Читать книгу Hamburg - Deine Morde. Der Lippennäher - Andreas Behm - Страница 7
Dienstag, 17. Juni 2008
ОглавлениеHarald Hansens Gehirn wehrte sich lange gegen den penetranten Piepston und gab endlich doch den Aufwachbefehl. Seine rechte Hand suchte in gewohnter Weise tastend nach dem Handy auf dem Nachttisch, erfühlte aber nur eine warme Schulter. Es dauerte drei weitere Piepstöne, bis Hansen klar wurde, dass er nicht zu Hause, sondern bei Nadja im Bett lag, weshalb sich sein Handy nicht auf der rechten, sondern auf der linken Seite des Bettes befand. Die linke Hand war nun wach genug, um das nervige Gerät zu finden. Wenn er Bereitschaftsdienst hatte, übernachtete Hansen in der eigenen Wohnung in Hamburg-Alsterdorf. In dieser Nacht war er nicht dran und lag deshalb im Bett seiner Freundin in Rahlstedt. Das stockdunkle Schlafzimmer signalisierte ihm, dass es mitten in der Nacht war. Wer, zum Teufel, rief ihn jetzt an?
»Ja, verdammt!«, meldete er sich flüsternd.
»Harry, hier ist Thomas. Habe ich dich geweckt?«
»Blöde Frage, nachts um …«, Hansen schaute auf die rot leuchtenden Ziffern des Digitalweckers, »… 4 Uhr!«
»’Tschuldigung, ich weiß, unser Team ist eigentlich nicht dran. Aber ich glaube, du solltest herkommen und dir das anschauen.«
»Was anschauen?«
»Die Leiche. Ein Kollege des Bereitschaftsdienstes hatte mich angerufen. Er meinte, es könnte sich um unseren Täter von gestern handeln und fragte, ob wir den Fall übernehmen wollen. Nachdem ich mir den Fundort angesehen habe, denke ich, er hat Recht. Alles sieht genauso aus wie gestern. Ich fürchte, wir haben es mit einem Serienmörder zu tun!«
»Ach du Scheiße! Okay, wohin muss ich kommen?«
Hansen schlich in der Dunkelheit mit nach vorn ausgestreckten Armen in Richtung Schlafzimmertür, fand nach einigem Herumtasten die Klinke und konnte endlich auf dem Flur das Licht einschalten. Er warf einen Blick zurück auf Nadja, die friedlich schlief. Dann schaute er an sich herab. Der neue Schlafanzug, den Nadja ihm geschenkt hatte und der seinem vorgewölbten Bauch schmeichelte, war wirklich schick – aber absolut ungeeignet, um darin einen Tatort aufzusuchen. Er fluchte, ging zurück ins Schlafzimmer und holte seine alten Lieblingsklamotten, die Nadja schon zweimal in den Müll schmeißen wollte. Er verzichtete auf den Gang ins Bad, beschränkte die Morgentoilette darauf, sich mit den Fingern durch den grauen Haarwust zu streichen und zog sich an. Auf leisen Sohlen schlich er in die Küche, denn er wollte Nadja und vor allem ihre kleine Tochter Mareike auf keinen Fall wecken.
Was hätte er der Lütten denn sagen sollen, warum er mitten in der Nacht wegging? Ich muss mal wieder eine Leiche begutachten, da läuft so ein Irrer rum, der Menschen tötet. Und Onkel Harry muss den Kerl kriegen. Er zog es vor, unbemerkt zu verschwinden.
Er schrieb eine kurze Nachricht auf einen von diesen kleinen, gelben Notizzetteln mit dem Klebestreifen, bappte ihn an die Kühlschranktür und verließ die Wohnung.
Er brauchte zwanzig Minuten, um den Fundort am Rande des Öjendorfer Parks zu erreichen. Der Öjendorfer Park! Hier hatte schon mal eine üble Geschichte begonnen. Drei Flutlichtstrahler, die von den Kollegen der Spurensicherung aufgebaut worden waren und einen Teil des Geländes grell erleuchteten, wiesen ihm den Weg. Schon von Weitem konnte er den Rotschopf seines hoch gewachsenen Kollegen erkennen. Zu Oberkommissar Thomas Bernstein hatte Hansen seit der gemeinsamen Arbeit am Fall Ryschkow ein besonderes Verhältnis, das man fast als Freundschaft bezeichnen konnte. In der Regel bevorzugte Hansen eine seiner Meinung nach angemessene Distanz zu seinen Kollegen. In der für ihn typischen, gemächlichen Art schlurfte er dem Schauplatz entgegen.
Bernstein zuckte erschreckt zusammen, als Hansen ihm von hinten auf die Schulter tippte.
»Oh, du warst aber schnell!«
»Ich war bei Nadja«, erwiderte Hansen. »Von Rahlstedt aus ist es nicht weit. Das gleiche Muster wie gestern?«
»Exakt. Eine Frau, nackt, liegt da mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen, der Spiegel … Naja, sieh es dir selber an.«
Hansen näherte sich. Der Rechtsmediziner Heinrich Peters, ein kleiner Mann mit Glatze und rahmenloser Brille, kniete neben der Leiche.
»Moin, Harry.«
Peters beschränkte sich in der Regel auf das Notwendige. Hansen mochte genau das an ihm. Peters war der einzige echte und langjährige Freund, den Hansen hatte.
»Moin, Heinrich. Nummer zwei?«
»Eindeutig Nummer zwei.« Er hielt mit seiner mit einem Gummihandschuh bekleideten Hand einen Spiegel hoch, der etwa die Größe eines DIN-A5-Blattes hatte, ein billiges Teil mit einem Plastikrahmen und einem ausklappbaren Metallständer auf der Rückseite.
»Der lag auf ihrem Gesicht, befestigt mit Klebeband, genau wie bei der anderen. Und darunter …«
Peters zeigte mit der anderen Hand auf den Mund des Opfers. Hansen wühlte in seiner Jackentasche, holte eine Lesebrille heraus, setzte sie auf und beugte sich über das Gesicht der Toten. Es war genau wie gestern. Nach über dreißig Jahren Polizeidienst, in denen er immer davon verschont geblieben war, erwischte es ihn doch noch. Er musste einen Serienmörder finden.
Der Mund der toten Frau war sorgfältig mit einem durchgehenden Faden zugenäht worden. Linksseitig an der Unterlippe hatte der Mörder begonnen und das Fadenende mit einem Knoten gesichert. Anschließend führte der Faden durch die Oberlippe, dann diagonal wieder hinab zur Unterlippe und weiter nach oben. Es war eine saubere Arbeit, die insgesamt sieben Einstiche waren in gleichmäßigen Abständen gesetzt. Trotzdem sah es nicht aus, als hätte ein Chirurg eine Wunde vernäht. Blutungen waren nicht zu erkennen. Was hatte Bernstein gesagt? »Exakt.« So war es.
»Kannst du schon was sagen, Heinrich?«, fragte Hansen.
Peters wiegte bedächtig seinen kahlen Kopf. »Fundort ist nicht gleich Tatort. Das ist immerhin klar. Beim Todeszeitpunkt wird es schon schwieriger. Wir wissen ja nicht, wie lange und bei welchen Temperaturverhältnissen die Leiche gelagert wurde, bevor der Mörder sie hier abgelegt hat. Einige Faktoren kann ich erst bestimmen, wenn ich weitere Untersuchungen vorgenommen habe.«
»Und was schätzt du?«
»Grob geschätzt hat sie etwa vier Stunden hier gelegen, wurde also zwischen Mitternacht und ein Uhr hergebracht. Zu der Zeit hatte die Leichenstarre noch nicht eingesetzt. Ich schätze, sie starb zwischen 22 und 23 Uhr, plus minus eine Stunde, wenn sie vor dem Transport bei einer normalen Zimmertemperatur gelagert wurde. Die Todesursache dürfte allem Anschein nach Sauerstoffmangel sein, sprich Tod durch Ersticken. Keine Würgemale, ich tippe auf eine Plastiktüte oder ein ähnliches Hilfsmittel.«
»Ist dir sonst noch was aufgefallen, das uns weiterhelfen könnte?«
»Ja, sie muss vor Kurzem eine Diät gemacht und dabei deutlich abgespeckt haben. Sieh dir die Haut am Bauch und an den Oberschenkeln an. Die konnte sich dem neuen Umfang nicht mehr anpassen.«
»Danke, Heinrich, das hilft uns echt weiter.«
Hansen ging ein paar Schritte rückwärts, ohne die Tote dabei aus den Augen zu lassen, wie ein Fotograf, der den Bildausschnitt seiner Kamera vergrößern möchte. Die Frau lag auf der Wiese, als hätte der Mörder sie zur Schau stellen wollen. Sie lag nicht abseits irgendwo versteckt im Gebüsch, sondern auf dem Rasen direkt neben dem Weg, der vom Parkplatz in den Park hineinführte, wenige Meter neben dem Stamm eines mächtigen Baumes, dessen ausladende Äste wie ein hohes Dach über sie ragten. Hansen kannte sich mit Bäumen nicht aus. Er tippte auf eine Kastanie. Die Frau lag so, dass jedem zufälligen Passanten ihr Intimbereich präsentiert worden wäre. Ihre großen Brüste hingen seitlich am Oberkörper herab. Die Arme lagen ausgestreckt im rechten Winkel zum Körper, wie bei einer Gekreuzigten, der Mund zugenäht, die Augenlider geschlossen. Der kühle Nachtwind wehte eine Haarsträhne auf ihr Gesicht, das mit den heruntergezogenen Mundwinkeln und den zahlreichen Falten, die eindeutig keine Lachfalten waren, auf Hansen einen verbitterten Eindruck machte.
»Wissen wir schon, wer sie ist?«, fragte er Bernstein, ohne den Blick von der Leiche abzuwenden.
»Alles wie gestern«, antwortete der junge Kollege. »Die Kleidung, der Schmuck, die Handtasche mit Papieren und Geld, alles lag säuberlich zusammengelegt und aufgeschichtet neben ihr. Die Sachen sind schon auf dem Weg ins Labor.« Er klappte seinen Notizblock auf. »Sie heißt Helga Theresa Steinburg, ist achtundfünfzig Jahre alt und wohnt ganz in der Nähe, in der Sterntalerstraße. Ich hab’ das Melderegister anzapfen lassen. Sie ist verheiratet. Ihr Mann heißt Heinz Steinburg.«
»Wer hat eigentlich die Leiche gefunden, hier, mitten in der Nacht?«
Bernstein machte eine halbe Drehung und zeigte auf einen alten Mann, der ein wenig entfernt neben einem uniformierten Kollegen stand. Er trug einen gestreiften Schlafanzug und darüber einen dunkelblauen Bademantel.
»Der da.«
»Was macht der alte Herr um diese Zeit im Öjendorfer Park?«
Bernstein grinste. »Seinen Hund ausführen. Naja, genau genommen wollte er gar nicht hierher. Der Hund hatte Durchfall, er saß jammernd vor der Wohnungstür. Also ist der alte Mann widerstrebend im Bademantel mit ihm los, wollte ihn nur kurz vor die Tür lassen. Die beiden wohnen da hinten.«
Bernstein zeigte mit dem Daumen über seine Schulter. Hansens Blick folgte der vorgegebenen Richtung und erfasste die beleuchtete Fassade eines Hochhauses, ungefähr einhundert Meter von ihnen entfernt.
»Aha. Und dann?«
»Der Hund machte sein Geschäft, hielt danach seine Nase in den Wind und raste los. Der alte Herr rief und brüllte und lief schließlich hinterher. Dann fand er seinen Hund, der an der Leiche schnüffelte.«
»Na fein, dem Dünnpfiff eines Hundes hab’ ich es also zu verdanken, dass ich mitten in der Nacht aus dem warmen Bett steigen musste!«
»Du tust mir ja so leid, Chef.«
Hansen revanchierte sich postwendend. »Weißt du was? Diesmal bist du dran. Du gehst zu dem Ehemann und überbringst die schlechte Nachricht.«
»Das ist nicht dein Ernst!«, protestierte Bernstein. »Ich war gestern auch schon dabei.«
»Genau, du warst dabei. Heute machst du es mal allein. Du kannst dich nicht jedes Mal drücken. Wir sehen uns nachher im Büro.«
Hansen zündete sich eine Zigarette an und schlurfte davon.
Der neunundzwanzigjährige Oberkommissar Thomas Bernstein war erst seit zehn Monaten bei der Mordkommission. Bisher hatte er es geschafft, sich vor dem unangenehmen Gang zu den Hinterbliebenen eines Opfers zu drücken. Am Montag war er das erste Mal mitgegangen, aber dort hatte Hansen den aktiven Part übernommen. Die Leiche wurde um 7.15 Uhr von einem Jogger im Stadtpark gefunden. Die Frau im Alter von neunundfünfzig Jahren lag nackt, mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen neben einem Weg am Rande des Parks. Auf ihrem Gesicht hatte der Mörder einen Schminkspiegel platziert und darunter waren die Lippen zusammengenäht, mit sieben Stichen durch Ober- und Unterlippe. Ihre Kleidung fand man ordentlich zusammengelegt und aufgestapelt einen Meter von ihr entfernt, obenauf die Handtasche. Das erleichterte immerhin die Feststellung der Personalien.
Hansen und Bernstein fuhren zu der nicht weit entfernten Adresse in Barmbek, die sie dem Personalausweis entnommen hatten. Bernstein bekam einen nervösen Schluckkrampf, als sie vor der Wohnungstür im zweiten Stock standen und Hansen den Klingelknopf drückte. Nach dreimaligem Klingeln wurde die Tür geöffnet. Ein alter Mann mit zerzausten weißen Haaren, bekleidet mit einem Morgenmantel, dessen Farbe von zahlreichen Waschgängen verblasst war, schaute sie fragend an. Er sagte kein Wort.
»Herr Lehmann?«, fragte Hansen.
»Äh, ja?«
Hansen zeigte dem Mann seinen Ausweis.
»Mein Name ist Hansen und das ist mein Kollege Bernstein. Wir sind von der Kriminalpolizei. Wir müssen mit Ihnen sprechen. Dürfen wir reinkommen?«
»Äh, ja.«
Der alte Mann drehte sich um und schlurfte in seinen Filzpantoffeln den Flur entlang. Hansen und Bernstein folgten ihm in das kleine Wohnzimmer, das mit einer wuchtigen Sitzgarnitur, einem großen Tisch und einer mächtigen Schrankwand mehr als ausgefüllt schien. Lehmann ließ sich in einen Sessel fallen.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte er.
Hansen und Bernstein verneinten dankend und blieben stehen.
»Das ist gut. Ich hab’ nämlich keinen mehr fertig. Und meine Frau ist nicht da.«
Hansen räusperte sich. »Ja, deshalb sind wir hier, Herr Lehmann.«
»Warum? Wegen dem Kaffee?«
Der Kommissar kam ins Stocken. »Nein, das nicht, also … dass Ihre Frau nicht da ist, das hat leider einen tragischen Grund.«
»Ach ja?«
»Sie wird nicht mehr wiederkommen. Sie wurde heute Morgen tot aufgefunden.«
Immer, wenn er diesen Satz so oder ähnlich herausgebracht hatte, fühlte Hansen sich erleichtert, ohne zu wissen, was nun leichter geworden wäre.
Lehmanns Reaktion war eher ungewöhnlich.
»Soso«, sagte er. »Ja, so ist das mit den Frauen. Wenn man sie braucht, sind sie nicht da. Aber wenn man seine Ruhe will, wird man sie nicht los.«
Hansen und Bernstein wechselten erstaunte Blicke. Hansen versuchte es ein zweites Mal.
»Herr Lehmann, ich weiß nicht, ob Sie mich richtig verstanden haben. Es tut mir sehr leid. Ihre Frau ist tot. Sie wurde letzte Nacht ermordet. Haben Sie das verstanden?«
Lehmann nickte bedächtig mit dem Kopf. »Verstanden? Jaja, ich hab’ verstanden … meine Frau … is nich’ da.«
Bernstein brachte seinen Mund dicht an Hansens Ohr. »Ich glaube, eine weitere Befragung macht keinen Sinn. Der Mann hat einen Schock.«
»Du hast recht«, flüsterte Hansen. »Wir ziehen uns zurück und rufen einen Arzt.« Laut sagte er: »Wir gehen dann jetzt wieder, Herr Lehmann.«
Lehmann mühte sich aus dem Sessel.
»Ja, schade, dass Sie schon wieder gehen müssen. Ich bring’ Sie zur Tür.«
»Nicht nötig, wir finden allein hinaus.«
»Na gut.« Lehmann setzte sich wieder. »Gucken Sie mal wieder rein?«
»Machen wir. Ganz bestimmt.«
Sie verließen die Wohnung. Hansen achtete darauf, die Tür nicht ganz zu schließen.
»Ruf einen Notarzt, Thomas.«
Bernstein suchte in der Jackentasche nach seinem Handy. Dann hörten sie aus der Wohnung ein leises Pfeifen. Kein richtiges Pfeifen, sondern eines, bei dem man die Luft durch die geschlossenen Zahnreihen drückt. Die Melodie war bekannt. »So ein Tag, so wunderschön, wie heute …«
Hansen und Bernstein starrten einander mit offenen Mündern an. Bernstein wollte gerade »Hat der uns eben verarscht?« fragen, als sich die Tür der gegenüberliegenden Wohnung öffnete und eine mollige Frau mit grauer Dauerwellenfrisur auf sie zukam.
»Was wollen Sie denn von Herrn Lehmann?«, fragte sie neugierig.
Hansen zeigte seinen Dienstausweis.
»Polizei. Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie das angeht?«
»Man wird ja wohl mal fragen dürfen«, entrüstete sich die Frau. »Ich konnte ja nicht wissen, dass Sie von der Polizei sind. Ich wollte nur verhindern, dass ein alter, seniler Mann womöglich von irgendwelchem Gesindel um sein Hab und Gut gebracht wird.«
»Da haben Sie natürlich Recht, Frau …«
»Siems, Erna Siems, Herr Kommissar.«
»Frau Siems, sagten Sie eben ›senil‹?«
»Ja, wissen Sie das denn nicht? Der Herr Lehmann leidet doch an fortschreitender – wie heißt das noch? – Demenz, genau! Der weiß doch kaum noch, welchen Tag wir heute haben!«
»Oh! Danke, Frau Siems, Sie haben uns sehr geholfen. Nun können Sie wieder in Ihre Wohnung zurückkehren. Wir kümmern uns um alles Weitere.«
Frau Siems schnappte nach Luft. »Ja aber, was ist denn eigentlich los? Das muss ich doch wissen!«
»Wir haben alles im Griff, keine Sorge. Es kommt gleich ein Notarzt, der wird sich um Herrn Lehmann kümmern. Tschüss, Frau Siems!«
Mit sanfter Gewalt schob Hansen die Frau in ihre Wohnung zurück.
»Aber …«, protestierte sie zaghaft.
Hansen schloss ihre Tür. Bernstein rief einen Rettungswagen, dann setzten sich beide auf eine Treppenstufe.
»Puuh, und ich dachte einen Moment lang, dass wir den Täter schon haben, als die Melodie ertönte.«
»Man soll nie voreilige Schlüsse ziehen«, antwortete Hansen grinsend. »Wir hätten uns bis auf die Knochen blamiert, wenn wir den Lehmann verhaftet hätten.«
»Oh ja«, bestätigte Bernstein, »und die ganze Abteilung hätte uns jahrelang damit aufgezogen.«
Lehmann wurde vorübergehend in ein Krankenhaus gebracht, bis man einen Platz in einem Pflegeheim für ihn gefunden hatte.
Bernstein grübelte, ob er den unangenehmen Gang zum Ehemann des Opfers sofort erledigen oder noch warten sollte. Es war vor 5 Uhr in der Früh, womöglich würde er den Mann aus dem Schlaf klingeln.
»Das ist eine billige Ausrede«, sprach er halblaut zu sich selbst, »wer schläft denn schon, wenn die eigene Ehefrau in der Nacht verschwunden ist? Du willst es nur aufschieben, aber das macht es auch nicht leichter.«
Er gab dem Team der Kriminaltechniker ein paar Anweisungen, bestieg seinen alten VW-Bus und fuhr los.
Die Sterntalerstraße gehörte zu einer kleinen Siedlung in Hamburg-Billstedt, die wegen der den Märchen der Gebrüder Grimm entlehnten Straßennamen im Volksmund die Märchensiedlung genannt wurde. Die Bebauung bestand hauptsächlich aus Einzel- und Doppelhäusern mit sehr kleinen Grundstücken. Viele Häuser stammten bereits aus den fünfziger Jahren. Die Straßen waren schmal und ohne Gehwege angelegt.
Bernstein hielt vor dem Haus der Steinburgs. Nicht weit entfernt konnte er das Rauschen fahrender Autos auf der Autobahn A24 hören. Hinter einem der Fenster nahm er einen schwachen Lichtschein wahr. Er ging durch den schmalen Vorgarten auf das weiß gestrichene, kleine einstöckige Haus mit Spitzdach zu. Mit jedem Schritt wurde er langsamer. Er zupfte nervös an seiner Jacke und spürte die feuchte Kühle der Frühsommernacht. Zögerlich betätigte er den Klingelknopf. Nach wenigen Sekunden wurde die Tür geöffnet. Vor Bernstein stand ein Mann von etwa sechzig Jahren mit einem runden Gesicht, einer auffällig breiten Nase und einem spärlichen Haarkranz. Der Mann trug eine dunkelbraune Cordhose und ein weißes Hemd mit blauem Karomuster, unter dem sich ein kräftiger Oberkörper abzeichnete. Er sah aus, als hätte er längere Zeit nicht geschlafen.
Bernstein räusperte sich. »Herr Steinburg?«
»Ja, der bin ich«, antwortete der Mann. »Sind Sie von der Polizei? Kommen Sie wegen meiner Frau? Was ist mit ihr?«
»Oberkommissar Bernstein, guten Morgen.« Er zeigte seinen Dienstausweis. »Darf ich reinkommen?«
»Ja, natürlich.«
Durch einen schmalen, fensterlosen Flur führte Steinburg ihn geradewegs in das Wohnzimmer. Bernstein merkte, wie Erinnerungen aus seiner Kinderzeit wachgerufen wurden. Er war selbst in so einem Siedlungshaus aus den fünfziger Jahren aufgewachsen. Eng, mit viel zu kleinen Räumen, wenig Tageslicht und steilen Treppen. Er hatte sich nie wohl darin gefühlt. Der Anlass, der ihn hierherführte, machte es noch bedrückender.
Steinburg räumte hastig eine Tagesdecke beiseite und setzte sich auf die lindgrüne Couch. Bernstein nahm in einem Sessel gegenüber Platz.
»Haben Sie Neuigkeiten für mich? Wie geht es meiner Frau?«
»Ich komme leider mit einer schlechten Nachricht. Ihre Frau wurde tot im Öjendorfer Park aufgefunden.«
»Tot? Im Öjendorfer Park? Was hat sie da gemacht? Wurde sie … ermordet?«
Bernstein versuchte, den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken.
»Ja, sie wurde ermordet.«
»Im Öjendorfer Park? Was wollte sie da?«
»Sie wurde nicht dort ermordet. Wir wissen bis jetzt nicht, wo es geschah.«
»Und … wie?«
»Sie wurde erstickt.«
Steinburg senkte den Kopf und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Er schluchzte und seine Schultern bebten. Bernstein ließ ihm Zeit und schwieg. Er sah sich im Wohnzimmer um. Es war blitzsauber und aufgeräumt. Alle Möbel und Gegenstände standen akkurat ausgerichtet, es gab fast nur rechte Winkel. Von der zerwühlten Tagesdecke abgesehen, existierte keine Unordnung. Keine halb gelesene Zeitung, kein leeres Glas, nichts. Der Raum wirkte steril. Das einzig Ungewöhnliche waren einige sehr schöne Holzmodelle von historischen Segelschiffen, die in einer Glasvitrine standen.
Steinburg hörte auf zu schluchzen. Das einzige Geräusch im Raum war nun das Ticken der Wanduhr, die genau in der Mitte oberhalb des Sofas an der Wand hing. Bernstein starrte gedankenverloren auf den goldfarbenen Sekundenzeiger. Dann wurde ihm bewusst, dass Steinburg ihn fragend ansah.
»Herr Steinburg, fühlen Sie sich, ich meine, sind Sie in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?«
Steinburg nickte.
»Danke, das ist sehr wichtig für uns. Sie hatten hier im Wohnzimmer auf die Rückkehr Ihrer Frau gewartet?« Bernstein deutete auf die Decke am Rand der Couch.
»Ja, das stimmt. Ich hatte auch schon mit dem Polizeirevier telefoniert, aber dort meinte man, es gäbe keine Meldung über meine Frau, von wegen Unfall oder so. Ich sollte bis zum Morgen warten, ob sie nach Hause kommt und dann zur Wache kommen, wegen der Vermisstenanzeige. Die haben das gar nicht ernst genommen.«
»Das tut mir leid. Wo wollte Ihre Frau am Abend denn hin?«
»Montags trifft sie sich immer mit zwei Freundinnen, zum Tratschen und so. Naja, was Frauen halt so machen, wenn sie unter sich sind. Aber normalerweise ist sie spätestens um elf wieder zu Hause.«
Er schniefte, holte ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und putzte sich die Nase.
»Ich brauche die Adresse des Treffpunkts.«
Steinburg griff nach einem schmalen Buch mit hellbraunem Kunstledereinband, das auf einem Beistelltisch neben der Couch lag. Erst jetzt fiel Bernstein das alte grasgrüne Telefon mit Wählscheibe auf, das ebenfalls auf dem Beistelltisch stand. So etwas hatte er lange nicht mehr gesehen. Steinburg schlug das Adressbuch auf und las Bernstein die Adresse vor. Plötzlich stand er auf, ging zur Schrankwand, öffnete eine Klappe und holte eine Flasche heraus. Mit der Flasche in der Hand winkte er Bernstein zu.
»Möchten Sie auch einen? Ist Cognac.«
»Nein danke.«
»Ich trink’ sonst nicht, aber heute … Cognac trinkt man ja gerne auf Beerdigungen, das passt dann ja.«
Bernstein merkte, dass er schweißnasse Hände bekam. Er wollte so schnell wie möglich weg von hier. Doch ein paar Fragen musste er noch stellen.
»Wie kommt, ich meine, wie kam Ihre Frau denn üblicherweise nach Hause?«
Steinburg leerte das Glas auf einen Zug und schenkte sofort nach. Dann ließ er sich wieder auf die Couch fallen.
»Mit dem Bus.«
»Welche Linie?«
»Das weiß ich nicht, der hält da oben an der Hauptstraße.«
»Okay, das finden wir schon raus. Herr Steinburg, eine letzte Frage, dann lasse ich Sie in Ruhe.«
»Ich weiß, Sie wollen wissen, was ich heute Abend gemacht habe, stimmt’s?«
»Ja, ich muss das fragen, reine Routine.«
Steinburg kicherte hysterisch. »Man hat ja schon so viele Krimis gesehen, da weiß man, wie so was abläuft. Ist doch klar, der Ehemann ist der erste Verdächtige. Ist doch so, Herr Kommissar? Nur, wenn man das sieht, im Fernsehen, meine ich, dann denkt ja keiner, nicht mal im Traum, dass er so was mal tatsächlich erlebt!«
Er nahm einen Schluck Cognac, schniefte und wischte sich mit dem Handrücken die Augen trocken. Bernstein fühlte sich mies. Vor wenigen Minuten hatte er einem Hinterbliebenen die schreckliche Nachricht überbracht und gleich darauf musste er nach dem Alibi fragen. Es gab Situationen, in denen er sich für seine Professionalität schämte.
Steinburg gab einen Seufzer von sich.
»Ich gehe montags immer ins Kino. Warten Sie, ich habe die Karte in meiner Jackentasche.«
Er verschwand kurz auf den Flur und kam mit einem kleinen Papierschnipsel zurück. »Hier ist sie. Der Film ging etwa bis zehn, dann habe ich im ›Jenfelder Eck‹ ein Bier getrunken. So gegen elf war ich zu Hause.«
»Danke, Herr Steinburg. Ich muss Sie bitten, morgen zu uns zu kommen, damit wir ein Protokoll von Ihrer Aussage anfertigen können. Und Sie müssten Ihre Frau identifizieren.«
Steinburg sagte nichts und leerte sein Glas. Er begleitete Bernstein zur Haustür.
»Wissen Sie schon, wer …?«, fragte er an der offenen Tür.
Bernstein schüttelte den Kopf. »Nein. Aber wir kriegen sie fast alle.«
»Wenn Sie es sagen.«
Als Bernstein zu seinem Wagen ging, fröstelte er. Der kalte Morgenwind war aber nicht schuld daran.
Harald Hansen fuhr vom Tatort aus nicht zurück zu Nadja, sondern in seine eigene Wohnung in Alsterdorf. Von dort war es nicht weit bis zum Polizeipräsidium. Mit Nadja hatte er ein klares Abkommen. Sie und ihre Tochter sollten von seiner Arbeit so wenig wie möglich mitbekommen. Ihre Beziehung dauerte nun ein paar Monate und befand sich noch immer in der Probezeit. Hansen versuchte, es gelassen zu sehen. Nadja war rund zwanzig Jahre jünger als er. Was konnte er erwarten? Er genoss jede Minute mit ihr und wollte einfach nur froh sein, dieses Glück erleben zu dürfen. Es gelang ihm nicht jeden Tag, die Zweifel und Ängste nagten an ihm.
Er kochte sich eine Kanne Kaffee, ging mit einem vollen Becher des schwarzen Gebräus in sein Wohnzimmer und legte sich auf das abgewetzte Sofa. Mit kleinen, vorsichtigen Schlucken schlürfte er den Kaffee und rauchte eine Zigarette dazu. Er musste nachdenken.
Nach einer Weile schreckte er hoch. Er war auf dem Sofa eingedöst. Er schaute auf die Uhr. Halb acht, alles okay. Er streckte die Glieder, schwang die Beine vom Sofa und ging ins Bad, um sich zu waschen.
Auf dem Weg ins Büro holte er sich bei seinem Stammbäcker zwei belegte Brötchen. Das tat er jeden Morgen, wenn er zu Hause übernachtet hatte. Obwohl es kaum möglich schien, hatte sich die Situation in seinem Kühlschrank verschlechtert, seit er mit Nadja zusammen war. Um Viertel nach acht saß er am Schreibtisch in seinem kleinen Büro mit den gläsernen Trennwänden. Wenige Minuten später tauchte Bernstein auf. Die Begrüßung fiel knapp aus.
»Moin.«
»Moin.«
»Wie war’s bei dem Ehemann der Toten?«, fragte Hansen.
»Schrecklich. Naja, es ging so.« Bernstein rieb sich nachdenklich den langen Nasenrücken. »Daran werde ich mich nie gewöhnen.«
»Ein paar Dinge in unserem Job werden nie zur Routine. Das Überbringen von Todesnachrichten gehört auf jeden Fall dazu«, bestätigte Hansen aus eigener leidvoller Erfahrung.
Dann berichtete Bernstein von seinem Gespräch mit Herrn Steinburg und den bisher vorliegenden Fakten. Er war gerade fertig, als Hansens Telefon klingelte. Das Gespräch dauerte weniger als eine Minute.
»Wir sollen zu Thorwald kommen«, erklärte Hansen.
Michael Thorwald, der frischgebackene Leiter der Dienststelle, hatte diese Position schon stellvertretend ausgeführt, als Hansen am Fall Ryschkow arbeitete und dabei fast seinen Job verloren hätte. Der Vorgänger, Kriminaloberrat Jobst, war an Krebs erkrankt und inzwischen in den Vorruhestand entlassen worden. Thorwald, der vorher erst kurze Zeit den Posten des Ersten Hauptkommissars besetzt hatte, wurde zum Kriminaloberrat befördert und leitete nun das LKA 41, das für Tötungsdelikte aller Art zuständig war. Als Hansen Thorwald zum ersten Mal begegnete, hatte er nach einer Sekunde beschlossen, diesen Mann nicht zu mögen. Ein gut aussehender, stilvoll gekleideter, sonnengebräunter und dynamischer Mittvierziger, dem man das Karrierestreben sofort ansah, entsprach gar nicht Hansens Vorstellung von einem sympathischen Menschen. Inzwischen hatte er seine Meinung über Thorwald geändert und dessen Qualitäten schätzen gelernt, trotz häufiger Meinungsverschiedenheiten über die Vorgehensweise bei der Ermittlungsarbeit.
Der Kriminaloberrat begrüßte die beiden Kommissare mit Handschlag und bat sie, Platz zu nehmen.
»Wir sollten zunächst das Formelle klären«, begann Thorwald. »Hängen die Morde der letzten zwei Tage zusammen, Herr Hansen?«
»Davon können wir ausgehen, Herr Thorwald. Auch wenn uns die Ergebnisse der Rechtsmedizin und der Spurensicherung zum zweiten Fall noch nicht vorliegen, haben wir schon jetzt so viele Übereinstimmungen, dass man von einem Täter in beiden Fällen ausgehen muss.«
»Welche Übereinstimmungen haben Sie bisher?«
Bernstein hatte eine Liste vorbereitet und trug sie in Kurzform vor.
»Beide Opfer wurden in identischer Position an vergleichbaren Orten aufgefunden, beide nackt, ihre Kleidung feinsäuberlich gestapelt neben ihnen, etwa gleiches Alter, dann der Spiegel und der zugenähte Mund. Wahrscheinlich ist auch die Todesursache die gleiche.«
»Gut. Damit ist zumindest vorläufig klar, dass Ihr Team beide Fälle bearbeiten wird. Wir müssen befürchten, es mit einem Serientäter zu tun zu haben.«
»Das ist leider richtig«, meldete sich Hansen zu Wort. »Ich hoffe nur, dass er nicht in dem gleichen Tempo weitermacht.«
Thorwald schaute ihn bestürzt an. So weit hatte er nicht gedacht.
»Das hieße ja …« Der Satz blieb unvollendet. Nach einer Pause fuhr er fort. »Auf jeden Fall brauchen Sie personelle Verstärkung.«
Hansen verzog das Gesicht. Thorwald hob mahnend die Hand.
»Ich weiß, das gefällt Ihnen nicht, Herr Hansen. Aber ich werde mir bestimmt nicht im Nachhinein vorwerfen lassen, wir hätten nicht genug getan und den Fall unterschätzt. Wir wollen doch nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen, oder?«
Hansen verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und hielt ausnahmsweise den Mund.
»Oberkommissar Albrecht wird die Recherchen und die Koordination im Innendienst übernehmen. Sie bekommen zusätzlich vier Leute aus den anderen Mordkommissionen. Außerdem wollte ich, nachdem ich die Meldung von heute morgen gelesen hatte, unsere Kriminalpsychologin Frau Dr. Wolff hinzuziehen.«
»Tun Sie mir das nicht an!«, protestierte Hansen. »Diese Frau und ich, das funktioniert nicht, das ist …«
»Ruhig bleiben, Hansen«, mahnte Thorwald grinsend. »Lassen Sie mich ausreden. Frau Wolff hat Urlaub und befindet sich derzeit auf irgendeiner Insel in der Karibik.«
»Das freut mich wirklich.«
»Stattdessen bekommen Sie eine vielversprechende junge Kollegin zugeteilt. Kriminalkommissarin Vera Becker freut sich schon auf die Zusammenarbeit. Frau Becker hat, bevor sie zu uns kam, einige Semester Psychologie studiert und kann Ihnen hoffentlich bei der Erstellung eines Täterprofils helfen.«
»Warum kriege ich immer die jungen Hüpfer?«, maulte Hansen mit einem Seitenblick auf Bernstein.
»Wer sich bei Ihnen durchbeißt, den kann ich auch in jedem anderen Team einsetzen«, antwortete Thorwald.
Hansen lächelte säuerlich. »Vielen Dank für das Kompliment.«
»Frau Becker wird sich nachher bei Ihnen melden. Im Übrigen bitte ich darum, Kontakte zur Presse zu vermeiden. Wir müssen sehr sorgfältig überdenken, welche Informationen wir zu diesem frühen Zeitpunkt an die Öffentlichkeit geben. Es wird nichts bekannt gegeben, was ich nicht vorher abgesegnet habe. Verstanden?«
Hansen und Bernstein nickten brav.
»Na dann, erfolgreiches Schaffen, meine Herren.«
Vera Becker betrat etwa eine Stunde später Hansens Büro. Er saß an seinem Schreibtisch und lugte über seine Lesebrille hinweg. Kommissarin Becker hatte mittellange dunkelrote Haare, ein hübsches Gesicht mit braungrünen Augen, einer wohlgeformten Nase, einem kleinen Mund und einem markanten Kinngrübchen. Unter ihrer Jeansjacke trug sie einen schwarzen Pulli, dazu eine Jeanshose und halbhohe dunkelbraune Stiefel. Sie hatte eine kräftige Figur, ohne mollig zu sein. Hansen stand auf. Ihr Händedruck war kräftig und selbstbewusst.
»Vera Becker, guten Morgen, Herr Hansen. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
»Moin«, erwiderte Hansen trocken. »Bitte setzen Sie sich. Hat Kriminaloberrat Thorwald Sie schon informiert, worum es geht?«
»Im Groben, ja.«
»Sparen wir uns die Floskeln, Frau Becker. Um es gleich deutlich zu sagen, ich halte nichts von pseudopsychologischen Mutmaßungen. Bei uns geht es um Fakten, denn nur mit Fakten können wir einen Täter vor Gericht bringen. Ob er dann tatsächlich verurteilt wird, ist eine andere Sache, aber wir haben die Verantwortung dafür, den Richtigen zu erwischen. In meinem Team gibt es keine Alleingänge, außer von mir. Wenn Sie eine Idee oder eine Ahnung haben, reden Sie mit mir darüber. Ich entscheide, ob es Sinn macht, die Sache weiter zu verfolgen. Habe ich mich soweit klar ausgedrückt?«
»Völlig klar, Boss!«
Hansen verzog seine Mundwinkel. Die Ironie in Beckers Antwort war ihm nicht entgangen.
»Dann sollten Sie sich jetzt zügig mit unseren bisherigen Ergebnissen vertraut machen. Am Besten wenden Sie sich an den Kollegen Bernstein, der wird Ihnen alles Weitere erklären. Das ist der Lulatsch da hinten mit den roten Haaren.«
Er zeigte mit dem Zeigefinger über Beckers Schulter hinweg in das Großraumbüro. Becker drehte sich kurz um.
»Okay, der ist ja nicht zu verfehlen. Dann gehe ich mal.«
»Ja. Danke und Tschüss.«
Gelegentlich schaute Hansen von seinen Unterlagen auf, kraulte seinen grauen Sechs-Tage-Bart und beobachtete Bernstein und Becker durch die verglaste Trennwand seines Büros. Die beiden schienen sich auf Anhieb gut zu verstehen. Sie standen dicht beieinander vor Bernsteins Schreibtisch, redeten und lächelten einander an. Die hellroten Haare von Bernstein bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu Frau Beckers dunkelroter Frisur. Ohne es konkret benennen zu können, hatte Hansen den Eindruck, dass die neue Kollegin mit Bernstein flirtete.
Wenn die wüsste, dass Thomas schwul ist …, dachte er.
Um halb elf kam der Anruf von Doktor Heinrich Peters, der mitteilte, dass die Obduktion des ersten Opfers abgeschlossen sei. Hansen fuhr zusammen mit Bernstein in das Universitätsklinikum Eppendorf zum Rechtsmedizinischen Institut. Der Geruch, eine Mischung aus Verwesung und Desinfektion, drang ihnen schon im Flur in die Nasen. Es gab nichts, was diesen Geruch überdecken konnte.
Peters kam ihnen in seinem obligatorischen grünen Kittel entgegen. Er verzichtete auf die Begrüßungsfloskeln, man hatte sich ja bereits am frühen Morgen gesehen. Mit der linken Hand rieb er sich nervös die haarlose Kopfhaut.
»Gut, dass ihr kommt. So was habe ich lange nicht erlebt.«
Er führte sie in einen Raum, in dem der Körper des ersten Opfers auf einem Metalltisch lag. Der Brustraum der Frau war angenehmerweise bereits wieder zugenäht worden.
»Was meinst du damit?«, fragte Hansen.
Peters warf ihm über seine randlose Brille einen intensiven Blick zu.
»Nichts«, sagte er. »Es gibt nichts.«
»Aha.« Ein besserer Kommentar fiel Hansen dazu nicht ein. Bernstein guckte verständnislos.
Peters stemmte die Hände in die Hüften und holte Luft. »Wir haben die Leiche wirklich akribisch untersucht. Normalerweise finden wir immer eine Kleinigkeit, ein Haar, Stofffasern oder Hautpartikel, irgendetwas, das wir dem möglichen Täter zuordnen können. Aber hier: nichts!«
»Der Täter hat also keine einzige Spur an der Leiche hinterlassen?«, fragte Hansen ungläubig.
»So sieht’s aus.«
»Wie ist das möglich? Jeder Mensch hinterlässt doch Spuren, wenn er einen anderen in direktem Kontakt umbringt«, meinte Bernstein.
»Davon bin ich bisher auch ausgegangen«, sagte Peters. »Aber so direkt war der Kontakt anscheinend nicht.«
»Kannst du bitte mal von vorn anfangen?«, bat Hansen leicht gereizt.
»Wollt ihr ’nen Kaffee, bevor ich anfange?«
»Nee«, antworteten Hansen und Bernstein unisono.
»Na gut, selbst schuld. Also, Folgendes kann ich zum jetzigen Zeitpunkt sagen: Der Todeszeitpunkt lag zwischen 22 und 23 Uhr. Die Todesursache war Sauerstoffmangel. Die Frau wurde aber nicht erwürgt. Wie es aussieht, hat man ihr eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt und diese mit Klebeband um ihren Hals herum luftdicht verschlossen. Ich habe an der Haut ihres Halses Reste des Klebers gefunden. Das Labor untersucht die bereits. Es war kein schneller und leichter Tod.«
»Wie lange dauert denn so was?«, fragte Bernstein mit einem unangenehmen Gefühl im Bauch.
»Das hängt vom Volumen der Tüte ab, aber es werden einige Minuten gewesen sein. Man atmet ein, die Lunge filtert den Sauerstoff heraus und beim Ausatmen bläst man Kohlendioxid wieder aus. Nach und nach befindet sich immer mehr Kohlendioxid und immer weniger Sauerstoff in der Tüte. Man atmet tiefer und länger ein und kriegt trotzdem nicht genug Sauerstoff. Langsam steigt Panik auf, gleichzeitig wird einem schwummerig …«
»Es reicht!«, unterbrach ihn Hansen. »Können wir zu den Fakten zurückkommen?«
»Das sind Fakten!«, beharrte Peters.
»Du weißt, was ich meine!«
Doktor Peters streichelte wieder seine Glatze und lenkte ein.
»Hast ja recht, Harry. Ist wirklich unschön, das Ganze. Dieses langsame Ersticken funktioniert natürlich nur, wenn das Opfer gefesselt ist. An den Hand- und Fußgelenken fand ich die gleichen Kleberspuren, wie sie am Hals waren. Die arme Frau war also wahrscheinlich mit dem gleichen Klebeband an Händen und Füßen gefesselt, als sie starb. Der Mund wurde definitiv post mortem zugenäht. Wenigstens etwas, das sie nicht mehr erleben musste. Ansonsten gibt es erstaunlicherweise keine Abwehrverletzungen oder Anzeichen eines Kampfes. Ich nehme deshalb an, dass sie vorher betäubt wurde. An den Unterarmen gibt es Hämatome, die beim Transport der Leiche durch festes Zupacken entstanden sein müssen. Wenn man die Totenflecken miteinbezieht, kann man davon ausgehen, dass die Leiche drei bis vier Stunden nach der Tat in den Park gebracht wurde.«
»Und das zweite Opfer?«, fragte Hansen.
»Habe ich daraufhin gezielt, aber nur kurz untersucht. Du kannst davon ausgehen, dass es ähnlich abgelaufen ist.«
»Was meinst du, ein Serienmörder?«
»Ab wie vielen Opfern ist es eine Serie?«, fragte Peters zurück.
Für einen Moment standen die drei Männer schweigend in dem kalten Raum neben dem Obduktionstisch.
»Zwei Dinge noch«, setzte Peters seine Ausführungen fort. »Auch bei dem zweiten Opfer konnte ich keine Abwehrverletzungen finden. Der Täter ging bei beiden Frauen identisch vor. Erst wurden sie betäubt und dann gefesselt. Ich habe den Laborheinis schon gesagt, dass sie die Blutproben speziell auf hierfür geeignete Substanzen untersuchen sollen.«
»Gut, und das zweite?«
»Sie wurden nicht vergewaltigt. So gesehen waren es keine Sexualmorde. Aber da gibt es natürlich auch andere Vorlieben.«
Hansen klopfte Peters anerkennend auf die Schulter. »Danke, Heinrich, gute Arbeit!«
»Stets zu Diensten, Herr Kommissar.« Peters verneigte sich wie ein Butler. »Und viel Glück euch beiden.«
»Hoffentlich ist es ein schnelles Glück, sonst haben wir sehr bald wieder Arbeit für dich.«
Die Rückfahrt in das Präsidium verlief schweigend. Bernstein konzentrierte sich auf den hektischen Stadtverkehr und Hansen schnäuzte sich mehrmals die Nase. Den Geruch der Rechtsmedizin wurde er trotzdem nicht los.
Im Präsidium angekommen, gingen beide in die Kantine, um etwas zu essen. Hansen konnte sehr schnell unleidlich werden, wenn er Hunger bekam, was man seiner Figur auch ansah. Am Nebentisch diskutierten einige Kollegen über den möglichen Ausgang der am Abend anstehenden Spiele der Fußball-Europameisterschaft. Dem bisherigen Spiel der Holländer zollten die meisten Respekt. Zur Partie zwischen Frankreich und Italien gab es unterschiedliche Meinungen. Die Mehrheit glaubte an einen Sieg der Italiener. Sie sollten Recht behalten. Hansen interessierte sich nicht für Fußball und konsequenterweise auch für keine andere Sportart. Bernstein hatte es aufgegeben, dieses Thema gegenüber seinem Chef zu erwähnen. Seit heute früh wusste er, dass er von dieser EM nur wenig mitbekommen würde.
Nach dem Essen wurde eine Teambesprechung einberufen, an der acht Leute teilnahmen: Hansen, Bernstein, Becker und Albrecht bildeten das Kernteam. Hinzu kamen die Kommissare Schwanitz, Förster, Reisberg und Wolter, die Kriminaloberrat Thorwald zur Verstärkung geschickt hatte. Oberkommissar Bernstein fasste zunächst die vorliegenden Fakten einschließlich der Erkenntnisse aus den Obduktionen zusammen. Dann wurden das weitere Vorgehen und die Aufgabenverteilung besprochen. Die vier hinzugekommenen Kommissare sollten sich vorwiegend um das Auffinden möglicher Zeugen kümmern, alle Nachbarn in der Gegend der Leichenfunde und der Wohnorte der Opfer befragen und den Heimweg der Frauen rekonstruieren.
Oberkommissar Manfred Albrecht, den niemand Manni nannte, beschäftigte sich mit der Aufarbeitung der zusammengetragenen Fakten und der Koordination der Einsätze. Außerdem sollte er in den Datenbanken der Polizei nach möglichen Parallelen zu anderen Verbrechen in Deutschland suchen. Möglicherweise war der Täter vorher schon in anderen Bundesländern aktiv gewesen.
Hansen hatte das Reden bisher seinem jungen Kollegen Bernstein überlassen und schweigend die Gruppe beobachtet.
Nachdem die Formalitäten geklärt waren, mischte er sich ein.
»Eines sollte uns allen klar sein. Solange dieser Kerl in unserer Stadt herumwütet, gibt es für uns nichts Wichtigeres, als ihn zu fassen. Sagt das euren Freundinnen, Familien oder wem auch immer, wenn ihr heute Abend nach Hause kommt. Feierabend ist dann, wenn ich euch nach Hause schicke. Urlaub, Krankheit und ähnliche Dinge sind ersatzlos gestrichen. Wir werden alles tun, was wir können, um weitere Morde zu verhindern! Trotzdem werden wir mächtig Druck kriegen, wenn die Öffentlichkeit erfährt, was hier gerade läuft. Bis jetzt hatten wir Glück. Die Presse ist mehr mit Fußball als mit allem anderen beschäftigt. Aber wenn der Kerl weitermacht, sieht das ganz schnell anders aus.«
Bernstein war erstaunt. Eine so lange und leidenschaftliche Ansprache hatte er von Hansen nicht erwartet.
»Wissen wir denn, dass der Täter ein Mann ist?«, fragte Schwanitz.
»Genau genommen wissen wir es nicht«, antwortete Hansen. »Aber ich verwette meinen Arsch darauf. Und nun an die Arbeit. Bernstein und Becker: In mein Büro!«
In Hansens kleinem Raum gab es nur zwei Stühle. Becker holte sich einen Stuhl aus dem Großraumbüro. Bernstein wollte ihr helfen, doch sie lehnte ab. Sie setzten sich. Hansen stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch, rieb sich die Augen und seufzte kurz. Er sah seine beiden Mitarbeiter an.
»Mal ehrlich und nur unter uns: Wir haben nichts, nicht den geringsten Anhaltspunkt, an dem wir ansetzen könnten. Hat jemand ’ne Idee?«
»Ich glaube, ich könnte zumindest ein paar Dinge über den Täter sagen«, bemerkte Becker zaghaft.
»Ach ja?«
»Ja! Ich habe die Akten studiert, während Sie unterwegs waren. Und ich glaube, dass ich schon ein paar Erkenntnisse über den Täter gewonnen habe.«
»Soso, auf psychologischer Ebene wahrscheinlich, stimmt’s?«
Sie richtete sich trotzig auf. »Genau! Ich weiß, Sie halten nicht viel davon, aber vielleicht hören Sie mir erstmal zu!«
Bernstein konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Hansen guckte mürrisch. »Ich höre zu.«
Becker klappte eine Mappe auf, machte den Rücken gerade und begann zu referieren.
»Das Ganze ist natürlich nur ein erster Eindruck und nicht strukturiert, dafür war die Zeit zu kurz. Aber ein bisschen wissen wir schon über den Täter.«
Sie blickte auf und sah einen skeptisch-gelangweilten Gesichtsausdruck von Hansen. Sie ließ sich nicht irritieren.
»Erstens, die Leichenfundorte. Der Täter wollte, dass die Opfer sehr schnell gefunden werden. Warum? Die meisten Mörder versuchen, ihre Opfer möglichst gut zu verstecken, weil sie sich dadurch einen Vorteil erhoffen. Wir sollten uns daher fragen, welches Interesse der Mörder an einem schnellen Auffinden der Leichen haben könnte. Zweitens: Die Art und Weise der Platzierung der Leichen ist ungewöhnlich und deutet auf eine bestimmte Absicht hin. Der Täter will uns damit eine Botschaft schicken. Wir müssen herausfinden, welche Aussage dahintersteckt. Die Positionierung der Leichen hat eine demütigende Komponente, vor allem, wenn man bedenkt, welcher Generation diese Frauen zuzuordnen sind.«
»Du meinst die gespreizten Beine?«, fragte Bernstein.
Hansen bemerkte überrascht das ›Du‹.
»Genau«, antwortete Becker. »Ich habe mir die Kleidung der Frauen angesehen, eher unauffällig und alles andere als aufreizend. Der Täter präsentierte sie aber quasi als Huren, legte sie nackt im öffentlichen Raum ab. Trotzdem wurden keine sexuellen Handlungen an ihnen vorgenommen. Das ist für mich ein merkwürdiger Gegensatz.«
Hansens Haltung hatte sich geändert. Er hörte konzentriert und mit wachsendem Erstaunen zu.
»Die ordentlich zusammengelegte Kleidung kann ich noch nicht deuten«, gab Becker zu. »Vielleicht ist der Täter einfach nur ein spießiger Pedant.«
»Er hinterlässt keine Spuren, er muss pedantisch sein«, meinte Bernstein.
»Und er hat die Taten lange vorher geplant, sonst wäre eine so sorgfältige Ausführung nicht möglich«, ergänzte die junge Kommissarin.
»Das spräche für einen älteren Täter, der geduldig vorgeht und seine Leidenschaft oder seine Rachegelüste im Griff hat«, warf Hansen ein. »Fragt sich nur, was der zugenähte Mund und der Spiegel zu bedeuten haben.«
»Soweit bin ich noch nicht gekommen«, entschuldigte sich Becker.
»Was mich erstaunt«, stellte Hansen mit einer Mischung aus Ironie und Lob fest. »Daran sollten wir arbeiten. Und wir müssen herausfinden, welche Gemeinsamkeiten die beiden Frauen haben, außer der Tatsache des etwa gleichen Alters. Es muss irgendwelche Parallelen geben, denn dieser Täter ist gezielt vorgegangen. Das waren keine zufälligen Opfer. Damit werden Sie sich beschäftigen, Frau Becker.«
»Mach’ ich, Herr Haup… äh, Chef.«
Hansen warf Bernstein einen scharfen Blick zu. Der Oberkommissar grinste nur. Offensichtlich hatte er die neue Kollegin bereits eingenordet. Hansen mochte die umständliche Anrede mit Dienstrang nicht. Er bevorzugte von seinen Mitarbeitern ein knappes ›Chef‹.
»Und du, Thomas, kümmerst dich bitte um die Ergebnisse der Spusi und des Labors. Mach ihnen Feuer unter dem Hintern! Wir brauchen Fakten.«
»Geht klar, Harry.«
Damit war die Besprechung beendet. Hansen holte sich einen Kaffee und begann mit der Denkarbeit. Er spürte ein unangenehmes Grummeln in der Magengegend. Beckers Analyse hatte ihn beeindruckt. Aber ihre Erkenntnisse konnten erst zum Tragen kommen, wenn sie einen möglichen Täter im Visier hatten. Doch davon waren sie meilenweit entfernt. Die Ursache für sein Magengrummeln war ihm klar. Der nächste Mord stand unmittelbar bevor und er hatte keine Ahnung, wie er ihn verhindern sollte.
Das Labor hatte die ersten Ergebnisse. Die Kriminaltechniker konzentrierten sich zunächst auf die Untersuchung der Blutproben. Es gab überraschenderweise keine Befunde für gängige Betäubungsmittel.
»Sie suchen jetzt nach weiteren, eher unüblichen Substanzen, das braucht aber seine Zeit«, berichtete Bernstein. »Das Bernhard-Nocht-Institut hilft uns dabei.«
»Das Tropen-Institut?«, fragte Hansen.
»Ja, die kennen sich auch mit exotischen Tier- und Pflanzengiften aus.«
»Meine Nase sagt mir, dass wir damit auf der falschen Spur sind, aber schaden kann’s ja nicht.«
»Oh! Harrys berühmte Nase!«
»Halt die Klappe und geh an die Arbeit. Ich verschwinde mal vor die Tür.«
Er war genervt und spürte das Verlangen. Er brauchte dringend eine Zigarette. Vor der Tür des Haupteingangs des Präsidiums zündete er sich eine an und sog den Rauch in die Lunge. Er lief ein paar Schritte auf und ab, während er nachdachte und rauchte. Sein Instinkt sagte ihm klar und nachdrücklich, dass ein dritter Mord in der kommenden Nacht bevorstand. Wie sollte er den verhindern? Der Mörder hatte bisher keine Fehler gemacht. Würde ihm beim dritten Mal einer unterlaufen? Hansen verscheuchte die frustrierenden Gedanken und ging zurück. Kaum hatte er sein Büro erreicht, klingelte das Telefon.
»Heinrich hier«, meldete sich Dr. Peters. »Ich habe Neuigkeiten.«
»Schieß los.«
»Vergiss die Geschichte mit den Betäubungsmitteln. Ihr müsst nicht länger danach suchen. Ich weiß jetzt, wie er die Gegenwehr verhindert hat. Es war nicht leicht zu entdecken. Ich habe mir die erste Leiche noch mal vorgenommen. Eigentlich suchte ich nach einer minimalen Einstichstelle. Aber dann fand ich etwas anderes. Die Totenflecken haben es quasi getarnt. Strommarken!«
»Strommarken?«
»Genau. Das sind oberflächliche Hautschädigungen, die durch Strom erzeugt werden, vergleichbar mit leichten Verbrennungen. Sie befinden sich auf dem Rücken, im Schulterbereich, zwei kleine nebeneinander liegende Punkte, im Abstand von vier Zentimetern.«
»Und was sagt uns das?«
»Der Mörder hat einen Elektroschocker benutzt, um seine Opfer wehrlos zu machen. Nach so einem Stromschlag bist du kurzfristig wie gelähmt, da kannst du dich gar nicht wehren.«
»Heinrich, du bist immer noch einer der Besten, danke!«
»Das zweite Lob von Kriminalhauptkommissar Hansen an einem Tag! Ich mach’ mir drei Kreuze im Kalender.«
»Blödmann.« Hansen legte auf und brüllte »Thomas!«
Bernstein eilte heran. »Was ist denn los?«
»Nix mit tropischen Giften. Dr. Peters hat gerade angerufen. Der Täter hat einen Elektroschocker benutzt. Finde raus, welche Geschäfte in Hamburg solche Dinger verkaufen. Vielleicht haben die ja Unterlagen über die Käufer.«
»Okay, mache ich. Aber wenn der Kerl das Ding über das Internet bestellt hat …«
»… dann haben wir mit Zitronen gehandelt. Einen Versuch ist es wert.«
Bernstein kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück. Vera Becker, deren Schreibtisch an seinen grenzte, schaute auf.
»Sprintest du immer sofort los, wenn Hansen rumbrüllt?«, fragte sie.
Bernstein zuckte mit den Achseln.
»So ist er eben manchmal. Man gewöhnt sich dran.«
»Ich weiß nicht. Wir sind doch hier nicht beim Militär.«
»Er meint das nicht so, ist auch nicht wichtig. Hilf mir lieber, alle Geschäfte ausfindig zu machen, die Elektroschocker verkaufen.«
»Elektroschocker?«
»Ja, damit hat der Täter seine Opfer außer Gefecht gesetzt, nicht mit Betäubungsmitteln.«
»Okay, wie gehen wir vor?«
»Du suchst im Internet, ich nehm’ mir das Branchenbuch vor, wir gleichen ab und erstellen eine Liste. Die müssen wir dann von A bis Z durcharbeiten.«
»Das kann dauern.«
»Du sagst es.«
Um 16 Uhr kamen die Befragungsteams zurück. Ihre Ergebnisse tendierten gegen Null. Hansen verordnete den Kommissaren eine kurze Kaffeepause, danach sollten sie ihre Berichte schreiben und abends die Tour noch mal abarbeiten, um die Menschen anzutreffen, die am Tage nicht zu erreichen waren.
Er las sich zum dritten Mal die gesammelten Fakten zu den beiden Opfern durch. Es musste einen Bezugspunkt geben, der für den Täter wichtig war. Zwei Parallelen fielen ihm auf. Beide Frauen waren seit vielen Jahren verheiratet. Und beide Frauen hatten regelmäßige Termine. Frau Steinburg traf sich immer montags mit ihren Freundinnen. Kommissar Schwanitz hatte bei seiner Befragungstour mit der Nachbarin der Lehmanns, der neugierigen Frau Siems, gesprochen und dabei erfahren, dass Frau Lehmann ihren kranken Mann am Sonntagabend oft für mehrere Stunden allein ließ. Sie hatte Frau Siems gebeten, ab und zu nach ihrem Mann zu schauen. Was Frau Lehmann an diesen Abenden machte, wusste die Siems nicht.
Das müssen wir rausfinden, dachte Hansen. Gewohnheiten, immer wieder gleiche Abläufe sind es, die dem Täter seine Planung ermöglichen.
Das Klingeln des Telefons unterbrach seine Gedanken. Nadja war am anderen Ende der Leitung.
»Kommst du heute zu uns nach Hause?«, fragte sie.
»Tut mir leid, daraus wird nichts. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich heute arbeiten muss. Wahrscheinlich geht es bis in die Nacht hinein.«
»Schade. Mareike fragt nach dir.«
Hansen schluckte. Er mochte Nadjas Tochter sehr und wusste, dass die Kleine nach dem Tod ihres Vaters ihn als den richtigen Ersatzpapa auserwählt hatte. Seine alte, verkrustete Seele hatte die Herzlichkeit, die ihm von Mareike entgegengebracht wurde, gierig angenommen.
»Morgen Abend vielleicht. Gib ihr einen dicken Kuss von mir.«
»Den hätte ich auch gern. Na gut, dann bis morgen.«
Oberkommissar Bernstein hatte ein ähnliches Problem. Sein Freund Jan stand gerade in der Küche und bereitete ein mehrgängiges Abendessen vor, als er anrief, um mitzuteilen, dass es heute spät werden würde. Jan war enttäuscht und beendete das Gespräch grußlos. Bernstein gab einen Seufzer von sich.
»Probleme?«, fragte Kommissarin Becker.
»Nein, nichts Ernstes. Was hast du bis jetzt?«
»Knapp neuntausend Treffer bei Google. Und du?«
»Elektroschocker kriegst du praktisch in jedem Waffengeschäft, davon gibt’s in Hamburg zum Glück nicht so viele. Aber die Dinger sind frei verkäuflich. Es reicht, achtzehn Jahre alt zu sein. Ich frage mich, wieso die nicht verboten sind.«
»Dazu kann ich dir was sagen. Bei Wikipedia ist ein Artikel darüber. Eigentlich sind diese Geräte laut Waffengesetz verboten. Ausgerechnet das Bundeskriminalamt ist berechtigt, den freien Verkauf der Dinger zuzulassen. Ich zitiere aus dem Wikipedia-Artikel:
›Elektroimpulsgeräte sind nach Anlage 2 des WaffG verboten, wenn sie kein amtliches Prüfzeichen für die gesundheitliche Unbedenklichkeit tragen. Nach § 40 Abs. 4 WaffG kann das Bundeskriminalamt jedoch Ausnahmen zulassen. Eine solche Ausnahmegenehmigung wurde am 28. August 2003 erteilt. Sie war zunächst gültig bis zum 31. Dezember 2007. Die Gültigkeit wurde bis zum 31. Dezember 2010 verlängert. Da es bis heute keine Prüfungsvorschriften für ein amtliches Prüfzeichen über die gesundheitliche Unbedenklichkeit gibt, sind Elektroschocker frei verkäuflich an Personen über 18 Jahre.‹
Klasse, was? Weil es keine Vorschriften über das Prüfzeichen gibt, gibt es auch kein Verbot! Was für ein bürokratischer Irrsinn! Ausgerechnet unsere Kollegen vom BKA verlängern ständig die Ausnahmegenehmigung.«
Bernstein schaute seine Kollegin ungläubig an.
»Dazu fällt mir nicht mal mehr ein blöder Spruch ein.« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Machen wir weiter, nützt ja nix.«
Manfred Albrecht tauchte in Hansens Büro auf.
»Komm rein«, sagte Hansen, was irgendwie unsinnig war, denn Albrecht war schon drin.
»Ich wollte dir nur schnell die Zusammenfassung der Berichte der Befragungsteams geben.«
»Okay, leg sie auf den Stapel da. Hast du irgendwas in unseren Datenbanken gefunden?«
Albrecht schüttelte den Kopf. »Rein gar nichts. Es gibt keine Übereinstimmungen mit anderen ungeklärten Fällen in Deutschland. Ich habe mir dann zur Sicherheit auch die geklärten Fälle auf bestimmte Merkmale hin angesehen. Hat aber ebenso wenig gebracht. Ich würde sagen, wir haben es mit einem Täter zu tun, der bisher nicht in Erscheinung getreten ist.«
»Dafür ist er aber ziemlich gut und schnell. Oder er hat nur seine Methode geändert.«
»Glaub’ ich nicht«, meinte Albrecht. »Diese Typen ändern ihr Vorgehen in der Regel nicht so radikal, dass gar keine Parallelen mehr zu finden sind.«
»In der Regel hast du Recht und jede Regel hat ihre Ausnahme«, antwortete Hansen.
Das wurde Albrecht zu philosophisch. Er wechselte das Thema.
»Liegt noch was an? Ich würde sonst Feierabend machen.«
Typisch Albrecht, dachte Hansen. Er macht seine Arbeit und ist darüber hinaus nie engagiert. 16.30 Uhr ist Feierabend. Kein Wunder, dass er es nur bis zum Oberkommissar gebracht hat, obwohl auch er bald auf die sechzig zugeht.
»Nee, geh man ruhig.«
Kurze Zeit später zog er seine ausgefranste Jeansjacke an und ging zu Bernstein und Becker.
»Wie sieht’s bei euch aus?«
»Wir kämpfen uns durch den Berg der Elektroschock-Händler«, antwortete Bernstein. »Die Chancen, etwas Brauchbares zu finden, stehen schlecht für uns.«
»Trotzdem, nicht aufgeben!«
»Keine Sorge, Chef, wir bleiben am Ball.«
»Ich verschwinde mal kurz, muss da einer Sache nachgehen. In zwei Stunden bin ich wieder da.«
Bernstein nickte und konzentrierte sich wieder auf seinen Bildschirm.
»Was hat er vor?«, fragte Becker, nachdem Hansen gegangen war.
»Was weiß ich.«
»Das verstehe ich nicht. Wir sind doch ein Team. Sollte unser Chef uns nicht informieren, welcher Sache er gerade nachgeht?«
»Daran wirst du dich gewöhnen müssen. So ist Hansen nun mal. Wenn er was Konkretes hat, werden wir es erfahren.«
»Unter Teamarbeit verstehe ich was anderes!«
»Vera, halt die Klappe und mach weiter!« Vera Becker schloss den Mund und machte weiter.
Harald Hansen fuhr zur Wohnung der Lehmanns. Mit dem Schlüssel, den die Spurensicherung bei den Sachen der toten Frau Lehmann gefunden hatte, öffnete er die Wohnungstür. Herr Lehmann weilte im Krankenhaus, Hansen konnte also sicher sein, niemanden anzutreffen. Er hoffte, einen Hinweis darauf zu finden, was Frau Lehmann sonntagabends üblicherweise vorhatte.
Er begann seine Suche im Wohnzimmer. Es würde nicht leicht sein, fündig zu werden, da er nicht wusste, wonach er suchte. Da Dorothea Lehmann der Nachbarin Frau Siems nie verraten hatte, was sie an diesen Abenden unternahm, ging Hansen davon aus, dass der Ehemann es auch nicht wissen sollte. Wie sorgfältig musste man ein Geheimnis vor einem dementen Menschen verbergen, der möglicherweise schon im nächsten Moment vergaß, was er herausgefunden hatte? Eigentlich spielt das keine Rolle, dachte Hansen. Wer eine Sache verheimlichen will, versteckt sie so gut wie möglich. Er denkt nicht darüber nach, wer auf welche Weise danach suchen wird.
Im Wohnzimmer wurde er nicht fündig. Er versuchte es in der Küche und öffnete diverse kleine Schüsseln und Plastikdosen, von denen es sehr viele gab, die in der Regel auf Plastikdosen-Privat-Verkaufsveranstaltungen an plastikdosensüchtige Frauen verkauft werden, wodurch sich andere, ebenso plastikdosensüchtige Frauen ihr Haushaltsgeld aufbessern. Er stieß auf Unmengen leerer Dosen und Schüsseln. Die wenigen mit Mehl, Zucker und Salz gefüllten enthielten auch keine Geheimnisse.
Er durchsuchte das Schlafzimmer, obwohl er davon überzeugt war, dort nichts Aufregendes zu finden. Genauso war es.
Dann öffnete er die Tür zum dritten Zimmer, einem gestreckten, schmalen Raum, gefüllt mit Zweier-Sofa, Bügelbrett, Wäscheständer und einem alten, massiven Büfett, das aus einem breiteren Unterteil und einem Oberteil mit zwei Glastüren bestand. Hinter den Glastüren sah er eine Sammlung von Porzellangeschirr, das durch seine Hässlichkeit faszinierte. Auf der weißen Grundfarbe hoben sich die goldenen Ränder und die roten Rosenmotive besonders gut ab. Das persönliche Reich der Dorothea Lehmann. Hier würde er finden, wonach er suchte. Er begann mit dem Büfett. Hinter den Türen des Unterteils verbarg sich allerlei Krimskrams ohne Wert. Im oberen Teil schaute er in Zuckerdöschen, Suppenschüsseln und Saucieren nach. Nichts.
Sein Blick schweifte durch den Raum. Auf dem Sofa lagen Stapel von gebügelter und ungebügelter Wäsche. Auf dem Boden neben dem Sofa stand eine Truhe aus Korbgeflecht. Hansen öffnete den Deckel. Sorgfältig geordnet füllten unterschiedliche Stricknadeln, unzählige Wollknäuel in merkwürdigen Farbkombinationen und Hefte mit Strickanleitungen die Truhe. Er hob Schicht um Schicht ab und wühlte sich nach unten durch. Seine Finger ertasteten einen eckigen Gegenstand. Er griff zu und zerrte das Unbekannte unter dem Wollwust hervor. Es war eine kleine Holzschachtel. Im Inneren lag ein Stapel Briefe. Hansen wählte einen aus und las ihn. Es war ein dreißig Jahre alter Liebesbrief von einem Ullrich. Alle anderen Briefe stammten ebenfalls von Ullrich. Frau Lehmann hatte offensichtlich vor etwa dreißig Jahren eine Affäre gehabt und die aufbewahrten Briefe legten den Verdacht nahe, dass sie es später bereut hatte, die Affäre beendet zu haben und bei ihrem Mann geblieben zu sein. Viele Jahre später wurde ihr Mann schwachsinnig und sie musste ihn pflegen.
Sie muss ihn gehasst haben, dachte Hansen. Interessante Geschichte, aber nicht das, wonach ich suche.
Unter den Briefen entdeckte er ein kleines schwarzes Notizbuch. Er klappte den Einband auf. Die erste Seite war leer. Er blätterte um. Eine Tabelle erstreckte sich quer über die nächsten beiden Seiten. Er kramte seine Lesebrille hervor. Die handgemalten Spalten hatten Überschriften. Über der ersten Spalte stand ›Name‹, dann ›Datum‹, ›Ort‹, ›Zeit‹, ›Frau‹ und schließlich ›Betrag‹. Die folgende Doppelseite begann mit ›Ausgaben‹ und ›Auszahlung‹, gefolgt von ›Gertrud‹ und ›Doro‹.
Hansen setzte sich auf das Sofa, mitten zwischen die Wäschestapel, und las die in winziger, aber sehr sorgfältiger Schrift verfassten Eintragungen. Unter ›Name‹ fanden sich ausschließlich Männernamen. Die benannten ›Orte‹ waren oft Cafés, Hotels oder Gaststätten, manchmal stand auch nur ›Privat‹ dort. Hansen versuchte zu begreifen, welche Bedeutung die Eintragungen haben konnten. Ein Verdacht keimte in ihm auf. Er blätterte weiter in dem Notizbuch. Die Tabellen setzten sich über zwei Doppelseiten fort. Dann folgten nur noch leere Seiten. Fast am Ende des Buches gab es wieder Eintragungen, diesmal waren es Adressen, die den Namen der vorderen Seiten zugeordnet waren.
Wer ist Gertrud?, fragte sich Hansen. Er ging auf den Flur und durchsuchte das neben dem Telefon liegende Register nach einer Gertrud. Unter ›G‹ wurde er fündig. Er rief im Präsidium an und ließ sich die Adresse geben.
Frau Gertrud Grabowski wohnte in einem Hochhaus in Wandsbek, in der Nähe des Busbahnhofs Wandsbek-Markt, im zehnten Stock. Das Haus war ebenso betagt wie der Fahrstuhl, den Hansen nun betrat. Er drückte den Knopf mit der ›10‹. Die Türen schlossen sich, der Fahrstuhl überlegte ein paar Sekunden und setzte sich schließlich mit dem Stöhnen eines alten, gebrechlichen Mannes, der mühsam von einer Parkbank aufsteht, in Bewegung. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er darauf keine große Lust verspürte. Hansen schwitzte. Kleine, hermetisch abgeschlossene Räume ohne Fenster, die sich unter merkwürdigen Geräuschen bewegten, mochte er nicht besonders. Er schielte auf das Herstellerschild. ›Baujahr 1976‹ stand da in metallischen Lettern. Das beruhigte ihn nicht und sein Blick suchte vorsichtshalber nach dem Notrufknopf. Wider Erwarten brauchte er ihn nicht und kam wohlbehalten im zehnten Stock an. Er fand die richtige Tür und klingelte. Eine dauergewellte blondhaarige Frau, geschätzt Mitte sechzig, gepflegte Erscheinung, öffnete ihm die Tür.
»Ja bitte?«
»Hauptkommissar Hansen, Kripo Hamburg«, sagte Hansen, während er seinen Ausweis präsentierte. »Könnte ich Sie einen Moment sprechen?«
Ein kurzes Erschrecken wich schnell dem Anschein einer Resignation in ihrem Gesicht.
»Ja, natürlich. Kommen Sie rein. Ich wusste, dass es nicht ewig gut gehen würde.«
Sie führte ihn in ihre gute Stube und bat ihn, Platz zu nehmen.
»Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Ich habe ihn gerade frisch aufgegossen.«
Hansen trank nie Tee, nahm jedoch dankend an.
Nachdem sie den Tee serviert hatte, setzte sie sich auf das geblümte Sofa, legte die gefalteten Hände in den Schoß und seufzte.
»Nun fangen Sie schon an, junger Mann. Quälen Sie mich nicht länger.«
Hansen hätte fast losgeprustet. ›Junger Mann‹ hatte ihn seit ewigen Zeiten niemand mehr genannt. Er beherrschte sich.
»Es ist schön, dass Sie nicht lange drumherum reden wollen, Frau Grabowski«, tastete er sich vor. »Ich habe das Notizbuch ihrer Freundin Dorothea gelesen.«
»Ach Gott, dieses blöde Notizbuch. Ich habe ihr immer gesagt, das wird einmal unser Verderben werden. Aber sie ist ja so schrecklich penibel. Das muss alles seine Ordnung haben, sagt sie immer. Wenn Sie mich fragen, man kann’s auch übertreiben mit der Ordnung!«
»Ja, sie hat wirklich alles säuberlich vermerkt.«
»Naja, dann wissen Sie ja bereits alles. Holen Sie Ihre Handschellen heraus und verhaften Sie mich. Ich bin alt. Ich habe keine Zeit mehr für langes Geplänkel.«
»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«
»Hat Doro Ihnen das nicht gesagt? Wundert mich, das reibt sie mir gerne unter die Nase. Ich bin sechzehn Jahre älter als sie. Du wirst vor mir abtreten, meine Liebe, sagt sie oft, wenn wir mal nicht einer Meinung sind. Sie kann ein richtiges Miststück sein! Verzeihung, Herr Kommissar.«
Hansen rechnete. Neunundfünfzig plus sechzehn macht fünfundsiebzig. Der ›junge Mann‹ wurde verständlicher. Hansen hatte sich gründlich verschätzt.
»Tja, also so schnell geht das bei uns nicht mit den Handschellen«, nahm er den Faden wieder auf. »Ich hätte vorher gern von Ihnen gehört, wie sich das alles abgespielt hat.«
Das war der entscheidende Moment. Im Grunde hatte er keine Beweise für irgendeine kriminelle Handlung, er hatte sich nur etwas zusammengereimt. Aber das schlechte Gewissen von Frau Grabowski und die Erwähnung des Notizbuches hatten ihm diese wunderbare Ausgangsposition verschafft. Er musste die alte Dame nur zum Reden verführen.
»Wie kamen Sie überhaupt auf die Idee?«
Es funktionierte. Frau Grabowski redete. Wahrscheinlich sehnte sie sich schon lange danach.
»Oh, das war … vor ein paar Monaten. Nein, es muss wohl schon ein Jahr her sein, da saßen Doro und ich in einem Café und aßen Kuchen. Ich hatte ihr gerade mein Leid über die knappe Witwenrente geklagt und dass ich mir bald die Miete für meine schöne Wohnung nicht mehr leisten könnte. An einem der Nebentische knutschte ein älterer Herr mit einer deutlich jüngeren Frau rum. Doro hatte den Mann erkannt, es war ein Nachbar aus dem Nebenhaus und er war verheiratet. Aber nicht mit der Frau, die er da abknutschte. Ich glaube, er hieß Schröder. Doro regte sich über ihn auf und verfluchte die untreuen Männer im Allgemeinen. Sie hatte schon immer so einen Hass auf Männer, keine Ahnung, woher das kam. Jedenfalls fing sie plötzlich an, darüber zu fabulieren, dass man vielleicht Kapital aus der Sache schlagen könnte. Ein paar Euro extra können wir beide gut gebrauchen, sagte sie. Und irgendwie wäre es ja nur eine gerechte Strafe für den Schröder. Ich habe erst gar nicht begriffen, was sie meinte, aber sie hat es mir dann verklickert.«
Frau Grabowski nestelte nervös mit ihren Fingern an der Knopfleiste ihrer weißen Rüschenbluse herum.
»Sie haben Ihren Tee noch nicht getrunken, Herr Kommissar«, versuchte sie abzulenken.
Hansen griff brav zur Tasse, doch sein wurstiger Zeigefinger passte nicht in das Loch des zierlichen Henkels. Er nahm die linke Hand zu Hilfe, führte die Tasse mit vier Fingern am Rand zum Mund und schlürfte einen winzigen Schluck.
»Sehr gut«, log er. »Und wie ging es weiter?«
Frau Grabowski lächelte zufrieden, dann wurde ihr Gesicht wieder ernst.
»Ich wollte das eigentlich nicht. Doro kann sehr energisch werden, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben. Sie hat mir quasi befohlen, die Frau zu verfolgen, um herauszukriegen, wer sie ist und wo sie wohnt. Sie ist dem Schröder hinterher, als die beiden getrennt das Café verließen. Naja, so fing das an. Wir haben Informationen gesammelt und Doro hat den Mann irgendwann anonym damit konfrontiert, mit einem Brief. In dem stand, dass wir von dem Verhältnis wüssten und er solle mal überlegen, wie viel es ihm wert sei, wenn seine Ehefrau nichts davon erfahren würde. Das Geld sollte er dann bis zu einem bestimmten Zeitpunkt an dem und dem Ort hinterlegen. Danach würde er nie wieder von uns hören. Daran haben wir uns auch gehalten. Das müssen Sie mir glauben. Wir haben nie weitere Forderungen gestellt. Im Grunde genommen haben wir gar nichts gefordert, wir haben nur mal höflich angefragt.«
»Und die Männer haben bezahlt?«
»Fast alle. Einer hat tausend, der andere zweitausend Euro gezahlt, je nachdem, was sie konnten. Und einer hat nur fünfzig Euro gegeben, das fanden wir schon frech. Sogar den haben wir danach in Ruhe gelassen.«
»Sie haben also untreue Ehemänner erpresst.«
Frau Grabowski schaute verlegen Richtung Teppichboden.
»Das klingt zu hart, finde ich. Die Männer haben doch freiwillig gezahlt, wir haben nur gefragt, was es ihnen wert ist. Werde ich nun verhaftet?«
»Wann haben Sie Ihre Freundin zuletzt gesehen?«
»Am Sonntagabend, wie immer. Das ist immer unser Tag, wissen Sie, der Tag, an dem wir die nächsten Pläne schmieden.«
»Wie haben Sie die untreuen Ehegatten eigentlich gefunden?«
»Ach, Herr Kommissar, das ist gar nicht schwer. Es gibt da bevorzugte Orte, Cafés, Hotelbars, Bahnhöfe. Ich war gewissermaßen die Kundschafterin für uns. Doro musste sich ja viel um ihren senilen Mann kümmern. Wenn man mit offenen Augen durch die Gegend läuft, findet man diese Paare auch. Und ich hatte ja reichlich Zeit.«
»Wann hat Frau Lehmann Sie am Sonntagabend verlassen?«
»Das war so gegen halb zehn. Warum fragen Sie mich das? Das muss Sie Ihnen doch selbst schon erzählt haben!«
Der unangenehme Moment war gekommen.
»Leider konnte sie das nicht mehr. Ihre Freundin wurde am Montagmorgen tot aufgefunden, im Stadtpark.«
»Oh mein Gott! Nein! Das kann nicht …«
Gertrud Grabowski saß wie erstarrt auf ihrem Sofa. Plötzlich sprang sie auf und lief in die Küche. Hansen hörte Schluchzen. Er blieb, wo er war und wartete. Es folgte ein Schnäuzgeräusch. Nach einer Weile erschien sie wieder im Wohnzimmer, ein zerknülltes Papiertaschentuch in der Hand.
»Wie ist sie gestorben?«, fragte sie mit heiserer Stimme.
Hansen erklärte es ihr so behutsam wie möglich. Er hatte Mitleid mit der alten Frau, die in Zukunft ohne ihre Freundin sehr einsam sein würde – und zudem ein Strafverfahren durchzustehen hatte. Es brachte nicht jedes Mal Befriedigung, einen Täter zu überführen.
Er bat sie, am nächsten Tag im Präsidium zu erscheinen, damit man ihre Aussage zu Protokoll nehmen könne. Er versuchte, ihr die Angst zu nehmen. Es werde keine allzu hohe Strafe auf sie zukommen, angesichts der Umstände und ihres Alters. Er verabschiedete sich, sie schloss die Tür und er hörte das Wehklagen dahinter, als er sich entfernte. Am Lift angekommen, zögerte er. Zehn Stockwerke! Zu viele, um zu Fuß zu gehen.
Auf dem Rückweg in das Präsidium gönnte sich Hansen einen Abstecher zu einem Fast-Food-Restaurant. Den Hackklops im pappigen Brötchen aß er während der Fahrt. Zurück im Büro, beorderte er sogleich Bernstein und Becker zu sich.
»Macht ihr Fortschritte?«, fragte er ohne Umschweife.
»Nicht wirklich«, antwortete Bernstein. »Wir werden morgen sämtliche Geschäfte in Hamburg abklappern, die solche Elektroschocker verkaufen. Aber die Chancen stehen schlecht, unserem Mann dabei auf die Spur zu kommen. Er kann sich das Ding auch im Internet bestellt haben, es gibt Dutzende von Anbietern. Ich bezweifle, dass die alle korrekt im Sinne der Altersüberprüfung und der Personalien arbeiten. Außerdem ist es ja leicht, im Internet eine andere Identität anzunehmen.«
»Es gibt einfach zu viele Möglichkeiten«, ergänzte Kommissarin Becker.
»Dafür bin ich auf einen neuen Aspekt gestoßen«, sagte Hansen. »Ich hatte mich gefragt, was Frau Lehmann an dem Abend ihres Todes vorhatte. Es gibt eine Übereinstimmung zwischen den Opfern. Beide Frauen hatten an den Wochentagen ihrer Ermordung regelmäßig einen Termin. Da setzte der Täter an. Er beobachtete sie und fand die Gewohnheiten heraus. Etwas, worauf er sich verlassen konnte, was jeden Sonntag, Montag oder Dienstag immer wieder gleich ablief.«
Er erzählte den beiden jungen Kommissaren von den Erpressungen und dem regelmäßigen Treffen der Frauen Lehmann und Grabowski.
»Es könnte also die Rache eines Erpressten sein?«, fragte Becker.
»Das wäre aber schon perfide, denn es hieße ja, dass der Typ einen zweiten Mord begangen hätte, um den Anschein eines Serienmörders zu erwecken und von der Erpressung abzulenken«, warf Bernstein ein.
»Naja, ausschließen können wir das nicht«, meinte Hansen. »Vielleicht hat der Mörder den zweiten Mord tatsächlich nur deshalb begangen. Was mich daran stört: Er hätte dann von vornherein beide Morde geplant haben müssen. Sonst hätte er das Verbrechen an Frau Lehmann nicht so inszenieren können. Ich glaube eher an einen Zufall. Entscheidend ist der gewohnheitsmäßige Ablauf des Abends. Frau Becker, Sie sind die Psychologin. Was meinen Sie?«
Becker hob abwehrend die Hände. »Psychologin bin ich nicht, hab’ ja keinen Abschluss. Aber mich stört da auch was. Hatten Sie nicht gesagt, dass die beiden Frauen die Männer nach dem ersten Erpressungsversuch in Ruhe gelassen haben?«
»Ja, nur wissen wir nicht, ob die Lehmann nicht doch mal auf eigene Rechnung weitergemacht hat. Vielleicht bei einem besonders solventen Kandidaten, aus dem sie mehr rausholen wollte?«
»Hmm, möglich wär’s. Trotzdem, der zweite Mord passt nicht dazu. War Frau Steinburg vielleicht auch an der Erpressung beteiligt?«
»Nein, das hätte die Grabowski erwähnt. Nichtsdestotrotz müssen wir der Sache nachgehen.«
Hansen gab Bernstein das Notizbuch von Frau Lehmann.
»Schick morgen ein paar Leute los, die sich die Männer auf der Liste vornehmen. Sag ihnen, sie sollen diskret vorgehen, wir müssen ja nicht ein Dutzend Ehen auf einen Schlag kaputt machen.«
»Hört, hört«, feixte Bernstein. »Seit wann gehen wir denn so feinfühlig vor? Kaum hast du eine feste Beziehung, wirst du weich.«
Hansen bedachte ihn mit einem bösen Blick. »Nimm dir nicht zuviel raus, Thomas.«
Oberkommissar Schwanitz betrat das Büro. »’N Abend Chef, Kollegen. Wir sind jetzt mit den Befragungen durch.«
»Und?«
Schwanitz strich sich müde mit einer Hand durch sein schütteres blondes Haar. »Viel haben wir nicht, hauptsächlich uninteressantes Geschwafel. Nur eine Aussage könnte wichtig sein. In dem Hochhaus am Öjendorfer Park wohnt eine junge Frau, Stefanie Reimers heißt sie. Die ist gestern Nacht spät nach Hause gekommen und hat sich über ein Auto gewundert, das auf dem Parkplatz am Park stand. Normalerweise ist der um die Uhrzeit leer, das war so gegen Mitternacht. Das Auto hat sie als einen weißen Lieferwagen beschrieben. Mehr konnte sie nicht dazu sagen. Den Fahrer hat sie nicht gesehen.«
»Schade. Okay, dann geht nach Hause, morgen früh um acht sehen wir uns wieder.«
Schwanitz nickte und schaute auf seine Armbanduhr. »Oh, dann schaffe ich es sogar noch bis zum Anpfiff. Und tschüss.«
Bernstein blickte ihm neidisch hinterher. Doch er traute sich nicht, ebenfalls zu gehen. Seine blöde Bemerkung über Hansens Beziehung hatte diesen wirklich verärgert. Einen weiteren Fehler durfte sich Bernstein heute nicht erlauben.
»Der hat’s nicht kapiert«, stellte Hansen leicht verärgert fest.
»Wer hat was nicht kapiert?«, fragte Becker.
Hansen schaute genervt gen Zimmerdecke.
»Er scheint nicht der Einzige zu sein.« Er beugte sich vor. »Was ich meine: Der Kollege Schwanitz hat nicht begriffen, dass es Wichtigeres gibt als diese blöde Fußball-EM! Wahrscheinlich wird unser Doppelmörder heute Nacht zum Dreifachmörder. Wir haben nicht den blassesten Schimmer, wer er ist und wo er zuschlagen wird. Aber Herr Schwanitz freut sich, es bis zum Anpfiff noch nach Hause zu schaffen! Ihnen, Frau Becker, kann man das ja verzeihen, als Frischling.«
»Was habe ich denn gesagt?«
»Komm Harry, nun beruhige dich mal. Jeder hier gibt sein Bestes«, versuchte Bernstein zu schlichten.
»Nein, ich beruhige mich nicht! Ich hasse es, ein Verbrechen kommen zu sehen und nichts dagegen tun zu können. Und Leute, denen das am Arsch vorbeigeht, kann ich nicht leiden!«
Hansen starrte seine beiden Mitarbeiter mit böse funkelnden Augen an. »Es liegt doch klar auf der Hand. Er wird wieder zuschlagen. Sonntagnacht Nummer eins, Montagnacht Nummer zwei und heute, Dienstagnacht Nummer drei! Irgendwo hier in unserer Stadt läuft eine ältere Frau durch die Gegend, die nur noch wenige Stunden zu leben hat. Sie weiß es noch nicht. Aber sie wird einen üblen, qualvollen Tod erleiden. Und wir sitzen hier und können nichts dagegen tun.«
»Das weißt du doch gar nicht. Vielleicht macht der Typ nach zwei Morden Schluss. Oder wenigstens eine Pause.«
»Thomas, glaube mir, ich kann es riechen, ich kann es spüren, mein ganzer Körper sagt es mir.«
Bernstein stand abrupt auf. »Mir reicht’s. Ich gehe nach Hause. Du magst ja vielleicht sogar Recht haben. Was willst du tun? Die ganze Nacht hier sitzen und auf den Anruf warten, um dann am Tatort im Halbschlaf womöglich wichtige Details zu übersehen? Das ist wenig sinnvoll. Wir haben keine Spur! Ist doch besser, wenn wir morgen halbwegs fit an die Arbeit gehen. Das hast du mir doch immer gepredigt!«
Dem konnte Hansen nicht widersprechen. Widerwillig lenkte er ein.
»Okay, hast recht. Macht Feierabend.«
»Wir könnten ein Bierchen trinken gehen«, schlug Bernstein versöhnlich vor.
»Nein danke, ich gehe lieber nach Hause.«
Becker hatte die Auseinandersetzung schweigend und mit Erstaunen verfolgt. Die Kommissare verabschiedeten sich von Hansen und gingen gemeinsam zum Fahrstuhl.
»Oha!«, entfuhr es Becker. »Die Nerven liegen blank.«
Bernstein schüttelte den Kopf. »Das solltest du nicht überbewerten. Wie ich schon sagte, so ist Hansen nun mal. Er geht auf in seinem Job. Er hasst es, an einem Punkt angekommen zu sein, an dem er nicht mehr Herr der Lage ist. Ich kann’s verstehen. Ich fühle mich auch beschissen dabei. Der Witz ist, er hat mir beigebracht, gerade dann auf seinen Verstand und nicht auf sein Gefühl zu hören.«
Sie erreichten den Parkplatz.
»Wie wär’s mit einem Glas Wein?«, fragte Becker.
»Ein anderes Mal gerne. Heute will ich nur nach Hause.«
Das Fußballspiel hatte Bernstein in diesem Moment völlig vergessen.
Hansen stand an einem der Fenster des Großraumbüros und schaute hinaus auf die Stadt. Der Stadtpark, ein weitläufiges Grünland mitten in Hamburg, war nicht weit entfernt. Der Park, in dem die erste Leiche gefunden wurde. Vorgestern. Es kam ihm vor, als sei es viel länger her. In welcher der zahlreichen Grünanlagen Hamburgs würde man die nächste Leiche finden? Hansen spürte einen Schmerz in der Magengegend. Reflexartig griff er nach seiner Zigarettenschachtel und zündete sich eine an.
Scheiß auf das Rauchverbot, dachte er, ist sowieso keiner mehr hier. Die Tür zum Treppenhaus öffnete sich und die Putzkolonne schwärmte aus. Hansen holte seine Jacke und flüchtete. Auf dem Weg nach Hause begegneten ihm viele Autos mit kleinen Fähnchen, deren Halterungen an den Seitenscheiben der Fahrzeuge festgeklemmt waren. Neben den schwarz-rot-goldenen sah er heute auch viele italienische Fahnen. Hansen konnte das Brimborium nicht nachvollziehen. Er hasste alles, was mit Massenaufläufen von Menschen zusammenhing. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, einen dieser Public-Viewing-Plätze zu besuchen. Dreißig Jahre Dienst, in denen er vorwiegend die schrecklichen Seiten menschlichen Handelns kennengelernt hatte, zeigten ihre Wirkung. Im Inneren hatte er sich von der Spezies Homo Sapiens distanziert – von Ausnahmen abgesehen.
Zuhause angekommen, überlegte er, ob er Nadja anrufen sollte. Ihm war nicht nach Reden. Er öffnete die Kühlschranktür und nahm sich das letzte Bier.
Mist, dachte er, ich hätte Bier kaufen müssen. Naja, vielleicht besser so. Heute Nacht könnte die nächste Leiche auftauchen.