Читать книгу Hisian - Land der Sehnsucht - Andrea Zaia - Страница 10
Der Unfalltraum
ОглавлениеDas Beten hatte Amelie von ihrer Mutter gelernt und sie fand es wunderschön. Wenn sie abends vor dem Einschlafen betete, fühlte sie sich noch sicherer unter ihrer Bettdecke. Sie hatte das Gefühl, das etwas Warmes, Weiches sie einhüllte und behütete. So, als wäre jemand da, der mit ihr schmuste und sie tröstlich wärmte. In diesen Momenten fühlte sie sich aufgehoben in ihrem Bett.
Neulich, das hatte Amelie niemand erzählt, träumte sie drei Nächte hintereinander denselben Traum. Einfach schrecklich! Nach diesem Traum konnte sie sich nur beruhigen, weil sie dem Herrgott und Heike anvertraute, was sie geträumt hatte. Heike hatte scheinbar aufmerksam zugehört als sie ihr erzählte, dass sie im Traum in einem alten Auto gesessen hatte. Das Auto war so ähnlich geformt wie das Auto ihres Vaters. Es wirkte nur größer. Das Schreckliche an dem Traum war, dass sie hinter dem Steuer saß und losfuhr. Hinter dem Lenkrad sitzend raste sie eine abschüssige Straße hinunter. Am Ende dieser Straße rückte ein großer Baum in ihr Blickfeld. Der Baum trug farbige Blätter und seine Krone erstreckte sich über die ganze Breite der Straße. Amelie bekam das Lenkrad nicht in den Griff. Sie konnte nicht anders. Unaufhörlich musste sie auf den großen Baum zu fahren. Sie bemühte sich nach Kräften das Lenkrad herum zu reißen, doch das Auto raste immer weiter auf den Baum zu. Bis es ihr schwarz vor Augen wurde und dann war nichts mehr, nur noch Schwärze und ein Fall ins unendliche Dunkel. So endete der Traum jedes Mal.
Amelie wachte danach stets schweißgebadet auf. Schrecklich diese Schwärze. Was dieser Traum bedeuten mochte? Heike konnte ihr diese Frage nicht beantworten. Amelie war sehr froh, dass sie Heike davon erzählen konnte. Allein wurde sie mit diesem schrecklichen Traum nicht fertig.
In einer der Nächte, die den schrecklichen Traumnächten folgten, kuschelte Amelie sich ganz fest unter ihre Decke. Sie hatte den Herrgott um Verschonung von dem Traum gebeten. Ganz vorsichtig hatte sie außerdem um eine Erklärung für die Träume erbeten. Ob sich ihr Wunsch erfüllen würde? Amelie wusste aus Erfahrung, dass Gebete nicht immer erhört wurden.
Sie schlief ein. Als sie die Augen aufschlug, weil sie eine Berührung spürte, befand sie sich in einer Höhle, die wie eine Kirche auf sie wirkte. Die Höhle wurde von tausenden Kerzen erleuchtet. Es roch so angenehm, dass Amelie sich unwillkürlich wohl fühlen musste. Der Geruch berührte ihr Herz. In dem Moment als sie das begriff, wurde ihr klar, dieser Geruch hatte sie so stark berührt, dass sie erwachte. Wo war sie wieder einmal hingekommen? Amelie schaute sich erstaunt um und stellte fest, dass sie auf einem Hocker saß, der für sie viel zu groß war. Sie stützte ihre Arme auf wunderbar verzierte Lehnen. Für Amelie war der Hocker ein wenig unbequem. Für wen ist dieser Hocker gedacht? Sie schaute sich um. Konnte jedoch niemanden entdecken.Unter ihrem Po fühlte sie ein wunderbar weiches Kissen, das jedem König zur Ehre gereicht hätte. In diesem von tausend Kerzen erleuchteten Saal konnte sich ein Menschenkind schon dieser Einbildung hingeben. Amelie war für so eine Einbildung noch empfänglich, denn ihr Herz reagierte auf die Lichter, den Geruch und die Weite des Raumes. Ihre Gedanken wollten gerade um den wundervollen Glanz kreisen, als die Duse heranschwebte. Ihr Lächeln holte Amelie zurück in die Welt, in der sie wieder einmal zu Besuch war. Sie war in Hisian, das hätte sie sich auch gleich denken können.
Die Duse wirkte ernst und zurückhaltend. Sie sah so verändert aus, dass Amelie Zweifel kamen, ob die Frau wirklich die Duse sein konnte.
So feierlich hatte sie sie überhaupt nicht in Erinnerung.
Über ihrem Gewand, das ohnehin schon beeindruckend war, trug sie heute einen dunkelgrauen Mantel mit goldenem Besatz. Warum war sie denn so feierlich gekleidet? Was war heute mit der Duse los? Sie sah so anders aus und das hatte Amelie bis jetzt noch nicht bemerkt. Hinter der Duse schwebte noch eine weitere Frau, die der Duse unheimlich ähnlich sah.
Gerade wollte Amelie neugierig näher schweben, als sie die Duse sagen hörte: „Wir begrüßen dich in Roonia, liebe Amelie. Es ist an der Zeit, dass du eine weitere Lektion bekommst. Deshalb habe ich meine Schwester mitgebracht. Die Aufgabe, die wir heute haben, ist kompliziert und wir werden dich gemeinsam in das Reich meiner Schwester einführen. Ihr Name ist Guse. Sie freut sich sehr, dass du in ihr Reich, das Roonia heißt, gekommen bist.“ Amelie konnte ihre Augen nicht von der Frau, die nun neben die Duse schwebte, lassen. Was für eine beeindruckende Erscheinung.
Die Guse trug einen dunkleren Mantel als die Duse und ihr Gesicht wirkte älter. Seltsam, die Guse hatte überhaupt keine Falten in ihrem Gesicht und sah doch älter aus als die Duse. Amelie jedenfalls fühlte, dass die Guse die ältere der beiden sein musste. Ihr Mantel wurde von einem goldenen Gürtel gehalten. Der Gürtel fehlte am Mantel der Duse. Beim Anblick dieses Gewandes und des Gürtels war für Amelie klar:
Diese Frau trägt große Verantwortung.
Oder sah sie das Verantwortungsbewusstsein im würdigen Gesicht der Guse? Diese Gedanken zu Ende zu denken war müßig. Lieber schaute sie sich die Frau genauer an. Zuerst inspizierte sie also den Gürtel mit seinen Eigenheiten genauer. Er schien sehr wertvoll zu sein. An ihm hingen mehrere Schmuckstücke. So etwas hatte Amelie noch nie gesehen.
Zuerst fiel ihr so etwas Ähnliches wie ein Kreuz ins Auge. Ein Kreuz, wie es Amelie kannte war das der Guse jedoch nicht, denn es hatte am oberen Ende einen lustigen Henkel. Wozu die Guse wohl so ein Henkelkreuz brauchte? Diese Frage schwirrte Amelie während der Betrachtung der Frau neben der Duse durch den Kopf.
Die Guse hatte Amelie geduldig zu Ende denken lassen und erhob nun ihre weiche, feste Stimme.
„Ich begrüße dich im Reich der Roo. Hier werden wir, meine Schwester Duse und ich dir alles zeigen was du wissen darfst.“
Amelies Interesse war sofort geweckt. Sie musste einfach fragen: „Das Reich der Roo, was heißt denn das?“
„Das ist der Ort zu dem die Seelen der Menschen reisen, wenn sie den Körper verlassen. Mein Reich ist interessant und manchmal auch erschreckend für ein Mädchen wie dich. Du hast um Aufklärung gebeten, deshalb werde ich dich in mein Reich einführen. Damit du dich sicher und geborgen fühlst, wird die Duse uns begleiten. Natürlich freue ich mich auch sehr, dass mich meine Schwester Duse mit dir besucht.“
Amelie brannte schon die ganze Zeit eine Frage auf dem Herzen. Das bemerkten die Duse und die Guse natürlich und schauten deshalb fragend zu ihr herüber. So konnte sie ihre Frage ohne beklemmendes Gefühl loswerden.
„Liebe Guse hast du auch ein kleines Mädchen wie mich, das dich immer wieder in Hisian besucht?“
„Ich habe eine große Aufgabe im Reich Roonia. Die Verantwortung für die Roo ruht auf meinen Schultern. Ich habe kein Menschenkind, das mich besucht. Dazu habe ich überhaupt keine Zeit. Denn ich erkläre allen Wesen, die ins Land Hisian kommen, mein Roonia. Außerdem stehe ich noch anderen Bereichen in Roonia, die Wilajate genannt werden, vor. Damit habe ich genug Arbeit. Du wirst sicher einige Wilajate kennen lernen. Ich bin gespannt, wie dir mein Reich gefällt.“
Die Duse ergriff Amelies Hand.
„Lass uns weitergehen, damit wir nicht zu viel Zeit verlieren.“
Natürlich gingen sie nicht, sie schwebten, wie überall in Hisian.
Amelie schaute sich um und sah, dass die große Höhle nach hinten immer enger wurde. Zuletzt mündete sie in einen Gang. Durch diesen Gang erreichten sie einen Raum, in dem viele kleine Roo spielten.
Die kleinen Roo hatten die Spielzeuge, die ihr Herz begehrte. Amelie spürte überdeutlich das Begehren der kleinen Roo in der Luft. In diesem Raum konnten sie sicher mit Freude ihrem Spiel frönen.
Amelie war vollkommen begeistert. Die kleinen Roo konnten aus einer Vielfalt wählen, die es in ihrem Kindergarten nicht gab. Siel entdeckte auch Spielzeuge, die sie noch nie gesehen hatte. Als sie genauer hinschaute konnte sie sternen- und mondähnliche Spielzeuge entdecken. Wozu die kleinen Roo so etwas brauchten, verstand sie nicht.
In einer Ecke spielte eine kleine Roo mit einem großen Flugzeug.
Sie nahm das Flugzeug einfach auseinander!
Durfte das denn sein?
Amelie war fürchterlich erschrocken, denn sie dachte an Franz. Wie gern nahm er sein Spielzeug auseinander und bekam dafür immer Schelte. Hier durfte die kleine Roo einfach das tolle Flugzeug auseinandernehmen und das schien in Ordnung zu sein.
Woran lag das denn?
Die Guse hörte, was Amelie auf dem Herzen hatte und beantwortete die Fragen des Mädchens.
„Siehst du, die kleinen Roo in diesem Raum werden auf ihr neues Leben vorbereitet. Schau dort in der Ecke spielt eine mit Puppen. Sie wird einmal einem Menschen ihre Roo geben, der Kinder betreut. Und bis es so weit ist, kann die Roo schon einmal tüchtig üben.
Die kleine Roo mit dem großen Flugzeug wird einmal Flugzeuge bauen, deshalb darf sie schon einmal schauen, was alles zu einem Flugzeug gehört. Als Ingenieur wird diese Roo große Erfindungen machen. Sie wird in Roonia gründlich auf diese Zeit vorbereitet. Im Moment ist die Betreuerin für diesen Raum nicht hier. Wenn alles in Ordnung ist, gönnt sie sich hin und wieder eine Pause. Siehst du da oben, die Vualo? Sie betreuen die Roo ohne, dass diese es bemerken. Sie schauen, dass keine Unfälle passieren und die Roo auch die richtigen Dinge lernen.“
Hoch über den kleinen Roo, das hatte Amelie beim Eintreten in den Raum nicht bemerkt, schwebten Wesen mit Körpern, die aussahen wie Schleier. Sie wirkten auf Amelie so ähnlich wie kleine Nebelwolken und schienen die Roo einzuhüllen. Eine Atmosphäre von liebevoller Sicherheit herrschte dadurch im Raum. Die Vualo strahlten, das spürte Amelie genau, eine so unwahrscheinliche Geborgenheit aus, dass sie sich am liebsten zu den Roo gesellt hätte. Die Vualo könnten die Kindergärtnerinnen zu Hause auch gut als Unterstützung gebrauchen.
Amelie war voll bei der Sache. Die Roo an diesem Ort hatten es doch gut. Warum sie wieder auf die Erde mussten, auf der man ständig etwas falsch machen konnte, das verstand sie nicht.
Ihr platze deshalb die Frage heraus: „Kommen alle Roo in den Spielraum zur Vorbereitung auf das Leben?“
„Nein Amelie, hier werden nur die Roo vorbereitet, die in der Welt eine wichtige Duma übernehmen sollen. Die anderen werden nicht vorbereitet. Sie dürfen sich auf der Erde einfach ausprobieren. Diese Roo dürfen sich ihr Spielzeug selbst aussuchen und sind deshalb in einem anderen Raum untergebracht. Dort geht es lebhafter zu. Deshalb werden dort auch mehr Vualo gebraucht, um Reibereien zu vermeiden. Diesen Ort besuchen wir heute nicht. Der Besuch dort würde dich nur verwirren.
In diesem Raum Roonias geht es deshalb sehr ruhig und konzentriert zu, weil die jungen Roo wissen, dass ihre Duma einmal wichtig sein wird. Das solltest du dir gut merken, denn du hast auf der Erde auch einmal eine wichtige Duma zu erfüllen.“
„War ich auch schon einmal hier?“ Amelie konnte nicht verhindern, dass diese Frage über ihre Lippen sprudelte.
„Könnte das sein?“ Die Duse schaute Amelie tief in die Augen und in diesem Augenblick fiel es wie ein Blitzstrahl in ihr Herz. Sie war natürlich schon hier gewesen. Wie hätte sie sonst sofort ein so tiefes Sicherheitsgefühl beim Anblick der Vualo spüren können?
Habe ich auch so eine Duma bekommen, wie die Roo hier?
Amelies Augen standen voller Tränen als sie diese Frage stellte.
Was war nur mit ihr los?
Was rührte sie in diesem Augenblick zu Tränen?
Die Guse schwebte direkt vor das Mädchen und nestelte dabei an ihrem Gürtel herum. Sie löste das Henkelkreuz von ihrem Gürtel und hielt es direkt an Amelies Stirn. Ein Gefühl, das Amelie nicht kannte durchströmte ihren Körper. Sie war augenblicklich zurückversetzt in die Zeit als sie selbst in diesem Raum gewesen war. Nun war ihr klar mit welchen Spielzeugen sie hier gespielt hatte. Ein Frieden zog in ihr Herz ein, den sie noch nie gefühlt hatte. Sie wurde durch die Berührung mit dem Henkelkreuz gestärkt und ihre Verbindung zu Roonia wurde erneuert. Das war ihr in den wenigen Sekunden, als die Guse das Henkelkreuz an ihre Stirn hielt, sonnenklar.
„Was für ein Wunderwerkzeug Guse – ich habe keine Fragen mehr.“
Amelie brauchte keine Fragen, die sie selbst betrafen mehr zu stellen. Das Henkelkreuz hatte sie Roonia als Hort für ihre Roo erkennen lassen. Die Verbindung zum Reich der Guse war in wenigen Sekunden wieder hergestellt worden.
„Mein Salaba stellt für alle Roo die Verbindung nach Roonia her. Es ist das Zeichen meiner Macht und Verantwortung. Du bist nun verbunden mit dem Teil von dir, der das Wilajat Mandalisi bereits kennt.“ Die Guse befestigte das Salaba wieder an ihrem Gürtel und schwebte erklärend weiter.
„Nun müssen wir weiter, denn im nächsten Raum finden wir die Erklärung für deine schrecklichen Träume.“ Amelie und die Duse folgten der Guse. Jede für sich in ihre Gedanken versunken. Nur gut, dass Hisian ein wahres Wunderland war, denn diese Gedanken blieben verborgen.
Im nächsten Raum war es taghell. Es fühlte sich an, als stünde Amelie unversehens mitten im Leben. Überall wo sie hinschaute war geschäftiges Treiben. Amelie fühlte sich mitten in diesem Geschehen, als liefen hunderte von Filmen gleichzeitig ab. In diesem Gewusel konnte sie kaum erkennen, wer gerade was tat.
Hier leben viele Roo. Für Amelie sahen sie genauso aus wie jeder Mensch auf der Erde. Sie waren überhaupt nicht von den Nachbarn zu Hause in ihrem Dorf zu unterscheiden. Seltsam, seltsam, wer konnte ihr erklären was das alles zu bedeuten hatte?
Amelies Gedanken aufgreifend erklärte die Guse: „Dieser Raum gehört zum Wilajat Anjali. Hier leben Roo, die durch einen Unfall viel zu schnell ihren Körper verlassen mussten ihr Leben einfach weiter. Sie sind so schnell gestorben, dass sie nicht verstanden, dass sie ihren Körper verloren haben. Sie irrten immer wieder auf den gleichen Wegen herum und redeten mit ihren Angehörigen. Die Angehörigen konnten sie aber nicht mehr hören.“
„Wie schrecklich muss das sein?“ Amelie war entsetzt.
„So schrecklich wie es sich anhört, ist es nicht. Die Roo müssen sich langsam daran gewöhnen, dass sie nicht mehr auf der Erde sind. Es wäre ein Schock für sie, wenn sie von einer Sekunde zur anderen begreifen müssten, dass ihr irdisches Leben zu Ende ist.
Sie dürfen bei uns noch eine Weile in ihrem Leben bleiben, bis sie dann begreifen, dass sie nun freier sind als in ihrem menschlichen Körper.“
Amelies Mund blieb vor Staunen offen stehen.
„Was heißt das, freier sein als im menschlichen Körper?“
Amelie war völlig schleierhaft, wie das funktionieren sollte. Sie war jetzt auch ein Mensch. Wie konnte sie sich vorstellen, dass es eine Freiheit gab, die die menschliche Vorstellungskraft übersteigt?
„Das musst du dir so vorstellen“, die Guse mischte sich ein. Sie wollte keine Zeit verlieren. Deshalb erklärte sie selbst Amelie was in dem Raum geschah, den sie gerade betreten hatten.
„Die Roo, die durch einen Unfall hierher kommen, haben von einer Minute zur anderen ihren Körper verlassen. Das geht so schnell, dass die Roo es einfach nicht begreifen kann. Eine Roo, die nicht mehr im menschlichen Körper wohnt, hat viel mehr Freiheit zu reisen als ein Mensch. Deshalb können diese Roo plötzlich überall dabei sein. Sogar bei ihrer eigenen Beerdigung. Sie reden mit den Angehörigen, versuchen ihnen klar zu machen, dass sie überhaupt nicht gestorben sind. Oder sie erzählen ihren Lieben, dass es ihnen gut geht. Das heißt, so eine Roo muss zuerst einmal begreifen, dass sie durch den Tod die Freiheit erlangt hat. Eine Roo, die so plötzlich in Anjali angekommen ist, findet sich am Anfang einfach nicht zurecht. In dieser Zeit denken die Roo, sie müssen ihr Leben weiterleben und sich ihren Angehörigen erklären.
Dabei reisen sie, nachdem sie den menschlichen Körper verlassen haben so schnell von einem Angehörigen zum anderen, dass sie alle wichtigen Ereignisse im Zusammenhang mit sich selbst miterleben können. Es dauert einige Zeit, bis sie das begriffen haben. Verstehst du Amelie, so eine Freiheit erreicht ein Mensch nie. Wenn die Roo dies begriffen haben, dürfen sie noch für eine Weile auf die Erde zurückkehren und bei ihren Lieben zu Hause nach dem Rechten sehen. Ganz bewusst erleben sie dann mit was in ihren Familien geschieht. Bis sie bereit sind in Roonia eine neue Duma anzunehmen. Sie werden dann das Wilajat Anjali verlassen, denn jeder der bei uns angekommen ist, setzt seine Lebensreise irgendwann fort. Meine Vualo und ich sind dafür verantwortlich, dass jeder seinen Platz findet.“
Als die Guse erklärt hatte, schaute Amelie zu den vielen schwirrenden schleierähnlichen Geschöpfen hinauf. Sie flogen nicht, sie segelten, lautlos wie ein Luftballon. Es sah eigenartig aus, wenn sich über ihren Köpfen die Wesen begegneten und sich gegenseitig auswichen. Amelie hätte stundenlang stehen und zuschauen können. Dieses Roonia gefiel ihr gut. Es wirkte so geordnet und friedlich.
„Ja, hier geht es friedlich und ruhig zu. Ganz anders als auf der Erde. In meinem Reich hat alles seine Ordnung und jeder findet seinen guten Platz. Das ist auf der Erde nicht immer so.“
Der Gesichtsausdruck der Guse wandelte sich. Sie wirkte sehr ernst als sie erklärte: „Nun will ich dir sagen, warum du in den letzten Wochen diese schrecklichen Träume haben musstest. Manchmal kommen die Roo nach einem Unfall auf die Erde zurück. Sie dürfen eine Nachricht an die Familie zu Hause senden. Weil sie sich vor ihrem Tod nicht mitteilen konnten, suchen sie in der Familie eine Roo, die bereit ist, ihre Erklärung anzunehmen. Dieser Roo teilen sie mit was ihnen geschehen ist. In dem Traum, den du in den vergangenen Nächten träumtest, war also eine Mitteilung versteckt. Diese Mitteilung für dich und deine Familie soll heißen:
Dein Großvater fuhr beim Militär ein Auto. Er hat mit dir gemeinsam noch einmal seinen tödlichen Unfall erlebt. So konnte er selbst begreifen, dass sein Leben nun wirklich ausgehaucht ist und er in Roonia einen neuen Platz finden wird.
Außerdem war in deinem Traum noch eine Information für dich enthalten. Wenn die Zeit für dich gekommen ist, wirst du wissen, dass dein Großvater bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.
Also, Amelie was hast du nun bei uns in Roonia gelernt?“
Die Guse stellte genau solche Fragen wie die Duse. Da gab es keinen Unterschied.
Amelie musste kurz überlegen und konnte dann eine Antwort finden.
„Mein furchtbarer Traum mit der tödlichen Autofahrt enthielt eine Botschaft von meinem Großvater und ich durfte ihm helfen. Er hat nun begriffen, dass er in Roonia angekommen ist. Eigentlich muss mir das überhaupt keine Angst machen! Für meinen Großvater ist das gut!“
„Prima“, freute sich die Duse. „Du bist doch ein kluges Kind. Wir haben wirklich Glück mit dir. Ich freue mich, dass du die Botschaft so aufnimmst und deinem Großvater gern geholfen hast. Manche Menschenkinder sind böse auf die armen Roo denen sie helfen. So wird es für meine Schwester und ihre Helfer schwer den Roo ihren Platz zuzuordnen. Dein Großvater wird nun ein guter Roox für dich. Er wird dich manchmal in deinem Leben begleiten. Du wirst es spüren, wenn du plötzlich Mut für zwei hast. Dann ist er bei dir. Die Hilfe aus Roonia ist mehr wert als alle Menschen denken. Wer Unterstützung von hier erhält, wird mit viel Mut ausgestattet sein.“
„Au fein dann bin ich von nun an manchmal doppelt so mutig – nein noch mehr – denn der Großvater war erwachsen – dann bin ich dreimal so mutig wie jetzt. Das wird mir sicher helfen.“
Die Duse nahm Amelies Hand und führte sie in den kerzenbeleuchteten Saal zurück. Die Guse begleitete sie bis hierher und verabschiedete sich dann von Amelie. Sie strich ihr über die Wange und lächelte.
„Ich segne dich mein Kind. So ein verständiges und liebes Kind habe ich lange nicht mehr durch Roonia geführt. Wir werden uns bestimmt noch einmal wiedersehen, wenn es gilt die nächste Lektion über die Roo zu lernen.
Als sie dies gesagt hatte, verschwand sie so schnell sie erschienen war.
Amelie fühlte die Berührung der Guse noch wie einen Hauch auf ihrer Wange. Das Gefühl, das diese Berührung auslöste und die Erinnerung an das Salaba blieb ihr von diesem Besuch im Reich der Frau mit der großen Verantwortung. Amelie wusste nun, dass sie und alle Menschen, mit Roonia verbunden waren.
Die Duse sah Amelie lächelnd an und nahm ihr den Mantel ab. Er war genauso grau, wie der Mantel der Duse. Seltsam, Amelie hatte ihn nicht bemerkt. Wann hatte die Duse ihr den Mantel angezogen?
„Den Mantel, mein liebes Kind, bekamst du auf dem Weg hierher. Niemand darf ohne einen solchen Mantel in das Reich meiner Schwester Guse eintauchen. Die Roo würden sich erschrecken, wenn wir ohne diese Mäntel unter ihnen wandeln würden.“
Das erste Mal seit Amelie Hisian besuchte, küsste die Duse sie auf die Stirn und strich ihr sanft über den Scheitel.
„Wenn du jetzt in deine Welt zurückkehrst, wirst du dich nicht an diese Reise nach Hisian erinnern. Du wirst jedoch genau wissen, dass die Roo, die den menschlichen Körper verlassen haben, gut aufgehoben sind. “
Die Duse hatte das letzte Wort noch nicht ausgesprochen, da war Amelie schon in einen erholsamen und ruhigen Schlaf hinüber geglitten.
Am nächsten Morgen war sie frisch und gut ausgeruht. Sie erfreute sich an der Sonne, die ihr an der Nase kitzelte.
Warum freute sie sich so sehr an dem Geruch der frischen Blumen? Amelie konnte sich nicht erklären, wieso alles um sie herum plötzlich in einem völlig anderen Licht zu erstrahlen schien.
Sie hatte die Träume der letzten drei Nächte nicht vergessen. Doch sie erinnerte sich nur noch schemenhaft daran. Ihre Gebete schienen erhört worden zu sein. Die Träume hatten für sie ihren Schrecken verloren. Sie spürte tief in sich eine Gewissheit, die ihr ermöglichte, diese Träume anzunehmen. Deshalb erzählte sie darüber niemandem etwas. Es blieb ihr Geheimnis. Woher sie diese Sicherheit nahm, war ihr zwar schleierhaft, aber das Wissen ganz tief in ihr würde niemand überzeugen. So behielt sie ihr emotionales Wissen für sich. Sie konnte ja nicht nicht beweisen, dass ihre Gefühle richtig waren.
Trotzdem fühlte sich Amelie an diesem Morgen im Sonnenschein in ihrem warmen weichen Bett wieder einmal vollkommen sicher.
Ihr Gefühl war richtig!
Die Gefühle waren ihre Welt und in dieser Welt wollte Amelie verhaftet bleiben. Mit ihren Gefühlen war sie behütet und aufgehoben in der Welt. Sie schöpfte Mut aus ihnen und konnte in allen Lebenslagen bestehen. An diesem Morgen in ihrem Bett war sich Amelie ganz sicher, dass es so war und immer so sein würde.