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Kapitel 1: Der letzte Tag meines gewohnten Lebens
ОглавлениеAls ich freitags von der Arbeit heimkam, fand ich vor meiner Haustür einen Brief, der mein ganzes Leben auf den Kopf stellen würde. Er war unfrankiert und meine Adresse war in einer edlen Handschrift fast schon darauf gemalt. Natürlich war ich neugierig und konnte es kaum erwarten, ihn zu öffnen. Obwohl mein Telefon sonst nur als Staubfänger fungierte, klingelte es, sobald ich die Haustüre hinter mir schloss. Ich legte den Brief auf das kleine Schränkchen im Flur und schlenderte zum Telefon. Als ich die Nummer des Anrufers auf dem Display erkannte, seufzte ich und überlegte, ob ich wirklich dran gehen sollte. Meine Tante war es, die sich schon ewig nicht mehr bei mir gemeldet hatte und meine Lust, ihren endlosen Monologen zu lauschen, war gegen Null. Aber dennoch hob ich ab, bevor der Anrufbeantworter anspringen konnte.
Wie gewohnt ließ ich ihre Anschuldigungen, warum ich so lange nichts habe von mir hören lassen, an mir abprallen. Sie jammerte mir den Kopf voll, dass ich doch ihre einzige verbliebene Verwandte und sie doch so einsam sei. Das ganze ging eine halbe Stunde so weiter, ich kam nicht zu Wort, mehr als ein „Hmm ja“ oder „Hmm nein“ konnte ich in ihren kurzen Atempausen nicht loswerden. Schließlich verabschiedete sie sich von mir mit den Worten „Ich bin ja echt gespannt, wann du endlich etwas Anständiges aus deinem Leben machst“. Diese Sprüche kannte ich zur Genüge. Brummelnd legte ich auf und ging in die Küche, um mir erst einmal einen Kaffee zu kochen. Ich steigerte mich so in meinen Ärger hinein, dass ich den Brief vergaß.
Tja, nüchtern betrachtet war mein Leben nicht gerade der Hit. In meinem Beruf als Büroangestellte verdiente ich gerade genug, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Freunde hatte ich keine, da ich sehr introvertiert und still war. Mir war noch nie nach Party zu mute, und mit 44 wollte ich auch nicht mehr damit anfangen. Am Abend ging ich meiner Lieblingsbeschäftigung nach. Ich war eine Leseratte, hatte jede Menge Bücher in meiner kleinen, spärlich eingerichteten Wohnung verteilt und somit lümmelte ich auf der Couch und vertiefte mich in meine Lektüre. Da das Wochenende bevorstand und danach mein 3-wöchiger Jahresurlaub, las ich bis spät in die Nacht. Urlaub war für mich immer grausam, da ich dann mit meiner Zeit nichts anzufangen wusste und dadurch in Depressionen verfiel. Die einzige Ablenkung waren tägliche Spaziergänge im nahegelegenen Stadtpark.
Als ich im Bett lag, erinnerte ich mich plötzlich an den Brief. Also sprang ich auf, holte ihn und verkroch mich wieder in den Federn. Unentschlossen drehte und wendete ich ihn in meinen Händen. Der Umschlag war aus edlem Papier und es erschien mir wie eine Sünde, dieses aufzureissen, um an den Inhalt zu kommen. Schließlich überwand ich meine Scheu und öffnete den Brief.
„Sehr geehrte Frau von Rosenthal, ich würde mich sehr freuen, Sie am morgigen Samstag in meinem Hause zu empfangen. Bitte erscheinen Sie um 15 Uhr in der Brandenburger Allee 17. Hochachtungsvoll Cenhelm von Rothenstein“
Na so was, dachte ich mir. Was soll das wohl bedeuten? Was will der denn von mir? Da ist sogar ein Familienwappen eingraviert. Das kann ja nur ein Irrtum sein, bestimmt habe ich eine Namensvetterin und dies ist alles eine Verwechslung. Zudem habe ich kein „von“.
Am nächsten Morgen galt mein erster Gedanke dem Brief. Ich las ihn immer wieder durch und schaute mir nochmals den Umschlag an. Nein, er war ganz eindeutig an mich adressiert, kein Zweifel, es stand sogar mein vollständiger Vorname drauf. Sollte ich wirklich dorthin gehen? Ich würde es kurzfristig entscheiden. Aber Moment mal, wo ist diese Allee denn? Habe noch nie etwas davon gehört und da er nur die Straße aufgeschrieben hat, wird es wohl hier in der Stadt sein. Also schaltete ich mein Navi an und gab die Daten ein. Die Fahrt würde etwa eine halbe Stunde dauern und mich an den Stadtrand führen.
Nach Frühstück und Dusche suchte ich mir bequeme Kleidung aus und machte mich auf den Weg in den Stadtpark. Vielleicht half mir ein Spaziergang durch die Frühlingssonne dabei, meine Gedanken zu ordnen. Also schlenderte ich auf meiner gewohnten Route und genoss das Vogelzwitschern und die aus dem Winterschlaf erwachende Natur. So früh am Morgen hatte ich eigentlich nicht erwartet, außer Joggern irgendjemandem zu begegnen. Jedoch war „mein“ Pavillon, in dem ich immer so gerne saß und auf den kleinen See dahinter blickte, besetzt. Eine Frau meines Alters saß dort in Begleitung eines älteren Herrn im Rollstuhl. Die beiden unterhielten sich leise, aber am Gesichtsausdruck der Frau erkannte ich, dass es wohl ein Streitgespräch war. Also ging ich am Pavillon vorbei und begann eine Runde um den See. Boah, so früh am Tag, und schon streiten. Welch ein Glück, dass ich das nicht mitmachen muss.
Als ich etwa 50 Meter gegangen war, fühlte ich mich beobachtet. Ich spürte ein Kitzeln im Nacken, nicht unangenehm, aber dennoch konnte ich nicht anders und drehte mich um. Ich sah genau in die herrlich blauen Augen des älteren Herren und konnte meinen Blick nicht abwenden. Er hatte graumeliertes kurzes Haar und ein sehr sympathisches Gesicht. Er zwinkerte mir zu und brach den Augenkontakt mit einem gütigen Lächeln ab. Ich lächelte zurück, drehte mich wieder um und ging weiter. So ein netter Mann, warum er wohl im Rollstuhl sitzt? Und wie um alles in der Welt, kann man mit ihm einen Streit anfangen? Ob das seine Tochter ist? Oder gar seine Frau? Ich würde mich gerne mal mit ihm unterhalten. Von ihm könnte ich bestimmt viel lernen. Er strahlt so eine innere Wärme, Weisheit und Güte aus. So gingen meine Gedanken weiter, bis ich plötzlich wieder vor meiner Haustür stand. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich wohl auf Autopilot geschaltet hatte.
Kopfschüttelnd ging ich in meine Wohnung. Mein Blick fiel wieder auf den Brief und ich war mir auf einmal ganz sicher, dass ich die Einladung annehmen würde. Aber was ziehe ich an? Ein Herr von und zu und ich hab nur Jeans und Pullis. Vielleicht wäre ein schickes Kleid angebrachter? Oder zumindest ein Rock mit anständiger Bluse? Aber dann bräuchte ich auch entsprechende Schuhe und eine Handtasche, Schminke und nette Frisur. All das befand sich aber nicht in meinem Besitz und ich würde mich auch nicht wohlfühlen. Ich war ja schließlich nicht Aschenputtel, die auf den Ball im Königshaus geht und sich den Prinzen angelt. Ich musste über mich selbst lachen. Schließlich entschied ich mich für eine Jeans und fand in der hintersten Ecke meines Schrankes noch eine Bluse, die ich ganz vergessen hatte. Ich bürstete sogar noch meine bequemen Treter und anstatt meines obligatorischen Rucksacks kramte ich eine Umhängetasche heraus, die als Handtaschenersatz herhalten sollte und füllte sie mit den Dingen, die eine Frau unbedingt bei sich haben sollte: Geldbeutel, Papiere, Feuerzeug, Zigaretten, Handy, Lesebrille und Navi.
Ich machte mich frühzeitig auf den Weg und vertraute mich meinem Navi an. Zunächst ging es durch bekannte Straßen, aber dann kam ich in eine Gegend, in der ich nie zuvor war. Statt der Mehrfamilienhäuser fanden sich hier kleine Häuschen mit Vorstadtcharme. Schließlich bog ich in die Brandenburger Allee ein und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Allee machte ihrem Namen alle Ehre. Eine breite Straße gesäumt von wunderschönen alten Kastanien, die gerade die ersten Blüten hervorbrachten. Rechts und links standen in einigem Abstand immer schöner werdende Häuser. Die Hausnummern begannen bei 80, zudem war ich zu früh dran. Also fuhr ich langsamer und betrachtete die Häuser, die schließlich von Villen abgelöst wurden. Ah, da ist ja Nummer 19, also kann es nicht mehr weit sein. Das Grundstück der Nummer 19 war klar durch einen weißen Zaun abgegrenzt. Danach begann eine hohe rote Mauer, die bestimmt hundert Meter lang war, bevor sie durch ein großes Eisentor unterbrochen wurde. Ich hielt vor dem geschlossenen Tor an, stieg aus und begab mich auf die Suche nach einer Klingel. An der Mauer neben dem Tor war ein Messingschild angebracht:
Brandenburger Allee 17
von Rothenstein
Daneben befand sich eine mit Kamera und Gegensprechanlage versehene Klingel. Bevor ich mir überlegen konnte, ob ich überhaupt klingeln wollte, ertönte eine Stimme „ Frau von Rosenthal, Sie werden bereits erwartet, bitte fahren Sie bis vor das Haus.“ Gleich darauf öffnete sich das Tor. Ich stieg wieder ins Auto ein (das ich vergessen hatte, zu waschen und bestimmt mickrig neben dem Nobelschlitten des Besitzers aussehen würde) und fuhr durch das Tor. Selbstredend schloss es sich direkt wieder. Ich befand mich nun auf einer Kopfsteinpflasterstraße, die schnurgerade durch einen wunderschön angelegten Park führte. Mein Blick hing wie gebannt auf dem Haus, nein - Anwesen, dem ich mich näherte. Es war sehr groß, leuchtend rot mit weißen Fenstern und Balkonen, 4 Stockwerke hoch mit vielen Erkern und zwei Türmen, die das Anwesen rechts und links flankierten.
Ich stellte mein Auto ab – keine Luxuslimousinen weit und breit – stieg aus und blickte mich staunend um. Jetzt fehlt nur noch, dass ein Butler in Uniform mir die Tür öffnet. Etwas befangen ging ich zur Treppe vor dem imposanten Eingangsportal und wiederum musste ich nicht klingeln, sondern die Tür öffnete sich und eine junge Frau stand vor mir. „Frau von Rosenthal, schön, dass Sie da sind. Kommen Sie doch herein, der Hausherr erwartet Sie schon.“ Ich räusperte mich und sagte: „Vielen Dank für die nette Begrüßung, aber das ´von´ ist zu viel. Einfach nur Rosenthal.“ Die junge Frau nickte lächelnd und bat mich herein.
Der Eingangsbereich war einfach phantastisch. Hohe Decke (mit beträchtlichem Kronleuchter natürlich), mehrere Türen (eher Portale) und eine breite Treppe im Hintergrund. Die junge Frau leitete mich zu einem der Portale.
„Ich bin die Enkelin des Hausherren, mein Name ist Sunny, naja eigentlich Sunhild, aber den Namen mag ich nicht. Die Familientradition verlangt diese schrecklichen Namen.“ Ich lächelte sie an und erwiderte „Davon kann ich auch ein Lied singen. Nennen Sie mich einfach Tessa, Theresa-Elisabeth gefällt mir nämlich auch nicht.“
Lachend öffnete Sunny das Portal und wir gelangten in ein Wohnzimmer. Es gab dort alte Schränke mit vielen Büchern, einen Kamin und davor eine bequem aussehende halbrunde Couch mit dekorativen Kissen und einen einzelnen Sessel, der so stand, dass man nicht erkennen konnte, ob jemand darin saß.
„Großvater, dein Besuch ist da. Darf ich vorstellen: Theresa-Elisabeth von Rosenthal. Oh, nein, ohne von. Entschuldigen Sie bitte, Tessa.“
„Kein Problem Sunhild“ erwiderte ich lachend und erntete ein schiefes Grinsen von Sunny. Aus dem Sessel ertönte ein tiefes gluckerndes Lachen.
„Die Jugend von heute, tse tse“ Der Sessel drehte sich und ich erblickte den älteren Herrn aus dem Stadtpark.
„Ich hatte ja schon die Ehre, Ihr Antlitz zu erblicken, mein Name ist Cenhelm von Rothenstein. Kommen Sie doch näher Theresa-Elisabeth und setzen Sie sich zu mir. Wir haben viel zu besprechen.“
Zögernd ging ich zur Couch und setzte mich. Mir hatte es die Sprache verschlagen. Was zum Geier soll ich hier? Was soll es schon zu besprechen geben? Ist das jetzt ein Zufall, dass gerade er vor mir sitzt?
„Sie sind so still, Theresa-Elisabeth.“
„Sagen Sie doch bitte Tessa zu mir.“ Ich räusperte mich.
„Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich hier sehr wohl, aber dennoch etwas deplatziert. Was sollten Sie denn mit mir zu besprechen haben, Herr von Rothenstein? Ist es ein Zufall, dass wir uns gerade heute Morgen im Stadtpark gesehen haben?“
„Es gibt keine Zufälle“, sagten er und Sunny wie aus einem Munde. Wieder hatte ich einen Frosch im Hals.
„Ähm, also, was kann ich für Sie tun?“
„Ach wissen Sie, Tessa, das ist schwer zu erklären, aber dennoch ganz einfach. Ich habe Sie vor einer Woche schon einmal im Stadtpark gesehen. Sie saßen im Pavillon und schauten auf den See. Sie haben mich und meine Tochter gar nicht bemerkt.“, fing er an zu erzählen.
„Mir fiel gleich auf, dass Sie ein ganz besonderer Mensch sind und ich musste Sie einfach kennenlernen.“ Ich und ein besonderer Mensch? Was sollte denn an mir besonderes sein?
„Sie schauen so ungläubig.“, fuhr er fort. „Sie wissen gar nicht, was in Ihnen steckt. Aber ich werde es Ihnen zeigen, wenn Sie erlauben.“
„Habe ich denn eine Wahl?“, wollte ich wissen.
„Selbstverständlich haben sie diese. Wir können und wollen Sie zu nichts zwingen, hoffen aber auf ihre Neugierde.“
„Okay, also erst einmal bin ich neugierig, wie sie meinen Namen und meine Adresse herausgefunden haben und dann möchte ich wissen, was an mir so besonderes sein soll.“
„Nun, Tessa, wir haben unsere Mittel und Wege, Informationen über bestimmte Personen zu erhalten. Welche genau, werde ich Ihnen später erklären, wenn wir Ihnen eine kleine Einführung in unser Unternehmen gegeben haben.“
„Sie sprechen immer in der Mehrzahl. Wer ist wir?“
„Nun, Sie werden bald meine Tochter Agnes-Maria kennenlernen. Wir werden einen kleinen Test mit Ihnen durchführen.“
„Moment mal, einen Test? Wozu? Würden Sie mir bitte erklären, was das soll?“
Langsam wurde mir mulmig zumute. Ich war eh ein ängstlicher Mensch und konnte nicht mehr verstehen, warum ich eigentlich im wahrsten Sinne mutterseelenallein hierhergekommen war. Hektisch sah ich mich um und sprang auf.
„Lassen Sie mich bitte gehen, Sie machen mir Angst.“
„Sie können jederzeit gehen.“, sagte Cenhelm traurig.
„Es tut mir leid, wenn ich Ihnen Angst mache, das lag nicht in meiner Absicht.“
„Großvater, vielleicht solltest du nicht immer gleich mit der Tür ins Haus fallen.“, ließ sich Sunny vernehmen. Ich hatte sie ganz vergessen. Irgendwie beruhigte es mich, dass sie noch da war. Ich setzte mich wieder.
„Liebe Theresa-Elisabeth, es tut mir so leid. Ich suche Sie schon seit so langer Zeit, und nun bin ich ungeduldig und möchte meiner Tochter beweisen, dass Sie es wirklich sind.“
„Ach deshalb das Streitgespräch heute Morgen. Das war doch Ihre Tochter?“
„Ja, das war sie. Sie meint, dass ich mich in etwas hineinsteigere. Und nur, weil ich schon seit Jahrzeh…“, er musste husten „...seit Jahren nach Ihnen suche und die Geduld verliere. Aber bei Ihnen bin ich mir ganz sicher. In all der Zeit hatte ich nur eine Frau gefunden, von der ich dachte, dass sie es sei, aber sie hat den Test nicht bestanden. Aber Sie, Sie werden ganz bestimmt das Richtige tun.“
Das wurde ja immer seltsamer. Ich hatte diesen Beinahe-Versprecher natürlich bemerkt. Ach komm, spinn jetzt nicht rum, du heißt ja schließlich nicht Bella und Sunny und ihr Opa haben auch eine gesunde Hautfarbe. Aber meine Neugierde war geweckt. Ich könnte mir diesen Test ja mal anschauen und dann entscheiden, ob ich ihn durchführen würde.
„Entschuldige die Verspätung, Vater.“, erklang eine leise, dunkle Stimme.
„Das macht doch nichts, Agnes-Maria. Komm nur herein und begrüße unseren Gast.“ Ich drehte mich in Richtung Portal und erblickte die Frau, die ich im Stadtpark gesehen hatte. Sie war ungefähr so groß wie ich, also 1.72m, allerdings war sie etwas (okay ziemlich) schmaler als ich. Sie hatte langes schwarzes Haar und die hellblauen Augen ihres Vaters. Sie kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Ich stand auf und gab ihr die Hand. Dabei sah sie mir in die Augen und ich fühlte wieder dieses Kribbeln im Nacken. Sie ließ mich los, ging zu ihrem Vater, küsste ihn zart auf die Wange und setzte sich dann ans andere Ende der Couch.
„Sunhild, bitte setze dich endlich zu uns und steh nicht da hinten in der Ecke, als ob es dich nichts anginge.“, sagte Agnes. Gehorsam setzte Sunny sich zwischen ihre Mutter und mich.
Jetzt wurde ich ganz ruhig und wie immer, wenn ich mich wohlfühlte, bekam ich Lust auf eine Zigarette.
„Kann ich mal kurz raus gehen? Ich möchte gerne eine rauchen.“, fragte ich.
„Sie müssen nicht nach draußen, Theresa-Elisabeth. Wenn Sie doch bitte dort hinten zu dem Schrank gehen. In der linken unteren Tür befinden sich ein Aschenbecher und eine Zigarrenkiste. Bringen Sie mir dies doch bitte.“, erwiderte der Hausherr.
„Aber gerne doch.“, sagte ich und stand auf. Ich ging zu besagtem Schrank, bückte mich, drehte den Schlüssel, öffnete die Tür und nahm die gewünschten Gegenstände heraus. Ich schloss die Tür wieder, stand auf und ging zurück zur Couch, von wo aus mich Agnes und Sunny ungläubig staunend und der Hausherr übers ganze Gesicht strahlend ansahen.
„Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragte ich unsicher.
„Nein, nein, alles bestens.“, sagten die drei gleichzeitig. Ich musste lachen und sie fielen in mein Lachen ein. Ich setzte mich wieder, stellte den Aschenbecher und die Zigarrenkiste auf den Tisch vor der Couch, kramte in meiner Tasche nach meinen Zigaretten und zündete mir eine an.
„Würden Sie mir bitte eine Zigarre aus der Kiste geben? Ich komme nicht dran.“, fragte Großvater.
„Oh, entschuldigen Sie, wie unaufmerksam von mir.“, erwiderte ich, legte die Zigarette im Aschenbecher ab und griff nach der Kiste.
Es war eine alte Holzkiste mit eingeschnitzten Rosen. An der Vorderseite befand sich ein Verschluss. Ich versuchte, die Kiste zu öffnen, aber es ging nicht. Ich betrachtete die Schnitzereien genauer und drückte dann zielstrebig auf eine der Rosen. Der Verschluss öffnete sich und der Deckel sprang auf.
„Huch, jetzt hab ich mich aber erschrocken! Herr von Rothenstein, welche der Zigarren möchten Sie denn haben. Es scheinen verschiedene Sorten zu sein. Ach, ich denke, diese wird Ihnen besonders gut schmecken.“ Ich nahm die Zigarre, die als zweite von vorne lag und reichte sie ihm.
„Abknipsen und anzünden müssen Sie aber selbst, sonst huste ich mir hier die Lunge aus dem Leib und muss mit einem Finger weniger leben.“
„Das gibt es nicht!“, riefen Agnes und Sunny. Der Großvater fing an zu glucksen, dann lachte er leise und schließlich lauthals, bis ihm die Tränen die Wange herunter liefen.
Oh Mensch, was hab ich denn jetzt wieder angestellt? War das zu respektlos? Hätte ich seine Antwort abwarten sollen? Unsicher blickte ich von einem zum anderen. Aber auch Sunny und Agnes strahlten nun um die Wette.
„Theresa-Elisabeth!“, rief Agnes. “Sie haben den ersten Test bestanden! Unglaublich! Vater, du hattest Recht und ich entschuldige mich für mein Verhalten von heute Vormittag!“
„Es ist alles in bester Ordnung. Kein Grund, sich zu entschuldigen. Ich hatte es so erhofft, und nun ist es wirklich so. Theresa-Elisabeth, das haben Sie sehr gut gemacht!“
„Ja, aber, ich hab doch gar nichts Besonderes getan!“
„Oh doch, das haben Sie. Aber es ist noch zu früh, es Ihnen zu erklären. Seien Sie bitte so geduldig und akzeptieren Sie dies. Ich kann Ihnen nur sagen, dass Sie den ersten Test mit Bravour bestanden haben.“
„Wie viele Tests gibt es denn noch und was ist deren Zweck?“, fragte ich zaghaft.
„Das, meine Liebe, werde ich Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt mitteilen.“, sagte Agnes mit einem Lächeln.
Die Standuhr in einer Ecke des Salons schlug vier Mal. Eine ganze Stunde war ich nun schon da, es erschien mir viel kürzer.
„Theresa-Elisabeth, würden Sie uns die Ehre erweisen und mit uns einen Kaffee trinken? Hans hat gewiss auch einen leckeren Kuchen gebacken. Sicherlich ist der Speisesaal schon für uns vorbereitet.“, sagte der Großvater. Bevor ich antwortete, klopfte es am Portal und ein älterer Mann betrat den Salon.
„Wenn die Herrschaften bitte zum Kaffee in den Salon kommen würden? Es ist alles vorbereitet.“
„Ja, wir sind soweit. Theresa-Elisabeth, Sie werden doch noch bleiben?“ Tatsächlich verspürte ich einen leichten Hunger, denn ich hatte vergessen, etwas zu essen, bevor ich losfuhr.
„Hans, bitte helfen Sie mir aus dem Sessel heraus.“ Daraufhin verließ Hans den Salon, um kurz darauf mit einem Rollstuhl zurück zu kommen. Im Nu hatte der Hausherr mit seiner Hilfe die Sitzgelegenheit gewechselt. Mit leisem Surren setzte sich der Rollstuhl in Bewegung. Im Gänsemarsch folgten wir ihm hinaus in die Eingangshalle und von dort durch eine andere imposante Tür. Diese öffnete sich automatisch und gab den Weg frei in einen großen Saal, in dessen Mitte ein sehr großer Tisch mit etlichen bequem aussehenden Stühlen stand. Nur am Kopfende stand kein Stuhl und dahin fuhr der Hausherr, parkte geschickt ein und bat uns zu Tisch.
Hier gibt es bestimmt eine Sitzordnung. Tatsächlich setzte sich Agnes links und Sunny rechts vom Großvater. Sunny bedeutete mir, mich neben sie zu setzen. Ich ließ mich auf dem zugewiesenen Stuhl nieder, und tatsächlich war er sehr bequem. Hans brachte uns allen Kaffee und fragte dann, welchen Kuchen ich haben möchte. Es gab eine große Auswahl. Ich entschied mich für die Kirschstreusel und kurz darauf wurde mir ein riesiges Stück kredenzt.
„Nun, Theresa-Elisabeth, wie gefällt Ihnen denn unser Anwesen? Könnten Sie sich vorstellen, hier zu wohnen?“, fragte der Hausherr.
„Opa, jetzt überfalle die Arme doch nicht schon wieder. Eins nach dem anderen.“, rief Sunny dazwischen. Ich war tatsächlich perplex.
Ich und hier wohnen? Was soll denn das nun wieder? Braucht er eine Pflegekraft? Da ist er bei mir aber an der falschen Adresse. Mir fehlten die Worte, daher beschäftigte ich mich ausgiebig mit meinem Kuchen und wagte es nicht, aufzublicken. Ich wünschte mir ein kleines Mauseloch, in das ich mich verkriechen konnte. Ich hasste es, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen.
„Mein Großvater hat Sie wohl wieder erschreckt. Das tut mir leid.“, sagte Sunny leise zu mir.
„Vielleicht möchten Sie nur auf die erste Frage antworten?“ Ich nahm einen Schluck Kaffee, setzte die Tasse ab, lehnte mich zurück und sagte
„Es ist wunderschön hier. Ich habe ja noch nicht viel vom Haus gesehen, aber wenn alles so geschmackvoll eingerichtet ist wie der Salon und dieser Speisesaal hier... Ja, es gefällt mir, und obwohl ich immer noch nicht weiß, was Sie genau von mir wollen, fühle ich mich sehr wohl. Wohnen denn nur Sie hier? Ich meine, das Haus ist doch riesig groß mit seinen vier Etagen und den Türmen.“
„In der Tat, dieses Haus wäre zu groß für uns drei.“, ließ sich Agnes vernehmen. „Aber jeder Raum hat hier seinen Zweck und wird genutzt. Außer... “, sie stockte.
„Außer dem dritten Stock, der schon ewig ungenutzt ist und auf den richtigen Bewohner wartet.“, beendete der Großvater ihren Satz. Damit war meine Frage nur zur Hälfte beantwortet. Okay, vielleicht wollten sie mir nicht mehr mitteilen.
„Theresa-Elisabeth. Sie werden die restlichen Bewohner dieses Anwesens nach und nach kennenlernen. Aber damit lassen wir uns noch etwas Zeit. Erst einmal sollten wir uns ein wenig über Sie unterhalten. Wir haben da einige Fragen.“ Er sah mich neugierig an.
„Ich werde Ihre Fragen gerne beantworten, soweit mir dies möglich ist.“, erwiderte ich und lächelte in die Runde.
Drei wunderschöne blaue Augenpaare sahen mich an und ich erinnerte mich daran, dass ich schon als Kind gerne blaue Augen gehabt hätte, aber meine waren dunkelbraun mit einigen grünen Flecken. War ja typisch für mich, nicht einfach nur braun oder grün. Nein, gesprenkelt mussten sie sein. Ich mochte meine Augen nicht, und war immer froh, wenn ich sie hinter einer Sonnenbrille oder meiner Lesebrille verstecken konnte. Auch meine Haare mochte ich nicht. Sie konnten sich nicht entscheiden, welche Farbe sie annehmen sollten. Der Grundton war hellbraun, jedoch hatte ich so manche dunkle Strähne und mittlerweile einige graue Stellen dazwischen. Außerdem hatte ich Speck angesetzt, seit ich mit dem Bodenturnen aufgehört hatte. So könnte ich noch stundenlang über meinen ungeliebten Körper auslassen, aber ich riss mich zusammen und sagte „Gut, fangen Sie an.“
„Hatten Sie jemals das Gefühl, nicht dazu zu gehören?“
„Kennen Sie Ihre Vorfahren?“
„Haben Sie viele Freunde oder sind Sie eher ein Einzelgänger?“
„Hatten Sie seltsame Begegnungen? Im Traum oder real?“
„Stopp, stopp, nicht so viel auf einmal!“, rief ich lachend. „Lassen Sie mich mal überlegen. Meine Mutter starb bei meiner Geburt, meinen Vater kenne ich nicht, habe keine Geschwister. Es lebt nur noch eine Schwester meiner Mutter, sonst habe ich keine Verwandtschaft. Ich wuchs in einer Pflegefamilie auf und kenne daher das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Um ehrlich zu sein, zieht sich dieses Gefühl durch mein ganzes Leben. Irgendwie suche ich einen Platz für mich, an dem ich voll und ganz akzeptiert werde und...“, hier musste ich unterbrechen, da meine Stimme mir nicht mehr gehorchte. Ich kämpfte mit den Tränen, und ausnahmsweise gewann ich. Nach einem Räuspern fuhr ich fort:
„Ich habe keine Freunde, nur Arbeitskollegen, mit denen ich privat aber nichts zu tun habe. Ich bin am liebsten allein in mit meinen Büchern. Aber was meinen Sie denn mit seltsamen Begegnungen?“ Jetzt rollte doch eine Träne meine Wange runter. Hektisch kramte ich in der Hosentasche nach einem Taschentuch. Sunny legte mir ihre Hand auf die Schulter.
„Bitte regen Sie sich nicht auf. Wenn Sie möchten, kann diese Zeit der Vergangenheit angehören.“, sagte sie tröstend zu mir. Tatsächlich wurde ich wieder ruhig und konnte das Taschentuch wegstecken. Jetzt räusperte sich der Hausherr.
„Theresa-Elisabeth, es tut mir leid, dass ihr bisheriges Leben nicht gerade gut verlief. Wie meine Enkelin schon andeutete, bin ich der festen Überzeugung, dass nun die Zeit reif ist, die Vergangenheit ruhen zu lassen und frohen Mutes in die Zukunft zu blicken. Wir würden Ihnen gerne dabei helfen, aus dem Schatten ins Licht zu treten.“
Verwundert schaute ich ihn an. „Sind Sie von der Wohlfahrt, oder eine Sekte, die nur an mein Geld will? Nun, ich kann Ihnen versichern, dass da nicht viel zu holen sein wird.“ Er zwinkerte mir zu.
„Seien Sie sich da nicht so sicher. Ich meine, von der Wohlfahrt sind wir nicht und wir möchten auch nicht Ihr Geld. Im Gegenteil, wir möchten Sie endlich Ihrer schon lange wartenden Bestimmung zuführen.“
„Meiner Bestimmung? Welcher Art soll die sein, und warum erst jetzt? Mein Leben ist ja schon halb vorbei.“ Jetzt bekam Agnes einen Hustenanfall.
„Zunächst sollten Sie lernen, die Dinge nicht immer so negativ zu sehen. Ja, ich weiß, bislang gab es keinen Grund für Sie, positiv zu denken.“, sagte sie mit einem aufmunternden Blick zu mir.
„Aber dies wird sich in Bälde ändern.“
„Wie können Sie sich da so sicher sein? Sie kennen mich doch gar nicht. Sie sagen mir, dass ich einen Test von vielen bestanden hätte. Was ist, wenn ich bei den anderen kläglich versage oder mich dazu entscheide, nach Hause zu gehen und nicht wieder zu kommen?“
„Wie wir Ihnen schon sagten, haben Sie selbst die Wahl, ob sie hier bleiben oder nicht. Ich muss aber ehrlich zu Ihnen sein: bestehen Sie den letzten Test, werden Sie gar nicht mehr von hier weg wollen.“ Wieder zwinkerte der Großvater mir zu.
„Denn dann wird Ihre Neugierde und Ihr Wissensdurst sie beherrschen.“, fügte er noch lächelnd hinzu.
„Eine Antwort auf Ihre Fragen steht noch aus. Ich weiß zwar nicht, was daran so wichtig ist, aber gut. Bei meiner Pflegefamilie ging es mir recht gut, jedoch lernte ich schnell, nicht über alles, was ich sah, zu reden.“
Ich räusperte mich.
„Ich habe schon lange nicht mehr daran gedacht. Ja, es gibt da einiges. Seltsame Träume, die sehr real waren und Stimmen, die nur ich hören konnte. Manchmal sah ich im Augenwinkel auch seltsame Wesen, aber wenn ich genau hinschaute, waren sie verschwunden. Also gelangte ich zu der Überzeugung, dass ich mir das alles nur einbildete. Meine Pflegeeltern und auch meine Tante, die ich ab und an besuchen durfte, bestärkten mich in meiner Meinung.“
„Sie besuchten Ihre Tante? Wer ist sie? Hat sie Ihnen etwas über Ihre Eltern erzählt?“, wollte Agnes wissen.
„Sie hatte meine Fragen über die Eltern stets übergangen und wurde wütend, wenn ich sie damit nicht in Ruhe ließ. Schließlich gab ich es auf. Sie ist mittlerweile 84 Jahre alt. Über meine Mutter weiß ich nur, dass sie bei ihrem Tod, also meiner Geburt, erst 16 Jahre alt war. Meine Großeltern kannte ich auch nicht, sie sind lange Jahre tot. Weitere Verwandtschaft gibt es nicht. Meine Tante war nie verheiratet und hat auch keine Kinder. Wenn sie stirbt, bin ich also ganz allein.“ Mist, da kamen wieder diese verräterischen Tränen.
Jetzt suhle ich mich schon wieder in Selbstmitleid, verdammt.
„All das muss sehr schwer für Sie sein, meine Liebe. Lassen Sie Ihren Tränen nur freien Lauf. Das wird Sie erleichtern.“ Sunny tätschelte beruhigend meinen Arm. Als ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte erklärte ich
„Ich weiß gar nicht, warum ich so offen mit Ihnen darüber spreche. Normalerweise rede ich nicht darüber, ich will kein Mitleid oder so. Aber bei Ihnen fühle ich aufrichtige Anteilnahme und echtes Interesse an meiner Person, und das tut mir gut.“ Jetzt glänzten Sunnys Augen und sie wandte sich schnell ihrer Mutter zu.
„Sollen wir nun nicht weitermachen, sonst sitzen wir bis zum Abendessen hier und Hans wird mit uns schimpfen, weil er nicht in Ruhe aufräumen und neu eindecken kann.“
„Du hast Recht. Also gut, machen wir weiter. Theresa-Elisabeth, würden Sie bitte mit mir kommen. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“, sagte Agnes zu mir.
„Ich werde mich nun zurückziehen und zu gegebener Zeit wieder zu euch stoßen.“, verabschiedete sich der Hausherr und fuhr mit dem Rollstuhl hinaus. Die Tür öffnete und schloss sich hinter ihm wieder voll automatisch.
„Der Rollstuhl hat einen eingebauten Türöffner, somit ist Großvater nicht immer auf Hilfe angewiesen.“, erklärte Sunny.
„Gehen wir doch hinauf zu den ungenutzten Zimmern, die eben erwähnt wurden. Die anderen Etagen und den Keller werden wir Ihnen später zeigen. Ach ja, der Garten. Das muss wohl bis morgen warten, es wird ja schon bald dunkel.“
Ich folgte Agnes hinaus in die Eingangshalle. Wir gingen in Richtung der Treppe, bogen aber kurz davor ab und gingen auf eine Edelstahltür zu.
„Dies ist unser Aufzug, den wir nachträglich eingebaut haben. Er erleichtert das Leben in diesem Haus ungemein“. Mit einem leisen ´Pling´ öffneten die Türen und wir traten ein. Agnes drückte auf den Knopf mit der 3, die Türen schlossen sich und schon ging es hinauf.
Der dritte Stock war ganz anders als das Erdgeschoss. Hier war alles moderner und mit hellen Möbeln ausgestattet. Wir gingen durch einen breiten Flur. Auf der rechten Seite waren zwei Türen, links befand sich nur eine, vor der wir stehen blieben.
„Dies ist der Eingang zu den bislang ungenutzten Zimmern. Großvater hat sie im Laufe der Jahre mehrmals renovieren lassen, um mit der Zeit zu gehen. Diese Tür lässt sich nur auf zwei Arten öffnen: entweder, man hat den passenden Schlüssel, dann kann fast jeder hinein. Aber es gibt nur einen, und den hat Großvater unter Verschluss. Die andere Möglichkeit steht nur dem rechtmäßigen Bewohner der Räume offen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie diese Tür aufgeht. Das sollten Sie selbst herausfinden.“
„Wieso ich? Ach, sie meinen, dass ich die lange gesuchte Person bin, von der ihr Vater sprach.“, verdutzt schaute ich Agnes an. „Das glauben Sie ja wohl selbst nicht.“
„Stimmt. Ich glaube es nicht, ich bin mir ganz sicher, dass Sie es sind“
„Na gut, das haben wir bald. Gleich werden Sie eines Besseren belehrt.“, sagte ich grinsend und ging näher an die Tür heran.
Es war eine normale Tür ohne Verzierungen oder Schnitzereien, mit einem unscheinbaren Drehknauf in dessen Mitte sich das Schlüsselloch befand. Ich packte den Knauf an, drehte ihn und die Tür ging auf.
„Na sehen Sie, so einfach ist das. Das können Sie auch, Agnes.“
„Oh nein“, keuchte sie. „Das kann ich sicherlich nicht. Ich werde diesen Knauf nicht anfassen. Er sieht so abstoßend aus.“
Häh?? Jetzt verstand ich gar nichts mehr.
„Wieso abstoßend, es ist doch ein ganz normaler vergoldeter Drehknauf!“
„Ich sehe etwas ganz anderes, das ich Ihnen nicht näher beschreiben will.“, entgegnete Agnes kopfschüttelnd.
„Wollen Sie denn nicht hineingehen und sich alles anschauen?“
„Das hört sich so an, als wollten Sie nicht mitgehen. Warum denn das?“, fragte ich sie.
„Ich kann diese Räumlichkeiten nur betreten, wenn Sie mich dazu einladen.“
„Okay. Agnes, würden Sie mich bitte begleiten?“ Sie machte ein nachdenkliches Gesicht, und ich fragte mich, was das alles sollte.
„Liebe Theresa, ich weise Sie darauf hin, dass es für mich eine große Ehre ist, in Ihre Gemächer eingeladen zu werden.“
„ Jetzt hören Sie aber auf, diese Gemächer befinden sich in Ihrem Haus, also gehören Sie Ihnen und nicht mir.“ Jetzt war ich natürlich sehr neugierig und wollte erkunden, was das Geheimnis dieser Räume war.
„Gibt es hier auch Licht? Es ist stockdunkel da drinnen.“ Ich machte einen Schritt nach vorne und schon war der Raum hell erleuchtet.
Also gibt es hier auch Sensoren dachte ich und schaute mich staunend um. Ich befand mich in einem kleinen Flur, von dem drei Türen abgingen.
„Sagten Sie nicht, es seien vier Räume? Jetzt kommen Sie endlich herein. Hier sind keine Ungeheuer, die Sie verschlingen wollen.“ Lachend drehte ich mich zu Agnes um und erschrak. Sie sah sehr ängstlich aus, so, als würde Sie wirklich jeden Moment mit einem Angriff rechnen. Sie sah mich an, lächelte tapfer und kam herein. Sofort schloss sich die Tür hinter ihr und nun fing sie an zu zittern. So langsam bekam ich es auch mit der Angst zu tun. Ich konnte das alles nicht verstehen. Agnes schien mir eine starke Persönlichkeit zu sein, und dass sie nun so offensichtlich kurz vor einer Panikattacke stand, war nicht mehr zu übersehen. Ich atmete tief durch, ergriff ihre Hand, und gab mich mutiger, als ich in Wirklichkeit war.
„Dann wollen wir doch mal sehen, was hinter der ersten Tür ist.“
Mit diesen Worten öffnete ich die erste Tür auf der rechten Seite und befand mich in einem Bad. Eher in einem Badetempel mit allem Schnickschnack, den man sich nur wünschen konnte. Eine Duschkabine aus Glas, in der locker drei Personen gleichzeitig duschen könnten, eine riesige Badewanne, zu der man über 4 Treppenstufen gelangte, eine Trennwand und dahinter das WC, ein Waschtisch mit Spiegel, einige Schränkchen und Regale voller flauschig aussehender Handtücher in allen Größen. Dazu noch Ablageflächen voller Flakons mit schillernden Flüssigkeiten.
„Wow, das nenne ich mal eine Nasszelle. Sehen Sie nur Agnes, wie schön das hier ist. Luxus pur. Und nichts Bedrohliches.“ Strahlend drehte ich mich wieder zu ihr um. Sie war nicht ins Bad eingetreten, sondern wartete draußen. Immer noch angespannt und wenn sie so weiter machte, würde sie sich noch die Finger brechen, so fest hielt sie die Hände ineinander verschlungen.
„Dann ist hier bestimmt das Schlafzimmer!“, rief ich aus und stürmte auf die Tür daneben zu, öffnete sie und fand tatsächlich ein Schlafzimmer. Ein großes Bett an der einen und ein Schrank, der die gesamte gegenüberliegende Wand einnahm. Dazu noch ein Sessel mit einem Beistelltischchen nahe einer Balkontür und ein Schminktisch (wie bei Barbie).
„Das scheint mir hier eine ganz normale, sehr luxuriöse Wohnung zu sein. Fehlt nur noch die Küche und das Wohnzimmer. Huch, es ist nur noch eine Tür übrig, dann ist es bestimmt eine offene Küche mit angrenzendem Wohnzimmer. Kommen Sie schon, Agnes, gehen Sie mit mir.“ Zögernd kam sie mit zur letzten Tür und als ich sie öffnete, kam sie tatsächlich mit hinein.
Dies war kein Wohnzimmer im eigentlichen Sinne. Es war ein großer Raum mit vielen bodentiefen Fenstern, vor denen allerdings die Vorhänge zugezogen waren. Es gab leere Bücherregale, eine hellbeige Rundcouch wie im Salon unten, einen Lesesessel mit Fußhocker und einen Couchtisch in der Mitte. An der anderen Wand befand sich ein Flachbildschirm, flankiert von Regalen voller DVDs. Am anderen Ende des Raumes befand sich eine Küchenzeile mit Esstisch. Alles war farblich perfekt aufeinander abgestimmt, sehr gemütlich durch den ganzen kleinen und großen Nippes, der im Raum geschickt verteilt war und vor allem war es absolut sauber. Und das, obwohl doch angeblich niemand diese Räume betreten konnte. Es fiel mir schwer, mir den Großvater hier im Rollstuhl vorzustellen, wie er die Böden wischte und die Regale abstaubte. Ich konnte absolut nicht verstehen, warum Agnes immer noch so nervös war.
„Was ist denn mit Ihnen los? Warum so angespannt? Es scheint Ihnen hier nicht gut zu gehen, also verlassen wir diese herrlichen Räume am besten wieder. Vielen Dank, dass Sie mir dies alles gezeigt haben.“ Agnes atmete hörbar aus. Zusammen verließen wir die Wohnung und traten hinaus auf den Hauptflur.
Der Hausherr erwartete uns vor dem Aufzug.
„Liebste Theresa-Elisabeth, ist denn alles zu Ihrer Zufriedenheit eingerichtet? Sie konnten also die Tür öffnen. Das wundert mich nicht. Also werden Sie auch den letzten Test noch heute bestehen.“
„Ja, es ist eine wundervolle Wohnung, aber was hat das mit mir zu tun?“
„Sie wollen wohl nicht begreifen, dass dies Ihre Wohnung ist? Wenn Sie sich heute Abend zur Ruhe dorthin begeben, werden Sie all Ihre Habseligkeiten vorfinden. Ich habe die Räumung ihrer bisherigen Wohnung veranlasst.“, erklärte der Hausherr. Jetzt wurde ich sauer.
„Mein lieber Herr von Rothenstein! Sie haben nicht das Recht dazu, einfach meine Wohnung zu räumen. Außerdem widersprechen Sie der Aussage Ihrer Tochter. Angeblich kann doch niemand außer Ihnen dort hinein. Wollen Sie vielleicht all meine Sachen selbst einräumen?“, rief ich wütend aus.
„Bewahren Sie die Contenance. Sie hörten nicht richtig zu. Es kann fast niemand ohne Ihre oder meine Zustimmung in diese Räume. Da ich meinen Angestellten den Zutritt gewähre, geht das sehr wohl. Keine Bange, sobald Sie dort eingezogen sind, wird niemand mehr ohne Ihre Zustimmung einfach so hinein spazieren können, auch ich nicht. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber nun haben Sie keine Wahl mehr. Sie werden hier bleiben und den letzten Test absolvieren. Allerdings ist dies nur noch eine Formsache.“
Mir wurde schwindelig. Jetzt hatte ich den Salat. Wäre ich doch bloß nicht hierher gefahren. Hätte ich doch nur den Brief ungeöffnet gelassen. Nun kam mein Trotz durch.
„Also gut. Dann werde ich hier halt wohnen. Eine Verbesserung ist es allemal. Ich bin es gewohnt, alleine zu sein, ob das hier oder woanders ist, spielt für mich keine Rolle. Sie werden mich nicht zu Gesicht bekommen, außer, Sie lauern mir auf, wenn ich zur Arbeit gehe.“
„Sie werden nicht mehr zur Arbeit gehen. Ihre Stelle wurde gekündigt. Sie können dieses Haus nicht mehr alleine verlassen. Sie werden mit allem versorgt, was Sie benötigen.“, donnerte der ´gütige´ Großvater.
„Jetzt zeigen Sie also Ihr wahres Gesicht. Was wollen Sie denn von mir? Lösegeld wird Ihnen niemand zahlen, also können Sie mich genauso gut wieder laufen lassen.“
Jetzt atmete Agnes tief durch und begann leise zu erklären
„Wir haben Sie nicht entführt. Ich entschuldige mich für den Ausbruch meines Vaters. Er wartet schon so lange auf Sie, dass er nun, angesichts Ihres Unverständnisses über Ihre Wichtigkeit für uns, kurz die Nerven verloren hat. Lassen Sie uns doch wieder nach unten fahren und es uns etwas bequemer machen.“
„Ich könnte jetzt doch einfach abhauen. Wie wollen Sie mich denn aufhalten?“
„Nun gut, wir fahren nach unten und dann können Sie gehen. Sie werden aber nicht weit kommen und es wird Ihnen nicht gefallen. Aber anders verstehen Sie uns anscheinend nicht.“ Trotzig reckte ich das Kinn vor. Denen würde ich es zeigen. Mit Stolz erhobenem Kopf betrat ich den Aufzug und gemeinsam fuhren wir nach unten.
„Sie finden die Tür bestimmt alleine.“, brummelte der Hausherr.
„Oh ja, das werde ich in der Tat. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“ Mit diesen Worten stolzierte ich quer durch die Eingangshalle auf den Ausgang zu. Kein Mensch weit und breit, die beiden waren beim Aufzug stehen geblieben. Von Hans und Sunny war nichts zu sehen.
Frohen Mutes öffnete ich die Tür, ging zwei Schritte hinaus und blieb erschrocken stehen. Diese Statue war doch heute Mittag noch nicht da gewesen. Am Fuß der Treppe stand ein Löwe mit Flügeln. Na, den hab ich wohl eben übersehen, dachte ich und setzte meinen Fuß auf die erste Treppenstufe. Hat der sich gerade bewegt? Quatsch! Jetzt fange ich wieder an zu spinnen. Das ist ein Steinklotz, also geh endlich weiter. Kaum wollte ich weitergehen, als der Löwe seine Flügel ausbreitete, so dass ich unmöglich an ihm vorbeikommen konnte. Netter Trick, Türen die alleine auf und zugehen, Licht geht von alleine an und nun auch noch eine bewegliche Statue. Ich straffte die Schultern und ging eine Stufe hinab. Ui, wie gruselig, jetzt leuchten die Augen. Und noch eine Stufe. Jetzt schüttelte der Löwe seinen mächtigen Kopf, so dass die Mähne hin und herflog. Er bewegte seine Flügel und ich sah, dass er nicht aus Stein war. Dann ist es halt eine bewegliche Figur aus der Geisterbahn. Damit halten die mich nicht auf. Noch eine Stufe. Jetzt stand ich Auge in Auge mit dem Löwen, jedoch nur, weil ich noch einige Stufen über ihm stand. Er blinzelte mich an und schüttelte wieder den Kopf. Dann öffnete er das Maul. Ich bemerkte seinen warmen Atem, sah sein mächtiges Gebiss und plötzlich kitzelte es in meiner Nase. „Haa-tschi“. Na super, anscheinend war das Fell echt, denn ich war auf Katzen allergisch.
„Du kannst hier nicht vorbei, Herrin!“, sagte der Löwe zu mir. „Gehe bitte wieder zurück ins Haus und nimm deine Bestimmung an. Wir brauchen dich!“ Er faltete die Flügel zusammen und verbeugte sich vor mir. Dann legte er sich nieder, beobachtete mich aber genau. Oh je, anscheinend ist der echt. Aber das kann doch nicht sein, so etwas gibt es doch nicht. Nur im Film.
Langsam drehte ich mich um und ging zurück ins Haus.
„Okay, was soll das denn jetzt? Ist das hier versteckte Kamera? Ich finde es nicht witzig. Natürlich kann ich nicht an dem Ding da vorbei, ich würde mich zu Tode niesen. Woher wissen Sie überhaupt, das ich auf Katzen allergisch bin?“
„Ich bin kein DING, Herrin. Ich bin ein Bixie und dein Beschützer!“, brummelte der Löwe hinter mir.
„Ach, ein Pixie? Die sind aber sehr klein und es gibt sie nur in Fantasy-Romanen.“ „Nein, bei allem Respekt, ich bin kein Pixie, sondern ein Bixie! Anderer Anfangsbuchstabe, großer Unterschied.“
Ein helles Kichern erklang aus der Löwenmähne.
„Ich bin ein Pixie, Herrin!“, sagte eine hohe Stimme und aus der Mähne krabbelte ein etwa 15cm kleines Wesen mit spitzen Ohren und durchsichtigen Flügeln. Es grinste mich an und entblößte dabei sehr viele, sehr spitze Zähnchen.
„Aber mein Clan und ich passen auf dich auf.“
Das war dann doch zu viel für mich. Mir wurde schwindelig, schwarz vor Augen und lautlos sank ich zu Boden.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Salon auf der Couch, mein Kopf auf einem duftenden Kissen gebettet und zugedeckt mit einer flauschigen Wolldecke.
„Ach, da ist sie ja wieder. So was nennt man eine Rosskur. Es tut mir leid, dass ich Sie überfordert habe, aber Sie wollten es einfach nicht begreifen. Wie geht es Ihnen?“, fragte Cenhelm. Mühsam richtete ich mich auf und sah mich um. Sunny, Agnes, Hans und der Hausherr standen bzw. saßen um mich herum und blickten mich sorgenvoll an.
„Ach wissen Sie, ich muss wohl eingeschlafen sein und hatte wieder so einen seltsamen Traum. Ich wollte doch zur Tür raus. Wie bin ich denn hierhergekommen? Oh mein Gott!“. Mir wurde schlagartig klar, dass ich nicht geträumt hatte.
„Es gibt sie wirklich? Habe ich wirklich einen Pixie gesehen?“
„Ja, das hast du, Herrin“, piepste es hinter mir. Ich drehte mich um und sah das kleine Wesen hinter mir auf der Couchlehne sitzen.
„Bitte nicht in Ohnmacht fallen, du wirst schon wieder blass um die Nase, Herrin.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, es geht schon. Oh Mann, das ist echt krass. Habe mal ein Buch gelesen, in dem ihr vorkamt. Aber von einem Bixie hab ich noch nie gehört.“
„Das kommt daher, dass sie normalerweise in China leben. Ich wohne übrigens mit meiner Familie in deiner neuen Wohnung. Wir sorgen für Ordnung und Sauberkeit.“ Wie in dem Buch...aber da hieß er Jenks. „Okay, so langsam begreife ich. Wollt ihr mir nicht langsam mal mitteilen, was ihr mit mir vorhabt? Welche Märchengestalten laufen hier noch rum?“
„Liebe Theresa-Elisabeth“, ergriff der Großvater das Wort. “Sie werden bald noch viele Bewohner dieses Hauses kennenlernen. Aber zunächst müssen wir noch den letzten Test durchführen, damit das Protokoll gewahrt wird. Nehmen Sie bitte das Buch, das auf dem Tisch liegt und lesen uns den Titel vor.“
„Hab schon bestanden. Ich kann lesen.“
„Das wissen wir. Aber wenn Sie diesen Titel lesen können, sind sie die Richtige.“ Ich griff nach dem Buch und schaute auf den Titel. Ich sah ihn aber nur sehr verschwommen.
„Ich bräuchte meine Lesebrille, ohne geht es leider nicht mehr. Wo ist denn meine Tasche?“ „Hier ist sie. Ich bringe sie dir.“, piepste Bob und verschwand in der Tasche. Er hatte die Brille schnell gefunden, flog zu mir und überreichte sie mir stolz.
„Danke, Jenks... Bob.“ Ich setzte die Brille auf und schaute mir den Titel des Buches nochmals an. Zuerst konnte ich nichts erkennen, aber dann wurden die Zeichen immer deutlicher und ich konnte lesen, was darauf stand: „Hintergründe des Verschwindens der Korrigans.“, las ich laut vor.
„Was sind denn Korrigans?“, wollte ich wissen.
„Das spielt im Moment keine Rolle, das erfahren Sie noch früh genug. Seit wann beherrschen Sie die keltische Sprache?“, fragte Agnes.
„Keltisch? Das ist doch nicht keltisch. Es steht hier klar und deutlich in Deutsch, sehen Sie!“, sagte ich und schaute erneut auf das Buch. Die Schrift hatte sich verändert und ich konnte sie jetzt nicht mehr lesen.
„Seltsam. Ich hätte schwören können...“, stotterte ich. „Also hab ich den Test doch nicht bestanden. Werden Sie nun mein Gedächtnis verändern und mich wieder daheim absetzen?“
„Ganz im Gegenteil. Sie werden sich bald an vieles erinnern, was Sie schon seit Ihrer Geburt wissen. Aber eins nach dem anderen. Es wird Zeit fürs Abendessen. Bereiten Sie sich darauf vor, noch andere ´Märchenwesen´ kennenzulernen.“, sagte Hans.
„Ich werde nachsehen, ob alles vorbereitet ist und dann zum Essen bitten. Herzlich Willkommen in unserer Welt, Herrin.“ Mit diesen Worten entfernte er sich aus dem Salon.
„Was soll denn das? Warum nennt mich jeder Herrin? Ich möchte das nicht! Ich habe diesen Titel nicht verdient!“
„Oh doch, das haben Sie.“, bemerkte der Großvater. Er senkte seinen Kopf und sagte feierlich „Herzlich Willkommen in meinem bescheidenen Haus, Herrin Theresia-Elisabeth von Rosenthal.“
Auch Sunny, Agnes und Bob verbeugten sich vor mir. Verlegen schaute ich zu Boden und sagte leise: “Jetzt hört aber auf. Ich werde ja ganz rot.“
„Das ist falsche Bescheidenheit, aber es macht Sie noch sympathischer. Es wird Zeit, dass Sie die Anderen kennenlernen. Sie freuen sich schon auf Sie. Und ich bin gespannt, wie Sie reagieren.“, sagte Sunny verschmitzt lächelnd. Und ich bin erst gespannt. Ich komme mir vor wie im falschen Film.
Gemeinsam gingen wir in Richtung Speisesaal. Die Türen waren noch verschlossen, aber ich hörte aufgeregtes Stimmengewirr nach draußen dringen. Bob setzte sich auf meine Schulter.
„Ich werde dir die Herrschaften vorstellen. Hab bitte keine Angst, sie sind dir alle wohlgesonnen. Und außerdem beschütze ich Dich, Herrin!“
„Da bin ich ja beruhigt.“, antwortete ich ihm. Er kicherte leise. „Dann wollen wir mal!“, sagte der Hausherr. „Bitte folgt mir.“ Er fuhr auf die Türen zu, die sich natürlich wieder automatisch öffneten. Sofort verstummten die Stimmen. „Meine Damen und Herren!“, begann er. „Ich freue mich, Ihnen allen endlich die Herrin und Bewahrerin der Bücher vorzustellen: Theresa-Elisabeth von Rosenthal!“ Aha, ein erster Hinweis auf meine Bestimmung. Sunny und Agnes gingen hinein und verschwanden aus meinem Blickfeld, denn ich war ein gutes Stück vor den Türen stehen geblieben und konnte noch niemanden im Raum sehen.
„Kommen Sie, meine Liebe.“ Einladend winkte der Hausherr mir zu.
Ich atmete tief durch und setzte mich in Bewegung. Zuerst fiel mein Blick auf den langen Tisch, der festlich gedeckt war. Und dann sah ich sie. Mir blieb die Luft weg und ich schwöre, mein Herz vergaß für eine Weile zu schlagen. Rings um den Tisch standen 8 Wesen, die bei meinem Eintreten sofort vor mir auf die Knie gingen, ihre Köpfe senkten und wie aus einem Munde sagten
„Herzlich Willkommen, Herrin Theresa-Elisabeth von Rosenthal“.
Sie verharrten in dieser Stellung.
„Du musst etwas sagen, Herrin!“, raunte Bob mir ins Ohr. Ich räusperte mich.
„Was soll ich sagen? Bitte steht auf.“ Sofort richteten die Wesen sich auf und blickten mich erwartungsvoll und freundlich an. Bob begann laut zu erklären. “Dies sind die Botschafter der verschiedenen Völker, die in diesem Haus leben. Zum einen sind dort die dunkel gekleideten Vampire Sifor und Jalina, daneben in den hellen Gewändern die Elfen Windsbraut und Neven-Noel. Die Bärtigen sind die Zwerge Brim und Brom und diese großen Damen sind die Amazonen Lisanne und Luzy.“
Bei der Nennung ihrer Namen verbeugten sie sich nacheinander. „Sehr erfreut, euch alle kennenzulernen. Entschuldigt bitte, dass ich mit den Gepflogenheiten bei Hofe nicht vertraut bin. Ich wurde ja auch erst kürzlich... äähh...befördert.“, stammelte ich und wurde rot wie eine Tomate.
Cenhelm ergriff das Wort. „Bitte setzt euch in gewohnter Sitzordnung hin. Herrin, Ihr Platz ist mir gegenüber am anderen Kopfende.“
Gehorsam setzten wir uns. Ich wusste gar nicht, wo ich hinschauen sollte. Ich hasste es, so im Mittelpunkt zu stehen. Was wurde von mir erwartet? Warum waren alle so demütig mir gegenüber? Naja, bis auf Bob, der wohl Narrenfreiheit hatte? Bewahrerin der Bücher? Großer Gott im Himmel, was hatte das zu bedeuten? Was stand mir bevor? Ich schaute mir nun doch genauer an, wer da mit mir am Tisch saß, während Hans und andere Bedienstete das Essen servierten.
Die Vampire waren gut aussehend, edle Gesichtszüge, sehr geschmackvoll gekleidet. Der männliche Vampir – Sifor – trug einen perfekt sitzenden schwarzen Smoking und sein weibliches Pendant – Jalina – ein schönes schwarzes Kleid. Die Zwerge – Brim und Brom – waren fast identisch gekleidet. Einfache braune Hosen und bunte Hemden. Beide hatten lange Haare und einen sehr gepflegten Bart. Die Amazonen – Lisanne und Luzy – waren sehr schlank, dennoch kräftig. Sie trugen weite schwarze Hosen und weiße kurzärmelige Blusen, die nicht viel verbargen. Deutlich konnte man den Ansatz der Brüste – zwei! - und die muskulösen Arme sehen. Luzy hatte kurze und Lisanne lange hellbraune Haare. Die Elfen – Windsbraut und Neven-Noel – waren einfach unbeschreiblich schön. Ihre weißen Gewänder umschmeichelten ihre schlanken hochgewachsenen und feingliedrigen Körper. Sie hatten beide lange, sehr helle Haare und aristokratische Gesichtszüge. Alles in allem – genauso, wie ich sie aus vielen Büchern und Filmen kannte.
Ich kam mir schrecklich deplatziert vor. Alle so hübsch, so tolle Körper...und ich...pummelig, in Jeans, die Haare wegen meines Aufenthaltes auf der Couch wirr vom Kopf abstehend, nervös mit den Händen spielend und mit immer noch geröteten Wangen. Und ich sollte eine Herrin sein? Ich war so tief in Gedanken versunken, dass ich zusammenzuckte, als Sifor mich mit dunkler Stimme ansprach.
“Herrin, Sie sind so abwesend. Sie rühren Ihr Essen auch gar nicht an. Wir haben gerade gemeinschaftlich beschlossen, dass es für heute genug ist. Wir werden uns nun in unsere Gemächer zurückziehen. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Nachtruhe.“ Alle bis auf Großvater, Sunny und Agnes standen auf, verbeugten sich noch einmal vor Großvater und mir und verließen schweigend den Speisesaal.
„Es tut mir leid, ich wollte sie nicht vergraulen. Das hab ich ja wieder prima hinbekommen.“, murmelte ich.
„Machen Sie sich keine Gedanken, sie haben alle Verständnis für Sie.“, sagte Agnes.
„Ich denke, Sifor hat Recht. Es ist spät geworden und wir sollten uns alle zur Ruhe begeben. Bob, geleitest du die Herrin bitte in ihre Gemächer?“
„Aber sicher. Meine Familie wartet schon lange auf mich.“, piepste Bob.
„Komm mit Herrin, Zeit zum Schlafen.“ Gehorsam stand ich auf.
„Ich denke, dass es wirklich das Beste für mich ist. Ich werde schlafen wie ein Stein. Ich danke Ihnen für das Abendessen und...tja...bis morgen.“
„Bis morgen und gute Nachtruhe. Bob ist immer für Sie da. Wenden Sie sich an ihn, wenn Sie etwas benötigen.“, sagte Sunny. Ich nickte den dreien noch einmal zu und verließ den Saal.
In meinen Gemächern angekommen, flatterte Bob mir voran ins Wohnzimmer. Sofort schwirrten etliche kleinere und größere Pixies um ihn herum und schnatterten durcheinander.
„Wo kommt ihr denn auf einmal alle her?“, fragte ich erstaunt.
„Schau, Herrin, da hinten in der Ecke ist unser Haus.“, erwiderte eine der kleineren Pixies. Tatsächlich, das Häuschen war mir heute Nachmittag gar nicht aufgefallen. Es war ein mehrstöckiges Puppenhaus mit allem Drum und Dran. Hinter einigen Fenstern war noch Licht.
„So, Kinder, ab ins Bett. Es wird Zeit. Und wagt es nicht, die Herrin heute Nacht zu stören, sonst gibt es Stubenarrest.“, schnarrte Bob und die Kinderschar flog gehorsam in ihr Zuhause.
„Benötigst du noch etwas, Herrin? Wenn du dich nicht zurechtfindest, rufe einfach nach mir. Gute Nacht.“ Mit diesen Worten flog Bob ebenfalls zum Haus, trat ein und schloss die kleine Tür hinter sich.
„Gute Nacht für euch alle!“, rief ich ihm hinterher. Nachdem ich im Bad war und meinen Schlafanzug gefunden hatte, legte ich mich ins Bett und schlief sofort ein.