Читать книгу Die Vogelfreiheit unter einer zweiten Sonne, weil die erste scheint zu schön - Andrea Drumbl - Страница 11
Piotr oder
Die Wegverzehrung
ОглавлениеSpäter dann, an einem anderen Ort und an einem Tag irgendwann in dieser Zeit im September, öffnete Piotr mit dem silbernen Flaschenöffner ein weiteres Bier. Nicht weit von ihm entfernt hatte an diesem Nachmittag Günters Beerdigung stattgefunden. Aber das wusste er nicht, denn Piotr und Günter waren sich völlig unbekannt gewesen. Es war ein sonniger Tag mit einem hohen hellen Himmel gewesen, und kein Wind war in der Luft.
Etwas Melancholisches, eine beinahe greifbare Traurigkeit ging von Piotr aus, als er dabei zusah, wie sich am Rand einer schleimigen Pfütze auf seinem Schreibtisch eine blau schillernde Fliege abmühte und zappelnd und zuckend in die pappige Mitte hineintrieb. Ein winziger, blau schimmernder Fleck, der zu pulsieren schien, während die Fliege vergeblich um ihr Leben kämpfte. Sie scheiterte hoffnungslos daran. Es überkam Piotr ein geradezu unheimlicher Drang, diesem hämmernden und zum Scheitern verurteilten Punkt in der schleimigen Substanz mit seinen Blicken zu folgen, unfähig, dem Insekt zu helfen, bis dieses an der Oberfläche der zähen Flüssigkeit ein letztes Mal zuckte und dann nur mehr reglos dahintrieb.
Piotr wusste es, er hatte vermutlich wieder einmal zu viel getrunken, zu wenig geschlafen, das tat er immer, wenn er Kummer hatte. Und besonders in letzter Zeit. Langsam nippte er am Hals seiner Bierflasche und konnte doch nur auf die tote Fliege starren, die mit ihren ausgebreiteten, zart vernetzten Flügeln über sein verschüttetes Bier trieb.
Er konnte nur staunen über die fein geäderten Flügel der Fliege, über die beinahe schmerzhafte Schönheit des Insektes. Er konnte nur staunen und empfand doch nichts dabei. Die Kaltblütigkeit seiner Gefühle lähmte ihn, und abrupt griff er nach einer neuen Bierflasche auf der Kommode hinter dem Schreibtisch. Sein blassgelbes Gesicht verzog sich krampfartig, als er sich zu entspannen versuchte.
Draußen betätigte jemand die Haustür, die daraufhin unsanft ins Türschloss fiel. Ein paar rasche Schritte, dann Stille. Hin und wieder hörte er noch ein Auto starten, ab und zu einen Betrunkenen johlen oder das Klacken von Stöckelschuhen am Asphalt. Sonst war nichts zu hören von diesem Leben draußen auf der Straße in dieser jungen Nacht. Scheinbar friedlich lag die Stadt im zunehmenden Zwielicht, das die Häuser in eine scharfkantige Klarheit tauchte. Die Geräusche wie ein dumpfer Schmerz, ein Halbkreis aus Gefühlen.
Benommen ging Piotr zum Fenster und öffnete es. Frische Luft drang herein, eine kalte, einsame Luft, und er stand nur da und wartete auf eine Rettung, die doch nicht kam. Jeder Atemzug schmerzte ihn bis in die Brust, doch er bemerkte es kaum. Von der Straße unten stieg tauber Nebel auf, dumpf und klagend wie ein sonderbar stiller Gruß.
Nach und nach breitete die Nacht ihre erbarmungslose Schwärze in Piotrs Zimmer aus. Er konnte die Umrisse der Gegenstände in seinem Zimmer gerade noch erkennen und auch den Tisch, auf dem in einer schleimigen Pfütze neben seiner umgekippten Bierflasche die Fliege mit ihren ausgebreiteten, zart vernetzten Flügeln immer noch still und tot dahintrieb, wenn der kalte Wind einen kurzen Luftzug durchs offene Fenster ließ. Ohne viel zu sehen, blieb sein Blick an der Stelle haften, wo er das verschüttete Bier und die tote Fliege vermutete. Betreten starrte er diesen Fleck auf seinem Schreibtisch an, während er um sich nur diese Stille hörte, diese eine Stille, die sich wie ein Seil immer fester um ihn schloss und ihn fast erwürgte. Und es kam ihm fast so vor, als würden sich die Wände immer enger um ihn schließen. Es kam ihm vor wie in einem Verließ.
Abrupt sprang er auf und hastete durchs Zimmer, zog seine wahnsinnigen Runden und grinste dabei wie ein Totenschädel.
Er fischte nach seiner Jacke und rannte aus der Wohnung, stürmte aus dem Haus auf die Straße in die stille Nacht hinein. Von einem unerklärbaren Zwang getrieben, lief er durch die Stadt, rannte durch die Nacht, dem Bahnhof entgegen und kam vor einem Wirtshaus zum Stehen. Ihm war, als liefe er im Stehen um sein Leben.
Sein Schatten versank in der Dunkelheit und wurde im matten Licht einer Laterne auf die schwach beleuchtete Hauswand zurückgeworfen. Seine Augen waren dunkel und brennend in ihren Höhlen versunken, von Wolken verhüllt.
Er konnte die Beklommenheit spüren, die an Panik grenzte, und blickte zum Himmel, wo der Mond grundlos in der Schwärze hing. Mit einem heftigen Ruck stieß er die Tür der Schenke auf und fand sich plötzlich in einem luftleeren Raum, in einer dichten Hülle aus schwerem Vakuum, eingeschlossen in seinem Verderben wie in einem Sarg. Mit aller Kraft versuchte er zu atmen, rang nach Luft, sog sie in sich hinein und sah sich um in diesem Raum, wo ein paar Säufer mit Schnapsgläsern an der Theke hingen und wo sich um ihn herum ein Krach und ein Gelärme erhob, das auch durch den Qualm der Zigaretten, der dick und zäh über den Köpfen hing, nicht gedämpft werden konnte. Neben sich hörte Piotr Stimmen, er achtete nicht darauf. Er bestellte ein schnelles Bier auf Polnisch, das passierte ihm immer, wenn er aufgeregt war, dann sprach er die Sprache seiner Kindheit in Warschau. Als das Bier vor ihm stand, leerte er es in vier, fünf Zügen, dann zahlte er und machte sich auf den Weg zum Bahnhof, der zu dieser Zeit fast menschenleer war. Am Schalter löste er eine Fahrkarte und ging durch die Halle zum Bahnsteig, ohne zu wissen, was er hier eigentlich wollte. Nervös kramte er in seiner Jackentasche herum, dann hatten sich endlich die Zigaretten gefunden. Er zog eine aus der Packung heraus und rauchte sie mit hastigen Zügen, verschlang sie fast. Die beißende Kälte fiel über ihn, und eine plötzlich auftretende Übelkeit ließ ihn aufs Neue erstarren, als sie seinen Körper mit dieser sauer schmeckenden, mit dieser würgenden Flüssigkeit ausfüllte. Und die Tauben, die von Schmutz und Dreck erzählten, vom Kot der Straßen einer unruhigen, tödlichen Stadt, flatterten immer noch rastlos im grellen Licht der Lampen um verstreute Brotkrumen herum.
In einem dunklen Winkel sah Piotr eine alte Frau auf dem Boden sitzen, eine Bettlerin, die Sommer wie Winter vermutlich immer in ihre gleichen Tücher und Fetzen gehüllt war, die knochigen Hände, die sie zum Betteln verurteilten, mit Fingernägeln, die so gelb und dick wie Hufe waren, eng an den Körper gepresst, um nicht zu frieren. Ihr Gesicht war alt und zerfurcht, mit einer böse verkrusteten Narbe auf der rechten Wange, wo eigentlich keine Wange mehr war, sondern nur noch Haut und Knochen. Ihre Augen, so vermutete Piotr, hatten jeden Glanz wahrscheinlich schon vor Jahren verloren, und ihre Lippen waren voller Falten von den vielen unausgesprochenen Worten. Ihre ganze Gestalt hatte etwas Schreckliches, weil Abstoßendes, dem man distanziert begegnet, heute wie morgen wie vor hundert Jahren schon: Man will nichts zu tun haben mit dem sichtbaren Elend auf der Straße, man wendet sich ab. Und genau das machte auch Piotr, er wandte sich ab, hatte mit sich selbst zu tun. Mit fest zusammengezurrten Lippen zog die Alte an einem Zigarettenstummel, den jemand achtlos weggeworfen hatte. Bei jedem Zug zitterten ihre dürren Finger.
Mitunter wird sie auch Leute ansprechen, die an ihr vorbeigehen, dachte Piotr, diese wird sie dann um Geld anbetteln, aber die meisten werden nur weiter an ihr vorbeigehen, weil sie es eilig haben und schließlich auch nach Hause wollen.
Auch Piotr hatte es eilig, aber wenn er sich nur einmal noch nach ihr umgedreht hätte, hätte er bemerkt, dass sie verschwunden war.
Dies war der erste Bruchteil eines toten Augenblickes.
Pfeifend und dröhnend rollte endlich der Zug an und blieb stehen. Piotr kletterte in ein Abteil und war froh, von hier wegzukommen. Dann fuhr der Zug ab, und Piotr lehnte am offenen Fenster, der Fahrtwind schlug hart gegen sein Gesicht. Die Luft rauschte in seinen Ohren.
Er trippelte von einem Bein auf das andere, die Hände tief in seine Jackentaschen vergraben, während ihm die klirrende Kälte erbarmungslos ins Gesicht peitschte, bis der Zug rasselnd und quietschend in den nächsten Bahnhof einfuhr und bremste, was in seinen Ohren klang wie ein beruhigendes Versprechen. Piotr stieg aus dem Zug und ging den Bahnsteig entlang. Ziellos schlenderte er dahin, während der Wind mit Eisfingern nach ihm griff, als ihn eine todbringende, eine verderbliche Einsamkeit umfing – ein scharfer Splitter in seiner Haut.
In tiefen Zügen holte er Luft, schneidend kalte Luft, und bangte um sein Leben, bangte im Schatten seiner Seele und verzweifelte fast daran. Nie wollte er sich dem Leben anderer anpassen, sich nie von ihnen einschränken lassen, er wollte ein Meister der Tarnung, der Verheimlichung sein. Held und Antiheld zugleich. Er wollte den Blicken der anderen ausweichen, diesem rot-weiß-rot gestreiften Verhör, und konnte doch nur staunen über ihr Heucheln und Lügen und über das gemeinschaftliche Grinsen hinter ihren Lippen.
Früher, noch vor seiner Depression oder Krise, war er ein stiller, sanfter, ein zutiefst ahnungsloser und unschuldiger junger Mann gewesen, ein unglaublich unverdorbener junger Mensch, der unbefangen in die Welt schauen konnte mit seinen klugen Augen, aus denen dann ein ganz besonderer unbewusster Augenstrahlenglanz blickte. Das sagte zumindest René, sein Geliebter, sein Ein, sein Alles, das dieser damals für ihn war. Mit René war er das erste und vielleicht auch letzte Mal so richtig glücklich im Leben gewesen, mit so einem Gefühl dabei, wenn einem vor Glück in der Seele das Herz überschäumt und einem ganz unvermittelt die Tränen in die Augen schießen, die dann ja doch nicht fließen, weil der Grund dafür, nämlich das Glück in der Seele, ein schöner ist. Aber wenn er dann doch weinte, was manchmal vorkam, wirkten die Tränen, so sagte ihm René, nicht entstellend auf seinem Gesicht, sondern waren nur das sichtbare und unsichtbare Zeichen einer großen Verletzlichkeit.
Das hatte sich mit der Zeit geändert, mittlerweile war er sogar bis zur Unkenntlichkeit verändert. Wann das passiert war, wusste er nicht mehr, es musste sich unerkannt ereignet haben. Vielleicht war es damals, als er zum ersten Mal von einer Depression als Krankheit hörte, ein Ausdruck, den er für alle Zeiten fürchten sollte, ein Ausdruck, der für ihn für immer mit Leiden und einem großen Traurigsein verbunden war. Ein Traurigsein, das reizbar machte, ein Traurigsein, gegen das er deshalb Tabletten nahm, von denen er wiederum so unruhig wurde. Und des Lebens müde.
Daraufhin trennte er sich von René, seinem Ein, seinem Alles. Daran dachte Piotr jetzt und war überwältigt von der Schwere seiner Gedanken. Sein Kopf wurde bleiern und träge, während sich ein stechender Schmerz durch seine Adern hämmerte. Er stolperte die Gleisanlage entlang und lag plötzlich am Boden, mit dem Kopf quer über dem Schienenstrang. Die blassgelbe Farbe seiner Haut hob sich von der schwarzen Dunkelheit ab, und er roch den metallenen Geruch des Eisens, spürte die scharfen, spitzen Steine, die in seinen Oberkörper drückten, konnte sich aber nicht erinnern, gefallen zu sein oder je gestanden zu sein. Sein Atem bewegte sich in einem seltsamen Rhythmus, drängte aus seinen Lungen und hinterließ nichts als eine abgrundtiefe Leere, als alles vor seinen Augen zu einem Dunstschleier verschwamm, der seinen Blick vollständig vernebelte und sich in der formlosen Unendlichkeit dieser Nacht verlor. Schattenlose Umrisse ohne Geist und ohne Sinn.
Kalte Dunstnebel stiegen lautlos aus der Erde empor, und die Stille der Nacht kämpfte trostlos gegen die Nebelfetzen an. Vage erkannte er den Wassertropfen vor seinem Gesicht, der sich vielleicht einmal in Luft verwandeln würde, während Piotr am letzten Funken seines Lebens hing.
Mit beiden Händen umklammerte er die obere Schiene so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Seine hohlen, gehetzten Augen waren auf irgendeinen Punkt in weiter Ferne gerichtet, und ein dunkles Knäuel der Einsamkeit nahm ihn verständnisvoll auf.
Über ihm glänzte der Mond, uralt und grau, und der Himmel nahm sich wie ein hoher Bogen ohne Begrenzung aus. Alles war eins und vereint mit der Nacht.
Eine sonderbare Genugtuung erfüllte seinen Körper, ein merkwürdiger Stolz. Er fühlte sich so leicht und frei und unbeschwert, so ungewohnt sich selbst gehörend. Es war ein so kleiner und so verdammt zerbrechlicher Triumph im Schatten seines Lebens.
Jetzt konnte er es riechen, das neue Leben, diesen grenzenlosen Raum in der Zeit, in den er flüchten wollte, in den er eintauchen wollte mit seinem Körper, mit seinem Geist. Jetzt konnte er es riechen, es roch so bunt.
Und vor seinem geistigen Auge sah er ein letztes Mal die grau schimmernde Fliegenleiche mit den zart geäderten Flügeln, sah ein letztes Mal die Fliege mit ihren hunderttausendfachen toten Augen.
Als er so am Schienenstrang lag, hatte sich der Schatten über seinem Leben mit einem Mal in seiner Not verflüchtigt, und der Funke eines irrenden Lichtes zuckte orientierungslos durch seinen Körper. Er wusste nicht, wohin damit.
Ein heftiges Brennen durchfuhr seine Lenden, eine schwindlige Lust, die seine Erregung in dem Moment, in diesem Augenblick, der ihn noch mit dem Pulsschlag der Welt verband, glutheiß erhitzte. Doch es hing ein bedauerndes Schweigen in der Luft.
Es war ein Trauerspiel, sein Freudenfest, so viel Schmerz in der Lust und umgekehrt: die Lust in seinem Schmerz.
Er bemerkte es kaum, das leichte Vibrieren in den Schienen, das immer stärker und lauter wurde, als der Intercityzug ungebremst und funkensprühend über Piotr hinweg durch die Nacht raste, seiner nächsten Haltestation entgegen, während unausgesprochene Worte am Schienenstrang explodierten und ein höllisches Feuer Piotrs Glieder durchbrannte wie heißes Eisen.
Die Rücklichter des Intercityzuges, blutroten Kugeln gleich, ließen den Himmel brennen, bis sie in weiter Ferne einsam erstarben.
Die Nacht war zu blutiger Asche geworden und kalter Nebel umfing die Dunkelheit, während am Himmel bleiche Sterne klebten. Ruhig und unbeirrbar zogen sie ihre Bahn, gleichgültig vielleicht, gerade so, als könne es auf der Welt keinen Irrtum geben.
Und dann nur noch ein ganz einfaches, alltägliches Bild von aschgrauer, fahler Nacht, in herbstzeitloser Einsamkeit gefangen.
Nichts weiter.