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Prolog

An der Küste von Yorkshire im 12. Jahrhundert

Es war ein strahlend schöner Tag – einer jener Tage, die selten sind im Norden Englands, das allzu oft eingehüllt ist in Nebel und Regen. Eine Frau und ein kleines Mädchen wanderten die Küste entlang, das Kind ungeduldig an der Hand seiner Mutter Sibylla. Sehr lebhaft war die Kleine. Die rotbraunen Locken, die ihren Kopf umgaben, tanzten, und der von einem gewebten Band gehaltene Schleier war – wie meistens – zur Hälfte heruntergerutscht. Sie mochte etwa fünf oder sechs Jahre alt sein, trug aber wie ihre Mutter ein nach Erwachsenenart geschnittenes helleres Unterkleid zum dunkleren Surcot.

Nun waren beide am Meer angekommen, doch die Mutter wollte ihre Tochter nicht loslassen, die am liebsten gleich so, wie sie war, ins Wasser gestürmt wäre. Das Mädchen blickte sehnsüchtig hinaus über die Wellen, stellte sich auf die Zehenspitzen, blinzelte angestrengt, als könnte es dann noch besser sehen und ein für alle anderen unsichtbares Traumbild erhaschen.

„Mama“, begann sie, „Mama, wo liegt Jerusalem?“

Ihre Mutter seufzte. „Aber Margret, das weißt du doch. Weit jenseits des Meeres – du kannst es von hier aus nicht sehen, so sehr du dich auch bemühst.“

„Aber wo genau, in welcher Richtung? Zeig es mir doch noch einmal!“, bettelte das Kind und schaute Richtung Südosten, kannte es doch die Antwort längst auswendig. Unzählige Male schon hatte Margret ihre Mutter gebeten, von Jerusalem zu erzählen, und wann immer sie in die Nähe der Küste kamen, wollte sie wieder und wieder aufs Neue erfahren, wo denn nun ihr himmlisches Sehnsuchtsziel lag.

Sibylla sah ihre Tochter nachdenklich an. Schon mehr als einmal hatte sie sich gefragt, wieso ausgerechnet sie so wissbegierig und aufgeweckt war, wo doch die meisten gleichaltrigen Kinder aus ihrer Nachbarschaft in Beverley eher ruhig und schweigsam waren. Selbst Lesen und Schreiben wollte die Kleine unbedingt lernen, was ihre Eltern vor nicht geringe Probleme gestellt hatte – denn Schulen, die Mädchen aufgenommen hätten, gab es im ganzen Umkreis nicht. Zum Glück hatte ein Grundherr aus der Nachbarschaft das Talent des Mädchens erkannt und gestattet, dass es gemeinsam mit seinem Sohn Henry unterrichtet werde.

So kam es, dass Margret zu einer der wenigen nichtadeligen Frauen in Beverley heranwachsen sollte, die diese Kunstfertigkeit beherrschte, zeitlebens Bücher liebte und sich damit immerhin ein wenig Geld verdienen konnte.

„Mama, bitte, beschreib mir Jerusalem!“, drängte das Mädchen erneut.

„Oh Margret, du kleine Nervensäge. Das habe ich schon tausendmal getan, frag mich doch nicht immer aufs Neue aus!“

Da sie allerdings genau wusste, dass sich dies nun zu einer längeren Rast entwickeln würde, setzte Sibylla sich auf eine Düne und zog ihre Tochter, die noch immer gespannt aufs Meer blickte, zu sich heran.

„Nun, wie du ja bereits weißt, gingen dein Vater und ich vor nunmehr sechs Jahren auf Pilgerfahrt ins Heilige Land. Kaum waren wir unterwegs, da bemerkte ich, dass du dich ankündigtest. Durch Gottes und aller Heiligen Hilfe und Fürsorge haben wir es gerade noch rechtzeitig in die Heilige Stadt Jerusalem geschafft, wo du bald nach unserer Ankunft geboren wurdest.“

„Aber warum kann ich mich dann nicht an Jerusalem erinnern, wenn ich doch dort geboren bin? So, wie ich mich an Beverley oder York erinnern kann.“, wollte Margret wissen.

„Du warst noch viel zu klein dazu. Du wurdest geboren in einem riesigen, hellen Spital in Jerusalem; das war so groß, dass man die Betten, die in einem Raum standen, kaum zählen konnte. Und das war nur die Abteilung für die Frauen, denn natürlich hatten die Männer einen eigenen Schlafsaal. Das Spital lag gleich in der Nähe der Grabeskirche, dem wichtigsten aller Pilgerziele, das wir mehr als einmal besucht haben. Darum herum gab es unzählige weitere Kirchen, überwölbte Märkte und weiträumige Unterkunftshäuser für Fremde wie uns. Alles miteinander ist umgeben von einer mächtigen Stadtmauer mit noch mächtigeren Toren. Die Stadt liegt inmitten einer öden Wüste, also nicht wie hierzulande die meisten an der Küste oder einem Fluss.“

„Und woher bekommen die Leute dann Wasser?“, wunderte sich Margret.

„Es gibt sehr viele Zisternen und Wasserbecken in der Stadt, in denen man im Winter das Regenwasser auffängt. Weißt du, im Heiligen Land schneit es selbst im Winter nur selten, stattdessen regnet es in Strömen.“

„Wie hier bei uns auch!“, bemerkte die Kleine, und ihre Mutter musste lachen.

„Ja, das ist allerdings schon so ähnlich wie hier in England.“ Sie schwieg einen Moment. „Ich glaube, da du deine erste Reise noch vor deiner Geburt unternommen hast, zieht dich das Heilige Land geradezu magisch an. Ob du willst oder nicht, einmal wirst du dorthin reisen müssen.“

Margret hüpfte nun vor Aufregung von einem Bein auf das andere, und Sibylla hatte Mühe, sie festzuhalten. „Aber ich will ja, Mutter. Am besten gleich noch heute – geht das?“

„Natürlich nicht, Margret, erst wenn du erwachsen bist, kannst du dich auf den Weg machen.“

„Und wann bin ich erwachsen?“

„Nun, etwa so in acht bis zehn Jahren.“

Margret seufzte voller Ungeduld. „So lange noch! Erzählst du mir dann wenigstens noch einmal die Geschichte mit den Wölfen, die Vater in die Flucht geschlagen hat?“

Sibylla küsste ihre Tochter auf die Wange und begann zu erzählen. „Es war auf unserer Rückreise von Jerusalem, irgendwo südlich der Alpen. Du warst noch ein kleines Kind, ich trug dich warm eingepackt in einem Bündel auf dem Arm und ritt auf dem Esel, der auch unser Gepäck beförderte. Es war schon fast dunkel, und wir suchten einen geeigneten Platz, um für die Nacht zu rasten.“

„Wie die Heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten!“, rief Margret.

„Ja, genau so. Plötzlich tauchte ein hungriges Wolfsrudel auf, das sich schon auf sein unerwartet reichhaltiges Nachtmahl freute. Die Wölfe schnupperten und umkreisten uns, fletschten die Zähne und knurrten drohend. Vor Schreck waren wir zunächst wie gelähmt, und ich fing an, zu Gott und der Jungfrau Maria um Rettung für dich und uns zu beten. Dann ergriff dein Vater, der, wie du weißt, eher praktisch veranlagt ist und weniger vom Beten hält, einen Knüppel und schlug damit nach den Wölfen. Ja, und so, als hättest du die Gefahr, in der wir waren, gespürt, fingst du auf einmal an, laut und erbärmlich zu weinen und zu schreien. Die Wölfe waren so verblüfft, dass sie vor deinem Geschrei und Vaters Knüppel Reißaus nahmen und wir die ganze Nacht nicht wieder gestört wurden.“

Margret legte den Kopf etwas schief, wie immer, wenn sie genau über etwas nachdachte. „Weißt Du, Mama, ich glaube aber, daran kann ich mich erinnern. Ich habe es schon manchmal gesehen, bei Nacht.“

„Bei Nacht? Du meinst im Traum?“, fragte Sibylla erstaunt.

„Ja, in einem Traum. Woher kommen solche Träume, Mama?“

Das hatte Sibylla befürchtet, dass ihre Tochter ihr wieder eine jener Fragen stellen würde, die eigentlich nur ein Magister oder ein Pastor beantworten konnte, nicht aber eine Bürgersfrau aus Yorkshire. Doch davon, die Wissbegierde kleiner Kinder zu enttäuschen, hielt sie nichts, und so suchte sie eine Weile nach geeigneten Worten.

„Nun, weißt du, manchmal schickt uns Gott, der Herr, Botschaften, wenn wir schlafen. Das können vergessene Erinnerungen sein oder Ratschläge, wenn wir Kummer haben. Oder aber es sind Einflüsterungen des Teufels, vor denen wir uns hüten müssen.“

„Und woher weiß ich, was von Gott ist und was vom Teufel?“ Margret war beunruhigt, denn vor den Machenschaften Satans warnte ihre Mutter sie immer wieder.

„Leider kann das niemand mit Sicherheit sagen. Nur Heilige können das auf den ersten Blick unterscheiden, wir anderen Menschen müssen versuchen, uns selbst darüber klar zu werden. Aber das wirst du begreifen, wenn du älter bist, jetzt musst du dich noch nicht ständig fürchten vor dem Teufel“, sagte Sibylla, obwohl sie sich insgeheim schon überlegte, ob nicht der Höllenfürst ein wenig bei den ungewöhnlichen Talenten ihrer Tochter mitgemischt hatte.

Doch Margrets Gedanken waren längst nicht mehr bei den nächtlichen Dämonen, sondern schon wieder in weiter Ferne. „Und warum träume ich dann nicht von Jerusalem? Wenn ich schon einmal dort war, wie du sagst? Als wir die Wölfe trafen, war ich doch auch nicht viel größer und kann davon träumen.“

„Weil du von Jerusalem keine Vorstellung in dir hast, du hast es noch nicht mit eigenen Augen gesehen, sondern nur gespürt. Bei der Geschichte mit den Wölfen ist das anders – du kennst deinen Vater und mich, hast schon einmal einen Esel gesehen, und wie Wölfe aussehen und sich verhalten, weißt du auch. Deswegen kannst du diese Geschichte in deinen Gedanken und Träumen zusammensetzen, so viel Fantasie, wie du hast.“

„Oh, ich möchte so gern von Jerusalem träumen!“, sagte Margret sehnsuchtsvoll.

„Ach Kind, lass dir einfach noch ein wenig Zeit, und du wirst sehen, ehe du dich versiehst, bist du nicht nur im Traum, sondern leibhaftig in Jerusalem!“

Die Frau im grünen Mantel

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