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Begegnung mit Flammen und Drachen

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Arbeitslager der Ägypter, Winter 1187–1. Februar 1189

Die fränkischen Gefangenen vergaßen zwar nicht ihre Namen, verloren aber jegliches Zeitgefühl – jeder Tag war genauso anstrengend wie der vorangegangene, und was der morgige bringen würde, wusste nur Gott allein.

Irgendwann hätte niemand mehr sagen können, wie lange sie schon hier gefangen waren. Es war inzwischen Winter geworden, mit oft sintflutartigem Regen, und schließlich wieder Frühling, denn der Regen hatte ebenso plötzlich aufgehört, wie er begonnen hatte. Bald war es so unerträglich heiß, dass es Sommer geworden sein musste.

Während die Männer im Bergwerk schufteten, mussten die Frauen nicht weniger schwere Hilfsdienste leisten: Holz hacken und aufstapeln, Steine oder Wassereimer schleppen und Kamele mit Lasten beladen. Nachts und wann immer zu wenig Soldaten vor Ort waren, um alle Gefangenen im Auge zu behalten, wurden die Frauen in Ketten gelegt, die schon bald tiefe Spuren an ihren bloßen Beinen hinterließen. Sie bekamen auch immer wieder Schläge von ihren Bewachern, sei es wegen angeblicher Vergehen, sei es völlig grundlos; aber wenigstens – und das war eine Gnade – wurde keine der Frauen von einem Muslim missbraucht.

Zu essen gab es wenig, was bei der schweren Arbeit schnell zu Unterernährung führte. Margret und einige andere mutige Frauen machten sich daher bald neben der Arbeit heimlich auf die Suche nach Kräutern oder Wurzeln – kein ungefährliches Unterfangen, war doch keine von ihnen mit der Pflanzenwelt Palästinas vertraut. Margret konnte die Unsicherheit kaum ertragen, wenn eine der Frauen etwas gegessen hatte und sie bangend warteten, ob das Kraut nährend oder giftig war. Sie schwor sich insgeheim, dass sie, sollte sie je aus dieser Gefangenschaft freikommen, jede sich ihr bietende Gelegenheit nutzen würde, um alles über Kräuter, Pflanzen und deren Gifte zu lernen. Lernen konnte man überhaupt nie genug, das stellte Margret schon bald fest, als sie und die anderen versuchten, mit den täglich neuen, unbekannten Herausforderungen fertigzuwerden.

Ihre Kleider, die bereits in Jerusalem abgenutzt gewesen waren, fielen ihnen nun fast schon vom Leib, und nur selten konnten sie sich ein Stück Tuch oder Sackleinen erbetteln, um wenigstens notdürftig ihre Blöße zu bedecken. Die Männer im Bergwerk kannten solche Probleme nicht: Sie arbeiteten nackt – was die übrigen Gefangenen immer dann mitbekamen, wenn ein zu Tode gekommener Häftling aus den Tiefen der Höhle herausgeschleppt und hinter dem nächsten Hügel verscharrt wurde.

Das Schlimmste für Margret und die anderen war jedoch, dass sie zu völligem Schweigen gezwungen waren, denn die Muslime duldeten kein fränkisches oder lateinisches Wort. Ein mitgefangener Priester, der sich nicht daran gehalten und seinen Leidensgenossen immer wieder mit Psalmen und Bibelworten Mut zugesprochen hatte, war eines Tages spurlos verschwunden.

So kam es, dass sich Margret, sobald sie abends erschöpft auf ihr Lager fiel, in Erinnerungen flüchtete. Sie dachte dann an ihre Heimat in Nordengland, die ihr in ihrer Fantasie geradezu himmlisch kühl erschien – etwas, das ihr während ihrer Jahre in Beverley niemals auch nur in den Sinn gekommen wäre. Und sie dachte an Thomas, ihren elf Jahre jüngeren Bruder, der allein unter ihrer Obhut aufgewachsen war, nachdem die Eltern bei einem verheerenden Brand in ihrer Werkstatt ums Leben gekommen waren.

Thomas war als junger Knabe in der nahe gelegenen Klosterschule aufgenommen worden, hatte aber trotzdem weiterhin zu Hause gewohnt. Margret hatte ihn jeden Tag in der Frühe dorthin gebracht und nachmittags wieder abgeholt – eine Pflicht, die sie nie als solche empfunden hatte. Sie hatte diese Wege geliebt und es schon damals genossen, mit offenen Augen die Welt zu beobachten – selbst an „englischen“ Tagen. Es waren Lichtblicke in ihrem Alltag, war sie doch in Gottes freier Natur, konnte Pflanzen und Tiere, das Wetter und die Jahreszeiten beobachten.

Überhaupt war ihr Gottes Schöpfung fast wichtiger als der Schöpfergott selbst, was nach orthodoxer Lehre an Ketzerei grenzte und immer wieder Anlass zu Diskussionen mit dem Pfarrer gegeben hatte. Dieser konnte nicht verstehen, warum sie sich jedem Käfer und jedem Unkraut mit einem Eifer widmete, der beim Kirchgang und Psalmenbeten nie auffiel. Schließlich hatte Gott der Herr gesagt: „Macht euch die Erde untertan!“, und somit allzu große Rücksichtnahme auf niedere Kreaturen wohl nicht erwartet. Doch Margret konnte nicht anders – sie sah Gott in jedem Blatt und jedem Tier, das ihren Weg kreuzte, spürte ihn in jedem Regentropfen und jeder Windböe. Wie konnte man den Schöpfer mehr ehren als durch Lobpreisung dessen, was Er erschaffen hatte?

Auch ihre Mitmenschen begegneten Margret zunehmend mit Skepsis und Misstrauen. Eine freiheitsliebende Frau, die ihr Geld mit Schreiben verdiente, mit der Natur sprach und alles genau erforschen wollte, anstatt brav zu beten und einem Ehemann zu dienen? Sollte Margret etwa mit den dunklen Mächten im Bunde sein? Ihr merkwürdiges Verhalten hatte die Nachbarn schon ab und zu daran denken lassen, und viele hatten ihr nur notgedrungen Schreibaufträge erteilt. Davon und von dem wenigen, was ihre Eltern ihnen hinterlassen hatten, hatte sie mit Thomas ein einfaches Leben geführt.

Als ihr Bruder schließlich alt genug gewesen war, um für immer ins Kloster einzutreten, hatte Margret ihn zunächst nicht gehen lassen wollen, obwohl er sie immer wieder inständig darum gebeten hatte. Doch dann hatte sie erkannt, dass es selbstsüchtige Gründe waren, die sie daran hinderten, zuzustimmen, und so hatte sie schließlich widerwillig nachgegeben. Die Möglichkeit selbst ins Kloster zu gehen, hatte sie jedoch weit von sich geschoben – trotz des gleichlautenden Versprechens, das sich die Geschwister nach dem Tod der Eltern gegeben hatten.

Nachdem Thomas von Beverley kurze Zeit später in den Zisterzienserorden eingetreten und in dessen Auftrag nach Frankreich gereist war, hatte auch Margret nichts mehr auf der Insel gehalten. Aus Reue über ihre Selbstsucht hatte sie gelobt, Pilgerfahrten zu unternehmen, kleinere zunächst, wie die zum Marienheiligtum von Walsingham. Schnell hatte sie jedoch bemerkt, dass ihr diese Art des Reisens sehr gefiel, und sich, wenn auch zögernd, eingestanden, dass die Freude, die sie dabei empfand, eine eher weltliche war – zumal diese Reisen die ungeliebte Vorstellung von einem Klostereintritt in weite Ferne rücken ließen. Daraufhin hatte sie versucht, das Reisen fester mit dem Glauben zu verbinden und beschlossen, sich auf den Weg zu anderen, weiter entfernten Pilgerzielen zu machen.

Dies hatte sie allerdings erst nach heftigem Disput mit dem örtlichen Pfarrer durchsetzen können, der ihr als alleinstehender Frau die Erlaubnis dazu beharrlich verweigern wollte. Frauen, die ohne einen männlichen Blutsverwandten oder Ehemann zu weit entfernten Pilgerzielen zögen, hatte er ihr vorgehalten, würden sofort in den Ruf eines zweifelhaften Lebenswandels geraten. Dagegen hatte Margret sich nach Kräften gewehrt – denn so sehr sie auch an allen Facetten der Natur interessiert war, die Natur des Mannes gehörte nicht zu ihren bevorzugten Themen und sie würde ganz sicher nicht in den Bund der Ehe treten, nur um eine Pilgerreise antreten zu können. Schließlich hatte der Ortspfarrer sie entnervt an seinen Vorgesetzten, den Pastor Roger im nahe gelegenen Howden verwiesen, der ihr schließlich die Erlaubnis erteilt hatte. Er hatte letztlich ihrer Frage, warum es einer Christin verwehrt sein sollte, ihren Geburtsort aufzusuchen, nichts entgegenzuhalten gewusst – zumal es nicht nur in England Sitte geworden war, sowohl im Angedenken an Christus als auch an die eigenen Vorfahren zu pilgern.

An den würdevollen Beginn ihrer Pilgerfahrten dachte Margret ebenfalls oft – daran, wie sie und einige Gleichgesinnte während einer aufwendigen Messe in der Kirche von Beverley die Insignien ihrer Pilgerreise erhalten hatten. Das kleine Gotteshaus war brechend voll gewesen – all diese Menschen hatten die Pilger persönlich aus ihrer Gemeinde verabschieden und ihnen Glück auf ihrem Weg wünschen wollen, so wie es inzwischen überall der Brauch war. Unzählige Kerzen hatten gebrannt, Weihrauchschwaden waren umhergezogen, der Chor hatte das Kyrie gesungen und die Gemeinde das Paternoster und mehrere Pilgerpsalmen gebetet:

„Wer im Schutz des Höchsten wohnt, bleibt im Schatten

des Allmächtigen ... denn er bietet seine Engel für dich auf,

dich zu bewahren auf allen deinen Wegen ...

Über Schlange und Basilisk sollst du gehen,

treten auf Löwen und Drachen ...“

Diese Stelle, bei der der Basilisk und die Drachen erwähnt wurden, die den Pilgern zu Füßen liegen sollten und ihnen in keinster Weise schaden konnten, liebte Margret besonders. Wie diese Fabeltiere wohl aussehen würden? Und ob sie im Laufe ihrer Reise tatsächlich lebenden Exemplaren dieser Spezies begegnen würde? In England hatte sie noch keine zu Gesicht bekommen, aber im Orient? Sie war schon mehr als gespannt darauf gewesen ...

„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen.

Woher wird meine Hilfe kommen? ... Er wird nicht zulassen,

dass dein Fuß wanke. Dein Hüter schlummert nicht ...

Am Tag wird die Sonne nicht stechen,

der Mond nicht bei Nacht.“

„Ich erhebe meine Augen zu den Bergen ...“ – genau so hatte sie sich ihre Reise vorgestellt: mit offenem Herzen und Geist in Gottes Natur unterwegs zu sein und alle seine Wunder mit Begeisterung in sich aufzunehmen. Voller Gottvertrauen hatte sie sich darauf gefreut, und keine Furcht vor Unfällen oder feindseligen Menschen verspürt, würde sie doch unter Gottes Schutz unterwegs sein.

„Ich freute mich, als sie zu mir sagten:

‚Wir gehen zum Haus des Herrn!‘

Unsere Füße standen dann in deinen Toren, Jerusalem.

Jerusalem, die du aufgebaut bist als eine fast in sich

geschlossene Stadt ...“

Den 121. Psalm hatte Margret besonders herbeigesehnt, machte er doch ihr Lebensziel Jerusalem vor ihren Augen wie leibhaftig greifbar, so dass sie schon fast auf seinem heiligen Boden zu stehen meinte, auf wundersame Weise dorthin versetzt durch die heiligen Gesänge und Gebete.

Andächtig war sie in ihrem Pilgermantel vor dem Altar niedergekniet und hatte ihren Stab und ihre Tasche vor dem Priester auf die Steinstufen gelegt. Dieser hatte sie angesichts des Zwistes, den sie hatten, noch immer etwas mürrisch angeblickt, dann aber dennoch den Segensritus gesprochen. Anschließend hatte er die Gerätschaften aufgehoben und sie Margret mit den Worten zurückgegeben: „Nimm diese Tasche, nimm diesen Stab im Andenken an Jesus Christus, der sagte: ‚Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig‘.“ Zuletzt war der zukünftigen Pilgerin feierlich ihr Stoffkreuz überreicht worden, das sie auf die rechte Schulter ihres Mantels aufnähen sollte – erst nach Abschluss der Pilgerfahrt, kurz vor der Rückreise nach Hause, sollte das Kreuz seinen Platz wechseln und auf den Rücken wandern. Ein abschließender Segen und weitere Gebete hatten die Zeremonie beendet. So war Margret auch mit Gottes Einverständnis Pilgerin geworden und hatte sich endlich auf den Weg ins Heilige Land machen können.

***

Irgendwann in jenem glühend heißen Sommer schenkte Ida an ihrem Schlafplatz einem Knaben das Leben. Das Abenteuer auf den Mauern Jerusalems war tatsächlich nicht folgenlos geblieben. Die anderen Frauen halfen ihr, so gut sie konnten, und auch die muslimischen Aufseher waren ganz begeistert von dem kleinen Menschenwesen, das da so mutig aus dem schmutzigen Bauch seiner Mutter hervorgekrochen war. Andächtig sahen sie zu, wie Ida das Kind stillte und versorgte, und man meinte manchmal sogar, mitfühlende Menschen hinter der brutalen Aufseherfassade erkennen zu können. Sicher hatten auch sie irgendwo in Ägypten Familien – Frauen, kleine Söhne und Töchter –, an die sie dieses vorwitzige Frankenkind tagtäglich erinnerte und auf diese Weise sein Los sowie das seiner Mutter erträglicher machte. Die Muslime steckten ihm immer wieder etwas zu, brachten sauberes Wasser, Kamelmilch oder Tücher, um es zu bekleiden, sogar einen Worfelkorb als Wiege. Aber sobald Ida etwas Milch oder Wasser für sich selbst erbat, wurde sie erbarmungslos geschlagen – so weit reichte der plötzlich aufkeimende Funke an Menschlichkeit nicht.

Ida nannte ihren Jungen Gereon, nach einem in Köln verehrten Märtyrer der Thebäischen Legion – die Sehnsucht nach ihrer Heimatstadt war inzwischen so groß geworden, dass sie Tag und Nacht von ihr fantasierte. Gut, dass sie ihn nicht Pantaleon genannt hat, dachte Margret bei sich, die wahrlich nicht alle Heiligennamen für passend für kleine Kinder hielt, selbst wenn dieser als Patron der Hebammen galt. Sie war sehr erleichtert gewesen, als Idas ungeplante Schwangerschaft trotz aller Gefahren ein glückliches Ende genommen hatte, und betete dafür, dass der Kleine sich auch weiterhin würde gut entwickeln können. Allerdings fragte sie sich, was Ida den respektablen Kölner Bürgern sagen würde, wenn sie mit einem schwarzlockigen Bastard im Arm nach Hause zurückkehrte? Sicherlich könnte sie eine dramatische Geschichte von einer Vergewaltigung durch die Sarazenen erfinden – aber sollte sie das wagen, möge Gott ihr ob dieser Lüge die Zunge im Mund verdorren lassen.

Trotz der widrigen Lebensumstände entwickelte sich der kleine Gereon unter der Fürsorge der Frauen erstaunlich gut und schaute mit seinen riesigen Knopfaugen in eine Welt, die für ihn sicher genauso wunderbar und aufregend war wie für alle kleinen Kinder – mochte sie auch für die Erwachsenen die Hölle sein.

***

Ein paar Monate vergingen, und erneut zog ein regenreicher Winter über den Süden Palästinas. Die Gefangenen hatten sich notgedrungen mit ihrer Situation abgefunden und konzentrierten ihre Aufmerksamkeit darauf, den kleinen Gereon gut zu versorgen. Im Grunde waren die Frauen, die aus vielen verschiedenen Teilen der lateinischen Welt stammten, erst durch ihre gemeinsame Fürsorge für den Säugling zu Freundinnen geworden. Fiamma, ein Schankmädchen aus Genua, begeisterte sich besonders für den Kleinen und sprach immer wieder davon, wie sehr auch sie sich ein Kind wünschte.

Eines Tages jedoch nahm einer der Aufseher Gereon aus den Armen seiner Mutter und band ihn mit einem Strick an dem eisernen Ring fest, der sonst die Fußketten der Frauen aufnahm. Der Kleine begann sofort, lauthals zu brüllen, worauf Ida so sehr in Panik geriet, dass sie auf den Aufseher losging und auf ihn einschlug. Der zeigte sich zunächst unbeeindruckt und bedeutete ihr, dass sie gefälligst wieder arbeiten solle, ihr Junge könne schließlich nicht davonlaufen. Ida war so aufgebracht, dass sie ihn nicht verstand, nicht verstehen wollte, und immer weiter auf ihn eindrosch – so dass der Aufseher schließlich zurückschlug. Entsetzt versuchte Margret, dazwischenzugehen, aber der Ägypter war inzwischen so wütend, dass er nun auf beide Frauen mit einer Rute einprügelte und Margret schließlich von sich stieß.

Sie landete im Lagerfeuer, das in der Höhlenmitte brannte, und sah auf einmal nur eine Flammenwand vor sich. Augenblicklich erschienen die Schreckensbilder von ihrem brennenden Elternhaus wieder vor ihren Augen – sollte dies also auch ihr Schicksal sein? Doch während sie damals bloß auf dem Hügel gestanden und hilflos zugesehen hatte, konnte sie hier etwas tun. Doch obwohl sie sofort versuchte, außer Reichweite des Feuers zu kommen, erlitt sie Verbrennungen am Kopf und an den Händen. Alles roch auf einmal nach versengten Haaren, und als sie zurückblickte, sah sie, dass das, was von ihren einstmals langen rötlichen Strähnen übrig geblieben war, nun von gierigen Flammen abgefressen wurde. Instinktiv rollte sie ihren Kopf über den sandigen Boden, um das Feuer zu ersticken, da kam auch schon der nächste Rutenhieb, dem sie nicht ausweichen konnte. Wieder und wieder schlug der Araber zu – er war so in Rage, dass es ihm nicht einmal etwas ausmachte, immer wieder ins Leere zu schlagen, weil Margret sich so heftig bewegte. Trotzdem erreichte seine Rute oft genug ihr Ziel, und schließlich hörte sie auf, sich zu wehren und versank mit einem letzten Blick auf die Flammen in einem schwarzen Abgrund voller Feuer und Schmerzen.

Die anderen Gefangenen standen stumm und voller Entsetzen dabei. Niemand wagte es, das Wort zu erheben oder den Gefährtinnen zu Hilfe zu kommen. Da erscholl vom Eingang der Höhle plötzlich eine laute Stimme, die den Wachen auf Arabisch Befehle zurief. Die Posten sahen sich unsicher an, denn keiner von ihnen kannte den Mann, der jetzt mit raschen Schritten in die Höhle kam.

Er war vergleichsweise klein und drahtig und trug einfache arabische Kleidung, zuoberst eine hell gestreifte Djellaba und auf dem Kopf einen Turban. Bis auf einen am Gürtel getragenen Dolch war er unbewaffnet – und doch war er es offenbar gewohnt, Befehle zu geben und sie augenblicklich ausgeführt zu sehen.

Als sich keiner der Wachposten rührte, wiederholte er seine Anordnung, die Frauen nicht weiter zu schlagen – diesmal bedrohlich leise. Wie aus Trotz versetzte der Aufseher erst Margret, dann Ida noch einige heftige Hiebe mit der Rute, bis der Fremde unmittelbar vor ihm stand. Im Gegensatz zu dem Wachmann wirkte dieser keineswegs wütend, sondern kontrolliert und beherrscht, obwohl er gut einen Kopf kleiner war als der Aufseher, der ihn ungläubig und bewegungslos anstarrte. Der Fremde nahm dem Posten die Rute aus der Hand, schlug sie ihm einige Male um die Ohren, brach sie dann mittendurch und warf sie ins Feuer.

Alle schauten nur sprachlos und ängstlich zu. Wer war dieser Mann, der so offensichtlich kein Muslim war, und doch von seiner Umgebung mehr Ehrfurcht einforderte als der Sultan selbst?

Erst jetzt trat der Kommandant der Truppe hinter ihn und bellte seinerseits Befehle an seine Wachen. „Er hat die Frauen freigekauft – dafür hat sein Geld ausgereicht, die Männer bleiben hier!“, erklärte er auf Arabisch. „Lasst sie gehen, allesamt.“

Nur der gemaßregelte Wächter rührte sich nicht und hielt die Augen nach wie vor auf den Fremden gerichtet.

Dieser hatte sich zu Margret hinuntergebeugt, die knapp neben dem Feuer lag, und untersuchte vorsichtig ihre Verletzungen. Während ihre Unterarme und Hände schlimme Brandwunden zeigten, war es ihr halbwegs gelungen, die hungrigen Flammen von ihrem Kopf fernzuhalten. Sie war nicht bei Bewusstsein, aber ein gezielter Griff an ihren Hals verriet dem Fremden, dass sie noch lebte. Wieder gab er den Arabern rasche Befehle, und diesmal gehorchten sie ihm: Sie hoben Margret vorsichtig auf und trugen sie aus der Höhle, vor der mehrere mit Zeltplanen überdachte Wagen warteten. Der Fremde untersuchte nun Ida, die mittlerweile den noch immer schreienden Gereon losgebunden und hochgenommen hatte. Idas Striemen waren bei Weitem nicht so schlimm wie die Margrets, und auch dem Kleinen schien es gut zu gehen.

Die übrigen Gefangenen wurden aus der Mine hinausgeleitet, und einige der Wachen holten sogar deren wenige Habseligkeiten sowie die Korbwiege von den Schlafplätzen und trugen sie dem seltsamen Geleitzug hinterher. Margret wurde in einem der Wagen auf Decken gebettet, und Ida setzte sich mit ihrem Sohn in den Armen neben sie. Der Fremde reichte Ida einen Wasserschlauch, aus dem sie sofort begierig trank, bevor sie ihn an die anderen Frauen weitergab. Auch Margrets aufgeplatzte Lippen wurden mit dem kühlen Nass befeuchtet, doch wirklich trinken konnte sie nicht – sie war noch nicht ganz ins Leben zurückgekehrt. Der Fremde warf noch einen prüfenden Blick auf sie und wandte sich dann den anderen Frauen zu.

„Ihr seid frei!“, sagte er auf Fränkisch, ohne den Anflug eines arabischen Akzentes. War er also tatsächlich ein Franke? „Ich habe euch freigekauft, ihr könnt gehen, wohin es euch beliebt. Ich werde mit meinen Begleitern und den Verwundeten nach Tyrus ziehen, wo ich ein Spital betreibe. Wer von euch uns begleiten möchte, kann das gerne tun – ich stelle es euch frei.“

„Seid Ihr ein Medicus?“, fragte eine der Geretteten vorsichtig.

„Ja, das bin ich. Mein Name ist Jonas, und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, denjenigen Opfern dieser unseligen Glaubenskämpfe zu helfen, die mich am nötigsten brauchen – wo immer es möglich ist. Heute wart ihr das.“

Er wandte sich ab. Die Frauen standen noch immer schweigend da und betrachteten ihn wie ein Wesen aus dem Paradies. Ein reicher Franke, der es sich zur Aufgabe machte, Gefangene zu befreien und Verwundete zu pflegen?

Schließlich ergriff eine der Frauen das Wort und stammelte einige wirre Worte des Dankes.

Der Fremde drehte sich wieder zu ihnen um – und lächelte. „Ihr müsst mir nicht danken. Ich trage mit dem, was ich für euch und andere tue, nur eine eigene, ganz persönliche Schuld ab, die mich vor vielen Jahren gezwungen hat, meine Heimat und mein Elternhaus zu verlassen. Doch nun müssen wir uns auf den Weg machen, denn es ist weit bis Tyrus.“

Wieder wandte er sich ab, und nun trat ein junger, bronzehäutiger Diener mit einem wundervollen Pferd am Zügel zu ihm. Der Mann aus Tyrus nickte dem Jugendlichen zum Dank zu und stieg in den Sattel. Ohne sich noch einmal umzusehen, setzte er sich neben dem Wagen in Bewegung.

Fiamma sah dem Aufbruch einen Augenblick zu, doch als der Wagen sich etwas entfernt hatte, rannte sie, so schnell es ihr durch den Sand möglich war, hinter ihnen her.

„Nehmt mich mit, Herr! Margret ist meine Freundin!“, keuchte sie, als sie den Wagen eingeholt hatte.

Der Fremde zügelte sein Pferd und blickte prüfend auf Fiamma hinunter. „Das fällt Euch aber früh ein!“, meinte er leicht spöttisch. Trotzdem griff er vom Sattel aus nach ihrem Arm und half ihr auf den Wagen, wo Ida bereits etwas beiseitegerückt war. „Wenn sie Eure Freundin ist, dann könnt Ihr Euch ja auch um sie kümmern!“, sagte der Medicus und warf Fiamma ein Bündel Leinenbinden zu, das er aus seiner Satteltasche geholt hatte. „Wickelt dies locker um ihre Arme und ihren Kopf. Ich werde sie vernünftig versorgen, sobald wir rasten. Nur möchte ich erst einige Meilen zwischen uns und die Minenaufseher bringen. Ich weiß nicht, wie lange die mit unserem Geschäft zufrieden sein werden.“

Schließlich folgten auch die Übrigen dem Zug, um zumindest in Begleitung zur Hauptstraße zu gelangen. Dann würde man weitersehen.

***

Es wurde langsam dunkel, und der Treck näherte sich einem kleinen, von Ferne kaum zu erkennenden Wadi.

„Dort werden wir rasten“, wies der Fremde seinen jungen Diener an, der ihm das Pferd gebracht hatte und seitdem auf seinem Maultier kaum von seiner Seite gewichen war.

Der schwarzlockige Junge nickte, ritt zu den Treibern an der Spitze des Zuges und teilte ihnen die Wünsche ihres Herrn mittels weniger Handzeichen mit.

„Kann er nicht sprechen?“, fragte Fiamma, die alles verwundert beobachtet hatte, den Fremden, der nach wie vor auf gleicher Höhe mit dem Wagen ritt.

„Nein. Said ist taubstumm. Er ist mein Lehrling.“

„Euer Lehrling? Wie geht das, wenn er nicht sprechen oder hören kann?“

„Besser als Ihr Euch vorstellt. Wir verständigen uns über Handzeichen, wie Ihr eben gesehen habt, außerdem kann er von meinen Lippen lesen“, war die knappe Antwort.

Der kleine Geleitzug verschwand zusammen mit den letzten Sonnenstrahlen in dem Wadi, das nicht nur Sichtschutz, sondern auch eine kleine, von wenigen kümmerlichen Palmen und Buschwerk umstandene Quelle barg.

Als das Nachtlager hergerichtet war und ein kleines, rauchloses Feuer loderte, ließ Jonas Margret, die noch immer ohne Bewusstsein war, vom Wagen heben und neben das Feuer legen. Er rief auch Ida herbei und bedeutete Said, ihm zu helfen. Fiamma gesellte sich ebenfalls zu ihnen. Einer der Treiber brachte Wasser, damit Jonas die Wunden der beiden Frauen verarzten und Gereon richtig untersuchen konnte. Ida hatte nur wenige blutige Striemen auf ihren Schultern und Armen, die schnell gesäubert und versorgt waren, ihr übriger Körper war durch die wenn auch zerschlissene Kleidung geschützt gewesen. Anschließend wandte sich der Medicus Gereon zu, der glücklich im Arm seiner Mutter vor sich hin gluckste und dem es, wie er beruhigt feststellte, von allen am besten ging, selbst wenn er vor Dreck starrte.

Dann widmete sich Jonas Margret und sah sie eine Weile nachdenklich an. Said hatte inzwischen ein kleines Holzkästchen gebracht und geöffnet, in dem sich alle Arten von Instrumenten und Medizinfläschchen befanden. Jonas berührte seine Schulter, damit der Junge ihn ansah, und sagte leise einige wenige Worte, die Fiamma und die Kölnerin nicht verstanden. Said nickte und eilte davon. Der Medicus wickelte die Verbände von Margrets Armen und warf sie ins Feuer. Er untersuchte sorgfältig ihre Verbrennungen, die an einigen Stellen recht schwerwiegend waren, und reinigte die tiefen Striemen, die die Rute des Aufsehers gerissen hatte, behutsam mit einem mit Essig befeuchteten Leinentuch. Als Margret durch die Schmerzen halb aus ihrer Ohnmacht erwachte, flößte er ihr sofort etwas Wasser ein, denn sie hatte seit Stunden nichts getrunken. Dann suchte er in seinem Medizinkästchen ein bestimmtes Fläschchen, entkorkte es und tröpfelte ihr etwas von der starken Essenz in den Mund. Sie hustete, war kurz darauf jedoch wieder ruhig.

„Ist sie wieder ohnmächtig?“, erkundigte sich Fiamma besorgt.

Jonas blickte kurz zu ihr hinüber. „Nein. Ich habe ihr Medizin gegeben, die sie ohne Schmerzen schlafen lässt. Bis wir in Tyrus sind, wird sie noch ein paar Mal fast wach werden, dann müssen wir ihr immer sofort zu trinken geben, habt Ihr gehört? Doch die Strapazen der Reise wird sie nicht mitbekommen.“ Er wandte sich wieder Margrets Wunden zu, und bald darauf kam auch Said zurück, ein Büschel Zweige in der Hand, die er Jonas mit fragendem Blick hinhielt. Der nickte anerkennend und nahm die Stängel entgegen. Rasch streifte er die Blätter von ihnen ab und befeuchtete sie mit Wasser.

„Was ist das?“, wollte Fiamma wissen, während Ida ihre ganze Aufmerksamkeit ihrem Sohn widmete.

„Henna“, antwortete Jonas knapp. „Die Blätter helfen bei Verbrennungen, sie wirken kühlend.“

Sowohl die Genuesin als auch Said sahen ihm genau zu, wie er die tropfnassen Blätter auf Leinenbinden verteilte und Margrets Hände und Arme damit verband. Auch die arg verbrannte Stelle an ihrer Stirn bedeckte er mit einer solchen Bandage und knotete sie um ihren Kopf fest.

Schließlich war Margret zu Jonas’ Zufriedenheit versorgt, und erst jetzt bemerkten die Frauen, wie hungrig sie waren, und stellten zu ihrer Freude fest, dass Jonas’ Diener die Zeit genutzt hatten, um für die Reisenden ein einfaches Abendessen zu bereiten. Nun hockten sich alle um das Feuer und aßen, ohne dass sich eine Unterhaltung ergeben hätte. Ida und Fiamma waren durch die Eindrücke des vergangenen Tages zu erschöpft, und Jonas machte sowieso nie viele Worte. Da fiel es nicht weiter auf, dass Said nichts sagen konnte, der mit allzeit wachen Augen neben seinem Meister hockte. Auch die Treiber waren müde, nur einer sang leise eine fremdartig klingende Melodie vor sich hin.

Dann aber sammelten sich über dem kleinen Lager urplötzlich dunkle Gewitterwolken, die sich schnell vermehrten, und so, als hätten sie nichts anderes erwartet, sprangen Jonas’ Diener auf, um in kürzester Zeit am höchsten Punkt des Wadi eine kleine Gruppe von eng nebeneinanderstehenden Zelten zu errichten. Auch Said half eifrig mit, und Jonas brachte als erstes die verletzte Margret ins Zelt. Schon begannen dicke Tropfen herunterzuprasseln, die sich augenblicklich zu einer jener allseits gefürchteten Regenwände verdichteten, die wie eine massive Mauer aus Wasser nicht einmal einen genauen Blick auf den eigenen Begleiter erlaubten.

Es blitzte und donnerte, und Margret schien sich davor zu fürchten, sie zuckte mehrfach im Schlaf zusammen und schrie auf. Jonas wickelte sie in eine Decke, jederzeit bereit, ihr wieder etwas Medizin zu geben, wenn es nötig sein sollte.

***

Margret sah sich einer hell aufleuchtenden Gestalt folgen, die sie in einen engen Felsengang führte. Dieser erinnerte sie an die Höhle beim Bergwerk, so dass sie kurz zögerte, hineinzugehen, doch dann folgte sie der seltsamen Gestalt.

Kurz hinter dem Eingang blieb das Lichtwesen stehen und wandte sich ihr zu. Es entpuppte sich als ein hell gekleideter Engel mit großen geschwungenen Flügeln, der wie aus sich selbst heraus zu leuchten schien. Die Federn, mit denen seine Flügel besetzt waren, hatten unterschiedliche Größen: Entlang des Rückens befanden sich kleine, in dichten Reihen gestaffelte Federn, von denen jede Reihe größer war als die vorherige, bis schließlich die äußerste Federlinie von eindrucksvoll großen, in tausend Blautönen gehaltenen Schwungfedern gebildet wurde. Die anderen Federn erschienen auf den ersten Blick naturfarben, doch wenn der Engel sich bewegte, zeigten sie unterschiedlich matte und doch zugleich bunt leuchtende Farbtöne: orange, rosa, gelb, aber auch bläulich, graugrün und violett. Der Engel hatte das Antlitz einer jungen, wunderschönen Frau von überirdischer Sanftheit. Er trug ein weiß-silbriges, faltenreiches Gewand, das ihm bis über die schmalen bloßen Füße reichte und eine Haube aus demselben Stoff, die in engen Falten um seinen Kopf geschlungen war, so dass man nirgends auch nur eine Strähne seines Haares erblicken konnte. Das Wesen lächelte und sprach Margret an.

„Folge mir, Pilgerin, denn du sollst sehen, was dich nach deinem Tod erwartet.“

„Bin ich denn tot?“, fragte diese erschrocken zurück, die sich zwar zerschunden und schwach, aber eindeutig am Leben fühlte.

Der Engel antwortete nicht, sondern bedeutete ihr, ihm zu folgen, und schritt würdevoll vor ihr den felsigen Gang entlang, der wie mit riesigen schwarzen Säulen gerahmt aussah, in den Berg hinein.

Margret folgte ihm und fühlte sich dabei merkwürdig zerrissen. Zeitweise hatte sie den Eindruck, ihre Seele würde ihren Körper verlassen und über ihr schweben, dann konnte sie sich und ihren Begleiter von oben erkennen, wie sie beide den Gang durchschritten. Im nächsten Augenblick befand sie sich wieder direkt hinter ihrem Führer und folgte ihm in die Tiefen des Berges, hatte jedoch gelegentlich das Gefühl, das die Struktur der Felsen schmutziggrauen Zeltplanen glich, auf die heftiger Regen wie Trommelwirbel prasselte.

Inmitten all dieser verstörenden Eindrücke ging Margret eine äußerst profane Frage durch den Kopf: Wenn der Engel sie in die Unterwelt führte, warum führte der Weg dann immer geradeaus und nicht hinunter? Kaum hatte sie dies zu Ende gedacht, führte der Weg plötzlich tatsächlich nach unten, am Anfang nur sanft geneigt, um immer steiler zu werden. Die Felswände des Ganges, die zu Anfang noch weit auseinandergelegen hatten, verengten sich nun und schienen mit scharfen Gesteinsspitzen bewehrt zu sein, die sehr an die von den Sarazenen in Jerusalem verschossenen Brocken erinnerten. Bald waren die Felsen bedeckt von Sickerwasser, bald von einer Art übel riechendem, weißgrünlichem Schleim, dann wieder von dickflüssigem Blut, das an manchen Stellen langsam heruntertropfte und andernorts schon eine geronnene braunrote Kruste bildete.

Schließlich hätte sie die Wände berühren können, ohne ihre Hände auszustrecken, so nahe waren sie beieinander. Der vorangehende Engel berührte die Wände des Öfteren mit seinen Flügeln oder seinem Gewand, und auch Margret spürte die bedrohliche Berührung der Felsen, die nach ihr zu greifen oder sie erdrücken zu wollen schienen. Trotzdem wurden weder der Engel noch sie selbst in irgendeiner Weise beschmutzt oder verletzt, und gelegentlich, wenn sie wieder einmal das Geschehen aus der Höhe zu verfolgen schien, meinte sie sogar zu sehen, wie die steinernen Wände den beiden Wesen auf wundersame Weise auswichen.

Nun erreichten sie eine Art höllischer Höhle, in der eine Unzahl Dämonen damit beschäftigt war, arme Sünder zu quälen. Sie räderten sie, tauchen sie immer wieder in Wasserbecken unter und kochten sie in Kesseln, die auf lodernden Feuern vor sich hin simmerten. Einige zwickten ihre Opfer mit riesigen glühenden Zangen oder rissen sie damit in Stücke. Manche der Verzweifelten versuchten, sich die Himmelsleiter hinaufzuretten und fielen doch immer wieder hinunter. Die Dämonen halfen dabei kräftig nach, indem sie sie von der Leiter herunterschüttelten oder ihnen nachstiegen und sie herunterrissen. Andere wurden ergriffen und trotz ihrer Gegenwehr von einem oder mehreren Dämonen davongeschleppt, um in rauchende Kessel oder lodernde Abgründe geworfen zu werden. Andere nackte Sünder waren in allen nur denkbaren Positionen an Gestänge gefesselt – kopfunter, quer, mit seltsam verrenkten Gliedern. Ein Ausruhen war nirgends möglich, nur manchmal wurden Menschen wie tot auf Haufen geworfen, nur um kurz darauf wieder herbeigezerrt und weiter gequält zu werden. Riesige hässliche Kröten verschlangen sie, Schlangen versuchten, sie hinunterzuwürgen, oder die Dämonen tauchten sie immer wieder in kochendes Pech oder Öl. All dies betrachtete Margret mit Abscheu, sie glaubte sogar, das Pech und das Feuer riechen zu können, und dennoch schien das alles in einer gespenstischen Lautlosigkeit vor sich zu gehen. Das Einzige, was trotz dieses Schreckensszenarios zu hören war, war das überirdische Rauschen, das von ihrem Begleiter bei jeder Bewegung hervorgerufen wurde, sowie dessen sanfte Stimme, sobald er seinem Gast etwas erläuterte. Die Schreie der Gequälten jedoch, die Margret sich, ohne es bewusst zu wollen, lebhaft vorstellte, waren nicht zu hören.

„Hier beginnt der Bereich der Bestrafung“, erklärte der Engel, „in dem alle Sünder ihre Vergehen genau gemäß ihrer Untaten büßen. Auch du bist nicht frei von Schuld – so ist es an der Zeit, einmal die wahren Motive deiner Reisen zu bedenken. Bist du sicher, dass du zum Lobe Gottes pilgerst oder etwa doch, um deiner eigenen verwerflichen Neugier nachzugeben? Noch dazu, nachdem du eine Frau bist?“

„Ist Neugier bei einem Mann denn eine geringere Sünde?“, platzte es empört aus Margret heraus.

„Neugier ist immer eine Sünde, egal, wer sie begeht“, gab der Engel zurück. „Das Streben eines jeden Christen sollte allein Gott gelten.“

„Und warum stattet Gott dann Menschen mit genau dieser Gabe aus? Nur, um sie in Versuchung zu führen? Das kann ich nicht glauben. Nein, es muss auch einen gottgewollten Grund für die Neugier geben, meint Ihr nicht auch?“

Der Engel antwortete nicht, sondern schritt weiter in den Berg hinein, während Margret ihm folgte. Nach endlosen Abfolgen felsiger Räume, in denen ganze Scharen geschäftiger Teufel und Dämonen ihrem grausigen Tagwerk nachgingen, weitete sich der Gang plötzlich wieder zu einer weiten Höhle. Ein riesiger Kessel, größer als alle, die Margret zuvor gesehen hatte, brodelte auf einem begierigen Feuer. Es roch so intensiv nach heißem Öl und Pech, dass ihr beinahe übel davon wurde.

„Sieh diese heimtückischen Dämonen, Pilgerin – sie bereiten sich vor, einen großen Herrscher der Menschen in Empfang zu nehmen, der in seinem Kampf gegen die Ungläubigen viel Böses tut und noch viel Böseres tun wird. Jedes einzelne der roten Haare an seinem Körper werden diese Dämonen ihm genüsslich ausreißen, ihn mit kochendem Öl übergießen und seine Haut in dünne Streifen schneiden, Stück für Stück, als Erinnerung und Mahnung an die vielen Menschen aller Nationen, die durch seine Schuld zu Tode gekommen sind und in Zukunft noch sterben müssen.“

„Hat Saladin denn rote Haare?“, wunderte sich Margret. „Ich habe das Gerücht gehört, er soll glatzköpfig sein?“ Sie versuchte, sich an ihre Begegnung mit dem Sultan vor den Toren Jerusalems zu erinnern, doch damals hatte er einen Helm und darüber einen Turban getragen, der seine Haare verborgen und nur den graumelierten Bart hatte sehen lassen.

Der Engel antwortete nicht, doch ein feines Lächeln schien seine Lippen zu umspielen. „Denke an diesen Augenblick, wenn du ihn, jenen gewaltigen Herrscher, in nur wenigen Monaten vor Akko treffen wirst.“

Sie gelangten nun aus den felsigen Gängen zurück ins Freie, über eine sandige Ebene, die mit zahllosen blühenden Wüstenpflanzen bestanden war. Nur wenig vor ihnen lag eine wunderbar grüne Oase, wie sie noch niemand in der wirklichen Wüste gesehen hatte. Unter Palmen breitete sich ein prunkvolles orientalisches Zeltlager vor ihnen aus, mit spitzen, bunten Zelten, wehenden Seidenbannern und einigen der schönsten Pferde, die Margret je in ihrem Leben gesehen hatte. Hell gekleidete Diener bereiteten offenbar die Ankunft ihres Herrn vor, jedoch ohne Eile und Hast, so als stünde sein Kommen noch nicht unmittelbar bevor, obwohl schließlich beizeiten alles bereit sein sollte.

„Auch hier wird ein großer Herrscher der Menschen erwartet“, erläuterte der Engel, „da dieser hingegen an Gott glaubt und nur strikt nach den Regeln seines Glauben handelt, wird er hier sein ganz privates Paradies vorfinden.“

Margret wollte fragen, wer nun dieser Herrscher sei, da kamen sie an einem klaren Tümpel vorbei, und Margret, die auf einmal unbändigen Durst verspürte, bückte sich, um etwas Wasser zu trinken und meinte tatsächlich das Wasser auf ihren Lippen schmecken zu können ...

Jonas hatte bemerkt, dass Margret aufzuwachen begann und sofort gab er ihr zu trinken und noch etwas Medizin. Vorsichtig bettete er sie zurück auf die Decken.

Jenseits der Oase begann der Boden wieder felsiger zu werden, und auf einmal erhob sich ein zuvor nicht erkennbarer schwarzer Berg vor Margret und ihrem Begleiter. Nach nur wenigen Schritten waren sie wieder in einem unterirdischen Felsengang angelangt, der kühl und glatt war und nicht so bedrohlich wie der, den sie zuvor durchschritten hatten. Am Ende des langen, fast geraden Ganges leuchtete jedoch unheilvoll ein rötlicher Feuerschein. Sie gelangten schnell an jenen feurigen Abgrund, an dessen gegenüberliegendem Ufer nur schwarze Leere zu sein schien.

„Diese Brücken der Prüfung musst du überqueren, um an dein Ziel zu gelangen“, sagte der Engel. „Zaudere nicht, gehe zügig vorwärts und sieh dich keinesfalls um, denn sonst verschlingt dich die Hölle! Geh’ nun!“

„Kommst du denn nicht mit?“, fragte Margret erschrocken.

Der Engel antwortete nicht, schloss stattdessen die Augen und legte den Kopf weit in den Nacken. Aus der schönen, jungen, geflügelten Menschengestalt wurde nach und nach ein riesengroßer Nachtfalter, so groß, wie Margret noch niemals zuvor einen gesehen hatte. Sie trat vor Schreck einen Schritt zurück, prallte an die Felswand und konnte dennoch ihre Augen nicht von der Metamorphose abwenden, die sich nun vor ihr abspielte. Der Kopf des Engels wurde braun und erschien plötzlich wie mit Pelz bedeckt, die hellen Augen wurden zu riesigen schwarzen Perlen. An die Stelle des hellen leuchtenden Kopftuches traten lange, geschwungene und gefiederte Fühler. Die bunten, seidigen Engelsflügel verwandelten sich unvermittelt in große, dreieckig-matte Falterschwingen, die ein kompliziertes Muster aus braunen, weißen und schwarzen Ornamenten trugen, dazwischen eingestreut schwach rosenrote Arabesken. Einzelne Federn waren schon nicht mehr zu erkennen, die riesigen Schwingen sahen vielmehr aus wie ein kostbarer, reich gemusterter Mantel aus damaszenischem Stoff. Der Engel-Falter stand nun auf den Zehenspitzen, und während sich sein faltiges Kleid langsam in einen pelzigen Insektenkörper auf spindeldürren Beinen verwandelte, begann er, heftig mit den riesigen Flügeln zu schlagen. Im nächsten Augenblick hob er ab und verschwand in eleganten Kreisbewegungen nach oben zum Dach der Höhle. Margret verfolgte ihn mehr fasziniert als erschrocken mit ihren Augen, bis er nur noch ein winziger, sich bewegender Punkt war, nur wenig heller als die schwarze Felsenkuppel, die ihn schließlich endgültig aufsog.

Was sollte sie jetzt tun? Margret war verunsichert und fühlte zugleich eine vorher kaum gekannte klare Entschlossenheit. Sie sollte über die Brücke ans andere Ufer gehen, um dahinter immer und immer wieder eine neue Brücke über einem neuen Abgrund zu finden? Wenn dies ihre Aufgabe war, so würde sie sie nach besten Kräften erfüllen!

Der erste Steg war relativ breit, allerdings ließ sich der gähnende rotleuchtende Abgrund, den er überspannte, weder in Breite noch Tiefe abschätzen. Trotzdem ging Margret mutig los, doch schon nach wenigen Schritten verjüngte sich der Steg, während gleichzeitig ein starker Gewittersturm aufkam, der sie von ihren Füßen zu reißen drohte. Nichtsdestotrotz ging sie zügig weiter und erreichte rasch das andere Ufer, ohne es vorher genau wahrgenommen zu haben.

Der Untergrund auf der anderen Seite war sandig und der Wind trieb ihr die feinen Körner ins Gesicht. Je weiter sie ging, desto grober wurde der Boden und erschwerte das weitere Vorankommen, dafür ließ der Sturm allmählich nach, bis er sich schließlich vollständig legte.

Da tat sich unvermittelt der nächste Abgrund auf, erneut überspannt von einem schmalen Steg, den Margret schon etwas zögerlicher betrat. Dort musst du hinüber, hatte der Engel ihr eingeschärft. Bald wandelte sich der Sand in Eis und Schnee, und der Steg erwies sich als rutschig und schwer passierbar. Im Abgrund darunter lauerten spitze Eisberge, und Margret fror immer heftiger, je weiter sie voranschritt.

Jonas’ Patientin zitterte und verkrampfte sich immer stärker, ihr Gesicht spiegelte höchste Anstrengung wider. Sie begann zu fiebern, so dass ihre Pfleger die Decke um sie herum fester steckten und Said ein kleines Kohlebecken herbeibrachte.

Als Margret schließlich unter großer Kraftanstrengung das andere Ufer erreicht hatte, ließ sie sich erschöpft zu Boden fallen und fiel in einen tiefen Schlaf. Als sie wieder erwachte, war sie von Schnee bedeckt – und doch war sie nicht erfroren, sondern fühlte sich erstaunlicherweise wohlig gewärmt. Auf wundersame Weise ausgeruht stapfte sie durch die eisige Landschaft, bis sie den nächsten Abgrund erreichte.

Sie hatte diesen Steg kaum betreten, als sich schon im nächsten Augenblick das Gewitter zurückmeldete. Donner grollten, Blitze schienen in die Brücke kurz vor und hinter ihr einzuschlagen und Steinbrocken daraus herauszusprengen. Als sie auf halbem Wege ans andere Ufer war, prasselten plötzlich Steine herunter und rissen das schmale Stegchen hinter ihr mit sich, das donnernd im Abgrund verschwand. Nur dank einiger beherzter Sprünge schaffte sie es, wieder festen Boden zu erreichen. Erschöpft hielt sie inne, und schlagartig wurde ihr klar, dass sie nun wirklich nicht mehr zurückkonnte – der Rückweg war endgültig abgeschnitten.

Dreh dich nicht um! Schau nicht zurück! Die Worte des Engels klangen wieder in ihren Ohren. Voller Angst musste sie nun an Lots Frau denken, die zu Stein erstarrt war, eben weil sie sich umgedreht hatte, und wagte es nicht, den Kopf zu wenden. Um nicht den Mut zu verlieren, ging sie schnell weiter. Wenigstens hatte sich das Gewitter gelegt, als sie das Ufer erreicht hatte. Nun herrschte kalte Leere von unendlichem Ausmaß, die sich schon bald zu klebriger, feuriger Lava wandelte. Die Luft war schwer von Rauchschwaden, die Margret den Atem nahmen und sie husten ließen. Sie musste sich zwingen, Schritt für Schritt weiterzugehen, zumal ihre Glieder sich auf einmal bleischwer anfühlten.

Nachdem sie die nächste Brücke erreicht und betreten hatte, wollten sich ihre Füße nur mühsam von deren Boden lösen. Sie schienen in einer zähen, feurigen Masse festzustecken. Trotzdem verbrannte oder verletzte sie sich nicht, und schon bald wandelte sich die Lava unvermittelt zu einem riesigen, übel riechenden See aus Blut, durch den Margret schreiten musste, ohne überhaupt einen Steg darunter erkennen zu können.

Als sie endlich das nächste Ufer erreichte und einen Moment ausruhen wollte, stürzten sich alle Arten von Ungeziefer und Aasfressern auf sie, da ihr Körper über und über von dem Blut bedeckt zu sein schien. Spinnen krabbelten an ihr hoch, Schmeißfliegen umsurrten ihren Kopf, Hyänen mit feurigen Augen lauerten in Felsspalten und über allem kreisten gierige Geier, drohend, sie anzufallen. Panisch schüttelte sie sich und das Blut verschwand. Das Getier ließ von ihr ab und sie ging weiter, bemüht, nicht auf die Kreaturen zu achten, die diese Gegend bevölkerten.

Auch der nächste Steg war sehr schmal, und diesmal konnte Margret im schwarzen Abgrund darunter allerlei Untiere erkennen. Drachen, gigantische Echsen, ihr unbekannte Raubtiere mit schwarzen Glubschaugen oder feurigen Augenschlitzen. Sollten dies etwa die Drachen aus dem Pilgerpsalm sein? Margret erschrak. Riesige grüne Drachenköpfe erhoben sich aus dem Abgrund, aus mit Reißzähnen bestückten, schuppigen Echsenmäulern loderten Flammen, die Margret rot und golden umzüngelten. Obwohl die Flammen ihren gesamten Körper einhüllten und auch ihr Kleid zu ergreifen schienen, verbrannte sie das Feuer nicht. Sie ahnte zwar dessen Hitze, wusste aber aus ihren bisherigen Begegnungen mit diesem unzähmbaren Element, dass diese nur ein kleiner Vorgeschmack war. Alles in ihr verlangte danach, sich umzudrehen, umzusehen, dann aber dachte sie wieder an die Worte des Engels und wagte den nächsten und wieder den nächsten Schritt.

Mehrfach lief sie Gefahr, von dem schmalen steinernen Steg, der nicht einmal so breit war wie ihre beiden Füße nebeneinander, hinunterzustürzen, konnte sich aber jedes Mal wieder fangen und die Balance zurückgewinnen. Erst kurz vor Ende des Abgrundes fiel sie dann doch und wurde augenblicklich von einem der lauernden Drachen, einem wahren Leviathan, verschlungen. Sie wähnte sich in seinem Maul und blickte durch einen Zaun spitzer Zähne nach draußen, dann wieder schien sie oben in seinem Kopf zu sein, glaubte, dass seine Augen plötzlich ihre eigenen wären, mit denen sie wie durch eine Glasglocke ins feurige Dunkel hinausblickte. Ihr Körper aber steckte zur Gänze im Schlund des Untieres – weder Arme noch Beine konnte sie bewegen, so fest hielt er sie umschlossen. Wie die heilige Margarethe, dachte sie, die nur durch die Kraft ihres Glaubens das Untier zum Platzen gebracht hatte, so dass sie unversehrt daraus hervorkommen konnte. Sie musste versuchen, es ihr gleichzutun, musste wirklich und wahrhaftig glauben und nicht nur neugierig und naseweis sein. Als sie versuchte, den Kopf zu wenden, erkannte sie in einiger Entfernung am Rand des riesigen Auges einen hellen Uferstreifen, auf dem ein Mann zu stehen schien, der zu ihr herübersah und seine Hände nach ihr ausstreckte. In diesem Moment spie der Drache sie aus, und erneut stürzte Margret in die unendlichen Tiefen, aus denen sie schließlich ein plötzlich auftauchendes grelles Licht befreite und wieder auf scheinbar festen Grund stellte. Dieses blendend helle, brutale Licht umhüllte sie, schmerzte in ihren Augen, dennoch blieb sie trotz aller Furcht nicht stehen, sondern war sich nun sicher, dass bald das Ende ihrer Prüfungen gekommen sein musste. Zwar hatte sie nicht genau mitgezählt, über wie viele Brücken sie sich bereits vorgekämpft, wie vielen Gefahren sie schon ins Auge gesehen hatte, doch empfand sie das Licht trotz aller schmerzhaften Helligkeit als wohltuend und wärmend. Sie glaubte fast schon, am Ziel zu sein, konnte jedoch den Mann, den sie eben noch gesehen zu haben meinte, nirgendwo mehr entdecken.

Stattdessen sah sie erneut eine Brücke vor sich, die über einen weiteren Abgrund führte, in dem sich etwas, das noch nicht genau zu erkennen war, heftig bewegte und einen so grässlichen Lärm machte, dass es schlimmer als das Gewitter einige Brücken zuvor klang – es hörte sich an wie der Schlachtenlärm einer fürchterlichen Metzelei. Noch mehr Drachen? Oder was konnte jetzt noch kommen?

Vorsichtig näherte sie sich und erblickte zu ihrem Schrecken ein einziges Gewimmel toter oder halbtoter menschlicher Körper, viele umgeben von einem bläulich-violetten Lichtschein. Einige waren nackt oder nur mit Fetzen bekleidet, andere trugen Rüstungen oder zerfallende Kettenhemden und befanden sich in verschiedenen Stufen der Verwesung. Margret erstarrte, sie konnte weder denken noch sich rühren – das taten dafür die Toten, die sich zwar ungelenk, aber stetig auf sie zubewegten und ihr folgen wollten, wie damals in dem Alptraum in Jerusalem. Sie meinte sogar, in diesem Heer ihr bekannte Gesichter zu erkennen: Kreuzfahrer aus ihrer Heimat, ehemalige Nachbarn, die im Heiligen Land gefallen waren. Und da war Henry, ihr Jugendfreund und Mitschüler. Waren das alles verlorene Seelen? Und wer war der halb skelettierte Ritter mit der Königskrone auf dem Kopf, der sie entfernt an Richard Löwenherz erinnerte, den sie nur einmal kurz von Weitem gesehen hatte? War Löwenherz bereits gefallen?

Margret hatte Angst, auch selbst zu sterben; sie glaubte, das Heer sei gekommen, sie ins Jenseits zu holen, wogegen sie sich mit aller Kraft wehrte. Sie versuchte, sich abzuwenden, um nicht noch mehr die Aufmerksamkeit der Toten auf sich zu ziehen, schaffte es aber nicht und musste weiter wie gebannt hinsehen. Gespenstische Rufe schallten herauf, flehentliche Bitten wurden an sie gerichtet, Bitten um Gebete für die Rettung der armen Seelen.

Henry bat Margret nun unter Tränen, etwas für ihn zu tun, und während sie sich auf ihn konzentrierte und sogar versuchte, ihn zu berühren, bemerkte sie kaum, wie andere Leichname ihr gefährlich nahe kamen. Die Toten mit flammenden Augen und Mündern kletterten nun an den Wänden hoch, versuchten sogar, sich aufeinanderzustellen, um die Pilgerin zu erreichen. Einige bekamen ihr Gewand zu fassen, und einer der toten Ritter ergriff mit flammenden Kettenhandschuhen ihre Arme, die sofort zischende Brandwunden ausbildeten.

Doch schließlich konnte Margret sich im letzten Moment losreißen und eine der lebhaften Leichen mit einem beherzten Fußtritt wieder in den Abgrund befördern. Flammen züngelten empört nach oben, Verwünschungen wurden ihr nachgeschleudert und einmal mehr schien ihr Kleid zu verbrennen.

Sie wandte sich hilfesuchend zum jenseitigen Ufer um, wo erneut ein helles Licht aufgetaucht war, das jedoch bei Weitem nicht so grell und schmerzhaft war wie das zuvor. Plötzlich sah sie inmitten des Lichtes wieder den hell gekleideten bärtigen Mann mit erhobenen Händen, diesmal viel deutlicher. Konnte das Jesus sein, der gekommen war, sie zu erretten? Er schien etwas zu ihr zu sagen, aber Margret konnte ihn nicht verstehen. Scheinbar auf seinen Befehl hin erschien von oben ein anderes bläuliches Licht, aus dem heraus ein sehr großer, kräftiger Engel Gestalt annahm. Dieser, den Margret ohne zu wissen, warum, als Uriel erkannte, löschte mit einer schnellen Handbewegung die Flammen. Auch das Totenheer zerfiel geräuschvoll zu Staub, und Margret fühlte sich wie von unsichtbarer Hand aufgehoben und sicher aufs andere Ufer gesetzt. Sie stand nun unmittelbar vor dem, den sie für Jesus hielt, allerdings war sie zu sprachlos, um auch nur einen Laut von sich zu geben.

„Bedenke nun, Pilgerin, wie du fürderhin dein Leben führen sollst!“, rief eine hohl klingende, allumfassende Stimme von weit oben herab – es schien die des Engel-Falters zu sein.

Die magische Höhle löste sich plötzlich wie in einem Erdbeben voller Lichtblitze auf, verwandelte sich in eine Art schaukelndes Zelt, während dieser Jesus weiterhin an ihrer Seite saß und ihre Wunden versorgte. Bevor sie ihn jedoch fragen konnte, was dies alles zu bedeuten hatte, verlor sie wieder das Bewusstsein.

***

Der Geleitzug um den Medicus kam aufgrund des Winterwetters nur langsam in Richtung Tyrus voran. Die Reise, die sonst maximal eine Woche gedauert hätte, wurde immer wieder dadurch verlangsamt, dass die Wagen im Matsch stecken blieben und man des Öfteren längere Zwischenstopps einlegen musste, um Verletzte und Kranke zu behandeln oder sie gegebenenfalls für eine Behandlung mit nach Tyrus zu nehmen. Die Menschen, die entlang und in der Nähe der Küstenstraße wohnten, kannten Jonas bereits, denn der Medicus reiste auf seiner Mission mehrmals im Jahr von Tyrus süd- oder nordwärts. Viele erwarteten sein Kommen bereits sehnsüchtig, auch wenn er für manchen Schwerkranken zu spät kam. Jonas behandelte sämtliche Kranken gleichermaßen, ihm war es egal, ob es Christen waren, die seine Hilfe erbaten, oder aber Muslime oder Juden. Alle waren Menschen, und er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, jedem von ihnen so gut er konnte zu helfen – so und nicht anders hatte er es von seinen Meistern gelernt.

Als der Zug sich langsam einem kleinen Gehöft in der Gegend von Jaffa näherte, war schon von Weitem die korpulente Bäuerin zu sehen, die den Medicus inmitten vieler kleiner und größerer Kinder erwartete. Allerdings nicht, weil eines ihrer Kinder krank war – diesmal ging es um etwas anderes. Als Jonas sein Pferd vor ihr zügelte, sie begrüßte und um Wasser und Wegzehrung bat, sagte sie nicht eben freundlich: „Wenn Ihr dafür bezahlt!“

Jonas musste sich beherrschen, denn er kannte die Frau, eine einheimische Christin, seit Langem und wusste, dass ihr Hof nie unter Mangel zu leiden hatte. Zudem hatte er ihrer Familie schon mehr als einmal geholfen – obwohl sie ihm noch nie sympathisch gewesen war. Kommentarlos nahm er einige wenige Goldmünzen aus seiner Tasche und warf sie ihr zu.

Die Frau fing die Münzen geschickt auf und steckte sie ein. Im nächsten Moment nahm sie eines der Kinder hoch, einen schmalen, dunkelhaarigen Buben.

„Den hier könnt Ihr mitnehmen!“, sagte sie barsch.

Jonas stutzte, sah genauer hin und erkannte, dass der Knabe eindeutig kein eigenes Kind der Bauersfrau war, sondern wohl ein Findelkind sein musste. Während die anderen Kinder wohlgenährt lärmten und umhertobten, sah ihn der Kleine nur stumm und ängstlich an. „Erzählt mir nicht, Ihr habt hier nicht genug zu essen für einen Mund mehr“, sagte er erbost.

Die Frau zuckte mit den Schultern und reichte Jonas den Buben aufs Pferd, ob beide das nun wollten oder nicht. Dann drehte sie sich um, bellte einer Dienerin Anweisungen zu und ließ für Jonas und seine Begleiter einen kargen Imbiss herrichten.

Jonas wendete sein Pferd, um den Jungen, der vielleicht zwei Jahre alt sein mochte, auf den Wagen zu setzen.

„Woher kommt das Kind denn? Ist es ein christliches oder sarazenisches Kind?“, wollte Fiamma, die die Verhandlungen verfolgt hatte, wissen.

„Das weiß ich ebenso wenig wie Ihr“, entgegnete Jonas schroff. „Was macht das für einen Unterschied?“

„Oder etwa ein jüdisches?“, ließ Fiamma nicht locker.

„Seht selbst nach, wenn es Euch so wichtig ist“, erwiderte er gereizt. „Ich dachte, dass Ihr Euch von Herzen ein Kind wünscht? Nehmt das inzwischen, bis Euch Gott ein eigenes schenkt!“

Er reichte Fiamma den Buben hinüber und ritt wortlos davon, um zusammen mit Said und den anderen die Pferde zu tränken. Fiamma nahm den Kleinen etwas zögerlich auf den Schoß und wusste nicht recht, wie sie sich mit ihm anfreunden sollte. Doch der war offensichtlich froh, von der Bäuerin wegzukommen. Er berührte seine neue Amme vorsichtig am Arm und sah sie mit seinen schwarzen Augen unverwandt an. Als Fiamma ihn schließlich anlächelte, wagte er jedoch nicht, diese Geste zu erwidern – zu tief saßen das Misstrauen und die Angst, trotz vorgeschobener Freundlichkeit schlecht behandelt zu werden. Es sollte noch viele Tage dauern, bis er schließlich zu seinen neuen Beschützern Vertrauen fassen sollte.

Die Frau im grünen Mantel

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