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Die kleine Meerhure

Es ist ihr Meer und ihr Horizont, alles, was Sie da sehen, gehört ihr! Eigentlich hätte sie eine Wassernixe werden wollen, schon als Kind war das ihr Wunsch, aber ihr wollte einfach keine Schwanzflosse wachsen, die ihre Beine zusammengehalten hätte. Was soll's, so wurde sie eine Meerhure. Sie liebt das Meer und den Wind, der über die glatte Oberfläche des Wassers streicht, den Strand, die Muscheln und die Männer. Der Beruf fiel ihr in den Schoß, so wie ihr die Männer in den Schoß fielen. Ihr williger Schoß! Jeder kann sie nehmen, in sie eintauchen. Über ihrem Schoß, über diesem Ort der Sehnsucht hat sie das schwarze, duftende Seegras, das dort in kleinen Büscheln wächst, akkurat zu einem gleichschenkeligen Dreieck fassoniert. Ihr Strandkorb ist rund um die Uhr geöffnet. Zu ihrer Stammkundschaft gehören die ganz Jungen, die Unerfahrenen, die Liebhaber des Wassers, der Wellen, des Ozeans und die alten Männer. Sie ist romantisch, kuschelt im hohen Schilf; eine Strandschönheit, eine Bilderbuchschönheit ist sie – und sie ist zärtlich, mitfühlend, sanft, verträumt und feucht, so feucht. Sie ist für alle da, für alle offen. Für alle Wünsche offen, dubidubidu, wie du es magst – oben, unten, vorne, hinten – wie es dir gut tut!

Eines Tages, da kam einer, der stahl ihr reines Herz. Sie konnte ihn nicht identifizieren und so wurde der Dieb nie gefasst. Ohne Herz geht die empfindsame Meerhure vollkommen in ihrem Beruf auf, wie eine Auster vor dem Verzehr geht sie auf und zeigt sich. Sie treibt es gerne mit den Fischern. Vier oder fünf hintereinander, bevor sie in der Früh ausfahren, auf hohe See fahren mit ihren bunten Booten. Manchmal kommen zwei gemeinsam, sie nimmt sie alle, nimmt sich ihrer an, wie es sich ausgeht, wie es sich ergibt. Die kleine Meerhure liebt den Geruch der Fischer, liebt ihre rauen Hände, ihre sanften Zungen. Den Saft der Männer wäscht sie im Salzwasser fort, bis das Meer gesättigt ist von diesem Saft, bis er hochsteigt zum Horizont und sich dort sammelt und als weiße Blase, als Mondblase zum Himmel schwebt. An manchen Tagen lässt sie mit sich handeln. Zwei Nummern zum Tarif von einer oder zwei Männer teilen sich die Kosten und die Meerhure abwechselnd. Gerechtigkeit muss sein! Alle Kostgänger kommen auf ihre Kosten – kostenlos an solchen Tagen! Kosen und kosten. Auskosten. Manchmal wird ihr Bauch richtig schwer vom vielen Saft der Männer – es gluckst dann bei jedem Schritt, wenn er vorne bis zum Nabel in die Höhe schwappt. Aber sie hat das im Griff, wenn die Flüssigkeit überhand nimmt, nimmt sie das Geschehen selbst in die Hand – Handarbeit oder Mundraub. Sie hat volle Lippen, seidenzart. Eiweißnahrung. Sie lebt gesund.

Manchmal wacht sie im Sand neben dem Strandkorb auf und kann sich nicht mehr erinnern. Aber das macht nichts. Allgemein geht es ihr immer nur um das Eine. Der Nächste wartet schon. Steht wie ein Fels in der aufgehenden Sonne. Er ist zuvorkommend. Manchmal kommt es sogar vor, dass ihr ein Freier den Sand aus den Augen bläst, sachte.

»Warum hast du so viel Sand in den Augen, romantische Meerhure, träumst du so viel? Vom Rauschen des Meeres träumst du? Rück raus, mit deinen Träumen!«

»Rück ihn du raus und steck ihn rein. Wo du willst. Oben, unten, vorne, hinten. Wie du willst.«

Ihr sind alle lieb. Einer ist wie der andere. Jeder, der kommt, bekommt was er will, dabei wollen sie alle nur kommen, mehr wollen sie nicht. Keiner wird zurückgewiesen. Hingewiesen, ja, das schon – oben, unten, vorne, hinten – such dir was aus! Sie ist gütig. Sie ist aufopfernd, aufopfernd und gefühlvoll. Keinen Wunsch, den sie nicht erfüllt. Freudig! Da ist sie in ihrem Element.

»Hörst du es, der Abend wartet!«

Ein langer Strandspaziergang und er legt den Arm um die empfindsame Meerhure.

»Komm, leg dich in die Dämmerung mit mir.«

Mit großem Brimborium schaukelt sie ihren zarten Busen, so glücklich ist sie inwendig im Abendrot, dass sie es auswendig jedem zeigen möchte. Das Meer ist so sanft, sanft wie die Nacht. Irgendwie kommen sie wieder raus aus dem Himmelsschauspiel und sie läuft zurück zu ihrem Strandkorb.

Einmal, da war einer, den hat sie geliebt. Der war zu kurz gekommen bei der Verteilung der Männlichkeit. Wie ein kleiner, schutzbedürftiger Vogel, wie ein gerade aus dem Nest gefallener Vogel lag sein Vögelchen in ihrer Hand. Sie wollte ihn hochpäppeln, rieb ihn hoch mit großem Geschick. Gerührt und mitfühlend betrachtet sie ihn.

»Siehst du, es geht doch! Und noch ein bisschen, ein kleines bisschen. Bravo! Tüchtig! Gut gemacht!«

Doch das Vögelchen ermüdete rasch und zog sich wieder zurück. Es war ohne Geschmack und ohne Geruch. Es hinterließ keine Spuren. Es beließ sie so, wie sie war. Liebte sie ihn deshalb, weil seine Männlichkeit so leicht wog, leicht wie ein Windhauch, den das Meer geküsst hatte? Die anderen Männer verschenken sich im Überfluss, aber er, er war ein anderer. Sie konnte ihn stundenlange im Meer baden. Die frische, salzige Meeresluft würde ihn stärken! Doch eines Tages kam er nicht mehr. Sie war traurig. Sie weinte ein bisschen. Der Wind holte ihre Tränen.

Sie läuft am Strand, Strandläuferin, läufige Meerhure, die anderen Strandläufer hinter ihr her. Sie laufen, bis sie fällt. Das gefallene Mädchen. Sie macht sich einen Spaß daraus – wenn einer sie retten möchte, macht sie auf Hollywood, auf Julia Roberts und hol mich hier heraus! Gleich, gleich, vorher will er noch in sie hinein, rein will er, er holt ihn raus, dann wird er sie rausholen, bestimmt. Aber die Reihenfolge muss gewahrt bleiben! Soll er machen, wie er will. Sie ist dort, wo sie hinpasst. Er ist dort, wo er reinpasst. Passgenau.

Sonntags nach der Kirche kommt der Messdiener auf eine gute Tat vorbei. Nicht bekehren, nein, einkehren will er. Ave – und das Salzwasser brennt! Sie ist eine Seele von einer Hure. Jeden Tag eine gute Tat. Sie treibt es mit allen, treibt Handel mit allen. Geschäftemacherei, finden Sie? Nicht nur Beruf, Berufung ist ihr Tun. Gunstgewerbe. An manchen Tagen verschenkt sie ihre Gunst – oben, unten, vorne, hinten – mit Genussgarantie, mit Umtauschrecht, sie gewährt alle Rechte dieser Welt.

Sie hat ihr ganzes Vermögen in den Meerhurenbetrieb gesteckt. Der Strandkorb wurde neu tapeziert, mit einladenden roten Quasten an den Seitenteilen. Den Sand um den Korb wienert sie täglich bis er glänzt wie Goldstaub, picobello. Danach geht sie ins Meer, lässt sich kosen von der herannahenden Flut, reitet auf den Wellen Poseidon entgegen. Ihr langes, seidenschwarzes Haar tanzt auf dem Wasser. Bei Ebbe liegt sie im nassen Sand, beobachtet die Krabben, schläft, bis das Wasser an ihren Beinen leckt, dann läuft sie zu ihrem Strandkorb zurück. Ist da einer?

Als die kleine Meerhure in die Jahre kommt, schließt sie ihren Strandkorb und zieht in ein Häuschen in der Lagune. Sie ist weise, besonnen und philosophisch und hat den Meerhurenbetrieb an den kussschönen Stricher verpachtet. Ein toller Coup! Die Fischer wundern sich. Zuerst wundern sie sich, dann werden sie schnell einig mit dem ansehnlichen Jüngling. Er hat sie an der Angel, er hat sie am Haken, er zieht sie an, er zieht sie an Land. Er ist zuvorkommend, so, wie die kleine Meerhure, bei der er einstmals in die Lehre ging – oben, unten, vorne, hinten – was ihr wollt, wie ihr es wollt, und seine Haut ist sommerzart. So gehen ihm die Fischer ins Netz, lassen sich fangen, einfangen. Er will sie, darum bekommt er sie. Sie reiben sich an ihm, finden Geschmack an seinem flachen Bauch und öffnen ihre Pforten.

Der Sonnenschirm der Meerhure bekommt einen neuen Platz. Ihr Liegestuhl steht nun im Strandflieder, alles lila beknospt, strandfliederlila, ein stabiles Paradies. Des Morgens strickt sie Tampons, an den Nachmittagen lauscht sie dem Wispern der Wellen. Sie genießt die Brandung und das Alleinsein.

Am Ende der Woche kommen zwei frische Huren aus dem Ort und fragen an, ob sie künftig die Meerhurenakademie leiten will. Natürlich will sie! So gibt die philosophische Meerhure Stunden, erläutert die Stundensätze samt der dazugehörigen Moral, die Praktiken und Fingerfertigkeiten – oben, unten, vorne, hinten – wie einer will, wie es kommt und wie es ihm kommt, ihm bekommt.

»So kommt doch, nehmt ihn!«

Sie nennt die Lust beim Namen. Sie fördert Talente. Sie bringt den Frischen bei, sich zu recken, den Busen zu recken, hervorzurecken, und den Po, damit die Männer ihre Köpfe recken, nach dem Rausgereckten.

»Männer schauen doch so gerne«, sagt sie, »und dann regt sich was bei ihnen, räkelt sich was, räkelt sich was hoch, dreimal hoch. Hoch, Hoch, Hoch!«

Die Meerhure findet sich schnell ein, ein neuer Beruf, eine neue Berufung. Trotzdem, die rauen Hände der Fischer fehlen ihr und so wird die philosophische Meerhure eine Ehrenamtliche. Eine, die hilft, wenn der Notstand sich ankündigt, prophylaktisch. Notstandshilfe, Notstandshelferin, Strandhelferin, Standhelferin – oben, unten, vorne, hinten – die Notwendigkeit weist den rechten Ort in der Dynamik der Unentschiedenheit. Auch als Ehrenamtliche begleitet sie ihre Berufsausübungsfreude. Ihre Hingabe macht Geschichte. Sie ist stolz, dass alles so gut läuft, stolz, dass sie ihr nicht widerstehen können. Wie viele Schwüre hat sie schon gehört? Sie blickt hinauf in den Himmel – ein Glanzidyll! Sie führt Buch, ein Sternenbuch. Und heute? Jean, Jacques, Jules und Jerome. Drei Sterne für den Ersten, zwei für den Zweiten und Jules? Fünf Sterne für diesen Freudensprung! Den Letzten bedenkt sie mit Trostfantasien. Das wird noch! Das wird noch! In ein paar Wochen wird auch er einen Stern bekommen. Wenn ihr einer besonders zugetan ist, schwingt sie sich auf seine Lenden, schaukelt ihren rundlich gewordenen Leib im Rhythmus der Wellen. Herzchen! Goldjunge! Wenn sie die Nässe in ihrem Schoß aufsteigen spürt, springt sie ab und läuft zum Wasser. Kleine Bäche, Fruchtbarkeitsrinnsale laufen ihre Beine hinab, hinab zu den Wellen und vereinigen sich mit dem Meer. Danach noch ein Südseeschwindler in Seesternchenstellung. Ein Wimpernschlag, und eines muss gesagt sein: Die Improvisation gelingt ihr ohne große Mühe. In den Morgenstunden geht die philosophische Meerhure an den Strand und legt sich in die kommende Wärme. Die Sonnenstrahlen knistern in ihrem ehemals dunklen Busch. Weiße Fäden sind nun eingezogen, reißfest durchweben sie das schwarze Gras, ein melierter Busch, ein zweifarbiger Busch, schwarz-weiß, weiß-schwarz. Wie ein Reptil liegt sie in den Sand gedrückt, spürt die Körnung, atmet das Salz. Ihr Körper nimmt die Wärme auf, wird geschmeidig, immer geschmeidiger, immer schmiegsamer. Sie fühlt die Lust erwachen, mit dem Rauschen des Meeres kommt die Lust. Eines Nachmittags, als die Meerhure gerade ihre ehrenamtlichen Ritte alle vollendet hat und ruht, im Sand ausruht, in der Sonne, an diesem Nachmittag kommt eine besonders hohe und spitze, eine melodiöse, eine scharf singende Welle in die Lagune gerauscht und nimmt sie mit hinaus, die kleine, alte Meerhure, mit hinaus in die Weite, trägt sie kosend und schaukelnd in ihren schaumigen Armen und bettet sie fürsorglich auf den Grund des Meeresbodens. Hier ist sie auf ihrem Platz, in der Welt der vertrauten Dinge. Hier ist sie daheim und hier bleibt sie. Tags darauf fahren die Fischer des Ortes, der kussschöne Stricher, die frischen Huren, die Jungen und die Alten, die Begehrlichen und die Scheuen, sie alle fahren in ihren bunten, in ihren blumengeschmückten Booten hinaus auf das spiegelglatte Wasser und singen ihr ein Lied. Alle, alle, alle, sind sie gekommen, alle, die die kleine Meerhure gehabt hatten, alle, die die kleine Meerhure gehabt hatte – oben, unten, vorne, hinten – wie du es willst.

Die kleine Meerhure

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