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2 TECHNISCHER FORTSCHRITT, GLOBALISIERUNG UND DIGITALISIERUNG

Disruption, so die These dieses Buches, ist überall. Sie ist das übergeordnete Geschehen unserer Gegenwart. Deshalb kennzeichnet sie heute nicht nur, wie es die ursprüngliche Verwendung des Wortes »Disruption« tat, Evolutions- und Marktphänomene, sondern alle Bereiche unseres Lebens: Politik und Gesellschaft, Freundschaft und Liebe, Kunst und Ernährung, Sport und Gesundheit, Partnerschaft und Sex.

Alle diese Bereiche lassen sich unter einen weit verstandenen Begriff von »Kultur« fassen. Kultur ist, was wir Menschen aus dem machen, was uns unausweichlich vorgegeben ist. Aber was ist uns vorgegeben? Die Natur, wie viele Philosophen angenommen haben? Das Schicksal? Die göttliche Ordnung? Das Chaos?

Mein Vorschlag lautet: der technologische Fortschritt. Er treibt uns an. Ja, richtig: Nicht wir treiben ihn an, sondern er uns – jedenfalls, nachdem wir ihn einmal angeschoben und in die Welt gebracht haben. Wie genau der technologische Fortschritt in die Welt kommt, wissen wir nicht, wohl aber, welche Eigendynamik er entfaltet, sobald er in Form einer Erfindung oder Entdeckung einmal da ist. Das Feuer zum Beispiel: Wahrscheinlich zuerst in die Höhle geholt, um zu wärmen, nutzte der Mensch es dann, um Fleisch und Grassamen zu garen. Das brachte ihn zum Getreideanbau, ließ ihn sesshaft werden, Kornspeicher errichten, Stadtmauern, Türme und Tempel. Ließ ihn Götter erfinden, Könige und das Bierbrauen – und am Ende die Schrift, um die Gesetze zu fixieren, die man für ein kultiviertes menschliches Zusammenleben braucht, besonders unter Alkoholeinfluss.

Oder das Rad: Irgendwie kommen die Sumerer im 4. Jahrtausend vor Christus auf das Scheibenrad. Vier Stück an eine Kiste montiert und einen Ochsen davorgeschirrt, kriegen die Sumerer eine Wagenladung Gerste viel schneller zur Brauerei transportiert, als wenn sie sie schleppen müssten. Doch aus dem Rad lässt sich mehr machen als nur ein Bierwagen. Eine clevere bronzezeitliche Steppenkultur ersetzt die Scheibe durch Speichen, baut einen zweirädrigen Renn- und Streitwagen und spannt Pferde davor. Dieses Gespann macht im 13. Jahrhundert vor Christus bei Hethitern, Assyrern und Ägyptern Kriegskarriere, verschiebt Reichsgrenzen oder radiert sie aus.

So kommt es schon früher zur Globalisierung, als der Begriff vermuten lässt. Denn Globalisierung ist ja nichts anderes als die wachsende Vernetzung über eine zunehmende geografische Distanz hinweg. Als gradueller, kontinuierlicher Prozess verläuft sie parallel zum technischen Fortschritt. Zugleich unterstützt sie ihn bei seiner Verbreitung. Das Rad hat auch deshalb eine so zentrale Rolle gespielt, weil es weitere Innovationen angestoßen und ermöglicht hat: den Straßenbau etwa, der wiederum verstärkten Handel bringt.

Historisch haben wir uns daran gewöhnt, den Beginn der Globalisierung in der frühen Neuzeit anzusetzen. 1488 entdecken die Portugiesen am Kap der Guten Hoffnung den Seeweg nach Indien, 1492 erreicht Kolumbus, ebenfalls auf der Suche nach Indien, Amerika: Das Zeitalter von globalem Überseehandel und kolonialer Ausbeutung beginnt. Tatsächlich jedoch findet Globalisierung schon seit Jahrtausenden statt. Alexander der Große bringt die griechische Kultur nach Indien. Die Römer bauen das erste Straßennetz, das die gesamte ihnen bekannte Welt umspannt. So konnten sie über eine Distanz von 5000 Kilometern einen Brief von Babylon nach Londinium schicken. Infrastruktur schafft Mobilität, vernetzt und entgrenzt. Schon in der Antike bezog China über die Seidenstraße römisches Glas, Rom importierte chinesische Seide.

Was heißt das für den Menschen? In dem Maße, wie die Welt kleiner wird, wächst sein Bezugssystem, also der soziale, kulturelle, ökonomische und politische Bezugsrahmen. Das ist eine der Grundannahmen dieses Buches: Im Zuge des technischen Fortschritts erweitern sich diese menschlichen Referenzsysteme. Die Tendenz zur Globalisierung hatten sie dabei immer schon. Dennoch wird die globale Dimension erst in der Neuzeit sichtbar. Das wiederum hat mit einer zweiten Grundannahme dieses Buches zu tun: der Beschleunigung. Wenn distanzverkürzende Medien wie Rad und Straße die Überwindung des Raumes bewirken, dann schlägt sich dieses Schrumpfen des Raumes als Beschleunigung auf der Zeitachse nieder. Anders gesagt: Wenn die Straßen in Schuss sind und alle paar Dutzend Kilometer frische Pferde bereitstehen, kommt der Brief aus Babylon schneller in London an.

Die Menschheit schreitet also immer schneller voran. Anfangs sieht das stetig linear aus, tatsächlich jedoch befinden wir uns in einer exponentiellen Funktion. So besagt etwa das in den 1960er-Jahren formulierte sogenannte Moore’sche Gesetz, dass sich die Rechenleistung von Computerprozessoren alle ein bis zwei Jahre verdoppelt. Nach einem Zyklus ist die Leistung doppelt so hoch wie zuvor, nach zwei Zyklen viermal, nach drei achtmal, nach vier 16-mal, nach fünf 32-mal und so weiter: exponentielles Wachstum eben. Wir kennen den Graphen dazu noch aus der Schule. Erst bewegt er sich mit kaum wahrnehmbarer Steigung quälend langsam, anscheinend linear auf der Y-Achse hoch. Endlich, da hat man schon drei Viertel der X-Achse hinter sich, nimmt er ein bisschen Fahrt auf, jetzt geht es langsam los nach oben – und, rums, ist der Graph schon fast senkrecht durch die Decke geschossen.

Das liegt auch an den supraleitenden Prozessoren, die künftig zum Einsatz kommen werden. Früher kannte jedes Bit nur zwei Zustände, 0 oder 1. Heute arbeiten Quantencomputer wie Sycamore von Google bereits mit sogenannten Qubits, die, einfach gesagt, viele verschiedene Werte annehmen können. Operationen, für die klassische Computer noch mehrere Hundert Jahre gebraucht hätten, rechnen Quantencomputer binnen Minuten.

Also lautet die dritte Grundannahme dieses Buches: In der großen Disruption geht auch der technische Fortschritt durch die Decke. In diesem Zeitalter leben wir heute.

Mitte des 15. Jahrhunderts revolutioniert Johannes Gutenberg das Druckwesen. Bis dahin hatte man Texte mit der Hand abgeschrieben. Bei einem dicken Buch kostete das viel Mühe, Zeit und Geld. Als Gutenberg den Buchdruck mithilfe beweglicher Lettern erfand, konnte man plötzlich ein einmal gesetztes Buch hundertfach drucken: so etwa die berühmte Gutenberg-Bibel. Ohne sie wiederum hätte sich die von Luther angestoßene Reformation nicht so schnell verbreiten können, wie es im 16. Jahrhundert geschah. Eine wichtige Rolle bei der Emanzipation vom autoritären Katholizismus und Papsttum spielten auch schnell und billig zu druckende Propaganda-Flugblätter, die den Papst als Esel oder mit Scheißhaufen in der Hand auf einer Sau reitend zeigten: »des Teufels Sau, der Papst«, so O-Ton Luther, der seine Tiraden heute sicher über Twitter raushauen würde. Schon mit der Druckerpresse gibt es also eine Art ökonomischen Netzwerkeffekt, wie wir ihn heute im Digitalen bei Facebook, Google und anderen beobachten.

Den aus der konfessionellen Spaltung Mitteleuropas entstandenen Dreißigjährigen Krieg hat Luther, all seiner Giftigkeit zum Trotz, genauso wenig gewollt wie Gutenberg. Und doch hatte die Revolution im Druckwesen erheblich Anteil an jener politischen Mobilisierung, deren Eskalation zum Krieg ein Drittel der Bevölkerung Mitteleuropas das Leben kostete. Technologische Innovationen können zu gesellschaftlicher Polarisierung, zu dramatischen sozialen Umbrüchen führen, bis hin zum Krieg.

Das gilt heute auch für Twitter. So hat der Watergate-Enthüller Bob Woodward in einem Interview mit dem US-amerikanischen Sender CBS erläutert, wie US-Präsident Donald Trump möglicherweise um ein Haar einen Tweet verschickt hätte, den Nordkorea als Kriegserklärung hätte deuten können: nämlich die Mitteilung, alle Angehörigen US-amerikanischer Soldaten aus Südkorea abzuziehen.

Heraklit meinte, der Krieg sei der Vater aller Dinge. Ich finde, das gibt dem Krieg zu viel der Ehre. Zwar gibt es Erfindungen, die ausdrücklich vom Militär bestellt wurden – etwa die Konservendose, die auf eine Preisausschreibung Napoleon Bonapartes zurückgeht, oder das unter der Naziherrschaft entwickelte Düsenflugzeug. Tatsächlich ist es aber häufig umgekehrt so, dass sich das Kriegswesen neue Erfindungen unter den Nagel reißt und für seine Zwecke nutzt, etwa das von Alfred Nobel erfundene Dynamit. Nobel, zu Lebzeiten gelegentlich als »Kaufmann des Todes« bezeichnet, stiftete die Nobelpreise, darunter auch einen für den Frieden, ganz so, also wollte er damit den Geist, den er aus der Flasche gelassen hatte, wieder zurückholen.

Aber das ist unmöglich. So führt es uns schon die Literatur vor Augen. Goethes Zauberlehrling ruft, als der von ihm belebte Besen das Haus unter Wasser setzt: »Ach, da kommt der Meister! / Herr, die Not ist groß! / Die ich rief, die Geister / werd ich nun nicht los.« Genauso geht es Victor Frankenstein, wenn ihn das Monster, das er selbst erschaffen hat, rachsüchtig bis zum Nordpol verfolgt. In Friedrich Dürrenmatts groteskem Theaterstück Die Physiker gibt sich ein Wissenschaftler absichtlich als Irrer aus, um zu verhindern, dass seine Entdeckung zur atomaren Weltzerstörung führt.

Was gesagt ist, ist gesagt. Was entdeckt ist, ist entdeckt. Worte und Erfindungen lassen sich nicht zurücknehmen und ungeschehen machen. So eröffnet jede Erfindung neue Entwicklungsmöglichkeiten, die missbraucht – oder aber zum Wohle der Menschen verwendet werden können. Der Buchdruck hatte nicht nur Einfluss auf die Religionskriege in Europa, sondern auch unzählige positive Folgen für die Entwicklung der Menschheit. Ohne ihn hätte es in Europa keine Aufklärung und keinen Aufstieg der Naturwissenschaft gegeben. Keine Gewaltenteilung und keinen modernen Staat. Keine Schulpflicht, keine Französische Revolution. Und auch keine demokratische Republik auf deutschem Boden.

Dreierlei können wir aus dieser Erzählung von Geschichte lernen. Erstens: Wer die technologische Innovation hat, hat auch die Macht. Luther hatte bei seiner Revolution gegen den Papst den technischen Fortschritt auf seiner Seite. Zweitens: Wer die technologische Macht hat, kann sie zum Guten verwenden oder missbrauchen. Einen solchen Missbrauch gilt es zu verhindern. Das ist Aufgabe der Politik. Und drittens: Der Fortschritt gehört anfangs nur wenigen. Wir müssen also die Vorteile, die er schafft, möglichst vielen Menschen zugänglich machen, das heißt, den Fortschritt demokratisieren, seine ökonomischen Erträge eingeschlossen. Dies ist ebenfalls Aufgabe der Politik, und das besonders dringlich im Falle technologischer Sprünge, wie wir sie gerade so dramatisch erleben wie nie zuvor. Die Politik wiederum ist in einer freien Gesellschaft Ausdruck des demokratischen Willens, und das bedeutet: Die Wähler entscheiden. Wir sind gut beraten, wenn wir aus der Vergangenheit lernen.

Machen wir uns klar: Der technische Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Der Mensch entwickelt sich, evolutionär und kulturell, und damit ist auch der Fortschritt in der Welt. Einmal da, marschiert er, und wir laufen mit unserer Kultur, unseren sozialen und politischen Institutionen mit – im besseren Falle gleichauf, im schlechteren hinterher, im schlechtesten Falle abgehängt unter »ferner liefen«.

Das heißt zugespitzt, dass unsere Kultur und Politik Epiphänomene, also Begleit- oder Folgeerscheinungen des technologischen Fortschritts sind. Es ist wichtig, das zu verstehen. Der Fortschritt hat eine Eigendynamik. Wenn wir sie nicht rechtzeitig in den Griff bekommen, kann sie uns gefährlich werden. Davor warnen uns die Geschichten vom Zauberlehrling, von Frankenstein und von Godzilla.

Wir müssen die Eigendynamik des Fortschritts zähmen und zivilisieren. Sie so kanalisieren, dass möglichst viele, idealerweise sogar alle Menschen von ihrem Momentum profitieren. Wir müssen den Fortschritt ethisch vertretbar zu unserem Wohl arbeiten lassen. Dazu dient die Politik, und damit hatte sie im Laufe der Geschichte, allen Kriegen und Katastrophen zum Trotz, immer wieder Erfolg. Nachdem die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki gefallen waren und dort unverstellbares Grauen angerichtet hatten, gelang es den verfeindeten Blockmächten, einen Atomkrieg zu verhindern, das atomare Arsenal zu reduzieren und einen Atomwaffensperrvertrag ins Leben zu rufen. Zugleich entstanden Kraftwerke, die die Atomkraft friedlich zur Stromerzeugung nutzten.

Wir können den technischen Fortschritt nicht aufhalten. Wir können Erfindungen nicht zurücknehmen. Aber wir sind nicht das Kaninchen vor der Schlange, und wir stehen nicht machtlos vor einer wie auch immer gearteten Auto-Evolution der Technik. Wir müssen nicht tatenlos der Entfesselung ihrer Kräfte zusehen. Wir müssen uns nicht von Technologien überschwemmen lassen, wie Goethes wasserholende Besen den Zauberlehrling überschwemmen und der Klimawandel die Küstenregionen unserer Erde. Denn wir können den Fortschritt steuern. Wir können ihn mit den Mitteln der Politik kontrollieren. Wir können ihn zu unserem Wohle nutzen und dabei zugleich Rücksicht nehmen auf andere Menschen und auf die Umwelt. Wir sollten nicht Technik-Pessimisten sein, sondern kritische Technik-Optimisten!

Politik und Kultur dienen der Zivilisation des technologischen Fortschritts. Findet man, dass das im Großen und Ganzen gelingt, dann ist man ein Fortschrittsoptimist. Man kann die Geschichte auf unterschiedliche Arten erzählen, eine optimistische Fortschrittserzählung ist eine davon. Einer ihrer prominentesten Vertreter der Gegenwart ist der in Harvard lehrende Psychologieprofessor Steven Pinker. Er hat argumentiert, dass die Welt im Laufe der Geschichte immer besser geworden ist, weil die Menschen aus Kriegen und anderen humanitären Katastrophen überwiegend die richtigen Schlüsse gezogen haben.

Schauen wir, ob Pinker recht hat. 1769 erfindet James Watt die Dampfmaschine. Sie mobilisiert die Energieerzeugung und schafft die Voraussetzung für Eisenbahn, Automobil und Flugzeug. Auch die Kohle- und Stahlindustrie wird durch die Dampfmaschine möglich. Watts Erfindung ist die Grundvoraussetzung für die Industrialisierung, jene zweite Ära der Neuzeit, in der sich die durch den kolonialen Überseehandel angeschobene Globalisierung weiter beschleunigt. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Bank- und Kreditwesen, das sich seit der Renaissance entwickelt hat. Zusätzlich zum Eigenkapital lassen sich Unternehmensgründungen und -expansionen jetzt auch mithilfe von Fremdkapital finanzieren. Industrialisierung und Kapitalismus, darin hatten Marx und Engels recht, gehen Hand in Hand.

Von nun an ist die Beschleunigung des Fortschritts nicht mehr zu übersehen. Beim Rad hatte es noch Jahrtausende gedauert, bis jemand die plumpen, schweren Scheibenräder zu eleganten, leichten Speichenrädern verbesserte. Der Steigbügel fiel den Menschen erst nach Jahrtausenden militärischer und nichtmilitärischer Reiterei ein. Auch der Räderpflug, der mit einer breiten Pflugschar die Scholle wendet, ließ Jahrtausende auf sich warten.

In der Neuzeit aber geht es Schlag auf Schlag. Das Schwarzpulver kommt auf, und sofort verschwinden die riesigen Ritterrüstungen, die nun keinen Schutz mehr bieten. Papier und Buchdruck machen Bücher erschwinglich, mehr und mehr Menschen lernen lesen, und Ende des 18. Jahrhunderts führen die ersten Länder Europas die Schulpflicht ein. Von der Dampfmaschine bis zum automobilfähigen Verbrennungsmotor im engeren Sinne dauert es gut hundert Jahre, Otto-, Diesel- und Wankelmotor folgen dann innerhalb weniger Jahrzehnte.

Ursache dieser Innovationsbeschleunigung ist nicht nur die Institutionalisierung von Wissen in Hochschulen, Bibliotheken und Patentämtern, sondern auch die durch ihre Vernetzung ermöglichte immer schnellere Zirkulation des Wissens. So kommt es dazu, dass epochale Erfindungen wie Glühlampe und Telefon zeitgleich an unterschiedlichen Orten gemacht werden. Auch Carl Benz und Gottlieb Daimler entwickeln das von einem Viertaktmotor angetriebene Automobil zunächst unabhängig voneinander, beide stellen ihr Ur-Auto im selben Jahr 1886 vor. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, so scheint es, liegen manche Erfindungen in der Luft.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erlaubt es die Dampfmaschine, jene Kohle immer effizienter abzubauen, die sie selbst in immer riesigeren Mengen verschlingt. Im Ruhrgebiet, in Lothringen, Großbritannien und den USA entstehen um Kohleminen herum Städte. Immer größer werden Eisenguss- und Walzwerke, Eisenbahnen und -brücken, Kanonen und Panzerkreuzer. Der Zeitgeist wandelt sich. Unterhielt das nostalgische frühe 19. Jahrhundert noch romantische Mittelalterfantasien, so richtet man am Ende des Jahrhunderts den Blick radikal optimistisch in die Zukunft. Noch 1831 stilisiert Victor Hugos Glöckner von Notre-Dame die Pariser Kathedrale zum Wahrzeichen der Stadt und den buckligen Glöckner zur Ikone der Schwachen, Ungeliebten und Abgehängten. Doch zur Weltausstellung 1889 schafft sich Paris ein neues Wahrzeichen, das das alte überschreibt: den Eiffelturm. Sein Eisenfachwerk ragt fünfmal so hoch in den Himmel wie Notre-Dame, ein Symbol des technisch Machbaren, 300 Meter Erhebung über die Pariser Stadtarchitektur. Steht man oben, schwebt man so hoch über dem sozialen Elend der Stadt, dass man es gar nicht mehr sieht. Der Technik-Optimismus der Industrialisierung blendet seine sozialen Folgen aus. Dabei rumort es schon seit Längerem unten auf den Straßen. Die sozialistische Revolte der Pariser Kommune hatte die Obrigkeit 1871 gerade noch so mit grauenhaften Massenerschießungen abwehren können.

Eine wichtige Rolle bei der industriellen Revolution spielte die Erfindung des dampfmaschinengetriebenen mechanischen Webstuhls, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die händisch, häufig in Heimarbeit produzierenden Weber vom Markt verdrängte. Dass die Einführung dieser Maschine disruptiven Charakter hatte, erkannten die plötzlich von der Arbeitslosigkeit und buchstäblich vom Verhungern bedrohten Weber schnell. Es kam zu »Maschinenstürmen«, bei denen sie die neuen Webstühle zerstörten. Marx und Engels sprachen von »Revolten gegen die Maschine«. Man denkt da nicht zufällig an den »War Against the Machines«, den Arnold Schwarzenegger seit Terminator 2: Judgment Day führt.

Von den Weber-Aufständen des 19. Jahrhunderts handelt Gerhart Hauptmanns Sozialdrama Die Weber. Es stellt brutal ungeschminkt in naturalistischer Weise das soziale Elend dar, das der Übergang von der Agrar- und Handwerks- zur Industriegesellschaft im Europa des frühen 19. Jahrhunderts mit sich brachte. Karl Marx hatte dieses aus heutiger Sicht unvorstellbare Elend – heute allenfalls in Accra, Dhaka oder Delhi denkbar – in der schottischen Industrie- und Werftstadt Glasgow studiert, bevor er seine Kapitalismuskritik formulierte.

Marx zufolge hat sich die Ständegesellschaft von Adel, Handwerk und Bauern in eine Klassengesellschaft verwandelt, in der reiche Unternehmer – die »Kapitalisten« – land- und besitzlose und daher vollkommen lohnabhängige Arbeiter – die »Proletarier« – beherrschen und ausbeuten. In der Tat sind Mitte des 19. Jahrhunderts die Verhältnisse in Europa verheerend, die Kindersterblichkeit unter den Ärmsten ist extrem, Menschen verhungern. Die verarmte Landbevölkerung flieht in die Städte, dort gibt es jedoch keinen Wohnraum. Die Menschen, auch Kinder, schuften mehr als zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Dem gnadenlosen Lohndumping hat das von Marx so bezeichnete »Lumpenproletariat« nichts entgegenzusetzen außer, im äußersten verzweifelten Falle, Gewalt.

So kommt es zu Aufständen und Revolutionen und zu Bewegungen, die die dramatisch gewordene soziale Frage politisch angehen. 1848 veröffentlichen Marx und Engels das Kommunistische Manifest mit dem berühmten Schlusssatz: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Im selben Jahr konstituieren sich in London der Bund der Kommunisten und in Deutschland die erste Gewerkschaft, 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, aus dem sich eine Partei entwickelt, die sich 1890 den Namen SPD gibt. Die Sozialisten sind es, die den deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck in den 1880er-Jahren zur Sozialgesetzgebung zwingen, zur Einführung der allgemeinen Arbeiter-Unfall- und -Krankenversicherung, später auch der Rentenversicherung.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin ein Fan der freien Marktwirtschaft. Historisch hat erst der Markt Arbeitsteilung und Spezialisierung möglich gemacht, und ohne ihn wären Fortschritt in Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur gar nicht denkbar. Nur der Markt, die arbeitsteilige Gesellschaft, ermöglicht Kultur und Kunst. Das müssen wir uns klarmachen. Der Markt sorgt dafür, dass der Bäcker morgens freiwillig aufsteht, um Brötchen zu backen. Niemand zwingt ihn dazu. Oder dass es Schnürsenkel in der richtigen Farbe, Länge und Stärke gibt, wenn sie mal reißen. Das sind die Beispiele, die der Ökonomieprofessor Hans-Werner Sinn oft in seinen Vorlesungen verwendet hat. Die Kunst der sozialen Marktwirtschaft ist es, Regeln zu setzen, damit der Markt Angebot, Nachfrage und darüber die Preisfindung regeln kann. Und die Kunst ist es, meist nur behutsam einzugreifen, etwa durch Ausgleich der Einkommen und Sozialleistungen, manchmal aber auch entschlossen. Das ist eine wichtige Lehre des 19. Jahrhunderts. Ohne Zweifel, der Kapitalismus hat den globalen Wohlstand gesteigert und Armut reduziert, Ungleichheit aber ganz sicher nicht. Das gilt erst recht für den digitalen Kapitalismus von heute, über den wir sprechen müssen. Denn bisher sollen auch für ihn die ökonomischen und politischen Dogmen des industriellen Zeitalters gelten. Gerade das kann nicht sein, darum geht es mir hier.

Seit Ende des 18. Jahrhunderts steigert der technische Fortschritt die Produktivität in allen Wirtschaftsbereichen. Die Bevölkerung wächst rapide, Nationalstaaten entstehen und versuchen sich – mehr oder weniger erfolgreich – an der Republik als einem neuen, postfeudalen Ordnungsrahmen. Räumlich wie kulturell wandeln sich die Bezugssysteme der Menschen. Aus regionalen und religiösen Bezügen werden nationale: so in Frankreich 1789 mit der Revolution und 1848 mit der Zweiten Republik, in Deutschland 1848 mit der Nationalversammlung in der Paulskirche und in Italien 1849 mit Giuseppe Garibaldi und der Risorgimento-Bewegung. Offensichtlich treten nicht nur Erfindungen manchmal innerhalb weniger Monate gleichzeitig auf, sondern auch Revolutionen. Und obwohl diese jeweils nationalen Charakter haben, sind sie doch allesamt vom Momentum jener paneuropäischen Vernetzung und Beschleunigung getragen, das auch die Industrialisierung antreibt. Diese immer häufiger vorkommende Gleichzeitigkeit von historischen Ereignissen, die nicht unmittelbar kausal miteinander verbunden sind, ist ein Symptom der sich beschleunigenden Geschichte.

Beschleunigung ist das Zeitgefühl des 19. Jahrhunderts. Sie stimmt die Menschen fortschrittsoptimistisch, macht ihnen aber auch Angst. Die rasende Geschwindigkeit der ersten Zuckelzüge – sie sind sogar schneller als ein galoppierendes Pferd! – verursacht die »Eisenbahnkrankheit«. Die Menschen sind erschöpft von der Raserei und zittern nervös. Als Gegenbewegung zur Aufklärungs- und Technikgläubigkeit an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entsteht die Romantik. Sie ist historisch rückwärtsgewandt und verklärt ein aus wackeren Rittern, rotlippigen Prinzessinen und emsigen Zwergen zusammengebasteltes Klischee-Mittelalter. Die Romantik besinnt sich auf Natur und »Waldeinsamkeit«, ihre Poesie beschwört eine heimatlich-ländliche Geborgenheit. So reagiert die Romantik auf das Stampfen der Dampfmaschinen, wie wir heute mit Yoga und Meditation, Achtsamkeit und Paläo-Diät auf den Stress der digitalen Vernetzung reagieren. Zweihundert Jahre nach den Romantikern suchen wir wieder Entschleunigung und Auszeit vom Fortschritt, der uns überfordert und an den Nerven zerrt.

Die Alternative zum Samtbarett der Dichter und Komponisten ist die preußische Pickelhaube. Man steckt den Kopf rein und präsentiert sich militärisch auf Zack. Am Ende des Jahrhunderts tragen die Männer hochgebürstete Schnauzer wie Kaiser Wilhelm der Zwote, die aussehen wie ein Reichsadler-Absturz unter der Nase. Ist es Zufall, dass heute Hipster und Hänflinge expressive Holzfällerbärte tragen? In Zeiten des Umbruchs dienen sie der männlichen Selbstvergewisserung. Man krault sich den Bart, und schon fühlt Mann sich besser.

Ende des 19. Jahrhunderts haben sich in Essen die Thyssen-Krupp-Ruhrbarone etabliert, nationale Superreiche, die jetzt dem alten Adel den Rang ablaufen und bis zum Ersten Weltkrieg massiv von der Aufrüstung profitieren. Noch Hitler wünscht sich die Deutschen »hart wie Kruppstahl«. Militarismus und Kolonialismus, man könnte auch sagen: imperialistischer Expansionismus, sind der Geist des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Der Erste Weltkrieg, der mit der Niederlage Deutschlands und der Abdankung des Kaisers endet, markiert das Ende des »langen 19. Jahrhunderts«. So hat es der Universalgelehrte Eric Hobsbawm genannt, so haben es nach ihm viele Historiker geschrieben. Jetzt erst sind die großen Übergänge des 19. Jahrhunderts vollendet: der Wandel von regionaler zu nationaler Zugehörigkeit, von vorindustriell-handwerklicher zu industrieller Massenproduktion, von autoritären Monarchien zu demokratischen Verfassungsstaaten.

Hundert Jahre später, denke ich, wiederholt sich die Geschichte. Denn nicht mit dem Terroranschlag auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 endet das 20. Jahrhundert, sondern erst im Jahr 2016. Das ist das Jahr, in dem Putin und Populisten allerorts Facebook kapern, die Briten für »Leave.EU« votieren und Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wird. Ab jetzt gelten die politischen Naturgesetze des 20. Jahrhunderts nicht mehr. Donnerschlag! Eine neue Zeit ist da. Nur niemand weiß, welche.

Knapp hundert Jahre zuvor, in der Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1939, scheint sich die Geschichte der industriellen Beschleunigung und Effizienzsteigerung noch einmal im Zeitraffer zu wiederholen. Henry Fords Einführung des Fließbands macht den Ford »Model T« zum ersten Auto, das sich die obere Mittelklasse leisten kann. Über die zwei Jahrzehnte, in denen der Wagen gebaut wird, sinkt seine Montagezeit von zwölf Stunden auf eine, der Preis von knapp 1000 auf gut 250 Dollar. Der Preis jedoch, den die Fließbandarbeiter dafür entrichten, ist hoch. Ihre Arbeit ist stupide und monoton, immer dieselben wenigen Handgriffe, fremdbestimmt durch die Laufgeschwindigkeit des Fließbandes.

Schon Marx hatte solche Tätigkeiten als »entfremdete Arbeit« beschrieben. Niemand beherrscht unter diesen Bedingungen noch, ja, niemand überblickt mehr die gesamte Montage eines Autos. Aus Motorenbauern und Karosseriemachern, die stolz auf ihre Arbeit und das von ihnen hergestellte Produkt waren, sind Malocher geworden, die es dem relativ hohen Lohn zum Trotz meist nicht lange bei Ford aushalten. Das liegt auch daran, dass im Unterschied zum traditionellen Handwerk den Arbeitern das von ihnen hergestellte Produkt am Ende nicht gehört. Es erscheint ihnen fremd. Heute würde man sagen, in der »entfremdeten« Arbeit fehlt es am Gefühl der »Selbstwirksamkeit« und damit an einer wichtigen psychologischen Voraussetzung, um mit der eigenen Arbeit zufrieden zu sein und sogar einen Sinn in ihr zu sehen.

1929 kommt die Weltwirtschaftskrise. Sie verursacht nicht, aber sie beschleunigt den deutschen, italienischen und spanischen Weg in den Faschismus, der gerade einmal ein Vierteljahrhundert nach dem Ersten in den Zweiten Weltkrieg und in die Schoah führt.

1945 schaffen die Alliierten die erste stabile Befriedung des industriellen Zeitalters. Das gelingt ihnen auch deshalb, weil die europäischen Demokratien den Kapitalismus in Form der sozialen Marktwirtschaft einhegen. Es folgen Jahrzehnte der inkrementellen Innovationen. Kühlschrank und Staubsauger, Kaffeemaschine und Käfer, Nylonstrumpfhose und oberitalienischer Campingplatz werden immer besser und billiger, mehr und mehr Wirtschaftswunderdeutsche können sich solche Annehmlichkeiten leisten. Volksparteien und Gewerkschaften blühen, der Sozialstaat wird ausgebaut.

Endlich gelingt der Frieden, für den das 19. Jahrhundert, das Deutsche Kaiserreich und die Weimarer Republik noch nicht bereit waren. Zu lange hatten sie gebraucht, um auf die neuen sozialen Fragen zu reagieren, zu schwach waren ihre Antworten gewesen. Zu stark hingegen war vor dem Ersten wie vor dem Zweiten Weltkrieg der Kriegsdruck des militärisch-industriellen Komplexes, zu groß die nationalistische und autoritäre Führer-Sehnsucht in großen Teilen der Bevölkerung. Das haben die Alliierten 1945 korrigiert. So wurden die Exzesse von Kapitalismus, Industrialisierung und Nationalismus fürs Erste gebannt.

Nach den Weltkriegen beginnt das Zeitalter der Globalisierung im modernen Sinne des 20. Jahrhunderts. Rasant wächst in den 1950er- und 1960er-Jahren der internationale Flugverkehr. Vor allem amerikanische Firmen internationalisieren sich. Heute bekommt man Coca-Cola in allen Ländern mit Ausnahme von Kuba und Nordkorea, und gegen Touristen-Dollar auch dort. 1962 gibt John F. Kennedy die Losung aus, innerhalb eines Jahrzehnts zum Mond zu fliegen. Einer Anekdote zufolge hat Kennedy im selben Jahr bei einem Besuch des NASA Space Center einen Hausmeister mit einem Besen in der Hand gefragt, was er tue. Die Antwort: »Mr President, ich helfe mit, einen Mann zum Mond zu bringen.« Deutlicher lässt sich die erfolgreiche Mobilisierung der amerikanischen Gesellschaft nicht beschreiben. Noch heute spricht man in der Technologiedebatte von »Moonshoot Projects«, wenn ambitionierte technologische Großprojekte gemeint sind, die eine Sogwirkung und Aufbruchsstimmung entfalten sollen. Den Amerikanern ist das in den 1960er-Jahren gelungen. Verrückterweise sind sie schon 1969 auf dem Mond.

Jetzt ist es so weit: Der technologische Fortschritt geht in die exponentielle Beschleunigung, Stichwort Moore’sches Gesetz. Das führen auch die Kurven der Geschwindigkeit vor Augen, mit der sich der Mensch fortbewegt. Lange Zeit maximal auf die 60 km/h eines galoppierenden Pferdes beschränkt, überbietet die Eisenbahn diese Geschwindigkeit Mitte des 19. Jahrhunderts, Flugzeug und Auto folgen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, schon 1941 ist das Flugzeug schneller als 1000 km/h.

Ist diese Entwicklung disruptiv? Nein. Sie ist inkrementell par excellence. Denn die technischen Innovationen der Nachkriegszeit sind meist Weiterentwicklungen von Vorkriegserfindungen. Bei der NASA (National Aeronautics and Space Administration) und DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) – zwei staatlichen Behörden, wohlgemerkt! – arbeiten Heerscharen von international rekrutierten Wissenschaftlern an der Verbesserung der Kriegsraketentechnik. Das ist ins Gigantische getriebener Inkrementalismus. Auch in Großbritannien, Frankreich und Westdeutschland gibt es halbstaatliche Technologieunternehmen, die technische Höchstleistungen vollbringen, etwa Messerschmitt-Bölkow-Blohm in Ottobrunn bei München. Man forscht zu Drehflüglern und entwickelt die Magnetschwebebahn. Klingt ein bisschen nach dem Zukunftslabor aus einem James-Bond-Film, war aber damals nichts anderes als State of the Art.

Ebenfalls nicht disruptiv gestalten sich die sozialen Verhältnisse. Der Lebensstandard wächst bei den meisten Amerikanern und Europäern, und selbst den Armen geht es in den Nachkriegsjahren besser als je zuvor in der Geschichte der Menschheit.

Gestützt wird der kontinuierliche Fortschritt in der westlichen Welt durch eine keynesianische Nachfragepolitik – auch in den USA, wo man auf diese Weise der kommunistischen Konkurrenz die Show stehlen will. Man bemüht sich um sozialen Ausgleich, geht konsequent gegen Kartelle und Monopolstrukturen vor, zerschlägt oder reguliert sie. Es ist die Hochzeit des starken Staates. In den USA investiert die Regierung nach heutigen Maßstäben hohe dreistellige Milliardenbeträge in die Wettrüstungs- und Raumfahrtindustrie von Los Alamos und Cape Canaveral. In den beiden Nachkriegsjahrzehnten ist die amerikanische Regierung die Speerspitze des technologischen Fortschritts in der westlichen Welt, jenseits des Eisernen Vorhangs ist es die sowjetische.

In den Siebzigerjahren kommt es mit Einführung des Personal Computing zu einem Bruch. Das ist Disruption, wie sie der bereits erwähnte Clayton M. Christensen 1997 beschrieben hat. Microsoft und Apple sind Garagengründungen von jungen enthusiastischen Tüftlern mit ein paar Hundert Dollar Startkapital. 1943 soll der IBM-Vorstandsvorsitzende Thomas J. Watson von einem Weltmarkt für »vielleicht fünf Computer« gesprochen haben, jetzt rollen Bill Gates und Steve Jobs aus ihren Garagen-Nischen heraus innerhalb weniger Jahre einen Markt für Millionen von Personal Computern aus.

Die digitale Revolution beginnt. Sie bestimmt heute unsere Gegenwart wie keine andere technologische Entwicklung. Wieder gehen technologischer und ökonomischer – wenn man so will: kapitalistischer – Fortschritt Hand in Hand. Denn bei der Finanzierung junger Unternehmen auf dem entstehenden Personal-Computing-Markt spielt erstmals privates Wagniskapital, englisch »venture capital«, eine zentrale Rolle.

Das Prinzip des Venturecapital, ursprünglich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg im Umkreis der Harvard University aufgekommen, besteht darin, dass ein Wagniskapitalfonds Firmenanteile an mehreren innovativen, aber auch spekulativen, also hochriskanten Unternehmen erwirbt. Das Risiko eines einzelnen Totalausfalls wird dabei einkalkuliert und durch Streuung auf viele Unternehmen kompensiert. So geschieht es in den Siebzigerjahren im Umkreis der Stanford University. Das Silicon Valley heutiger Prägung entsteht.

Zugleich erlebt wirtschaftspolitisch die sogenannte Chicagoer Schule eine Renaissance. Jetzt geben statt John Maynard Keynes die Lehren von Friedrich Hayek und Milton Friedman den Ton an. Die Regierung setzt nicht mehr auf Nachfrage-, sondern auf Angebotspolitik. Neoliberales Denken, wie es zuletzt vor der Wirtschaftskrise 1928/29 populär war, wird wieder Mainstream. In den USA beginnen die Reaganomics, in Großbritannien der Thatcherismus. Es kommt zum Börsenboom der Achtzigerjahre.

Wieder zeigt sich, wie eng Technologie und Marktgeschehen verflochten sind. Denn es sind die neuen Informationstechnologien – Computer-Trading, Chartanalysen, automatische Stop-Kurse –, die jetzt das Wachstum an der Börse befeuern. 1981 legt Michael Bloomberg mit dem »Bloomberg Terminal«, einem bis heute an den Börsen genutzten Datenmonitor, den Grundstein zu seinem Milliardenvermögen.

In den Siebziger- und Achtzigerjahren beschleunigt der Computerhandel die Globalisierung der Finanzmärkte. Steuersenkungen und Deregulierung scheinen sich auszuzahlen, zumindest die Börse brummt. Das geht so bis zum 19. Oktober 1987. An diesem sogenannten Schwarzen Montag kommt es zum ersten IT-Börsencrash überhaupt. Innerhalb weniger Stunden wächst er sich zum größten Crash seit Ende des Krieges aus, 500 Milliarden Dollar Marktkapitalisierung lösen sich in Luft auf.

Niemand verkörpert den Geist der Börsenboom-Jahre so perfekt wie der von Michael Douglas gespielte Gordon Gekko im Film Wall Street. Haare zurückgegelt, mit Hosenträgern und weißem Kragen, predigt er »Gier ist gut«. Sozialdarwinismus ist auf einmal sexy und der Finanzmarkt so cool wie heute »Tech«. Man glaubt an Markt, Technologie und Shareholder Value, und schon steigen die Kurse.

Anfang der Achtziger wird der Begriff »Globalisierung« populär. Eine zentrale Rolle spielt er in John Naisbitts Buch Megatrends, Theodore Levitts Globalization of Markets hebt ihn sogar in den Titel. Mit dem damals noch typischen Zeitverzug von ein paar Jahren erreicht der Begriff Europa. Ein Jahrzehnt später ist er fester Bestandteil des politischen Vokabulars und flankiert weltweit Freihandelbestrebungen.

In Europa wird Ende der Achtzigerjahre der EU-Binnenmarkt erdacht und Anfang der Neunzigerjahre eingeführt. Bis heute ist er auf die Industrie ausgelegt, aber nicht auf Dienstleistung und IT. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA kommt 1994, ein Jahr darauf die World Trade Organization WTO. Nicht zufällig ist Freihandel die Losung des Jahrzehnts, das Ende des Kalten Kriegs verbucht man symbolisch als Sieg des Kapitalismus. Die Gleichung lautet: Kapitalismus plus Freiheit ist Freihandel. Capitalism rules, da interessieren die rules of capitalism nicht so sehr. In den Neunzigerjahren und auch noch im Jahrzehnt darauf erreicht die Weltwirtschaft Osteuropa und die Schwellenländer, vor allem in Asien. Die ganze Welt glaubt jetzt an das Dogma von freien Märkten, freiem Handel und Wohlstand für alle. Doch selbst wenn es ökonomisch richtig erscheint, kann man kulturell und ökologisch daran zweifeln. Die Welt ist kein Pareto-optimiertes Modell, das heißt ein ökonomisches Modell, in dem alle profitieren. Doch das fällt den meisten nicht auf. Im Enthusiasmus nach dem Ende des Kalten Kriegs fehlt dem Kapitalismus ganz einfach ein Regulativ.

Das wird in der Finanzkrise von 2008 klar, als es zum Meltdown kommt. Großbanken gehen pleite, große Versicherungen straucheln, der Staat springt ein. Wenngleich kurzfristig effektiv, kommt die staatliche Bankenrettung mittelfristig nicht gut an. Denn der Einsatz von Steuergeld gilt »systemrelevanten« Finanzunternehmen, und so entsteht der Eindruck, dass der Staat erpressbar sei. Die systemrelevanten Unternehmen privatisieren ihre Hochrisiko-Gewinne, die Verluste und Totalausfälle hingegen werden vom Steuerzahler aufgefangen.

So verlieren die Menschen ihr Vertrauen in das, was heute immer öfter misstrauisch, ja verschwörerisch, als »das System« bezeichnet wird. Die aus der US-Finanzkrise folgende Eurokrise, die sich über die nächsten Jahre hinzieht – Stichwort Griechenland –, blockiert eine nach vorne gerichtete Agenda Europas. Die politische Vertrauenskrise verschärft sich, bis sie dann 2016 mit dem Referendum der Briten und der Wahlentscheidung der US-Amerikaner die Verhältnisse grundlegend verändert.

Während ich in den Neunzigerjahren noch in meinem Betongymnasium sitze, zeichnen sich ökonomisch drei Trends ab: Ausweitung des Freihandels, Aufstieg der Informationstechnologie – Mobilfunk, Internet und beginnender E-Commerce beschleunigen Kommunikation und Handel – sowie konsequentes Outsourcing. Mitte der Achtziger war bereits das erste große Leder- und Textil-Outsourcing von Deutschland an die Ränder der EU erfolgt, insbesondere in die neuen Mitgliedsstaaten Portugal und Spanien. Zehn Jahre später geht es global weiter in Richtung Bangladesch oder Vietnam, die europäische Peripherie ist zu teuer geworden.

In Europa schrumpfen die Distanzen immer weiter, insbesondere der Bezugsrahmen für junge Leute wird größer. In den Nullerjahren etabliert sich die »Generation Easyjet«. Billigflieger machen Fliegen endgültig zur Commodity. Studierende besuchen sich übers Wochenende gegenseitig an ihren Erasmus-Studienorten, kostet ja weniger als eine Bahnfahrt nach Hause und bringt viel mehr Spaß. Zur selben Zeit redet man von der »Generation Praktikum«, die sich mit Elternunterstützung durch die katastrophal schlecht bezahlten ersten Berufsjahre volontiert. Das ist kein Zufall. Denn Easyjet und Dauerpraktikum sind zwei Seiten ein und derselben Medaille: nämlich der Globalisierung.

So sieht es jetzt aus: Die Globalisierung hebt ihr Haupt und wendet uns auf einmal eine Fratze zu. Der Lohndruck wächst, die Lohnstückkosten sind zu hoch, Sozialabgaben und Lohnnebenkosten auch, denn man steht weltweit im Wettbewerb. Europäische Länder mit Sozialstaatstradition sehen sich zu schmerzhaften Reformen gezwungen, um im schärferen globalen Wettbewerb mitzuhalten. In Deutschland stellt die Agenda 2010 die regierende SPD vor eine Zerreißprobe. Reagan und Thatcher hingegen, unbeschwert von Sozialstaatstraditionen, hatten ihre Reformen schon Anfang der Achtzigerjahre erledigt.

Die Globalisierung bringt es mit sich, dass die Politik immer stärker den Marktregeln folgt und damit den Primat des Politischen aus der Hand gibt. Es kommt, auch in der EU, zu einem ruinösen Steuerunterbietungswettbewerb. Firmen erpressen Staaten, und die spielen mit, so etwa Irland und Luxemburg bei ihrem Werben um die »GAFA«-Unternehmen Google, Apple, Facebook und Amazon. Ist das Kapital erst einmal global unterwegs, kann es sich aussuchen, wo es sich kurzfristig niederlässt.

Dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump kann man vieles vorwerfen. Er agiert erratisch und demokratiefeindlich. Und doch hat keine politische Führungsfigur des Westens in den letzten Jahren so obsessiv versucht, den Primat des Politischen über die globale Wirtschaft zurückzugewinnen. Gerade als Unternehmer will er der Berufspolitiker-Welt zeigen, wie sich Politik gegenüber globalen Märkten und Unternehmen behaupten kann.

Am Ende der langen Geschichte vom technischen Fortschritt gibt uns eines zu denken: Fast alle Unternehmen, die heute die Wirtschaft dominieren, sind in den ersten Jahren nach der Öffnung des World Wide Web 1993 entstanden: Amazon 1994, Google 1998, Alibaba 1999 und Facebook 2004. Die ersten drei sind Twens, erst seit ein paar Jahren volljährig, Facebook sogar noch ein Teenager, der sich bis zu seinem 16. Geburtstag im Juli 2020 in den USA nicht einmal ein Bier und ein paar Zigaretten kaufen dürfte. Vor allem aber sind die Firmen keine Hersteller von Produkten, sie sind Plattformen. Genau umgekehrt liegen die Dinge im deutschen DAX: Alle seine Unternehmen stehen für Produkte, und das Durchschnittsalter der Unternehmen liegt bei knapp 130 Jahren.

Was wir sehen, ist ein Traditionsbruch. Oder, wie es der Journalist Gabor Steingart am 11. Januar 2020 gegenüber der 240 Jahre alten Neuen Zürcher Zeitung formuliert hat: »Aus der Tradition ergibt sich heute gar nichts. Manchmal ist sie auch nur ein Problem und Erfahrungsschatz ein anderes Wort für Sondermüll.«

Dieser Traditionsbruch ist Ausdruck der großen Disruption unserer Gegenwart. Dazu kam es durch die technologische Beschleunigung und die Vernetzung von IT und Handel. Die Globalisierung verschaffte dem Kapital die freie Wahl. Als Venturecapital befeuerte es Tech-Start-ups, bald folgten, durch die Selbstverstärkung des Digitalen noch weiter beschleunigt, ihre Börsengänge.

Was zeichnet unsere disruptive Zeit aus? Das Netz, werden wahrscheinlich die meisten antworten. Sie haben recht. »Online« war der große Durchbruch. Jeder vernetzt sich mit jedem, alles mit allem. Wissensressourcen und Kundenzugänge werden global, Markteintrittsschwellen für Start-ups sind niedrig wie nie zuvor. Deshalb kommt es zur Gründungswelle. Die Ansprache von Kunden und Usern ist auf digitalem Wege so einfach wie nie. Ob im Büro nebenan oder auf der anderen Seite des Globus, alle sind immer erreichbar.

Mit dem Smartphone wird das Netz portabel und mobil. Jetzt ist immer alles zur Hand. Nicht nur alle User lassen sich erreichen, sondern alle User immer, in Echtzeit. Das wird zum Uber-Geschäftsmodell. Egal wann: Wer gerade Auto fährt, lässt sich buchen. Global und dereguliert, wie die Märkte sind, breiten sich Plattformen und Produkte augenblicklich weltweit aus – mit Ausnahme von China, Russland und ein paar anderen Ländern wie dem Iran.

Am Ende der technologischen Entwicklung schlagen die Raumüberwindung und Beschleunigung der Plattformen um in Allgegenwart und Permanenz. Im disruptiven Zeitalter ist alles gleichzeitig: Alles ist immer überall.

Die große Zerstörung

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