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Der Urgroßvater

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Amelies Eltern hatten eine kleine Landwirtschaft. Sie mussten viel auf ihren Feldern arbeiten. So hatten sie wenig Zeit für ihre Kinder Franz und Amelie. Eines Tages mussten Amelies Oma und Mutter im Nachbardorf Heu wenden und Amelie hatte noch keinen Mittagsschlaf gehalten. So nahmen sie das Kind mit in das Nachbardorf in dem ihr Urgroßvater wohnte.

Amelie sollte dort in seinem großen, alten Haus Mittagsschlaf halten. Vor dem Urgroßvater hatte Amelie große Angst. Er sah so Furcht erregend aus mit seinem strubbeligen Bart, der Brille und der Knollennase. Das Schlimmste jedoch für Amelie war: Er hatte vorn nur noch zwei Zähne! Das sah so erschreckend aus, dass sie sich so sehr fürchtete, dass sie lieber auf der Wiese geschlafen hätte als beim Urgroßvater im Haus. Die Furcht wurde noch größer als Amelie bemerkte, dass sie zum Schlafen ganz allein in eine dämmrige Kammer eingesperrt wurde. In der Kammer stand ein großes Bett, viel zu groß für das kleine Mädchen. Das Bettzeug fühlte sich kratzig und unangenehm an.

Sie würde trotzdem in diesem düsteren Zimmer aushalten müssen. Die Mutter war in ihrer Nähe. Das beruhigte sie etwas. Außerdem hatte Amelie ihre Lieblingspuppe Heike mitgebracht. Heike war in diesem düsteren, einsamen Gefängnis ihr einziger Trost. An ihr konnte sie sich festhalten, wenn die Angst zu groß wurde.

An der Wand gegenüber dem Bett stand ein Schrank. Von dessen Tür blickten Amelie eigenartige Tiere an. War das nicht ein Drache? Schrecklich, gerade wollte Amelie nach der Mutter rufen. Da hörte sie vor der Zimmertür die Stimmen des Urgroßvaters und der Mutter.

„Amelie wird nun zwei Stunden schlafen. Ich gehe jetzt auf das Feld.“

Oh Schreck, die Mutter ging zum Feld und ließ sie mit diesem schrecklichen Alten ganz allein. Was sollte Amelie tun? Sie war mit Heike ganz allein gefangen in dem dunklen Zimmer mit diesem schrecklichen Urgroßvater draußen vor der Tür. Diese Gedanken schienen ihr schier das Herz zusammenzudrücken. Meine Güte, wie furchtbar. Nach wem sollte sie rufen, wenn sie unbedingt einmal musste? Wer würde dann kommen?

Mit Sicherheit der Urgroßvater!

Schrecklich! An Schlaf war nun überhaupt nicht mehr zu denken. Die Gegenstände in der düsteren Kammer wurden allesamt zu Schreckgespenstern. In der Ecke entdeckte sie einen Ständer mit einer Schüssel oben drin. So einen Ständer hatte Amelie noch nie gesehen. So etwas Unheimliches. Wozu die Schüssel wohl gebraucht wurde? Amelie schaute hinüber und die Schatten an der Wand ängstigten sie noch mehr. Sie drückte Heike fest an sich. Die raue Bettwäsche trug dazu bei, dass sie sich immer unwohler und bedrohter fühlte. Sie schien immer kratziger zu werden. Amelie konnte es kaum noch in dem alten, breiten Bett aushalten. Auf der Kommode gegenüber stand eine großbauchige Flasche, die wie ein Ungeheuer auf das Mädchen wirkte. Im Spiegel an der Wand sah Amelie zu allem Überfluss auch noch einen Schatten.

Schaurig. Amelie ängstigte sich so sehr, dass sie schließlich unter dem Bett Schutz suchte. Dort in der hintersten, dunkelsten Ecke fühlte sie sich mit Heike im Arm noch am sichersten. Der Staub unter ihrem kurzen Unterhemd und an ihren Knien war nicht so schrecklich, wie diese Ungetüme in der düsteren Kammer.

Das Gefühl von Sicherheit, das sie urplötzlich verspürte, kam wohl von dieser wohligen, weichen Berührung an ihrer Wange. War das ihre Lieblingspuppe? Ihr schien, das Gefühl kam von ganz tief innen. Wo sie in diesem Moment überhaupt dieses Sicherheitsgefühl her nahm, konnte Amelie sich nicht erklären. Sie genoss jedenfalls den Eindruck, unter dem Bett ein wenig sicherer zu sein und wartete ab. Hier huschten zwar auch Schatten über den Boden, aber Amelie war sich sicher, alle diese Ungetüme in der Kammer und vor allen Dingen der Urgroßvater würden sie hier unter dem schützenden Bett nicht erreichen. Sie würden ihr nichts anhaben können.

Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür zum der dunklen Kammer. Ganz leise betrat jemand den Raum.

Amelie kroch noch weiter unter das Bett, damit sie niemand finden konnte. Wirklich niemand!

Der Urgroßvater hatte die Kammer betreten, er wollte nach ihr schauen. Er hatte, mit der Verantwortung für das Kind, in seiner Küche keine Ruhe gefunden.

Als er das Bett in der Kammer leer vorfand, erschrak er. Wo konnte die Kleine nur sein?

Er suchte im Schrank, unter der Kommode und zuletzt, Amelie hielt die Luft an, unter dem Bett. Als er sie entdeckte, schrie sie laut auf.

In ihrer Angst kroch sie noch weiter nach hinten in die Ecke, wenn das überhaupt noch möglich war. Ganz eng zusammengerollt, verharrte sie dort. Sie hatte es geschafft. Der Urgroßvater konnte sie nicht erreichen. Sie war unerreichbar für ihn in Sicherheit.

In der Eile des Rückzugs jedoch war ihr ein Malheur passiert. Heike blieb ein Stück von ihr entfernt auf dem Boden liegen. Die arme Heike, sie würde sich erkälten. Dieser Gedanke verursachte einen bohrenden Schmerz in Amelies Brust. Aber sie brachte nicht den Mut auf, Heike zu sich heran zu ziehen. Vielleicht hätte sie der Urgroßvater mit der schrecklichen Knollennase dann packen können.

Der Urgroßvater versuchte indessen Amelie zu überreden unter dem Bett hervor zu kommen. Er brachte sogar ein Stück Schokolade aus der Küche herüber. Amelie hätte die Schokolade sehr gern gegessen, doch der Urgroßvater war auch da.

Was sollte sie tun? Wenn sie jetzt nach vorn rutschte, dann könnte sie vielleicht die Schokolade bekommen. Was würde der Urgroßvater dann aber mit ihr tun?

Amelie hörte eine Stimme ganz tief in sich, die ihr sagte:

Geh zum Urgroßvater. Du musst deine Angst überwinden.

Was war denn das? Sie sollte diesem Furcht erregenden Mann vertrauen und aus ihrem Versteck hervor kommen. Nicht auszudenken, zu schrecklich war diese Idee!

Aber, wenn sie nun in ihrer Ecke blieb, fror sie nur noch mehr als jetzt schon. Schlimmer noch, der Urgroßvater könnte Heike einfach mit sich nehmen.

Was sollte sie nur tun? Sie konnte Heike überhaupt nicht mehr beschützen, wenn sie in der Gewalt des Urgroßvaters war.

Amelie fühlte ganz tief in ihrem Herzen, dass sie Heike im Stich ließ. Sie sogar schnöde auf dem kalten Fußboden frieren ließ. Das schlechte Gewissen schüttelte sie ordentlich.

Also nahm sie allen Mut zusammen und sah sich den Urgroßvater ganz genau an. Plötzlich konnte sie sehen, dass seine Augen freundlich schauten und gerade hatte sich ein Lächeln in sein Gesicht geschlichen. Seltsam, so ein Lächeln war ihr noch nie an ihm aufgefallen. Vielleicht hatte die Stimme in ihr Recht. Jemand, der ihr Schokolade anbot und auch noch lächelte, konnte nicht so fürchterlich sein, wie in ihrer wilden Phantasie.

Ob die Phantasie sie täuschte? Phantasie kam nicht aus dem Bauch. Warum sie gerade hier und jetzt an ihren Bauch denken musste, hätte Amelie nicht sagen können. Dieser Gedanke war spontan tief aus ihr heraus gekommen und was tief aus ihr heraus kam, war meistens richtig. Woher wusste sie jetzt eigentlich was richtig war? Die Eltern hatten ihr dazu nichts gesagt. Sie brachten ihr eher bei, was nicht richtig war.

Sollte sie es probieren? Riskieren hervor zu kriechen und mit dem Urgroßvater zu gehen?

Heike lag verloren einen halben Meter vor Amelies Augen. Ob sie auch so eine Angst hatte wie Amelie? Die arme Heike, Amelie hätte sie so gern beschützt. Oder beschützte Heike Amelie? Puppen waren auf ihre Besitzerinnen angewiesen. Heike konnte sich ohne Amelie nicht bewegen. Diese Gedanken bewegten Amelie an ihrem Platz ganz hinten unter dem großen Bett in der schrecklichen, dunklen Kammer beim Urgroßvater. Nach einigen abwägenden Gedanken fasste sie sich ein Herz. Sie war für Heike verantwortlich. Ein Mädchen musste mutig seine Puppe beschützen.

Amelie kroch so durch ihre Gedanken ermutigt langsam und tastend vorwärts. Erst einen Fuß nach vorn. Nach oben schauen. Was macht der Urgroßvater?

Oh, er lächelte immer noch.

Das zweite Bein nach vorn. Sie konnte die Puppe erreichen, packte sie blitzschnell und klemmte sie unter ihren Arm.

Das war geschafft; Heike war in Sicherheit. Was für ein wunderbares Gefühl, die Puppe wieder im Arm zu halten.

Amelie spürte, dass ihre beherzte Tat in ihrem Inneren Ruhe erzeugte. Die größte Angst vor dem schrecklichen Alten war von ihr gewichen. Er hatte gelächelt und wirkte nun nett und freundlich auf sie. Vor so einem Urgroßvater mussten Amelie und Heike keine Angst haben. Amelie redete sich und Heike in Gedanken gut zu. Sie schaute nach vorn. Sollte sie es wagen? Sollte sie sich unter dem Bett hervor wagen? Sie schaute beherzt nach vorn.

Der Urgroßvater lächelte immer noch.

Er wurde überhaupt nicht ungeduldig, wie die Mutter, die oft wenig Zeit für das Kind hatte.

Amelie traute sich noch ein Stück nach vorn zu krabbeln.

Sie schaute erneut nach vorn. - Er lächelte immer noch.

Sie kroch weiter. - Er lächelte noch.

Ob sie auch das letzte Stück noch wagen konnte?

Sie schaute noch einmal vorsichtig in sein Gesicht. In diesem Augenblick lächelte der Urgroßvater breit und hielt ihr die Schokolade hin.

Als Amelie fast schon unter dem Bett hervor schauen konnte, reichte er ihr die Hand. Amelie nahm all ihren Mut zusammen und klemmte Heike noch fester unter ihren Arm. Sie musste die Puppe unbedingt beschützen. War sie nicht schon ein großes Mädchen?

Warum hatte sie vor dem Urgroßvater nur so eine Angst gehabt?

Er wirkte nun, aus der Nähe betrachtet, nicht mehr so schrecklich. Freundliche Augen und ein total runzeliges Gesicht waren doch nicht gefährlich. Komisch, das hatte Amelie bis jetzt überhaupt nicht bemerkt.

Die Schokolade bekam sie, obwohl sie eigentlich nicht artig war. Die Mutter hatte ihr gesagt, sie solle im Bett bleiben. Oh, das würde Schelte geben. Sie war nicht brav im Bett liegen geblieben. Au weiha!

Amelie war normalerweise ein verständiges und artiges Mädchen. Sie wusste, die Eltern hatten viel Arbeit und wenig Zeit für sie und Franz. Unter diesen Umständen war Folgsamkeit ein guter Weg, um gemocht zu werden und keine Scherereien zu bekommen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, unter das Bett zu kriechen. Nicht auszudenken, wenn die Mutter früher zurückgekommen wäre. Amelie war überhaupt nicht artig gewesen. Diese Gedanken verursachten wieder einmal ein mulmiges Gefühl in ihrem Bauch. Was würde nun geschehen? Der Urgroßvater war bestimmt nicht gut auf sie zu sprechen. Amelie konnte nicht weiter denken, denn die Furcht vor der Mutter ersetzte nun die Furcht vor dem Urgroßvater. Sie schaute zu ihm hoch. Er hielt ihre Hand und nahm sie behutsam auf den Arm. Das war auch ganz und gar nicht so schrecklich, wie Amelie es sich vorgestellt hatte. Seine Arme waren zwar etwas knochig und piekten ihr in den Po, aber es war unerwartet angenehm auf seinem Arm und sie hatte von seinem Arm aus eine gute Übersicht über die schreckliche, dunkle Kammer.

Von hier oben konnte sie den Raum gut überblicken. Sie konnte nun erkennen, dass es überhaupt nicht so düster in der Kammer war, wie sie es in ihrer Angst gemeint hatte. Die Sonne schien durch das Fenster. In der Ecke neben dem Fenster stand ein uralter Puppenwagen, in dem eine Puppe lag. Diese Puppe sah völlig anders aus als Heike. Wie eine Dame aus längst vergangener Zeit. Sie hatte lange Haare und trug ein geblümtes Kleid, das ihr bis auf die Schuhe reichte und von Rüschen geziert war. Ihre Schuhe waren aus echtem Leder gefertigt. So eine Puppe hatte Amelie noch nie gesehen. Heikes Schuhe waren aus Plastik und weiß wie die Schuhe der Puppen der anderen Mädchen im Dorf.

Meine Güte, diese Puppe besaß einen Sonnenschirm aus dem gleichen Stoff wie das Rüschenkleid. So etwas Schönes hatte Amelie noch nie gesehen.

Sie vergaß ihre Angst, die Neugier hatte gesiegt. Sie fragte ohne viel nachzudenken: „Wem gehört denn diese wunderschöne Puppe? Darf ich sie anfassen?“

Der Urgroßvater, froh das Kind unter dem Bett hervor gelockt zu haben, freute sich über die Frage.

„Die Puppe gehörte der Schwester deiner Oma, die schon vor langer Zeit gestorben ist.“

„Was ist denn mit ihr geschehen?“, fragte Amelie. Nun waren alle Ängste von ihr gewichen. Es war überhaupt nicht mehr unheimlich in dieser grausigen Kammer. Wie konnte sie nur so etwas denken. Vom Arm des Urgroßvaters aus schien die Welt nicht mehr so kalt und gefährlich zu sein. Amelies Neugier war geweckt. Sie hielt Heike fest im Arm, schaute auf die unwahrscheinlich interessante Puppe und hing an den Lippen des Urgroßvaters, der von der unbekannten Schwester von Amelies Oma erzählte.

„Deine Großtante hatte eine schwere Krankheit und ist mit neun Jahren daran gestorben. Deine Oma war gerade erst geboren.“

Amelie hörte dem Urgroßvater gespannt zu. Sie lauschte für ihr Leben gern Geschichten. Ob nun aus einem Märchenbuch oder von der Familie.

„Wie war denn das? Waren nicht alle in der Familie sehr traurig?“

„Ja, wir waren alle sehr traurig und sind es heute immer noch. Deshalb ist diese Puppe als Erinnerung in der Kammer hier geblieben.“

„Oma hat wohl nicht mit dieser Puppe gespielt?“

„Nein, meine Frau, deine Uroma, wollte das nicht.“

„Warum wollte das denn die Uroma nicht?“

„Sie wurde traurig, wenn sie die Puppe sah und kaufte deshalb deiner Oma lieber eigene Puppen. Die Puppe ist seitdem in dieser Kammer. Ich glaube manchmal hat deine Uroma die Puppe besucht und sich mit ihr an ihre Tochter erinnert. Wie oft sie hier war, weiß selbst ich nicht.“

Amelie sah, dass der Urgroßvater eine Träne im Auge hatte. Deshalb fragte sie schnell.

„Dann hatte Oma auch so schöne Puppen, wie diese?“

„Ja natürlich, damals war noch kein Krieg und wir haben unserer Tochter alle Wünsche von den Augen abgelesen. Sie war unser einziges Kind.“

In den Augen des Urgroßvaters standen plötzlich Tränen. Deshalb beschloss Amelie, später ihre Oma zu fragen.

Der Urgroßvater war traurig. Amelie ließ sich trotzdem durch die vielen Dinge, die sie von seinem Arm aus sehen konnte, ablenken. Ihr Blick wurde von etwas Buntem in einer Ecke der Kammer angezogen.

„Schau mal dort, ist das nicht ein Buch. Oh, bitte lies mir daraus vor!“

Der Urgroßvater war froh, dass er nicht mehr nach dem traurigen Schicksal seiner Tochter gefragt wurde und ging mit Amelie zur Kommode in der Ecke. Dort lagen einige Bilderbücher. Er suchte schnell eines davon aus und ging mit Amelie in die Küche.

Er würde dieses Kind nicht noch einmal allein in der düsteren Kammer lassen. Womöglich kroch sie dann wieder unter das alte breite Bett. Er hätte sie niemals unter diesem Ungetüm hervor holen können. So gelenkig war er einfach nicht mehr.

Wenn ihre Mutter nachher zurückkam, würde er ihr sagen müssen, dass die Kleine leider nicht wieder bei ihm schlafen konnte. Er in seinem Alter wollte diese Verantwortung einfach nicht mehr übernehmen.

So kam es, dass Amelie zwar keine Angst mehr vor dem Urgroßvater hatte, aber auch nicht mehr in der dunklen Kammer schlafen musste. Eigentlich schade, denn nun hatte sie keine Angst mehr vor den Dingen und Schatten dort.

Wenn sie später zum Urgroßvater zu Besuch kam, las er ihr aus den vielen bunten Büchern vor, die in der obersten Schublade der Kommode lagen. Sie und der Urgroßvater wurden gute Freunde. Amelie freute sich auf die Besuche bei ihm. Sie sah den Urgroßvater mit anderen Augen als bei ihrem ersten Besuch.

Die Sache mit der Tante und die traurigen Augen des Urgroßvaters hatte sie bald vergessen.

Die Geschichten, die der Urgroßvater vorlas, waren viel spannender. Sie konnte davon nie genug bekommen.

Hisian - Land der Sehnsucht

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