Читать книгу Die große Zerstörung - Andreas Barthelmess - Страница 5
Оглавление1 DISRUPTION IST JETZT. WAS WIR HEUTE WISSEN MÜSSEN
Disruption bedeutet »Bruch«, und überall sehen wir technologische Umbrüche. Google statt Gelbe Seiten, Uber-App statt Taxi-Stand, Spotify statt CD. Klar, alles wird digital, das ist neu und radikal. Disruption, denken wir, ist ein technologischer Trend.
Falsch! Disruption ist viel mehr, sie ist das Phänomen unserer Zeit. Sie ist immer und uüberall und in allen Lebensbereichen: in Kultur und Konsum, Ökonomie und Gesundheit, Liebe und Ernährung – und vor allem in der Politik.
Donald Trump und Greta Thunberg sind zwei Seiten einer Medaille. Der Teufel mit Föhnfrisur, die Klima-Jeanne-d’Arc im Pippi-Langstrumpf-Look – in einem haben die Hater und Spötter recht: Chaoten und Heilsbringer, Narzissten und Autisten haben Konjunktur, und das global. So ist es in Großbritannien, wo Boris Johnson den Brexit durchgezogen hat, im Silicon Valley, wo der exzentrische Erfinder Elon Musk kinderrettende Taucher beschimpft, oder im Italien des Matteo Salvini, dessen Social-Media-Team sich »Die Bestie« nennt.
Die Welt ist digital. Greta hat bei Redaktionsschluss dieses Buches 4 Millionen Follower auf Twitter, Trump 70 Millionen, Kim Kardashian 157 Millionen auf Instagram. Sie alle umgehen die Gatekeeper der alten Welt und brechen mit den Regeln von früher. Sie alle kommen durchs Netz zu uns, einfach so, bis ins Klassenzimmer. Und nicht nur freitags. Der Narzissmus, der Trump und Kardashian antreibt, entspricht dem Rigorismus, mit dem Greta Thunberg auf die Welt blickt. Extreme digitale Virtuosen sind sie alle, ob um vier Uhr früh auf dem Klo twitternd oder um halb zehn in der Frühstückspause, wenn die anderen ins Butterbrot beißen.
Mitte der Neunzigerjahre: Ich sitze in einem Regensburger Betongymnasium mit halb schwebender Aufmerksamkeit hinten im Biounterricht, Thema Evolution. Aber plötzlich interessant, was Frau Troidl da erklärt. In ruhigen Zeiten ohne große Veränderungen, höre ich, sind die Angepassten im Vorteil. Extrembedingungen hingegen begünstigen ausgerechnet die schlecht angepassten Sonderlinge, das nennt man »disruptive Selektion«. Damals als Teenager denke ich: Oje, schlechte Aussichten für einen Schulversager ohne Barbour-Jacke, der immer noch auf eine bisher unbekannte Inselbegabung hofft!
Schlechte Aussichten also für Sonderlinge, denn die Neunzigerjahre sind in Bayern hyperkonform. Deutschland ist wiedervereinigt, der Kalte Krieg vorbei. Seine politische Spannung ist einer Post-Wende-Lethargie gewichen, in der allenfalls der Konsum ein wenig Abwechslung verspricht. Jahre des Stillstands. Edmund Stoiber gibt den bayerischen Law-and-Order-Sheriff. In der Schule gibt es für Kleinigkeiten schon Verweise, man hat ja sonst keine Probleme. Die Teenie-Mode ist amerikanisch-eskapistisch, mit Baseballcap obendrauf. Kulinarisch folgt man der Toskana-Fraktion von Schröder und Fischer. Die Küche rüstet mit Balsamico, Mozzarella und Cappuccino nach. Salat heißt jetzt Rucola. Das Eis wird besser. Manchmal kriegt man sogar schon »Gelato«.
Gegen die Wiedervereinigungslangeweile unternehmen wir überteuerte Sprachreisen nach London, um US-Turnschuhe oder Doc-Martens-Stiefel später stolz auf dem Schulhof vorzuführen. Schön, dass die Mark stark ist und das Pfund schwach! Popkulturell verläuft das Gefälle allerdings andersherum. Es gilt »cool Britannia«, Britpop ist ganz groß.
Kalifornien, wie wir es aus dem Fernsehen kennen, hätte noch besser zu unseren Träumen von offenen alten Autos, von Hornsonnenbrillen und Skateboards an der Strandpromenade gepasst. Aber noch ist für uns Regensburger Betongymnasiasten Kalifornien unerreichbar. Also legen wir uns ersatzweise ein Kurt-Cobain-kompatibles Hobby wie Schwarz-Weiß-Fotografie mit Dunkelkammer-Abzügen zu und bekleben Mix-Tapes auf total individuelle Weise mit Schnipseln aus Max oder GEO.
Die Sommeraufreger der Neunziger heißen Kaiman im Badesee – die Polizei schickt sogar Taucher – und abendliche Biergartenruhe für Anwohner. Schlüpfrige Details der Lewinsky-Affäre bringen endlich ein wenig Farbe in die Clinton-Präsidentschaft. Glamour gibt es nur im Trauerfall: Lady Di rast in einem Pariser Tunnel mit einem ägyptischen Playboy in den Tod. Die Extravaganz der Dekade verkörpert Guildo Horn. Was ich sagen will: Die »Berliner Republik« mit Adlon-Atmo, Berghain-Bums und Cookies-Coolness ist noch nicht in Sicht, erster Kosmopolit der Republik ist der Camembert-Kenner Uli Wickert. Alles bleibt sich ewig gleich, und nur Helmut Kohl läuft schon länger als Beverly Hills, 90210.
Und heute? Luke Perry und Helmut Kohl sind tot. Überall ist Disruption. Umbrüche, wohin man schaut: Nutella-Deutschland ist vorbei, die süße Sicherheit reihenhausbeheizter Gemütlichkeit, sie ist Geschichte.
Mit Start-ups und digitaler Disruption habe ich Geld verdient. Jetzt will ich verstehen, was eigentlich los ist, und mache mir Gedanken. Die politischen Meinungsbeiträge, die ich in den letzten Jahren für ZEIT, Neue Zürcher Zeitung, Handelsblatt, Spiegel und Welt geschrieben habe, sind in dieses Buch eingeflossen. Dazu noch ein Hinweis. Ich verwende in diesem Buch meist die männliche Form, auch wenn ich Frauen und Dritte meine. Das soll keine ausschließende Geste sein, sondern der Lesbarkeit des Buches dienen.
Wenn sich in den letzten Jahren so viel so schnell verändert hat, was kommt dann erst in den nächsten Jahren auf uns zu? Wird uns die Technologie überrollen? Wohin ziehen wir uns zurück, wenn uns alles über den Kopf wächst? Haben wir überhaupt noch so etwas wie eine Heimat oder ein Zuhause? Wo finden wir bei all der digitalen Aufgeregtheit um uns herum Ruhe? Und wie? Hilft uns da »Achtsamkeit«, oder bedeutet das ganze Achtsamkeitsgedöns nur noch mehr Stress, also Anti-Stress-Stress? Und wie steht es mit der Politik? Ist, wie man immer wieder hört, die Demokratie in der Krise, und wenn ja: Wie kriegen wir sie da wieder raus?
Um die Zukunft zu gestalten, müssen wir die Gegenwart verstehen. Schon Shakespeares Hamlet klagt, die Zeit sei aus den Fugen, und, ja, Krisen und Revolutionen gab es immer. Was aber ist neu an den Brüchen und Extremen unserer Zeit?
»Disruption« heißt »Bruch« oder »Zerstörung«, und obwohl es sich um ein lateinisches Fremdwort handelt, hat es zuerst in der englischsprachigen Start-up- und Tech-Welt Karriere gemacht. Ursprünglich in der Evolutionsbiologie verwendet, bezeichnet »disruptive Selektion« den Vorteil, den unter bestimmten Umweltbedingungen die Extremtypen gegenüber den Durchschnittstypen haben.
Heute ist das Wort Start-up cool. Allerdings ist der Gebrauch mittlerweile dermaßen inflationär, dass es sogar bei den CEOs der alten Industrie zur Modephrase geworden ist, die eigentlich für das Schritt-für-Schritt-Denken der Vergangenheit stehen. Dabei meint Disruption gerade nicht eine, wie es im Tech-Jargon heißt, »inkrementelle« Weiterentwicklung, etwa von der Vinylplatte zur CD, sondern eine ganz neue, plötzliche und schnelle, ja explosionsartige Entwicklung mit völlig neuen Ansätzen unter völlig neuen Bedingungen: also etwa Napster und iTunes statt CD.
In der Biologie hat man die Disruption immer wieder an den Darwinfinken beschrieben, die auf den Galapagosinseln zu Hause und nicht zufällig nach Charles Darwin benannt sind. Zunächst hatten die Finken anscheinend alle Schnäbel mittlerer Länge und Breite. Ziemlich normal. Je weiter die Abweichung von dieser Norm, desto seltener kam sie vor – Stichwort Gauß’sche Normalverteilungskurve, manche kennen diese Glockenkurve noch vom letzten Zehnmarkschein. Auf einmal jedoch setzten sich zwei Extremtypen von den Rändern gegen die angepassten Normalos durch: die breiten, kurzen Schnäbel mit der Kraft zum Knacken großer Samen und die schmalen langen Schnäbel mit der Geschicklichkeit fürs Aufpicken kleiner Samen. Die mittlere Form, sozusagen die Schnabel-Volkspartei der Galapagosfinken, war jetzt anscheinend zu schwach für die großen Samen und zu ungeschickt für die kleinen. Mit anderen Worten: Die galapagossische Schnabel-Volkspartei fiel einer um sich greifenden Polarisierung zum Opfer. Ganz ähnlich ging es den Sozialdemokraten und den Konservativen im Europa der letzten Jahre.
In der Ökonomie bezeichnet der Begriff »Disruption« radikale technologische Ablösungsprozesse in Industrien und Märkten. In einem viel beachteten Buch mit dem Titel The Innovator’s Dilemma hat der Wirtschaftswissenschaftler Clayton M. Christensen 1997 beschrieben, wie auf dem Markt immer wieder ausgereifte Produkte sowie gewachsene, marktbeherrschende Strukturen und Unternehmen zerstört und von neuen Firmen und Produkten vollständig verdrängt werden – und zwar selbst dann, wenn der Marktführer zuvor sein Produkt, den Bedürfnissen der Kundschaft folgend, kontinuierlich weiterentwickelt und verbessert hatte. Denn solches Fleißkärtchensammeln, hat Christensen gezeigt, schützt ein Unternehmen nicht davor, plötzlich von der Konkurrenz hinweggefegt zu werden.
Der Trick der Disruptoren ist dabei, im Unterschied zur inkrementellen Peu-à-peu-Verbesserung radikal neue Ansätze an ganz neuen Kundengruppen zu testen, und das meist in Marktnischen. Damit scheitern sie zwar häufig. Wenn sie jedoch früh und billig genug scheitern, können sie so lange weiterprobieren, bis schließlich ein Disruptor den einen durchschlagenden Erfolg hat, der dann in kurzer Zeit den ganzen Markt umwälzt. Wer die Disruption auslöst, bricht also – das ist das Verfahren – aus den alten Mustern und Spielregeln des Marktes aus. Gerade dadurch gelingt ihm der Durchbruch. Der Disruptor ist der Rechtsüberholer, der das Rennen gewinnt.
Das habe ich selbst erlebt. Ich habe mitgeholfen, europäische Tech-Unternehmen aufzubauen. Heute berate ich digitale Angreifer. Aber von Haus aus bin ich, Jahrgang 1979, ein Kind der alten Welt. Mit den klassischen Waldorfschultalenten ausgestattet, haptisch und dyslexisch veranlagt, faszinieren mich nicht Joystick, Tetris und Counter Attack, sondern Fußball, Mittelbayerische Zeitung und selbst gemalte Wahlplakate für Johannes Rau. Wenn meine Freunde vor Papas Commodore 64 sitzen, gehe ich raus und gieße den selbst gepflanzten Rhododendron. Als Siebenjähriger kämpfe ich noch mit dem Schleifebinden, aber kaufe mir unter Einsatz des kompletten Sparbuchs mein erstes Kunstwerk. Zwanzig Jahre später bin ich Volkswirt und, nach einem Intermezzo bei den UN in New York, Geschäftsführer einer neuen Kunstmesse des damals stolzen Verlagshauses Gruner+Jahr.
2008 kommt die Finanzkrise. Scherben überall. Banken gehen pleite, Print-Titel werden eingestellt, meine Kunstmesse sowieso – aber Obama verspricht »Change«. Mir wird klar: Die Technologie treibt den Wandel, den Etablierten geht es an den Kragen, die große Zerstörung ist da. Bei Gruner+Jahr aber, dem leckgeschlagenen deutschen Verlagstraumschiff, stellt man auf dem Sonnendeck noch mal die Liegestühle um. Ich verlasse den Dampfer. Es folgen unternehmerische Lehrjahre, anfangs ohne, dann mit Erfolg, persönlich unruhig. Am runden Tisch mit den Köpfen der großen Venturecapital-Fonds lerne ich die Logik der digitalen Disruption.
Aber ist die Disruption tatsächlich ein neues Phänomen, oder gab es sie nicht immer schon? Waren nicht Buddha, Jesus und Mohammed religiöse Disruptoren, Homer als Dichter und Beethoven als Komponist künstlerische? Gutenberg als Erfinder des Buchdrucks, Louis Daguerre als einer der Erfinder der Fotografie, Thomas Alva Edison als einer der Erfinder der Glühlampe, Carl Benz als Erfinder des Automobils technologische Disruptoren? Einstein als Begründer der Relativitätstheorie und Alexander Fleming als Entdecker des Penicillins wissenschaftliche? Waren nicht Marx und Lenin, Gandhi und Martin Luther King politische Disruptoren?
Ohne Frage waren sie alle Revolutionäre auf ihrem Gebiet, und sie alle haben den Weltlauf dauerhaft verändert. Doch Disruption ist etwas anderes als Revolution. Die Revolution errichtet eine neue Ordnung auf alten Fundamenten, zum Beispiel eine Kölner Kirche auf einem römischen Jupiter-Tempel oder die Republik Indien auf der britischen Kolonialverwaltung. Die Disruption hingegen stellt eine neue Ordnung auf neue Fundamente – und braucht dazu nicht einmal mehr die Trümmer der alten. Sie bricht mit der Vergangenheit. Napster, iTunes und Spotify bedeuten: Die Plattenläden wechseln nicht wie zuvor ihr Sortiment von Vinyl zu CD, sondern sie verschwinden.
So gesehen, bewirkte das Penicillin tatsächlich eine Disruption. Als die Tuberkulose Ende der 1940er-Jahre mithilfe von Tabletten heilbar war, verschwanden plötzlich alle Lungensanatorien, die sich nicht noch rechtzeitig zum Skihotel umfunktionieren ließen. Die Erfindung der Porträtfotografie hingegen brachte keine Disruption, weil sie die alten Porträtmaler nicht arbeitslos machte, sondern die meisten von ihnen einfach Fotografen wurden. Disruption bedeutet also, dass eine bisherige Berufsgruppe arbeitslos wird: Plattenverkäufer wie Vernon Subutex aus Virginie Despentes’ gleichnamigem Roman und Liegekuren-Personal wie aus Thomas Manns Zauberberg.
Kleinere Disruptionen, jedenfalls im Weltmaßstab kleinere, gab es sporadisch immer schon. Als man Erdöl zu fördern begann und daraus Petroleum herstellte, ging mit der Tran-Industrie der Walfang ein. Das Telefon machte die Botenjungen arbeitslos, die Glühlampe den Dochtmacher, Überseecontainer und Kran die Scheuerleute, die früher Waren per Hand auf Schiffen stapelten. Als japanische LCD-Uhren aufkamen, gingen zwei Drittel der Schweizer Uhrenmanufakturen pleite. Mit dem PC starb die Schreibmaschine, mit der digitalen Fotografie der Film.
Doch alle diese Disruptionen unterscheiden sich sowohl in ihrer Häufigkeit als auch in ihren ökonomischen und gesellschaftlichen Auswirkungen von der Disruptionsdichte unserer digitalen Gegenwart. Das hat technologische Gründe. Heute sind die Voraussetzungen für disruptive Innovationen beziehungsweise, wie die Bundesregierung sie nennt, »Sprunginnovationen« viel günstiger als noch in den Neunzigerjahren, als Christensen sie beschrieb. Sie finden auch häufiger statt. Denn die digitale Technologie hat die Schwelle zum Markttest dramatisch abgesenkt und verbilligt. Damit wiederum hat sie das disruptive Potenzial des digitalen Markteintritts exponentiell gesteigert. Man kann über Nacht eine App programmieren und schauen, ob sie funktioniert. Nach ein paar Wochen weiß man, ob sie das Zeug hat, den Markt aufzurollen. Für ein Medikament wie Penicillin oder einen neuen Fahrzeugantrieb hingegen brauchte man Entwicklungs- und Versuchsreihen, die sich über Jahre hinwegzogen.
Doch so niedrigschwellig der Markteintritt im digitalen Zeitalter grundsätzlich ist, für die Konkurrenten wird er umso schwieriger, sobald der Markt einmal von einem Marktführer besetzt ist. Hier gilt das Prinzip »The winner takes it all«. Amazon ist der Online-Händler, Airbnb der Online-Marktplatz für Unterkünfte, Google die Suchmaschine, YouTube das Videoportal. Und das weltweit.
Auch unsere Alltagsbeziehungen ordnet die Digitalisierung neu. Weil wir so viel bei Amazon bestellen, schließt die kleine Buchhandlung um die Ecke, sofern sie nicht die Veränderung zur literarischen Event-Location schafft. Dafür haben wir Dauerbesteller durch unsere täglichen Paketlieferungen inzwischen eine engere Beziehung zum Paketboten als früher zur Buchhändlerin oder zum Supermarktkassierer. Die jedenfalls kannten uns nicht mit Zahnbürste im Mund im Morgenmantel. Unsere neuen Beziehungen werden jedoch nicht lange dauern. Bald werden wir der Lieferdrohne ins Kameraauge blicken. Das Zeitalter der Disruption hat gerade erst begonnen.
Die Veränderungen im Nachkriegsdeutschland bis in die Nullerjahre hinein waren ganz anderer Art. Sie waren nicht disruptiv, sondern inkrementell. Alles ging peu à peu voran, alles wurde immer ein bisschen besser. Meist sah man das nicht einmal, etwa beim Auto. Knautschzone, Airbag, ABS, ausfahrbarer Überrollbügel für Cabrios: Bosch-artig versteckten Ingenieure mit Horb-am-Neckar-Fleiß den kontinuierlichen Fortschritt hinterm Blech und unterm Armaturenbrett. Heute zeichnet sich das Ende des Verbrennungsmotors ab. Und auch wenn mittlerweile selbst die Autolobbyisten gelernt haben, vom »Paradigmenwechsel« zu schwurbeln, so verwenden sie doch nur eine Chiffre aus der alten Zeit. Induktives Handyladen jedenfalls wird das alte Auto nicht retten.
Inkrementell ist die Entwicklung von der Tageszeitung zum Sonntagsblatt. Von drei öffentlich-rechtlichen Sendern zu ein paar Dutzend privaten. Disruptiv hingegen ist der Sprung von Print zu Twitter, vom Fernsehen zu YouTube und Netflix.
Ironischerweise entstehen disruptive technologische Umbrüche aus der inkrementellen Verbesserung vieler Einzelbereiche. Steinchen auf Steinchen baut sich der Fortschritt auf, bis er plötzlich ein neues Plateau erreicht, auf dem sich dann sprunghaft Innovationen ereignen. So ermöglichten Fortschritte der Prozessorleistung, Batteriekapazität, Speichergröße und interaktive Displays im Zusammenspiel mit wachsender digitaler Vernetzung jene mobilen Endgeräte, die sich nach der Markteinführung des iPhones 2007 rasant durchsetzten.
Das Smartphone wiederum entpuppte sich als technologische Grundvoraussetzung für die soziale und kulturelle Gegenwart, in der wir heute leben: Tinder statt Disco. WhatsApp statt Diaabend. Facebook statt Weihnachtsbrief. Twitter-Gewitter im Minutentakt statt ein Papierpfund redaktioneller Welterklärung zum Wochenende. Dauer-Newsstream statt Abendnachrichten.
In dieser digitalen Gesellschaft ist jeder sein eigener Propagandasender, und das mit Reichweiten, von denen etablierte Medien wie New York Times, CNN und Bild nur träumen können. Wer Millionen erreicht und als »First Mover« ungefiltert direkt auf die Displays in unseren Händen sendet, kann bislang Unvorstellbares bewirken. Polarisieren, sensibilisieren oder mobilisieren. Wer Millionen erreicht, kann eine Mauer zu Mexiko bauen, Rassismus im Land der Political Correctness verbreiten, mit #Leave.EU ein Land aus der EU führen, die Debatte #MeToo starten und einen globalen Bewusstseinswandel herbeiführen, mit »Fridays for Future« eine globale Schülerbewegung für den Klimaschutz initiieren. Alles scheint möglich.
Zugegeben: Trump und Greta sind für die meisten von uns weit weg. Aber die großen Brüche sind es nicht, sie finden überall um uns herum statt, ganz in unserer Nähe. Konventionen kippen, Menschen ändern ihr Verhalten. Und immer häufiger müssen sie sich dabei, so viel ist dran an der viel beschworenen »Polarisierung«, zwischen zwei Lagern entscheiden. Diese Lager sind das progressive und das konservative, und so wählen wir zwischen Detox-Smoothie oder Hasseröder Biertulpe, zwischen Falafel oder Schweinebraten, Car-Sharing oder Garagen-Fetisch.
Als ich Teenager war, shampoonierten unsere Nachbarn samstags rundherum zärtlich ihre Autos. Mein Freund Fabian begeisterte sich für Diesel-Direkteinspritzung und andere technische Innovationen, die damals noch »Erfindungen« hießen. Fabian liebte Erlkönig-Fotos aus der Auto Bild. Er kannte Hubräume und PS-Zahlen. Und er wusste, dass er eines Tages zum Händler im Autoglashaus an der Ausfallstraße gehen und sich einen tollen Wagen mit sechs Zylindern »holen« würde. War auch in Ordnung so. Normal.
Heute hat Fabian Familie, aber kein Auto, lebt in Berlin und nicht mehr in der Oberpfalz. Alle paar Wochen probiert er eine neue Mobilitäts-App aus: Car-Sharing, Uber, Leihräder, E-Tretroller. Fabian ist mit der Zeit gegangen: Nicht mehr der Autobesitz verschafft uns heute Status, sondern Wahlfreiheit und permanente Flexibilität. Für die Progressiven sind heute Probieren und morgen Andersmachen wichtiger als Felgenpolieren und In-der-Garage-Haben. So hat man ein gutes Gewissen und markiert die eigene Progressivität. Ganz ähnlich macht es Tech-Ikone Elon Musk. Der Tesla-CEO baut Elektroautos, will aber eigentlich lieber mit wiederverwendbaren Raketen ins All fliegen.
Neue Melodien hören wir überall. Ich erinnere mich an eine internationale Venturecapital-Konferenz in Berlin. Am ersten Abend habe ich mich mit denselben Geschäftsfreunden wie jedes Jahr zum Essen verabredet. Wir treffen uns, ebenfalls wie jedes Jahr, im »Grill Royal«. Das Restaurant ist lange schon gesetzt und der Name Programm. Wen wundert es? Steakessen ist fleischgewordene Unternehmenskultur der hier mit mir versammelten Start-up-Macher, alles sehr männlich. Hier sitzen wir also, finden den globalen Kapitalismus prima, essen blutiges Fleisch, wollen aber nicht mit Raubtieren verglichen werden, mit Heuschrecken schon gar nicht. Marktdominanz ist eine feine Sache, im Übrigen hart erarbeitet und insofern verdient. Alles in Ordnung unter den Digitalisierungsgewinnern.
Doch im Sommer 2019 ist etwas anders. Raffael, ein guter Freund, eröffnet uns mit besorgter Miene, spät zu essen sei ungesund. Im Übrigen konzentriere er sich jetzt aufs Intervallfasten. Das habe ich selbst auch schon probiert. Trotzdem stutze ich und komme kognitiv beim Versuch ins Straucheln, Absender und Inhalt der Botschaft in Einklang zu bringen. Da legt Raffaels Geschäftspartner Ben die Speisekarte weg und das Statement nach, dass er heute auf Fleisch verzichten werde. Ernährungsstudien und Klimadiskussion ließen ihn umdenken. Er führt das fundiert, klug und selbstkritisch aus. Ich bin perplex. Vielleicht spricht Ben ja so, weil er vor wenigen Monaten Vater geworden ist? Doch die ganze Runde ist sich überraschend einig: Die Schülerbewegung für das Klima sei beeindruckend, der hohe Druck auf die Politik genau richtig, Greta solle so weitermachen.
Später kommen wir auf eines meiner Lieblingsthemen, die Regulierung oder Zerschlagung von global übermächtigen Onlineplattformen. Eigentlich ist da Widerspruch ausgemacht, doch wieder geschieht etwas Überraschendes. Raffael sagt, er habe das jahrelang anders gesehen, aber jetzt müsse er mir beipflichten: Der Staat müsse viel härter gegen Monopole vorgehen. Dann fällt ein Satz, den ich aus dem Mund eines digitalen Disruptionsgewinners nie erwartet hätte: »Wir brauchen mehr Staat, überall!«
Die Welt ist im Umbruch, und wir beginnen, auf die Brüche, Umstürze und Einbrüche der letzten Jahre zu reagieren. Nichts ist mehr, wie es war! Brexit, Trump-Wahl, #MeToo, Fridays for Future, Volksparteien-Aus: Was wir für unverrückbare Gewissheiten und unverhandelbare Gesetze hielten, ist plötzlich radikal anders. Verkehrte Welt! Ein US-Präsident setzt auf Rassismus, aber Kapitalisten mit Neunzigerjahre-McKinsey-Sozialisierung geben sich selbstkritisch pro Regulierung. Vom Saulus zum Paulus, vom Steak-Kapitalisten zum sozialen Marktwirtschaftler mit CO2-Sorge.
Alles, was ich hier bisher beschrieben habe, sind Symptome der Disruption. Sie ist das Phänomen unserer Gegenwart. Sie ist ihre Signatur. Und sie ist tatsächlich neu. Doch ich glaube, die neue Unübersichtlichkeit führt dazu, dass wir häufig den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Durchsage an alle die, die glauben, die aktuellen Umbrüche würden sich bald wieder legen, Hass und Hetze im Netz würden sich wieder beruhigen, die Hyper-Dominanz von Silicon-Valley-Unternehmen wäre nur eine Momentaufnahme, die klassischen Industrieunternehmen mit vielen Arbeitsplätzen fänden bald wieder zu alter Stärke zurück und die »Volksparteien« lägen bald wieder bei 40 Prozent: Ihr träumt. Wetten, dass ..? ist vorbei.
Wir können nicht Disruptionen ungeschehen machen, indem wir wie früher die Erfindungen der Konkurrenz nachbauen. Paypal lässt sich nicht, fünfzehn Jahre zu spät, durch ein deutsches Imitat namens »paydirekt« von den Sparkassen und Volksbanken verdrängen. Ich habe es schon gesagt: Größe bedeutet in der Plattformökonomie unüberwindliche Dominanz. The winner takes it all. Das Zeitalter der Disruption ist da. Sie stülpt die Welt um wie zuletzt die Industrialisierung, nur viel schneller und heftiger. Folgte im 19. Jahrhundert auf die technologische Revolution die ökonomische, dann die politische und darauf die kulturelle, so erfasst die Disruption heute all diese Bereiche zugleich. Im 19. Jahrhundert konnten sich die Menschen über Jahrzehnte an den Wandel gewöhnen. Jetzt ereignet er sich innerhalb weniger Jahre. So schnell mussten wir noch nie umlernen. Die digitalen Geister, die wir riefen, werden wir nicht los.
Also: Nichts wird wieder werden, wie es einmal war. Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Das ist leicht gesagt, doch wir tun uns verdammt schwer damit. Manchmal geht mir das auch so. Ich bin digital, hänge aber an der Offlinehaftigkeit der Achtzigerjahre. Davon heißt es jetzt Abschied nehmen. Nur nicht zu viel Nostalgie! Wenn ich in diesem Buch immer wieder zurückblicke, will ich zeigen, wie weit wir uns schon von den Achtziger- und Neunzigerjahren entfernt haben. Einen Weg zurück gibt es nicht. Und ein kleiner Hinweis an die ab 1995 Geborenen: Ihr werdet vielleicht manches, von dem hier die Rede ist, nicht verstehen. Aber »Gelbe Seiten«, »Luke Perry« und »Augusteischer Frieden« könnt ihr im Netz nachschlagen.
Was ist zu tun? Die Traditionalisten bocken beleidigt vor der Gegenwart und leugnen die Disruption. Die Progressiven umarmen sie begeistert und werfen sich ihr manchmal allzu unkritisch an den Hals. Das Beste ist also, die Disruption kritisch zu umarmen. Denn nur so können wir sie in den Griff bekommen, politisch, ökonomisch und sozial. Was für eine Herausforderung, diese aufregenden Zeiten mitzugestalten! Die Frage ist nur: Wie tun wir das, ganz praktisch – individuell im Alltag, politisch in der Gesellschaft? Das ist die Frage, um die es mir geht.
Am Anfang des Buches steht der Kontrast von Geschichte und Gegenwart: von technischem Fortschritt, den es immer schon gab, und unserer digitalen Gegenwart, die so radikal neu ist. Was, frage ich, hat unsere politische Kultur und Gesellschaft so tiefgreifend verändert? Woher unsere Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach Heimat? Worin liegt die Eigendynamik von Social Media? Was haben Tinder, Facebook und Instagram-Ästhetik mit der Politik zu tun?
Welche Rolle spielt die künstliche Intelligenz? Woher kommt das Gefühl permanenter Überforderung, das Gefühl, nicht mehr mithalten zu können? Ist uns die Welt zu groß geworden, ist sie alternativlos? Was ist das Winner-takes-it-all-Prinzip, und bedroht es die liberale Demokratie? Wenn uns die Datenplattformen überwachen, wer überwacht die Wächter? Was tun, wenn sich bald die politische Systemfrage stellt? Und hilft uns beim Weltretten die neue Achtsamkeits-App?
Mit diesen Fragen befasse ich mich, bevor ich dazu im letzten Kapitel eine Reihe von konkreten Vorschlägen mache.
Alle Fragen zielen auf die nahe Zukunft. Wer sie beantworten will, muss die Vergangenheit kennen. Schauen wir sie uns an.