würde letztendlich sein ganzes Schaffen beherrschen. Dafür aber sei er nicht geboren. Auch wenn er zu nichts geboren sei, dafür jedenfalls nicht.

Moll versuchte, alles Uneigentliche aus seinen Gedanken zu verbannen. Da ihm alles, was er in seinen Gedanken aufflackern sah, uneigentlich schien, erstickte er die Gedanken im Keim. Eine Kette von Abbrüchen füllte die Zeit.

So nahm der Tag seinen Lauf.

Es war ein unbedachter Moment, als Moll den ersten Satz auf den Tisch schrieb. Er stutzte. Er las den Satz ohne ihn ganz zu verstehen. Er zog ein frisches Blatt Papier aus der Packung und schrieb ihn mit Füller ab. Er schrieb weitere Sätze. Während er schrieb wuchs der Schmerz. Ihm war, als schnitte er sich Organe heraus. Ein Zweiter, an den er gefesselt war, saß an seinem Platz und schrieb, während er zusah und ihn nicht zu unterbrechen wagte. Dann ließ er sich auf den Boden fallen oder fiel eben auf den Boden und wartete oder lag eben da. Der Zweite löste sich nicht gleich auf. Er lag neben oder in ihm, ein fremder Körper, der sein eigener war. Nach unbestimmter Zeit stand Moll auf. Der Zweite war vergangen oder zeigte sich wenigstens nicht mehr. Moll setzte sich und schrieb weiter, und ein warmer Strom durchlief ihn. Er schrieb ohne zu überlegen, als würde er schreibend träumen. Er schrieb, bis die Geschichte zu Ende war oder sich selbst beendete. Als er den letzten Punkt setzte, rutschte er durch einen Tunnel. Der Garten stieg aus der Dämmerung auf. Die ersten Vögel zwitscherten. Er ging benommen durchs Haus, stieß an Türrahmen und Stuhlbeine. Die Vogelstimmen berührten ihn wie von innen. Sie verloren sich ganz in ihrem Gesang. Er legte sich in seinen Lieblingssessel und versank einige Stunden im Halbschlaf. Als er erwachte, lag der Garten still und bleich unter einem ruhig dahin strömenden Himmel. Er nahm den Text und las. Wenn er annahm der Urheber zu sein, und er nahm es an, dann wusste er über sich nichts.


Dämmerungen

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