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Kapitel 2: Die Bibliothek

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Nach traumlosem Schlaf erwachte ich und wusste erst nicht, wo ich mich befand. Durch die Vorhänge kam etwas Licht ins Zimmer. Ich stand auf und öffnete sie. Sofort war ich vom Sonnenschein geblendet. Ich drehte mich um und ging zum Bad. Nach einer Dusche wickelte ich mich in ein großes Handtuch und ging in den Flur zurück.

„Guten Morgen Herrin, ausgeschlafen?“ Bob flitzte auf mich zu.

„Guten Morgen Bob. Ja, ich hab geschlafen wie eine Tote.“ Bei diesen Worten zuckte Bob vor mir zurück.

„Sag doch so was nicht. Wenn das die Kinder hören!“, zischte er leise.

„Sorry. Ich muss wohl besser auf meine Wortwahl achten. Ich werde mir nun mal etwas zum Anziehen suchen und dann brauche ich einen Kaffee und eine Kippe.“ Ich ging weiter ins Schlafzimmer, trat vor den Schrank und öffnete ihn. WOW...so viele Sachen befanden sich darin. Das waren nicht nur meine eigenen Kleidungsstücke, sondern noch viele andere in allen möglichen Farben und Formen, jedoch erschienen sie mir eine Nummer zu groß.

„Das hat meine Frau für dich ausgesucht, Herrin!“. Bob war mir gefolgt und flatterte jetzt aufgeregt vor mir hin und her.

„Gefällt es dir?“

„Ja, es gefällt mir, aber nun setze dich bitte irgendwo hin, mir wird ja ganz schlecht, wenn ich dir zuschaue. Wobei...warum gehst du nicht mal zu deiner Familie und lässt mich hier alleine? Schon mal was von Privatsphäre gehört?“, neckte ich ihn.

„Ja, ja...bin schon weg“. Schnell wie der Blitz verschwand Bob aus dem Zimmer und die Türen schlossen sich hinter ihm.

An den Kleinen kann ich mich echt gewöhnen. Lachend suchte ich mir eine meiner Jeans und ein T-Shirt heraus. Nachdem ich mich komplett angekleidet hatte verschwand ich wieder im Bad und versuchte, meine Haare zu bändigen, leider vergeblich. Brummelnd ging ich ins Wohnzimmer.

„Unsere Tochter Sue könnte dir eine schöne Frisur machen, Herrin“. Bob kam in Begleitung eines jungen Pixiemädchens auf mich zu.

„Das wäre eine gute Idee, aber ich denke, dass ist vergebens. Hallo Sue.“

„Hallo Herrin! Du weißt gar nicht, was dir entgeht!“, piepste sie und flog mir auf die Schulter.

„Ein bisschen glätten hier und etwas Gel und Spray da...darf ich?“

„Na dann, leg los!“, schmunzelte ich. Sofort machte sich die Kleine an die Arbeit. Ich ging derweil zur Küche und fand dort eine dampfende Tasse Kaffee und daneben einen Aschenbecher.

„Du kannst ruhig hier rauchen, Herrin. Wir sind immun gegen Zigaretten und ähnliches menschliches Giftzeug.“ Sue summte um meinen Kopf herum und zoppelte und ziepte an meinen Haaren.

„Danke für den Kaffee und die Freundlichkeit, dass ich in meinem Wohnzimmer rauchen darf.“ Ich setzte mich an den Tisch und genoss den Kaffee und die Zigarette, während Sue immer noch mit meinen Haaren beschäftigt war. Bob stand neben der Tasse und wippte ungeduldig mit dem Fuß.

„Was ist denn Bob? Warum so hibbelig?“

„Du wirst unten schon erwartet. Heute wird das Ritual stattfinden. Uppsala...schon wieder verplappert! Verrate mich nicht! Ich hab nichts gesagt.“

„Ritual? Ach du meine Güte. Soll ich fünf Mal um ein Feuer tanzen?“

„So, fertig!“ Sue flatterte aufgeregt vor meinem Gesicht her. Ich tastete vorsichtig meinen Kopf ab. Alles lag in Reih und Glied und fühlte sich herrlich weich an.

„Hier, nimm meinen Spiegel!“ Stolz reichte sie mir einen winzig kleinen Spiegel. Ich lachte.

„Das ist lieb von dir, aber damit kann ich nichts anfangen.“

„Doch, doch. Nimm ihn bitte!“ Gehorsam öffnete ich meine Hand und Sue legte den Spiegel auf meine Handfläche. Sie flog darüber und schüttelte etwas glitzernden Staub über dem Spiegel ab. Daraufhin wurde der Spiegel größer und größer, bis ich mich ohne Probleme darin erkennen konnte.

„Wie hast du das gemacht?“

„Das ist Feenstaub. Der kann fast alles!“ Ich betrachtete mich und war sehr begeistert. So ordentlich war meine Frisur noch nie gewesen. Ich legte den Spiegel auf den Tisch – woraufhin er wieder winzig klein wurde – und wandte mich an Sue.

„Vielen Dank. Das hast du prima gemacht. Ich bin stolz auf dich!“ Bob und Sue grinsten von einem Ohr zum anderen und wieder erblickte ich ihre spitzen Zähne.

„Von mir aus können wir. Auf in den Kampf!“, rief ich aus und ging zur Eingangstür. Bob setzte sich auf meine Schulter und gemeinsam fuhren wir hinunter.

Die Tür zum Salon stand offen und ich vernahm die Stimmen von Cenhelm und einigen anderen, die ich nicht kannte. Ich klopfte zaghaft an und betrat den Salon. Sofort richteten sich die Blicke auf mich und alle verbeugten sich. Es waren die gleichen Wesen wie gestern Abend.

„Rührt euch!“, rief ich gut gelaunt. Sie richteten sich auf und schauten mich verwirrt an. Ich fing an zu glucksen und dann machte sich ein Lachanfall auf den Weg. Ich konnte gar nicht mehr aufhören und nach und nach fielen sie in mein Lachen ein. Als wir uns wieder beruhigt hatten sagte ich keuchend

„Ich befehle euch nun, dies von jetzt an zu unterlassen!“

„Das ist aber gegen das Protokoll!“, erwiderte Brom, der Zwerg.

„Hör mal, wir sind im 21.Jahrhundert und zudem nicht bei Lisbeth im Buckingham-Palast!“, gab ich ihm zur Antwort. Jetzt fing Lisanne an zu lachen.

„Gut gekontert, Herrin. Ihr gefällt mir! Wir werden uns bemühen, uns daran zu halten, nicht wahr, Freunde?“

„Jawohl!“, erklang es wie aus einem Munde. Ich wusste auch nicht, was mit mir los war. Irgendwie fühlte ich mich mutiger. Daher sagte ich

„Jetzt, da alle Formalitäten besprochen sind, können wir ja vielleicht zum nächsten Punkt der Tagesordnung kommen. Was habt ihr heute mit mir vor?“

„Nun ja, Theresa-Elisabeth“, ergriff der Großvater das Wort „Heute ist noch eine kleine Formalität zu erledigen. Dazu müssen wir alle in die Bibliothek.“

„Bibliothek? Klasse! Da könnt ihr mich wochenlang einsperren und ihr werdet nichts von mir sehen und hören!“, frohlockte ich.

„Sie wissen gar nicht, wie nahe Sie der Wahrheit kommen, jedoch werden wir Sie nicht dort einsperren.“, warf Brom ein.

Ich folgte den anderen hinaus in die Eingangshalle und von dort aus rechts an der Treppe vorbei zu einem riesigen alten Portal aus Holz mit etlichen Schnitzereien und einem Türklopfer in Form eines Löwenkopfes verziert. Cenhelm fuhr ganz nahe zum Tor, ergriff den Klopfer und betätigte ihn vier Mal. Zuerst geschah nichts. Er schaute uns der Reihe nach an.

„So lange schon wurde hier nicht mehr angeklopft. Die Wächter schlafen gewiss tief und fest.“ Von drinnen näherten sich Schritte.

„Wer stört unsere Ruhe?“, ertönte eine Stimme.

„Die Botschafter der großen Völker sind hier in Begleitung der Herrin und Bewahrerin der Bücher. Öffnet das Portal!“, donnerte der Großvater.

„Die Herrin? Habt ihr sie endlich gefunden?“, kam die Antwort von drinnen und mit lautem Knarren und Quietschen öffneten sich die beiden Flügel des Portals. Vor uns standen etwa einen Meter große Männchen, jedes mit einer Pfeife im Mund und einer roten Kappe auf dem Kopf. Sie hatten nur ein Bein und hüpften aufgeregt darauf rum. Da ich ganz hinten stand, konnten sie mich nicht sehen. Die Mitglieder des Rats bildeten ein Spalier und Bob drängte mich dazu, nach vorne zu gehen. Als die Männchen mich erblickten, warfen sie sich zu Boden und riefen im Chor:

“Herzlich Willkommen in Ihrer Bibliothek, Herrin und Bewahrerin der Bücher!“

Ich trat vor sie hin und sagte krächzend „Erhebt euch, Wächter der Bibliothek. Ich danke euch für eure gute Arbeit über all die Jahrzehnte, in denen ich nicht hier sein konnte.“

Woher kamen diese Worte? Hatte ich sie wirklich ausgesprochen? Was war mit meiner Stimme passiert? Was ging hier vor? Die Wächter sprangen auf, verbeugten sich nochmals und bildeten ebenfalls ein Spalier, durch das ich durchging und nach einigen Metern staunend stehen blieb. Die anderen folgten und als alle die Bibliothek betreten hatten, schloss sich das Portal wieder mit ohrenbetäubendem Lärm.

„Bob, könntest du bitte bei Gelegenheit diese Türen ölen? Das hält ja kein Mensch aus!“, sagte ich zu Bob, der sich auf meiner Schulter ganz klein gemacht hatte – also noch kleiner, als er sowieso schon war – und mit großen Augen um sich blickte. Er nickte nur kurz.

Es war mucksmäuschenstill hier. Alle standen schweigend hinter mir. Auch ich schaute mich nun genauer um. Ich liebte Buchläden und war auch oft in der Bibliothek der Stadt zu Gast. Aber diese Bibliothek übertraf alles, was ich bisher gesehen hatte. Es war ein riesiger Raum, überall an den Wänden standen volle Bücherregale, die bis unter die Decke gingen. In einigen Abständen waren Leitern an Gleitschienen angebracht, so dass man ohne Problem auch an die oberste Buchreihe gelangen konnte.

In der Mitte des Saales befand sich eine Wendeltreppe, die nach oben und unten führte. Im Raum verteilt standen mehrere Tische mit hochlehnigen Stühlen und auch Stehpulte konnte ich entdecken. In einer Ecke befand sich eine Glasvitrine, aber den Inhalt konnte ich nicht erkennen, da sie nicht beleuchtet war. Langsam ging ich zur Wendeltreppe.

„Die Stockwerke über und unter uns sind ähnlich ausgestattet.“, sagte der Hausherr.

„Das müssen ja tausende Bücher sein.“, murmelte ich ehrfürchtig.

„Ja, Herrin, tausende und abertausende Bücher warten auf euch.“

Neugierig ging ich auf die Vitrine in der Ecke zu.

„Habt ihr hier die besonders wertvollen Bücher unter Verschluss?“, fragte ich.

„Nein Herrin.“ Einer der Wächter kam zu mir gehüpft. „Hier wartet der Stab der Weisheit auf euch.“ Ich ging weiter und plötzlich war die Vitrine in helles Licht getaucht. Ich sah einen großen Holzstab, der am oberen Ende eine leuchtende Kugel hatte.

„Der sieht ja aus wie Gandalfs Stab!“, rief ich aus.

„Das kann nicht sein, denn diesen Stab gibt es nur einmal auf der Welt und er gehorcht nur der Herrin der Bücher!“, sagte der Wächter entrüstet.

„Das war nur ein Scherz, mein Lieber.“ Lächelnd sah ich auf ihn herab. Ich hörte ein leises Kichern hinter mir. Es war Sunny, die mir wissend zuzwinkerte. Der Wächter hüpfte wieder zu den anderen zurück.

„Bitte nehmt ihn heraus, Herrin!“, sagte er noch zu mir. Ich trat näher an die Vitrine heran, öffnete sie und griff nach dem Stab. Er sprang regelrecht in meine Hand und fühlte sich wunderbar zart an. Ich drehte mich zu den anderen um.

„Und was jetzt?“, fragte ich. Bevor jemand antworten konnte, leuchte die Kugel am Stab heller und heller, bis ich meine Begleiter nicht mehr erkennen konnte. Es fühlte sich so an, als würde ich in der Luft schweben. Ich schaute nach unten und erschrak. Ich schwebte tatsächlich einen halben Meter über dem Boden. Das Licht wurde so hell, dass ich die Augen schließen musste. Irgendetwas geschah mit mir. Es tat nicht weh, aber dennoch veränderte sich etwas. Das Licht verlosch langsam, bis nur noch ein Glühen übrigblieb. Ich sank sanft zu Boden, öffnete die Augen und schaute zu meinen Begleitern. Alle knieten mit gesenktem Blick vor mir. Sogar der Großvater kniete, gestützt von Sunny und Agnes. Ich war zutiefst gerührt.

„Steht doch bitte auf. Ich dachte, wir hätten das schon geklärt!“, sagte ich. Nacheinander standen sie auf und auch Großvater wurde wieder sanft in seinen Rollstuhl gesetzt.

„Schaut nur, da ist die wahre Herrin der Bücher!“, rief Sunny. „Und tatsächlich sehen Sie ein wenig wie Gandalf aus.“ Sunny blinzelte mir zu. Ich sah an mir herab. Ich trug ein weißes langes Gewand, das um die Taille (die mir schmaler als vorher erschien) mit einem goldenen Gürtel zusammengehalten wurde. Meine Füße waren nicht zu sehen und es kam mir vor, als sei ich gewachsen. Ich ging auf die anderen zu. Wieder verbeugten sie sich vor mir, diesmal aber nur kurz. Alle lächelten mich an. Ich bemerkte, dass ich den Amazonen nun fast in die Augen schauen konnte.

„Ich bin wohl tatsächlich etwas gewachsen.“, sagte ich. „Jetzt passt mein Gewicht endlich zu meiner Größe. Ach, und daher erschienen mir die neuen Kleidungsstücke als zu groß.“, schmunzelte ich. „Würdet ihr mir bitte erklären, was das alles bedeutet?“

„Die Bibliothek wurde von deiner Vorgängerin aufgebaut. Sie hat diese Bücher im Laufe der Jahrhunderte gesammelt und gehütet. Sie kannte den Inhalt jedes einzelnen Buches. Als ihre Zeit zu Ende ging, prophezeite sie uns, dass es Jahrzehnte dauern würde, bis du kommen würdest und wir ihre Stimme wieder vernehmen würden.“, erklärte Agnes.

„Über Jahrhunderte hinweg gesammelt? Du meine Güte, wie alt wurde sie denn? Ach, dann war sie es, die eben durch mich gesprochen hat?“

„Sie war 915 Jahre alt, als sie ins Licht ging.“, sagte der Großvater traurig. „Und ja, sie war es.“ Jetzt begann er zu weinen. „Sie war meine Ehefrau und ich vermisse sie schrecklich, obwohl sie schon über 50 Jahre nicht mehr bei uns weilt.“

„Dann sind Sie auch schon uralt?“, wollte ich wissen.

„Ja, ich vollende in diesem Jahr mein 970. Lebensjahr.“

„Dann seid Ihr gar kein normaler Mensch?“, stotterte ich.

„Wie man es nimmt, ich wurde halt mit einem langen Leben gesegnet.“, wich er mir aus und schnäuzte sich. „Genug geweint. Lasst uns nun zurück in den Salon gehen und das Mittagsmahl einnehmen.“

„Dann muss ich mich aber erst umziehen. Und wo stelle ich den Stab denn hin?“, fragte ich.

„Herrin, sobald ihr durch dieses Portal schreitet, wird er in seine Vitrine zurückkehren und auch das Gewand wird verschwinden.“, sagte einer der Wächter.

„Aber dann sind meine Jeans und alles viel zu klein...oder schrumpfe ich wieder?“, stammelte ich.

„Ihr werdet es sehen, Herrin!“ Meine Begleiter machten sich auf den Weg hinaus. Das Portal öffnete sich mit Getöse und sie schritten hindurch. Als letzte verließ ich die Bibliothek, und tatsächlich verschwand mein Gewand und auch der Stab schwebte zurück in seine Vitrine. Sein Licht wurde immer schwächer, bis es schließlich erlosch. Ich sah an mir herab und verschränkte zur Sicherheit die Arme vor der Brust. Aber alles passte wie angegossen und ich war immer noch schlanker und größer als zuvor. Das Portal schloss sich wieder mit ohrenbetäubendem Lärm.

„Ja, Herrin, ich werde es ölen!“, wisperte Bob auf meiner Schulter.

Ich ging ins Esszimmer, wo die anderen schon in der gleichen Sitzordnung wie gestern am Tisch saßen. Also setzte ich mich wieder in den einzigen freien Stuhl am Kopfende. Ich schaute von einem zum anderen.

„Von jedem Volk sind zwei Vertreter hier, die sich gegenüber sitzen. Demnach sind Sunny und Agnes wohl auch Vertreter eines Volkes?“, fragte ich.

„In der Tat. Wir beide sind... Naja, die Menschen nennen uns Hexen. Aber für uns hat dieses Wort eine negative Ausstrahlung. Unser Volk bezeichnet sich lieber als Zauberer.“, antwortete Agnes.

„Aha, und da dein Vater am Kopfende sitzt, denke ich mir, dass er der König der Zauberer ist und euer Volk in der Hierarchie über den anderen steht.“ Der Hausherr schüttelte den Kopf.

„Nein, ich war ein normaler Mensch, bis ich meiner Frau begegnete, und sie mir ein langes Leben schenkte.“

„Dann war Ihre Frau also eine Zauberin?“

„So ist es! Aber alle Völker sind gleichberechtigt. Die Zauberer wurden einstimmig von allen dazu bestimmt, als Bewahrer der Traditionen und als Hüter der Gesetze der Gemeinschaft der Völker zu agieren. Dies ist schon seit Anbeginn der Zeit so. Ich sitze nur am Kopfende, weil dies mein Haus ist.“, erklärte er.

„Welchem Volk gehöre ich denn an? Ich sitze Ihnen gegenüber, also bin ich immer noch ein Mensch?“, fragte ich. Alle am Tisch senkten den Blick, Bob verließ meine Schulter und setzte sich in den Kronleuchter über dem Tisch.

„Habe ich eine falsche Frage gestellt?“, wollte ich wissen. Nun ergriff Agnes das Wort.

„Du warst nie ein Mensch!“ Ich schluckte schwer.

„In deinem Stammbaum sind alle großen Völker vertreten.“ Wieder musste ich schlucken.

„Ich bin also...“, ich überlegte kurz. “…ein Vazzep?“

„Was zum Teufel ist ein Vazzep?“, piepste Bob. Ich grinste.

“Na, ein VampirAmazoneZaubererZwergElfenPixie?“ Leises Räuspern und Kichern erklang rund um den Tisch.

„Nun mal im Ernst, Leute! Ihr schickt mir eine Einladung, konfrontiert mich mit allerlei unglaublichen Dingen, nennt mich Herrin, gebt mir einen Zauberstab und ein weißes Gewand. Zudem soll ich von jedem von euch etwas in mir haben. Davon hab ich aber noch nichts gemerkt. Ich mag kein Blut trinken, hatte noch nie eine Axt oder einen Bogen in der Hand, habe keine spitzen Ohren, kann nicht fliegen und Zaubersprüche kenne ich auch keine. Also, wer oder was bin ich?“, fragte ich aufgebracht.

„Beruhige dich bitte, Herrin!“, meldete sich zum ersten Mal die hübsche Elfin Windsbraut mit wohlklingender Stimme zu Wort. „Du bist die einzige deiner Art. Es gibt keinen Namen dafür. Aber jedes Wesen der kleinen und großen Völker weiß, wer du bist und welche Kräfte du in dir vereinst. In dem Moment, als der ´Zauberstab´, wie du ihn nennst, dich als seine rechtmäßige Besitzerin anerkannte, wurdest du nicht nur zur Herrin der Bücher, sondern zu unser aller Königin.“

Das musste ich erst mal verkraften. Ich, eine Königin? Es gab noch mehr Völker? Ich bin wohl die erste Königin, die ihr Volk nicht kennt. Naja, immerhin hatte ich nun die Figur, von der ich immer träumte und das alles ohne Diät. Schließlich sprudelten die Worte nur so aus mir hervor.

„Ich habe so viele Fragen an jeden von euch. Ich kenne euch und eure Völker nicht. Ich weiß nicht einmal, wie viele verschiedene Völker es gibt. Seid ihr so, wie ihr in unseren...äähh...den Menschenbüchern dargestellt werdet? Ich hatte so gehofft, dass ich endlich meinen Platz bei euch gefunden habe. Stattdessen bin ich eure ...eure...Königin...puh...ein großes Wort. Also stehe ich über euch allen und bin nicht eine von euch. Alles verbeugt sich vor mir und...und...und...ach...mennö. Ich kann es nicht begreifen.“

Schwer atmend hielt ich inne. Tränen liefen mir über die Wangen. Ich verbarg mein Gesicht in meinen Händen und weinte bitterlich.

„Herrin!“, rief der Großvater und ich konnte hören, dass er seinen Rollstuhl in Bewegung setzte. Er fuhr ganz nah neben mich und umarmte mich von der Seite. „Bitte hört auf zu weinen, Herrin. Ihr seid eine von uns und gleichzeitig unsere Königin. Jeder von uns, außer mir, hat bestimmte Fähigkeiten, die der andere nicht hat. Ihr müsst Eure erst noch erkennen und ausbilden. Lasst uns Euch dabei helfen!“

„Ihr würdet mir schon sehr helfen, wenn ihr mich nicht andauernd Herrin nennen würdet. Und hört endlich auf, mich zu Siezen. Ich bin einfach nur Tessa, versteht ihr?“, schluchzend schaute ich in die Runde.

Alle Blicke waren auf mich gerichtet. Langsam nickte einer nach dem anderen. Der Großvater ergriff wieder das Wort. „Wir werden deiner Bitte gerne Folge leisten. Jedoch nur, wenn wir unter uns sind. In der Öffentlichkeit müssen wir das Protokoll einhalten.“

„In der Öffentlichkeit?“, rief ich aus. “Wollt ihr mich jetzt überall präsentieren? Tut mir das nicht an! Bitte nicht!“

„Das ist nicht nötig, Tessa“, brummte Brim der Zwerg. „Jedes Wesen unserer Welt wird dich erkennen und ehren. Jedoch wird es sich nicht auf ewig verhindern lassen, dass du als Königin agieren musst.“

„Ja, genau!“, mischte sich Luzy ein. „Erst musst du deine Fähigkeiten unter Kontrolle bekommen und dann warten viele Aufgaben auf dich!“

„Kann ich mich nicht einfach in der Bibliothek einschließen und ihr macht weiter wie bisher?“, fragte ich zaghaft.

„Ooh nein, meine liebe Tessa, so geht das nicht. Du wirst bestimmt viel Zeit dort verbringen, jedoch können wir nicht weitermachen wie bisher. Es läuft vieles aus dem Ruder. Wissen geht verloren, zwischen einigen Völkern herrscht Unfriede und wir sind in Angst davor, dass ein Krieg ausbrechen könnte.“, erklärte Sifor, der hübsche Vampir.

„Zudem gibt es auch Völker, die immer stärker aufbegehren und andere Völker in arge Bedrängnis bringen. Fast jede Woche kommen durch unsere Botschafter neue schlechte Nachrichten zu uns.“

„Ach, und die aufmüpfigen Völker stehen unter der Herrschaft des dunklen Lords Du-weißt-schon-wer?“, fragte ich. Sunny kicherte und alle anderen sahen mich verständnislos an.

„Das ist aus einem Menschenbuch.“, erklärte sie. „Aber tatsächlich müssen diese Völker von irgendwem angeführt werden, denn sie sind teilweise einfach nicht schlau genug dazu. Aber wir kennen seine Identität nicht und auch nicht sein Ziel.“

„Arbeiten diese Völker denn Hand in Hand oder macht jedes sein eigenes Ding?“

„Selbst das wissen wir nicht. Es kommt aber immer häufiger zu Zwischenfällen, und das in vielen Ländern unserer Welt. Die friedlichen Völker werden überfallen, getötet oder verschwinden einfach von der Bildfläche.“, klagte Agnes.

„Ich verstehe.“, brummelte ich. „Aber wie soll ich euch helfen? Ich kenne mich in eurer Welt nicht aus und weiß viel zu wenig über euch.“

„Das wird sich bald ändern, Herrin!“, zwitscherte Bob und flatterte wieder auf meine Schulter. „Du wirst schnell lernen.“

„Na klar, ich lerne einfach jedes Buch der Bibliothek auswendig. Das dauert ja nur ein paar hundert Jahre.“, rief ich verzweifelt. „Da fällt mir ein: Wie lange lebe ich eigentlich?“

„Das hängt von vielen Faktoren ab. Du kannst durchaus tausende Jahre alt werden, aber du bist nicht unsterblich oder unverwundbar. Natürlich heilt bei dir alles sehr schnell, aber du kannst auch getötet werden. Aus diesem Grund beschützen wir dich Tag und Nacht. Am Tag sind dies unter anderem die Amazonen und des Nachts die Vampire. In Vollmondnächten bist du besonders gut geschützt, denn dann streifen auch noch Werwölfe hier ums Haus. Zudem bin ich deine persönliche Leibwächterin, und an mir kommt so schnell keiner vorbei.“, sagte Agnes.

„Mich habt ihr wohl ganz vergessen!“, maulte Bob. „Ich passe doch auch auf die Herrin auf!“

„Aber klar, mein Kleiner.“ Ich stupste ihn zart mit dem Finger an. Entrüstet funkelte er mich an und zeigte seine Zähne.

„Unterschätze mein Volk nicht!“

„Ist ja schon gut. Ich hab nichts gesagt.“, beruhigte ich ihn. Er lief noch eine Weile auf meiner Schulter hin und her, setzte sich dann aber schmollend hin.

„Also Leute, mir reicht es für heute. Können wir nicht einfach zusammensitzen, plaudern und Spaß haben?“, fragte ich in die Runde. Mein Angebot wurde dankend angenommen und tatsächlich wurde es ein entspannter Abend, an dem ich viel über meine ´Untertanen´ lernte. Einiges deckte sich mit dem, was ich in Büchern gelesen hatte und vieles war ganz anders. Ich erfuhr, dass unterm Dach und auch im Keller noch die Vertreter einiger kleiner Völker lebten, die auf meinen Besuch warteten. Sie würden alle bis morgen warten müssen, denn jetzt war ich müde und verabschiedete mich in meine Gemächer.

Tessa

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