Читать книгу Einssein gelebt! Marie und Maria Magdalena am Weg zur Meisterschaft - Andrea Riemer - Страница 6
Zwei Frauen und ihre Begegnungsraumzeit
ОглавлениеMarie, ja – Marie war auf ihrem Weg, noch ein Stück von ihrer Meisterschaft entfernt. Doch es war ihr Weg, den sie konsequent und, je länger er dauerte, mit immer größer werdender Freude ging. Sie hatte ihn im Zuge ihrer Gesundung nach einer schweren Erkrankung mit allem, was dazu gehört, nach ihrem Nahtoderlebnis … gefunden.
Dabei hatte Marie ihren grundsätzlichen Platz im Sein, im Kosmos eingenommen. Was für ein Glück! Doch hier begann ihr eigentlicher Weg erst. Auch das empfand sie als Glück. Ihr Weg war ihr in die Hand geschrieben. Die Form und die Inhalte variierten immer wieder. Doch – sie war bereit, mit dem Leben zu tanzen.
Natürlich hatte sie auch ihre Zweifel. Ja, es gab auch Niederlagen und manches, was sie sich so sehr wünschte, klappte nicht oder ließ schlicht auf sich warten. Ihre innere Ungeduld hatte sich auch noch nicht ganz gelegt. Sie war ihr gleichzeitig ein innerer Antrieb auf ihrem Weg, es wieder und anders zu versuchen. Marie musste in Bewegung bleiben, in einer harmonischen Bewegung, in einem Tanz mit dem Leben. Dann konnte ihr persönlicher Tanz entstehen und sich entfalten. Sie konnte ihn mehr und mehr verfeinern.
Was trieb sie an? Wie kann eine erfahrene Wissenschafterin Spirituelles so natürlich in ihre Arbeiten integrieren? Marie machte dies mittlerweile spielerisch und selbstverständlich. Sie gab nie etwas auf klassische Trennungen, blickte hinter bekannte Horizonte und verband das scheinbar Unverbindbare. Es gab so viel, das sich nicht mit bekannten Instrumenten und Methoden belegen ließ – und doch vorhanden war. Diese Wahrnehmungen konnten mit dem Verstand alleine nicht ausgedeutet werden, sondern nur gemeinsam mit dem Gefühl, mit etwas, das ‚dahinterliegt‘ – was und wo immer dieses ‚Dahinter‘ sein mag. Alles zusammen ergab die Herzensausdeutung. Marie hatte in den letzten Jahren gelernt und für sich den scheinbaren Widerspruch aufgelöst. Sie sah sich als Noetikerin. Die Noetik verbindet die Quantenphysik und den antiken Mystizismus. Sie ist das fehlende Glied zwischen moderner Wissenschaft und alten Mythen. Dabei will sie belegen, dass der Mensch über Kräfte verfügt, die weit darüber hinausgehen, was wir uns auch nur im leisesten Ansatz mit uns Bekanntem vorstellen können. Es ist eine Form von Einweihung. Sie gründet auf der Erkenntnis des göttlichen Allwissens. Einweihung ist ein Bewusstwerdungsprozess. Genau dieser Einweihung, diesem Meisterweg widmete sich Marie mit ihrer gesamten Disziplin und Hingabe.
Für besondere Begegnungen hat sie Orte, wo sie immer und sofort in einen erweiterten Bewusstseinszustand kommen konnte. Das ging ganz einfach über den Atem. Einer dieser Orte ist die Ägyptische Abteilung der Staatlichen Museen in Berlin. Es war ein besonderer Tag, dieser 21. März, der Tag der Tag-und-Nachtgleiche. Angenehme Temperaturen und der so typisch, noch leicht milchige Sonnenschein, der das Frühjahr, den Neubeginn ankündigte. Marie liebte die Stadt, ihre Schnoddrigkeit, ihre Schludrigkeit, ihre Geschichte, die an jeder Ecke hervorguckte, ihre Freiheit und Vielfalt, ihre Menschen mit der eigenen Direktheit … und sie liebte die zahlreichen Kunstschätze.
Hier besuchte sie vor zehn Jahren erstmals die Büste der Nofretete. Seither hatte sie sie unzählige weitere Male besucht und dabei immer Erkenntnisse über sich und ihr Leben gewonnen. Selbst wenn das Museum über weitere großartige Schätze verfügt - die kleine, so prominente Büste war ihr immer wieder Inspiration für so manch existentielle Frage und für so manches Buch, denn Marie schrieb immer über etwas. Schreiben war Maries Lebenselixier. Es war Rahmen und Inhalt ihres Daseins.
Erwartungen hatte Marie nie, wenn sie zu Nofretete ging. Es kam immer, was gerade kommen und sich zeigen wollte. Sie musste nie etwas tun oder gar bitten und betteln. So war Marie neugierig, ob und was ihr die Büste wieder zuflüstern würde. Wer Ohren hat zu hören, der höre …
Doch ihr eigentliches Ziel war etwas Anderes. Vor einigen Tagen hatte sie mit der Leiterin der Papyrussammlung ein Treffen vereinbart, um das Evangelium der Maria zu begutachten. Es waren nur mehr Teile dieses Maria Magdalena, der Gefährtin Jesu, zugeschriebenen Textes vorhanden. Die Zuordnung ist ungewiss, doch es ging Marie mehr um das Gefühl in der Wahrnehmung als um eine konkrete historische und theologische Zuschreibung. Es ging ihr um eine Ausdeutung mit ihrem Herzen. Was würde sie empfinden, wenn sie den Papyrus das erste Mal physisch sehen, wahrnehmen konnte? Bei der Besichtigung des Papyrus wollte sie die undefinierbare, geheimnisvolle Energie, die oft von Artefakten dieser Art ausging, aufnehmen. Marie konnte kein Sahidisch, ein koptischer Dialekt. In dieser Sprache war der Text verfasst. Doch sie hatte von dem Papyrus mehrfach Bilder gesehen und wollte die Gelegenheit wahrnehmen, einen Blick auf das Original zu werfen und sich einige Fragen dazu beantworten zu lassen. Marie wollte damit auf eines der großen Mysterien zugehen und die Gedanken von Maria Magdalena noch stärker mit dem Herzen erfassen. Was tatsächlich auf sie zukam, wusste sie nicht. Das war ihr auch nicht wichtig. Sie war offen und bereit. Wer Ohren hat zu hören, der höre. Wer Augen hat zu sehen, der sehe …
Marie verließ die Busstation vor den Museen und schritt bestimmt auf den markanten und ihr mittlerweile so vertrauten Bau auf der Museumsinsel zu. Eine leichte, milde Brise umspielte ihr Gesicht. Im Lustgarten hatten die Bäume erste grüne Spitzen. Bald würden sie Blätter tragen, die im oft heißen Sommer in dieser großen, vibrierenden Stadt Kühle spendeten. Alles stand auf Neubeginn. Die Natur machte es vor. Jedes Jahr von neuem. Jedes Jahr war es ein Erlebnis, wenn man darauf achtete. Marie hatte sich diese Achtsamkeit erworben.
Mittlerweile war sie am Eingang zum Museum angekommen. Sie übernahm das Ticket, das für sie hinterlegt war, bedankte sich mit einem Lächeln und ein paar freundlichen Worten beim Empfang. Dann schritt sie zügig die Treppe hinauf. Es war jedes Mal beeindruckend, dieses Foyer mit dem großzügigen Aufgang und den kahlen Wänden in Sandfarben zu betreten. Dieser besondere Raum lässt einen staunen und deutete an, was man erwarten konnte – Großes, Einzigartiges, Besonderes.
Marie kannte den Weg zu Nofretete blind und sie freute sich unbändig auf die Wiederbegegnung. Sie durchquerte die Räume, die voll von bemerkenswerten und einzigartigen ägyptischen Artefakten waren. Heute schenkte sie ihnen nicht so lange Beachtung wie üblich. Wer weiß, was ihr Nofretete wieder mitgab … Sie war immer für Überraschungen gut.
So stand sie fast andächtig vor dem durch das Tageslicht sanft beleuchteten Raum, in dessen Zentrum der große Glaskubus mit der im Original klein und zart wirkenden Büste steht. Der Raum war überraschenderweise leer, was ganz selten vorkam. Marie straffte ihren Körper, atmete mehrfach durch und betrat den Raum mit leisem Schritt. Jedesmal hatte sie das Gefühl von Heiligkeit, wenn sie sich in diesem Raum aufhielt. Sie stellte sich vor den Kubus, schloss die Augen und atmete tief in ihr Herz weiter. Augenblicklich stellte sich Entspannung in ihr ein. Sie war alleine mit Nofretete. Es war jedes Mal für sie ein Erlebnis, dieser Frau zu begegnen und die Büste wahrzunehmen, mit allen Schrammen und Kratzern. Sie ist immer noch von unnachahmlicher Schönheit und Reinheit. Wie wenig doch das Äußere letztlich von Bedeutung ist? … Vor allem aber hatte sie für Marie eine besondere Kraft und Ausstrahlung. Sie war schlicht eine präsente, souveräne Frau, die alles in sich hatte. Marie hörte das leise Surren der Klimaanlage, die für gleichmäßige Temperaturen sorgte. In weiter Ferne nahm sie Schritte und Gemurmel anderer Besucher wahr. Doch es war alles sehr entfernt, in den zahlreichen anderen Ausstellungsräumen.
Marie fühlte ihren Puls und hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Sie atmete weiter gleichmäßig, entspannte sich vollkommen - und tat schlicht nichts. Sie IST – jenseits von Raum und Zeit.
So stand Marie, atmete sanft, ihre Augen waren nahezu geschlossen. Das Surren der Klimaanlage und das Gemurmel aus den anderen Räumen wurden leise, bis beides in Marie ausgeblendet war.
Stille, Leere, Nichts. Marie stand wie eingefroren und doch höchst lebendig vor Nofretete. Sie genoss dieses Gefühl von ganz in sich sein, von ganz in ihrem Kosmos zu sein und sich mit jenem von Nofretete innerlich zu verbinden. Raum und Zeit waren aufgelöst.
„Dreh dich um,“ kam es sanft und sehr leise aus dem Nichts. Marie reagierte zuerst nicht. „Dreh dich um,“ kam es nochmals etwas intensiver. Sie fühlte mehr als sie physisch hörte. Maries Körper vibrierte leicht. Sie nahm ihre Eigenschwingung und die Schwingung des Raumes wahr. Langsam öffnete sie ihre Augen, blinzelte, um sich an das Licht zu gewöhnen – und sah niemanden. Sie war nach wie vor alleine mit Nofretete. Und doch – sie fühlte die Anwesenheit von etwas, das sie nicht benennen konnte. Es war mehr eine Empfindung, als dass sie Konkretes wahrnahm. Marie war mittlerweile sehr gut im Wahrnehmen solcher Empfindungen. Sie begann, sich sanft und leicht zu bewegen.
Es war ein zarter Sog, der sie aus dem Nordkuppelsaal, den Raum für Nofretete, in den Niobidensaal, der die Verbindung zum Südkuppelsaal mit der überlebensgroßen Herkulesstatue bildet, zog. Sie gab diesem leisen, doch spürbaren Sog nach. Marie wurde von einer imaginären Hand genommen und zu einer der Bänke in dem beeindruckenden Verbindungsgang gezogen. In diesem Verbindungsgang lag der Maria-Magdalena-Papyrus ausgestellt. Tageslicht strömte durch die Glasfenster. Marie hatte ihren Augen leicht geöffnet, um sich zu orientieren. Sie ließ sich vollends ziehen und wurde gebeten, Platz zu nehmen. So setzte sie sich zögerlich, blickte sich nochmals suchend um, obgleich sie tief in sich wusste, dass sie mit ihren physischen Augen nur Bruchteile dessen wahrnahm, was um sie geschah. Wer Augen hat zu sehen, der sehe …
Marie schloss ihre Augen ganz, weil ihr physisches Sehen sie mehr vom Geschehen ablenkte als es ihr half. Sie war vollends auf die gesamthafte Wahrnehmung ausgerichtet. Alle Antennen waren ausgefahren. Sie atmete tief und regelmäßig in ihr Herz. Das war für sie der Weg in ihr Inneres. Dorthin wurde sie gerufen.
Nun saß sie da, atmete – und wurde gewahr, dass jemand neben ihr saß. Sie konnte nicht sagen, wann sich diese oder dieser jemand neben sie gesetzt hatte. Es war keine konkrete bildliche Figur, sondern mehr eine Energie. Zuerst flüchtig wie ein Windhauch, doch dann mehr und mehr kraftvoll und eindeutig. Marie nahm klar wahr, dass es eine alterslose Frau war, die neben ihr saß. Sie lächelte sie freundlich an und nahm ihre Hand. Obgleich sich alles zart, sanft und warm anfühlte, spürte Marie eine kraftvolle Energie durch ihren physischen Körper fließen … ein angenehmes, stärkendes Gefühl. Sie richtete sich innerlich auf und war nun dieser Energie neben ihr vollkommen gewahr.
Da war sie - die sie seit Jahren kennenlernen wollte. Sie, die sie seit vielen Jahren begleitete … Marie wusste, dass Maria Magdalena, die spirituellen Gefährtin Jesu, neben ihr Platz genommen hatte. Natürlich nicht im sogenannten realen, physischen Leben. Doch was ist Realität? Hat Realität nicht viele Dimensionen? War Realität reines Bewusstsein? Marie empfand eine selten gekannte innere Gewissheit, dass es Maria Magdalena war. Keine Einbildung, sondern es war die ihr eigene Energie, die Marie Kraft ihres ausgeprägten inneren Wissens zur Seite saß.
Die beiden Frauen erkannten einander am Blick. Es mussten keine Worte gewechselt werden. Es wurde nicht im herkömmlichen Sinn gesprochen. Und doch gingen Botschaften zwischen den beiden hin und her, die von einer hohen Kraft und großen Reinheit waren. Wer Ohren hat zu hören, der höre.
Maria Magdalena, die als die spirituelle Vermittlerin zwischen Welten, dem Menschen und dem Göttlichen angesehen wird, saß ruhig und friedlich neben ihr. Maries Herz klopfte vernehmlich. Ihr gesamter Körper vibrierte leicht. Gleichzeitig war eine unbändige Freude in ihr. Sie fühlte die innere Verbundenheit, denn auch Marie war eine Vermittlerin zwischen Welt. Zwischen anderen Welten als Maria Magdalena, doch sie war ebenfalls Vermittlerin. Maria Magdalena vermittelte auf der inneren Ebene und schenkte die direkte Erkenntnis. Sie hatte die Heilige Hochzeit aus dem Männlichen und Weiblichen bereits im Herzen vollzogen und gilt auch heute noch als spirituell-symbolisches Beispiel für die gelebte Einheit aus Männlichem und Weiblichem. Sie ist Beispiel, wie man den eigenen Lebensweg meistert und den Tanz mit dem Leben lebt. Sie hinterließ viel … wer es fassen kann, der fasse es.
Marie versuchte sich zu orientieren. Wo fand diese Begegnung statt? Sie atmete, tief und gleichmäßig. Nach einiger Zeit wurde Marie bewusst - es war in einer Imaginale, in einem Zwischenreich aus Raum und Zeit. Es war das erste Mal, dass sie diesen Bereich, über den sie viel gelesen hatte, betrat. Symbolisch kann man dies auch als Nous, als RaumZeit zwischen dem Menschlich-Konkreten und dem Göttlich-Spirituellen bezeichnen. Es ist eine gedacht-gefühlte RaumZeit, die sich ergibt, wenn man sie zulässt. Manche bezeichnen sie als die ‚Nadelspitze der Seele‘. Diese RaumZeit ist jene, die der spirituellen Maria Magdalena zugeschrieben wird.
Für Marie war dies eine nahezu ungeheuerliche Erfahrung, doch sie war neugierig. Sie ließ sich sehr gerne in dieser für sie neuen RaumZeit auf die Begegnung ein – auch wenn sie nicht wusste, was auf sie zukommen sollte. Tiefes Vertrauen reichte für den Moment. Es war keine Nahtoderfahrung. Die kannte sie. Nein, es war das Empfinden eines erweiterten Bewusstseins. Ob es die Einheitserfahrung war, konnte Marie nicht sagen. Nicht in diesem Moment. Es war für sie ein Zustand, der von Frieden und großer Klarheit durchdrungen war. Es gab keine Intention, kein Machen und Tun. Es war wie reines Zuhause Sein.
In dieser RaumZeit konnte Maria Magdalena anbieten, Marie ihre Antworten zu Fragen zum Weg in die Einheit aus Weiblichem und Männlichem, zum Tanz mit dem Leben und zum Weg der Meisterschaft zu geben. Dazu lud sie Marie zu einem imaginären Spaziergang durch ein ebenso imaginäres Labyrinth ein.
„Ich bin hier und will dir den Weg zeigen, den du seit Jahren schon gehst und immer wieder fragst und zweifelst. Ich will dir die dir fehlenden Teile zeigen und dich in den bewussten Tanz mit dem Leben einführen.“ Hatte Maria Magdalena zu ihr gesprochen? Erstmals nahm Marie Sprache wahr. Sie erschrak, weil sie so etwas wie eine Stimme ‚hörte‘. Sie war leise und eindringlich, klar und deutlich.
„Bin ich nun vollends verrückt?“ fragte Marie sich. Doch es blieb ihr keine Zeit, ihren schlauen Verstand einzuschalten. Der Sog zog sie weiter in diese Imaginale, sanft und bestimmt zugleich.
„Lass uns gehen. Solvitur ambulando – es löst sich während des Gehens. Lass uns in unserer RaumZeit gehen,“ forderte Maria Magdalena sie sanft auf.
Marie war klar, was nun kam. Sie hatte so viel gelesen und nun konnte sie es endlich erfahren. Nichts musste groß besprochen werden, weil alles gesagt war. Marie wusste, es ging um das Labyrinth und das Symbolon. Endlich ging es los. Endlich – nach so vielen Jahren des Wartens, des Lesens, des Sammelns und des Lernens. Marie war gewahr und lauschte. Auch wenn sie vieles von dem, was nun kommen würde, schon kannte. Sie war offen und gespannt, ob Maria Magdalena ihr noch etwas mitgeben würde, das sie noch nicht kannte. Sie war tief in sich gewiss, dass sich ein Geheimnis enthüllen würde, das in die wahre Meisterschaft führt.
„Du musst wissen, das Labyrinth geht auf König Salomon und die Königin von Saba zurück. Es ist perfekt konstruiert. Es ist Ausdruck für die Meisterschaft am Lebensweg. Es ist das Symbol für Freiheit und für Liebe, für den Tanz des Lebens. Die Wahrheit ist dabei immer sehr einfach. Durch das Labyrinth zu gehen, gibt dem dafür Offenen die Möglichkeit, zu hören und zu sehen, was die Seele ihm sagen will und was dem Herz wichtig ist. Das Gehen ermöglicht die Verbindung des eigenen Inneren mit dem Göttlichen. Erreicht man den Mittelpunkt, dann kann man diese Stimme am deutlichsten wahrnehmen. Bleib frei von alten Vorstellungen während des Gehens. Lass sie am Eingang des Labyrinths liegen. Du brauchst sie da drinnen nicht. Sie sind wie schwere, unpraktische Taschen, die dich und deine Wahrnehmung von dem, was tatsächlich wichtig ist und sich dir zeigen will, ablenken. Danach - gehe langsam und atme. Es ist ein Gebet im Gehen, eine getanzte Meditation, die Geist, Körper und Seele vereint. Der Gang ermöglicht WeisheitsWissen. Er ermöglicht dir einen Blick in deine Seele und in dein Herz. Bleib offen für das, was sich zeigt. Dabei gibt es weder einen richtigen noch einen falschen Weg durch das Labyrinth. Es gibt nur den eigenen Weg. Hinsichtlich des Tempos gibt es auch keine Vorgaben. Jeder findet sein eigenes Tempo und geht es mit Disziplin und Hingabe. Das Labyrinth ist auch Ausdruck für sich kreuzende Lebenswege der Menschen. Lasse dem, der vor dir geht, genug Zeit für seinen Weg. Begegnet einander mit Respekt. Wenn man sich in Biegungen begegnet, lässt man den anderen schweigend passieren. Jeder ist auf seinem Weg unterwegs, doch trifft er immer wieder andere.
Das Labyrinth des Salomon hat 11 Kreise. Die 11 ist die Zahl für den Pfad der Einweihungen. Zählt man beide Kreissysteme zusammen, so gelangt man zur 22, die Zahl für die Vereinigung des Göttlich-Männlichen und des Göttlich-Weiblichen. 22 ist auch eine Zahl der Vollendung, der Ganzwerdung – eine Meisterzahl wie die 11 und die 33.
Da das Labyrinth 11 Kreise in der Version von Salomon hat, gibt es 11 Aspekte zur Verbindung des weiblichen Wegs und mit dem männlichen Weg.“
Marie hatte aufmerksam gelauscht, nichts gefragt, weil alles klar und deutlich vor sie gelegt wurde. Sie war vielmehr von der vielgestaltigen Symbolik angetan. Mehrfach hatte sie das große Labyrinth in der Kathedrale von Chartres besichtigt. Jedes Mal, wenn sie es durchschritt, geschah etwas Besonderes, etwas Bahnbrechendes in ihrem Leben. Umso aufmerksamer hatte Marie zugehört. Es war ein aktives Zuhören aus dem WeisheitsWissen. Sie hatte es über Jahre gelernt und daraus viel Nutzen für ihren Lebensalltag gezogen.
Maria Magdalena setzte sanft und mit leiser Stimme fort. „Das Symbolon ist das zweite Element, das ich dir näher bringen will. Ein Symbolon ist ein Erkennungszeichen, ein Freundschaftszeichen, ein Zeichen, sich wiederzukennen – nach einer langen Reise der Getrenntheit. Es ist also ein Zeichen für etwas, das im Leben eines Menschen gegenwärtig, jedoch nicht unmittelbar greifbar ist. So fallen beim Zusammentreffen der beiden Teile die einzelnen Mythen zu einem Ganzen zusammen und das Symbolon ist für einige Zeit wieder komplett. Das Menschsein und das Symbolon hängen eng zusammen. Menschsein ist Ausdruck einer Ganzheit. Es ist eine innere Haltung, die Männliches und Weibliches, Verstand und Gefühl, Geist und Materie und vieles mehr umschließt. Es löst eine gleichwertige und ebenbürtige Reaktion aus und drückt so ein geistig-emotionales Gleichgewicht aus. Dazu muss man beide Pole in ihrer Tiefe und Breite kennen und im Labyrinth des Ausdrucks für Leben integrieren, um sie zum Tanz zu führen. So kann die Meisterschaft stattfinden.“
Marie begann ihre Gedanken, Wahrnehmungen und Empfindungen zum Tanz mit dem Leben wahrzunehmen. Ihre Begleiterin setzte fort: „Wenn du wahre Erkenntnis erlangen willst, musst du zuerst dich selbst kennenlernen. Du musst wissen, wer und was du bist, woher du kommst, wohin du gehst, was deine Aufgabe, dein Seelenauftrag ist. Du bist schon weit gekommen auf deinem Weg. Doch auf dieser Reise zu dir und mit dir durch das Labyrinth hin zum Symbolon wirst du noch deutlicher entdecken, dass alle großen Wahrheiten bereits in dir verborgen sind. Wo sollten sie denn anders sein?! Über den Weg der Selbsterkenntnis lernst du gleichzeitig alle großen Weltengeheimnisse. Denn: wie im Kleinen, so im Großen. Du musst dir daher immer zuerst die beiden Pole in allen Facetten ansehen, sie durchleben, sie durchdringen und sie erfassen. Dann erst kannst du in die Einheit und somit in die Meisterschaft gehen. Es ist ein innerer Prozess, der sich im Außen oft nur sehr unscheinbar zeigt. Und doch ist es einer der kraftvollsten Prozesse, wenn nicht der kraftvollste Prozess des Menschen. Wohl auch weil der Anthropos das Ziel ist, der sich selbsterkennende Mensch, der in der Ganzheit als Mensch lebt, den Tanz mit dem Leben begriffen hat und ihn damit meisterlich leben kann. “
Nun wusste Marie über Takt und Rhythmus des Tanzes mit dem Leben Bescheid. Vieles davon hatte sie bereits gelesen und probiert. Doch es war immer etwas Besonderes, dies aus dem Mund einer Berufenen zu hören und es mit dem WeisheitsWissen aufzunehmen. Marie war neugierig und rutschte wie ein Kind ein wenig umher. Maria Magdalena lächelte sanft und wusste, dass Marie nun für den Weg in die Einheit bereit war.
„Ich werde dir unterschiedliche Aspekte des Männlichen und des Weiblichen, der beiden großen Pole, näher bringen. Du musst beides kennen und gelebt haben, um den Tanz mit dem Leben zu beherrschen und in die Meisterschaft zu gelangen. Wenn du weggehst, kannst du ankommen. Doch du bleibst nicht. Du nimmst auf und gehst wieder. Bewegung ist alles. Stillstand ist Fiktion, ist Tod. Du kannst jederzeit Fragen stellen, doch höre zuerst zu, denn wer Ohren hat zu hören, der erhält die Antworten in der großen Stille des Seins.“
So saßen die beiden Frauen da. Nur sie konnten einander sehen. Sie hatten sich in ihrer Imaginale ihre eigene RaumZeit geschaffen, zu der nur sie Zutritt hatten. Marie war reisebereit. Sie war bereit, Maria Magdalena in ihren Ausführungen zu folgen. Dann, wenn sie diese für sich aufgenommen hatte, dann erst konnte sie diese in einfache, verständliche Sätze fassen. Das war ihr großes Anliegen. Diese scheinbaren Geheimnisse sollten all jenen Menschen zugänglich gemacht werden, die bereit waren, verantwortungsvoll damit umzugehen. Wer diese Grundbereitschaft nicht zeigte, dem würden sich diese Geheimnisse gar nicht zeigen, geschweige denn enthüllen.
Die Begegnung von Marie und Maria Magdalena findet in einer RaumZeit, der Imaginale statt. Auch du kannst diese RaumZeit für dich eröffnen, z.B. durch Meditation und durch Atemtechniken. Dafür brauchst du die innere Bereitschaft und die freie Absicht, offen zu bleiben und zuzulassen, was sich dir jetzt zeigen will.