Читать книгу Hamburg - Deine Morde. Die Moral eines Killers - Andreas Behm - Страница 7
KAPITEL 2
ОглавлениеDas Wetter entwickelte sich im Laufe des Tages, die Sonne erwärmte noch kurz vor ihrem Untergang die Luft und der forsche Wind verkümmerte zu einem Hauch.
Paul Hartfeld verließ seine Wohnung und machte sich zu Fuß auf den Weg zu seiner etwa einen Kilometer entfernten Garage. Der dunkelblaue, unscheinbare Golf, den er gern beruflich nutzte, stand zwar vor seiner Haustür, aber ihm war jetzt nach ›Freude am Fahren‹, das konnte der Golf ihm nicht bieten. Für seine beruflichen Fahrten wählte er immer ein Auto, das niemandem besonders auffiel. Der Golf erfüllte seinen Zweck. Es war nicht das aktuelle Modell und es fuhr zu Tausenden durch die Straßen Hamburgs. Es hatte keine Alufelgen, keine besondere Farbe und niemand schaute ihm nach. Es war die viel zitierte graue Maus. Außerdem fand man leicht am Straßenrand ein ähnliches Modell, dessen Nummernschilder man sich für kurze Zeit ausleihen konnte. Wenn dann der äußerst unwahrscheinliche Fall eintrat, dass ein Zeuge sich das Automodell und sogar noch das Kennzeichen korrekt gemerkt hatte, fand die Polizei schnell einen Verdächtigen, der keine Ahnung hatte, warum er verhaftet wurde. Wertvolle Zeit verstrich, während die Polizei sich in Sackgassen verlief.
Die Freude am Fahren fand Hartfeld nicht in einem BMW, sondern in einem zweiundsiebziger Opel Diplomat V8. Er hatte, von seinem Hang zur Perfektion abgesehen, nur zwei echte Leidenschaften. Die eine hieß Maria und ahnte sicher nicht, wie wichtig sie für Hartfeld war. Die andere galt Autos, insbesondere den alten Modellen.
Der Diplomat stand wie immer wohlbehalten in seiner Garage. Für einen exzellenten Zustand des Wagens hatte Hartfeld gesorgt. Es ging ihm um Originalität, sodass neuzeitlicher elektronischer Schnickschnack nicht in Frage kam, bis auf zwei Ausnahmen. Die Musikanlage hatte er vor zwei Jahren individuell auf dieses Auto abstimmen lassen und das Fahrwerk war etwas straffer als das serienmäßige, um die 230 PS auch gut auf die Straße bringen zu können.
Aus dem Handschuhfach nahm Hartfeld ein Staubtuch, wischte damit über das Armaturenbrett und die Lenksäulenverkleidung, dann legte er es wieder an seinen Platz. Nachdem er zweimal das Gaspedal voll durchgetreten hatte, startete er den Motor.
Der Klang des V8 mit 5,4 Liter Hubraum brachte ihm auch heute wieder ein angenehmes Kribbeln in der Bauchgegend ein. Er fuhr aus der Garage über den Hof, bog in die kleine Seitenstraße ein und machte sich auf den Weg zu seiner Zweitwohnung, die einige Kilometer entfernt im Stadtteil Horn lag.
Horn ist das, was man ein Arme-Leute-Viertel nennt. Hier findet man noch die typische deutsche Eckkneipe mit Fenstern, die nach Milchglas aussehen, in Wahrheit aber lange nicht geputzt worden sind, ausgestattet mit einer kargen Einrichtung, die bereits in den neunziger Jahren unmodern war. Um die Mittagszeit sieht man die ersten Betrunkenen auf den Gehsteig torkeln.
Als Hartfeld am U-Bahnhof Horner Rennbahn vorbeifuhr, standen wie immer kleine Gruppen von Arbeitslosen und Obdachlosen auf dem Vorplatz, tranken Bier und Korn, lachten oder stritten miteinander und diskutierten über das Leben.
Das Haus, in dem sich die Zweitwohnung Hartfelds befand, lag in einer schmalen Seitenstraße, deren Belag von Schlaglöchern übersäht war. Den Rathausplatz hatte man vor Jahren mit Millionen von Steuergeldern herausgeputzt, den Jungfernstieg an der Binnenalster renovierte man zurzeit mit sehr viel Geld. Für Stadtteile wie Horn blieb nicht genug übrig, um auch nur die dringendsten Reparaturen durchzuführen. Geld fließt dahin, wo schon Geld ist.
Die Einrichtung von Hartfelds Horner Wohnung war fast nicht vorhanden. Es gab einen Tisch mit einem Stuhl und eine Matratze auf dem Boden. Auf dem Tisch standen ein Telefon mit Anrufbeantworter, ein Computer und eine Lampe. In der engen Küche gab es eine Kaffeemaschine. Die Wohnung diente ihm einzig dazu, Kontakte zu seinen Auftraggebern knüpfen zu können. In einem Notfall konnte er sich hier für kurze Zeit verstecken. Er kam regelmäßig vorbei, um mögliche Nachrichten abzuhören, am Computer Emails abzuholen und den Briefkasten von Werbepoststapeln zu befreien. Die grüne Lampe am Anrufbeantworter blinkte, es gab also Nachrichten. Hartfeld drückte die Taste für die Wiedergabe, senkte den Kopf und lauschte.
»Moin, Bernie hier. Ich hab’ was für Sie. Sie sollen folgende Nummer anrufen … Moment …« Der Anrufer nannte die Nummer. »Vergessen Sie meinen Lohn nicht, tschüss!«, fügte er hinzu.
Hartfeld hörte sich die Nachricht ein zweites Mal an. Nun war die Nummer in seinem Kopf gespeichert. Er schrieb sich Telefonnummern, die womöglich einmal unangenehme Verbindungen aufzeigen konnten, nie auf. Sein Gedächtnis für Zahlen war zum Glück hervorragend.
Bernie war ein Barkeeper auf St. Pauli, der für Hartfeld als Informant arbeitete. Die Bezahlung der Informationen konnte er gut gebrauchen, denn er zockte gern und war daher ständig in Geldnot. Allzu weit vertrauen durfte man ihm nicht, denn für eine passende Summe hätte Bernie alles und jeden verkauft.
Die zweite Nachricht kam von Maria, die anfragte, wann man sich mal wieder treffen könnte. Er nahm sich vor, sie bald anzurufen. Dann löschte er die Nachrichten, nahm sein Handy und wählte die von Bernie genannte Nummer.
»Ja!« Eine männliche Stimme.
»Man hat mich gebeten, diese Nummer anzurufen. Es geht um ein Geschäft.«
»Warten Sie!«
Einige Sekunden Stille, dann eine andere männliche Stimme mit osteuropäischem Akzent. »Wer hat Sie gesagt, hier anzurufen?«
»Bernie.«
»Okay, ich mache Ihnen ein geschäftlich Angebot. Sind Sie interessiert?«
»Ich bin immer an guten Geschäften interessiert.«
»Hören Sie, es ist wichtig, die Sache muss ablaufen diskret, Sie verstehen? Treffen wir uns morgen Abend um 22 Uhr, Billwerder Deich 23, nur wir zwei, verstanden?«
»Nein.«
»Was soll heißen nein?«
»Normalerweise treffe ich mich nicht mit potenziellen Kunden. Sie können mir die Unterlagen schicken.«
»Das geht nicht, es ist zu … wie sagt man?«
»Brisant?«
»Genau. Ich will Sie allein sprechen.«
Hartfeld zögerte ein paar Sekunden. »Also schön, aber nicht an dem genannten Ort. Zu einsam. Um 22 Uhr in Charlys Bar am Spielbudenplatz. Einverstanden?«
»Na gut, aber dann wir gehen in Hinterzimmer.«
»Okay, bis dann.«
Auch wenn das Gespräch sich nur auf das Notwendigste beschränkt hatte und keine Namen genannt wurden, wusste Paul Hartfeld doch genau, mit wem er gesprochen hatte. Er hatte schon einmal für Alexander Ryschkow gearbeitet. Ryschkow war der steil aufgestiegene Stern am Himmel der norddeutschen Mafiaszene. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte der ehemalige KGB-Offizier schnell begriffen, dass seine Fähigkeiten ihm im ehemals verhassten Kapitalismus sehr nützlich sein könnten. Durch seine guten Deutschkenntnisse, die er sich im jahrelangen Dienst in der DDR angeeignet hatte, ergab sich ein logisches Ziel seiner Reise in den Westen. Dass es dann Hamburg wurde, war eher Zufall als Kalkül.
Ryschkow begann seine Karriere im Hamburger Rotlichtmilieu wie so viele als Türsteher und Rausschmeißer. In dem Job lernte man viele Leute kennen und erfuhr eine Menge über die Machtstrukturen der Szene, wenn man alle Sinne nutzte. Ryschkow war skrupellos, zielstrebig und intelligent. Mit letzterer Eigenschaft hatte er den meisten in diesem Genre arbeitenden Gestalten etwas voraus. Hinzu kam seine hervorragende Ausbildung durch den KGB. Er wusste, wie man Ziele strategisch geschickt verfolgte, feindliche Gruppen infiltrierte und effektiv handelte.
Bald hatte er seinen ersten eigenen Nachtclub. Dann holte er ehemalige Kollegen des KGB nach Deutschland und scharrte so eine Gruppe von Leuten um sich, denen er vertrauen konnte. In der nächsten Stufe der Expansion wurden kleinere Konkurrenten ausgeschaltet und mit größeren bildete er Allianzen, die allerdings nie von Dauer waren. Seine Verbindungen in die ehemals mit der Sowjetunion zwangsverbundenen Staaten wie Polen und die Ukraine ergaben neue Möglichkeiten für gute Geschäfte. Zur Prostitution kamen andere Geschäftszweige wie Autoschiebereien und Zigarettenschmuggel hinzu. Bei all seinen Aktivitäten achtete Ryschkow geschickt darauf, sich nie auf das Terrain von Konkurrenten zu wagen, die zu der Zeit noch stärker waren als seine Organisation. Mit der mächtigsten Konkurrenz, den Kosovo-Albanern, hatte er eine Art Waffenstillstand geschlossen.
Generell war der Umgang der verschiedenen kriminellen Organisationen miteinander brutaler geworden. Gab es in früheren Zeiten unter deutschen, italienischen und anderen Kriminellen noch so etwas wie einen Ehrenkodex, bei dem zum Beispiel der Gebrauch von Schusswaffen die Ausnahme war, brachten die zugewanderten Gruppen aus den ost- und südosteuropäischen Gebieten ihre Kultur der Konfliktlösung mit nach Deutschland. Und das bedeutete nichts anderes als schonungslose, einschüchternde Gewalt. Die liberale deutsche Justiz hatte ihre liebe Not mit diesem Phänomen. Ryschkow kannte das Problem und er wusste damit umzugehen. Er neigte nicht zu sinnloser Brutalität. Er wog seine Gegner in Sicherheit, bis er stark genug war, sie zu zerschlagen. Die Fähigkeiten seiner Leute in Bezug auf präzise, verdeckte Operationen waren dabei nicht von Nachteil. Und er achtete stets darauf, keine Spuren zu hinterlassen, die die Justiz zu ihm selbst hätte führen können.
Hartfeld beschloss, den Abend nun mit einem guten Essen ausklingen zu lassen. Er verschloss seine Zweitwohnung und fuhr mit dem Diplomat zurück zur Garage. Den kurzen Weg zum griechischen Restaurant würde er zu Fuß zurücklegen. Nach einer Karaffe Wein und einigen Anisschnäpsen dürfte er sowieso nicht mehr fahren. Auf dem Weg dachte er an Maria. Er sehnte sich nach ihr, nach ihrer warmen und weichen Ausstrahlung, nach ihrer Zärtlichkeit gepaart mit Leidenschaft. Sollte er sie noch heute Abend anrufen? Nein, er war zu schlecht drauf. Er würde es morgen tun.
Hauptkommissar Harald Hansen brüllte »Bernstein, in mein Büro!«, als er an dessen Schreibtisch vorbeilief.
Bernstein zuckte erschreckt zusammen, raffte seine Unterlagen vom Tisch und folgte Hansen eiligen Schrittes. Einige Kollegen an den benachbarten Tischen grinsten feist.
Hansen setzte sich auf seinen Stuhl, bedeutete Bernstein mit einer knappen Handbewegung, sich ebenfalls zu setzen, und nippte am mitgebrachten Kaffee.
»Verflucht, ist der wieder heiß!«
Er leckte sich die leicht verbrannten Lippen.
»Also, Bernstein, was haben Sie für mich?«, ging er geradewegs auf das Ziel los, wie es seine Art war.
»Ähm, ja.« Bernstein blätterte etwas konzeptlos in seinen Papieren, doch dann fand er den Faden wieder.
»Ich habe mir erstmal in der Praxis die Patientenunterlagen vorgenommen und nach möglichen Kunstfehlern des Doktors gesucht. Aber der hat einfach zu viele Operationen gemacht, da hätte ich noch wochenlang suchen können. Mir kam dann die Idee, mal bei der Versicherung des Doktors nachzufragen. Die müsste ja Kenntnis davon haben, wenn jemand Schadensersatz gefordert hätte. Da war rein gar nichts. Doktor Brüggemann hat immer pünktlich seine Prämien bezahlt und es gab in den letzten Jahren nicht einen Schadenfall.«
»Wenn aber bei einer der schwarzen Operationen etwas schief gegangen ist, hätte Brüggemann wohl kaum die Versicherung eingeschaltet«, gab Hansen zu bedenken.
»Da haben Sie natürlich Recht, Chef. Das Problem ist, dass ich es bisher nicht geschafft habe, alle Dateien vom Computer des Doktors zu reparieren. Etwa siebzig Prozent der Daten konnte ich mit einem speziellen Programm halbwegs wieder herstellen, denn die hatten nur eine High-Level-Formatierung hinter sich. Aber alle Dateien mit den Anfangsbuchstaben P bis U konnte ich bisher nicht wieder regenerieren. Da hat wohl jemand einen Eraser drüberlaufen lassen.«
Hansen guckte Bernstein an, als sei der ein Außerirdischer. Er hatte nicht mal ansatzweise den Sinn dieser Worte verstanden.
»Bitte mal ganz einfach für einen Computeridioten wie mich«, bat er.
Bernstein war nun in seinem Element.
»Simpel ausgedrückt bedeutet das, der Täter hat wahrscheinlich einen bestimmten Bereich der Dateien mit einem speziellen Programm bearbeitet. Solche Programme überschreiben die Daten mehrfach mit Nullen und Einsen, sodass man sie kaum noch rekonstruieren kann.«
»Aha, und nun?«
»Nun wissen wir immerhin, dass der Mord höchstwahrscheinlich mit einer Person zusammenhängt, deren Nachname mit P bis U beginnt.«
»Warum hat der Täter nicht gleich alle Dateien so zerstört?«
Kommissar Bernstein hatte sein Selbstvertrauen wiedergewonnen und dozierte. »Ein Eraser-Programm braucht einige Zeit, um die Dateien mehrfach zu überschreiben. Und ich nehme an, der Täter wollte nicht länger als nötig in der Praxis bleiben. Deshalb ließ er nur einen Abschnitt überschreiben.«
»Und wie viele Personen sind das?«
»Das weiß ich leider auch nicht. Den Abschnitt habe ich aus den Daten isoliert, die ich wieder zum Leben erwecken konnte. Aber wir haben noch einen Hinweis. Die Spusi hat festgestellt, dass von den Schubladengriffen im Zimmer des Doktors nur eine keine Fingerabdrücke aufwies. Sie wurde mit Sicherheit abgewischt. Es war die Schublade der Buchstaben L bis T. Wenn man nun eine Schnittmenge aus den beiden Tatsachen bildet, kann man die Anfangsbuchstaben L, M, N, O und U außen vor lassen. Und wenn man davon ausgeht, dass kaum ein Name mit Q beginnt, geht es also um die Namen mit P, R, S oder T.«
Hansen dachte nach. Dieser junge Mann konnte Indizien deuten. Seit dem Mord waren nicht mal vierundzwanzig Stunden vergangen und der Anfänger Bernstein hatte den möglichen Namen des Täters oder einer mit der Tat in Zusammenhang stehenden Person mit hoher Wahrscheinlichkeit auf vier Anfangsbuchstaben reduziert. Das ging alles ein bisschen zu schnell. Zum Glück war er mit dem Namen auf der falschen Fährte. Aber das Aufspüren einer einzigen Querverbindung könnte genügen, um Bernstein ganz dicht an die Lösung zu führen.
»Was hat die Spurensicherung noch ergeben?«, fragte Hansen.
»Dass es keine weiteren Spuren gibt. Keine Fingerabdrücke auf den Stuhllehnen, der Tastatur oder dem Türgriff. Keine auffälligen Fasern, Schmutzpartikel oder andere Spuren. Das war ein Profi, der genau wusste, was er tat. Es wurde auch keine Patronenhülse gefunden.«
»Und die Ballistik?«
»Hat Probleme mit dem Projektil. Nachdem es zweimal den Schädelknochen des Opfers und dann den Blumentopf durchschlug, hat es sich in der Wurzel der Palme endgültig verformt. Da werden wir kaum brauchbare Ergebnisse bekommen. Es war kein großes Kaliber, wahrscheinlich 7,65er und aufgrund der Deformierung wohl ein Hohlspitzgeschoss.«
»Ihre Kombinationsgabe bei den Buchstaben in allen Ehren, aber insgesamt haben wir damit nur wenig in der Hand.«
»Das stimmt leider. Lief es bei Ihnen besser?«, wollte Bernstein wissen.
Hansen schüttelte den Kopf. »Nein, das kann man nicht behaupten. Ich weiß jetzt, dass die Mitarbeiterin Frau Kunze bei den inoffiziellen Operationen geholfen hat. Aber die ist eher ein Opfer als ein Täter. Brüggemann hat sie unter Druck gesetzt, damit sie mitmacht. Und gestern Abend hat sie als letzte des Teams die Praxis verlassen. Mehr habe ich nicht.«
Dass Nadja Kunze wahrscheinlich den Mörder gesehen hatte, als er das Haus betrat, verschwieg Hansen.
»Dann hat die Kunze wohl als Letzte den Doktor lebend gesehen«, stellte Bernstein fest.
»Nee, mein Lieber, das war wie immer der Mörder.«
Bernstein fand das nicht witzig.
Die Bürotür öffnete sich und Michael Thorwald trat ein.
Der platzt auch immer so rein, ohne anzuklopfen, dachte Hansen.
»Na, Herr Hansen, wie läuft es denn?«
»Ehrlich gesagt, nicht besonders, Herr Thorwald«, gab Hansen zu. »Es gibt nur sehr wenige Spuren und eigentlich haben wir noch nichts Konkretes.«
»Hansen, wir haben in einer Stunde eine Pressekonferenz, irgendwas muss ich der Meute anbieten können!«
»Na gut, dann sagen Sie denen, Doktor Brüggemann hat Operationen unter der Hand durchgeführt und wir werden in diese Richtung weiter ermitteln. Im Interesse der Ermittlungen können wir leider blabla …«
Thorwald sah nicht erfreut aus. »Ich glaube, ich bespreche das Weitere lieber mit dem Kollegen Bernstein. Ist er in alle Fakten eingeweiht?«
»Natürlich ist er das.«
Bernsteins Augen wanderten zwischen den beiden hin und her.
»Aber bevor Sie ihn mir entführen …« Hansen wandte sich an Bernstein. »Sie vernehmen bitte morgen noch mal diesen Putzmann … wie heißt der noch?«
»Özdemir«, soufflierte Bernstein.
»Genau, fühlen Sie dem mal auf den Zahn. Und schicken Sie ein paar Kollegen zu den Nachbarn der Praxis, vielleicht hat jemand was gesehen. Und versuchen Sie mal, ob Sie die Dateien wiederherstellen können.«
»Geht klar, Herr Hansen.«
Hansen machte eine wegwischende Handbewegung in Thorwalds Richtung.
»Sie können ihn haben, ich mache jetzt Feierabend.«
Harald Hansen stellte den Motor seines Wagens ab. Er parkte in einer ruhigen Wohnstraße in Barmbek. Normalerweise war es schwer, am Abend hier noch einen Parkplatz zu finden. Er hatte Glück und besetzte den letzten freien Platz. Andernfalls hätte er etwas weiter weg parken und sich zur Beobachtung des Objekts auf den Gehweg stellen müssen. Das wäre bei diesem Wetter ungemütlich geworden. Die Fenster der Wohnung, um die es ihm ging, waren alle dunkel. Hoffentlich blieb der Kerl nicht lange weg.
Das Glück hielt zu ihm. Nach wenigen Minuten sah er seine Zielperson im Hauseingang verschwinden. Er wartete noch eine Weile und rauchte seine Zigarette zu Ende. Gerade, als er aus dem Auto steigen wollte, ging im Hausflur das Licht an und ein paar Sekunden später trat seine Zielperson aus dem Haus. Anscheinend hatte der Mann seine Jacke gewechselt. Hansen änderte seinen Plan und folgte dem Mann in sicherer Entfernung.
Als Paul Hartfeld sein Auto abgestellt hatte und aus der Garage trat, begann es wieder zu regnen. Er machte auf dem Weg zum Restaurant lieber einen kleinen Umweg zu seiner Wohnung, um sich eine andere, regenfeste Jacke zu holen. Regenschirme mochte er nicht, weil man dann nicht beide Hände frei hatte.
Er wählte im Restaurant einen Tisch in der hinteren linken Ecke, weit weg von den Fenstern. Er setzte sich so hin, dass er den ganzen Raum und den Eingang im Blick und eine Wand im Rücken hatte. Er erwartete keine unangenehmen Ereignisse, er verhielt sich immer so. Das Restaurant war fast leer, außer ihm saßen nur vier Gäste an zwei Tischen in dem Raum, der Platz für dreißig Gäste bot. An einem Mittwochabend, und mit einer Champions-League-Übertragung im Fernsehen, war das normal. Hartfeld konnte es nur Recht sein. Er bestellte Lammfilet in einer Tomaten-Knoblauch-Sauce und einen halben Liter Weißwein. Die Speisen waren hier weder besonders teuer noch besonders gut. Die Einrichtung konnte man als einfach und zweckmäßig bezeichnen. Immerhin überwürzte der Koch das Essen nicht und der Inhaber achtete mehr auf die Qualität des Fleisches als auf die Quantität. Und wenn man die teureren Gerichte von der Karte wählte, konnte man für einen günstigen Preis ein ordentliches Essen bekommen. Mehr wollte Hartfeld nicht.
Nachdem er den obligatorischen Salat gegessen und sein Hauptgericht bekommen hatte, war auch ein Großteil des Weines schon aus der Karaffe verschwunden. Den zu Beginn gereichten Ouzo hatte er natürlich auch getrunken. Ein vages Gefühl von Wohligkeit machte sich in ihm breit.
Er hatte gerade den ersten Bissen seines Lammfilets genossen, als ein Mann den Gastraum betrat. Der etwas ältere Herr hatte zu lange, graue, vom Regen durchnässte Haare, die nun ziemlich unvorteilhaft an seinem Kopf klebten.
Anscheinend auch kein Regenschirmfreund, dachte Hartfeld.
Der ebenfalls graue Dreitagebart, die ausgebeulte Jeans und das verwaschene Sweatshirt legten den Verdacht nahe, dass der Mann Junggeselle war. Keine Ehefrau mit ein wenig Niveau lässt ihren Gatten so aus dem Haus gehen.
Der Mann sah sich kurz im Gastraum um und steuerte dann zu Hartfelds Überraschung direkt auf seinen Tisch zu. Er nahm sich einen freien Stuhl gegenüber von Hartfeld, sagte »Ich darf doch« und setzte sich. Hartfeld wollte protestieren, doch der Mann ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Gestatten, mein Name ist Hansen, Hauptkommissar Harald Hansen von der Hamburger Mordkommission.«
Mit der linken Hand hielt der Mann Hartfeld einen Ausweis dicht unter die Nase. Der Killer wich ein Stück zurück, um auf dem Dokument etwas erkennen zu können. Es schien echt zu sein.
»Ich möchte Ihnen etwas erzählen, Herr Hartfeld«, erklärte der Mann. Einen kurzen Moment lang zuckte es in Hartfelds Mundwinkeln, dann hatte er sich wieder im Griff.
»Oder ist es Ihnen lieber, wenn ich Sie ›Mister Perfect‹ nenne?«
Es zuckte wieder in den Mundwinkeln. ›Mister Perfect‹ war ein Titel, den die britische Boulevardpresse Hartfeld verliehen hatte, nachdem er in London in relativ kurzer Zeit drei Unterweltgrößen erledigt hatte, ohne Spuren zu hinterlassen. Die deutschen Krawallblätter übernahmen den Begriff sehr schnell und bald war es ohne sein Zutun eine Art Markenzeichen geworden. Hartfeld war alles andere als erfreut darüber, er arbeitete logischerweise lieber im Verborgenen und war nicht scharf auf reißerische Zeitungsartikel über sich. Er brauchte einige Sekunden, um sich von den zwei Tiefschlägen zu erholen, dann hatte er sich und seine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle.
»Ich verstehe nicht, es muss sich wohl um eine Verwechslung handeln.«
»Ganz sicher nicht, Herr Hartfeld«, sagte Hansen, »aber ich erkläre es Ihnen gern. Sie möchten bestimmt wissen, wie ich Ihnen auf die Spur gekommen bin.«
»Oh, ich höre gerne spannende Geschichten, vielleicht taugt die Geschichte als Stoff für meinen nächsten Roman«, sagte Hartfeld mit einem arroganten Lächeln, das nicht voll überzeugen konnte.
Kommissar Hansen erwiderte gelassen seinen Blick. Mit seiner linken Hand nahm er sich ein Stück Brot aus dem Korb vor ihm, die rechte ruhte in seiner Jackentasche. Er biss ab und redete mit halbvollem Mund.
»Seit mehr als zwölf Jahren bin ich hinter Ihnen her, eine lange Zeit. Und nun sitze ich hier und Sie in der Falle. Sie glauben gar nicht, wie viel Freude mir das macht. Im Frühjahr 1994 machte ich das erste Mal Bekanntschaft mit Ihrer Arbeitsweise. Es war der erste Mordfall, den ich nicht aufklären konnte. Das hat mich richtig gewurmt. Ich habe den Fall nie aufgegeben. Und in den folgenden Jahren kamen andere Fälle dazu, die ähnlich gelagert waren. Irgendwann habe ich begriffen, dass hinter all diesen Taten eine Person stecken musste. Ich erkannte ein wiederkehrendes Muster, eine Art Handschrift in den Fällen. Dann machte ich mir die Mühe, andere ungeklärte Morde unter die Lupe zu nehmen, die nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fielen. Ich fand das Muster mehrmals wieder.«
Paul Hartfeld hörte aufmerksam zu, blieb aber scheinbar unberührt von Hansens Vortrag. Sein Lammfilet aß er allerdings eher mechanisch weiter, ohne es zu genießen.
Hansen bestellte schnell beim Kellner ein Bier, dann sprach er weiter.
»Wahrscheinlich würde ich noch heute einem Phantom hinterherjagen, wenn die Sache mit London nicht gekommen wäre. Vor ein paar Monaten wurde ein uns wohlbekannter deutscher Krimineller in London ermordet. Sie wissen, von wem ich spreche. Mein Chef schickte mich dorthin, weil die britischen Behörden uns um Hilfe baten. Die Einzelheiten der Ermittlungsergebnisse deuteten genau auf das Schema meiner ungeklärten Mordserie hin. Es ist, wie soll ich es sagen … die chirurgische Präzision, die Sie verrät. Die Qualität der Arbeit ist einzigartig. Sie verstehen, was ich meine?«
Hartfeld hörte ihm zu und schwieg.
»Naja, jedenfalls war mein Ehrgeiz, Sie zu erwischen, wieder geweckt. Dann half mir ein Fehler, den Sie überraschenderweise machten. Nur wenige Stunden nach dem Mord in London wurde ein Mann in Hamburg getötet, der in einer, sagen wir mal, geschäftlichen Beziehung zu dem Londoner Opfer stand. Die Umstände der Tat waren dem Londoner Mord sehr ähnlich. Ich begriff, beide Verbrechen wurden von einem Mann begangen, von dem Mann, den ich schon so lange zu fassen versuchte. Können Sie mir bis hierher folgen?«
Hartfeld aß sein Lamm und schwieg. Der Kellner brachte das Bier. Hansen nahm einen großen, gierigen Schluck, dann redete er weiter.
»Die beiden Morde wurden in einem sehr engen Zeitfenster begangen, was, nebenbei bemerkt, eigentlich gar nicht zu Ihrem Stil passt. Sie mussten daher zu einer ganz bestimmten Zeit von London zurück nach Hamburg gereist sein. Als Verkehrsmittel kam nur das Flugzeug in Frage. Alles andere hätte zu lange gedauert. Nun haben die Briten und speziell die Londoner uns deutschen Polizisten ja eins voraus. Sie haben Überwachungskameras ohne Ende, und dazu noch eine Gesichtserkennungssoftware vom Feinsten. Ich habe die britischen Kollegen gebeten, speziell nach Deutschen zu suchen, die am Tag des Londoner Mordes in ihrem Hotel ausgecheckt haben und ihren Wohnsitz in Hamburg hatten.«
Hansen nahm einen weiteren Schluck von seinem Bier. Die für ihn ungewohnt lange Rede trocknete seine Kehle aus.
»Dann haben die Briten sich die entsprechenden Videobänder der Hotels besorgt und mit Hilfe ihrer Computersoftware die Gesichter mit denen abgeglichen, die an dem Tag auf dem Flughafen mit Ziel Hamburg eingecheckt haben. Das war gar nicht so schwer, denn aufgrund des knappen Zeitplans kamen nur zwei Flüge in Frage. Und das Tolle an dieser Software ist, dass man sie mit einer Verkleidung kaum täuschen kann. Sie können sich die Haare färben, einen Bart ankleben und eine Brille aufsetzen. Kaum ein Mensch erkennt Sie dann wieder. Aber bestimmte Faktoren, wie zum Beispiel den Abstand der Augen zueinander, können Sie nicht verändern. Und an solchen Faktoren erkennt der Computer die Übereinstimmung. Tja, ich bin zwar eigentlich ein Anhänger der althergebrachten Untersuchungsmethoden, aber das hat mich schon begeistert!«
Paul Hartfeld konnte die Begeisterung seines Gegenübers nicht teilen. Er hatte sein Lamm aufgegessen und legte das Besteck auf den Teller. Hansen beobachtete ihn genau und hob mahnend seinen Zeigefinger der linken Hand.
»Bitte tun Sie mir den Gefallen und lassen Sie Ihre Hände auf dem Tisch.«
Paul Hartfeld lachte. »Wovor haben Sie Angst, Herr Kommissar?«
»Keine Angst, nur Vorsicht. Mit der rechten Hand halte ich unter dem Tisch meine Dienstwaffe auf Sie gerichtet. Und wenn Sie irgendetwas versuchen, jage ich Ihnen eine Kugel in den Bauch, versprochen!«, raunte Hansen.
»Sie wollen einen unschuldigen Bürger in aller Öffentlichkeit einfach so erschießen? Da könnten Sie Probleme bekommen, Herr Kommissar.«
»Hören Sie auf mit dem Gelaber, Hartfeld. Sie haben mich verstanden und Ende! Wollen Sie jetzt den Rest meiner Geschichte hören oder langweile ich Sie?«
Hartfeld hob beschwichtigend beide Hände. »Bitte, erzählen Sie weiter, ich bin ganz Ohr.«
»Also … wir, damit meine ich die Briten und mich, haben dann einen Abgleich mit den Videoaufzeichnungen von den Kameras des Flughafen Fuhlsbüttel gemacht und einen Treffer gelandet. Das Aussehen des Passagiers war zwar etwas anders, aber wie ich schon sagte, die Software kann so was erkennen. Dann begann der mühsame Teil typischer Polizeiarbeit. In fast jeder freien Stunde bin ich zum Flughafen gefahren und habe den Taxifahrern dort Ihr Bild gezeigt. Nach vier Tagen hatte ich den Fahrer gefunden, der Sie vom Flughafen nach Hause gefahren hatte. Und es kam noch besser: Er konnte sich sogar an die Straße erinnern, in der er Sie abgesetzt hat. Ahnen Sie, warum?«
»Sie werden es mir gleich erzählen, ob ich will oder nicht«, antwortete Hartfeld bissig.
Hansen genoss seinen Triumph, nahm wieder einen Schluck von seinem Bier, zündete sich umständlich nur mit der linken Hand eine Zigarette an und fuhr in einem Tonfall fort, als halte er einen Vortrag an der Polizeischule.
»Das Erinnerungsvermögen eines Zeugen hängt stark von seinen eigenen Interessen ab. Der Fahrer hat sich an Sie erinnert, weil er sich während der Fahrt so nett mit Ihnen unterhalten hat. Sie hatten mit dem Fahrer eine Gemeinsamkeit entdeckt. Das Thema ›Oldtimer‹ scheint Ihnen am Herzen zu liegen. Die meisten Kriminellen scheitern an scheinbar unwichtigen Details! Das perfekte Verbrechen ist auf Dauer nicht durchführbar. Irgendwann macht auch der Schlaueste einen Fehler.«
Hansen lehnte sich zurück und grinste. Hartfeld versuchte, möglichst neutral zu wirken, verfluchte sich selbst aber innerlich für sein gedankenloses Geplauder mit dem Taxifahrer.
»Es war nicht schwer, herauszufinden, wo genau Sie wohnen. Ich legte mich ein paar Abende auf die Lauer, dann sah ich Sie das erste Mal. Das war natürlich der Durchbruch in meinen Ermittlungen. Ich hatte nun ein Gesicht, eine Adresse und sogar einen Namen des Täters. Damals nannten Sie sich noch Martin Schmidtbauer. Warum ich Sie nicht gleich verhaften wollte, kann ich gar nicht sagen. Da war so ein unbestimmtes Gefühl, es könnte sich lohnen, noch abzuwarten. Und im Gegensatz zu den meisten Menschen heutzutage, vertraue ich meinen Instinkten. Ich verfolgte Sie sporadisch über Wochen, immer wenn mir die Zeit dazu blieb. Ich bekam Ihren Umzug und Ihre Namensänderung mit, und ich folgte Ihnen auch zu einem Ihrer Besuche bei Dr. Brüggemann. Ganz langsam ist mir klar geworden, was vorging. Sie bereiteten Ihren Abschied vor.«
Hartfeld versuchte, mit Ruhe und Verstand die neue Situation zu meistern und seinen jagenden Puls in den Griff zu kriegen. Kleine Schweißtropfen auf seiner Stirn zeugten vom Gegenteil. Er fragte sich, worauf das Ganze hinauslaufen würde. Auf einen Lebensabend im Gefängnis?
»Wenn Sie so viel über mich zu wissen glauben, frage ich mich, wo das Sondereinsatzkommando bleibt, die Typen mit den schwarzen Uniformen, den schusssicheren Westen und den Maschinenpistolen.«
»Die brauchen wir heute nicht.«
Hartfelds Gehirn arbeitete auf Hochtouren, um einen Ausweg zu finden. Aber wie sollte er den finden, wo er doch nicht mal wusste, wohin der Weg führen sollte, den der Kommissar momentan beschritt. Seine Antwort blieb deshalb in einem eher ratlosen »Aha« stecken. Hansen registrierte Hartfelds Verunsicherung. Jetzt hatte er ihn da, wo er ihn haben wollte. Es war Zeit für den letzten Verwirrungsschlag des Abends.
»Also erstens hat Hamburg gar kein SEK. Dessen Aufgaben werden bei uns vom MEK erledigt. Und zweitens will ich Sie gar nicht verhaften, jedenfalls vorerst nicht. Im Gegenteil, Sie sollen einen Auftrag für mich erledigen.«
Wäre Hartfelds Kopf ein Computer gewesen, hätte auf seiner Stirn nun in großen Lettern ›UNKNOWN ERROR‹ gestanden. Er glaubte sich in einem bizarren Traum gefangen.
»Das ist doch aberwitzig«, brachte er mühsam hervor.
»Nein, nein«, meinte Hansen fröhlich, »das ist mein Ernst. Sie werden es noch verstehen. Ich werde Ihnen alles erklären, aber nicht heute und vor allem nicht hier. Ich schlage vor, wir treffen uns morgen Abend in Ihrer Wohnung, ich kenne ja die Adresse.«
Hartfelds Antwort kam automatisch, ohne nachzudenken. Seine Termine hatte er immer im Kopf. »Das geht nicht, ich habe morgen schon eine Verabredung.«
»Na gut, dann danach. Wann sind Sie wieder zu Hause?«
»Ähm … erst so gegen Mitternacht, schätze ich«, sagte Hartfeld konsterniert.
Nach einigem Zögern machte er einen Vorschlag. »Na schön, kommen Sie vorher zu mir, sagen wir um 19 Uhr.«
»Gut, ich werde pünktlich da sein.« Harald Hansen klang, als freue er sich auf einen netten Abend mit einem alten Freund. Im nächsten Moment wechselte er den Tonfall. »Glauben Sie bitte nicht, Sie könnten sich des Problems Hansen so entledigen, wie Sie es üblicherweise tun. Ich habe Vorkehrungen getroffen. Sie würden es bereuen, mich zu beseitigen, versprochen«, fügte er drohend hinzu.
Er drückte seine Zigarette aus, trank den letzten Schluck aus seinem Glas und stand auf.
»Danke für das Bier«, sagte der Kommissar und ging.
Als Harald Hansen vor dem Restaurant auf die Straße trat, hatte der kalte Nordostwind weiter aufgefrischt. Auf dem Gehsteig waren kaum noch Menschen unterwegs, obgleich es früh am Abend war. Die meisten Hamburger hatten sich in ihre warmen Wohnungen zurückgezogen. Hinter einigen Fenstern schien kein Licht, nur das unregelmäßige bläuliche Flackern der Fernseher zeigte die Anwesenheit der Bewohner an. Hansen holte seine Dienstwaffe SIG Sauer P225 aus der Jackentasche, sicherte sie und verstaute sie wieder im Schulterhalfter. Dann zog er den Reißverschluss der Jacke bis ganz nach oben und griff in die Brusttasche, um sein Handy herauszuholen und wieder einzuschalten. Er hatte es beim Betreten des Restaurants abgeschaltet, weil er in dem Gespräch mit Hartfeld nicht gestört werden wollte. Der Regen kam von vorn und quer. Hansen zog die Schultern hoch, senkte den Kopf und machte sich auf den Weg zu seinem Auto. Kaum eine Minute später klingelte das Handy.
»Hansen.«
»Hallo Herr Kommissar, Nadja Kunze hier, ich hatte doch versprochen, mich zu melden.«
»Guten Abend, Frau Kunze.«
Hansens Stimme ging plötzlich in ein Säuseln über. Er stellte sich zum
Schutz vor dem Wetter in einem Hauseingang unter.
»Das freut mich aber, dass Sie anrufen. Ist alles in Ordnung?«
»Ja, wir sind gut angekommen. Meine Schwester hat uns vom Bahnhof abgeholt. Die Kleine war todmüde, wir haben sie eben ins Bett gebracht. Wie sieht es denn bei Ihnen aus, kommen Sie voran?«
»Es läuft ganz gut. Ich hoffe, in ein paar Tagen Entwarnung geben zu können und dann könnten Sie zurückkommen.«
»Das wäre toll.« Frau Kunze klang nicht mehr ängstlich. »Es war eine gute Idee, hierher zu fahren. Ich fühle mich schon viel sicherer. Aber ich bin immer noch am Grübeln, wieso mir der Mann im Treppenhaus so bekannt vorkam. Ich hab’ ja nur den unteren Teil seines Gesichts sehen können, wegen dem Hut.« Kurze Pause, sie schien nachzudenken. »Naja, wenn es mir einfällt, rufe ich Sie sofort an, versprochen.«
»Okay«, antwortete Hansen, »aber jetzt sollten Sie nicht mehr grübeln. Entspannen Sie sich, machen Sie sich einen netten Abend mit Ihrer Schwester und schlafen Sie nachher gut.«
»Das werde ich tun, Herr Hansen, vielen Dank noch mal für alles, tschüss.«
»Tschüss, Frau Kunze.« Hansen lächelte. Es sah fast aus wie ein kindliches Lächeln zu Weihnachten.
Das war ein guter Tag!
Paul Hartfeld saß an seinem Tisch und versuchte, das Geschehene zu begreifen. Was wollte dieser aus dem Nichts aufgetauchte Kommissar von ihm? Was sollte die Ankündigung eines Auftrags bedeuten? Sollte er, Hartfeld, wirklich einen Mord begehen, für einen Kommissar der Hamburger Mordkommission? Der Gedanke allein war so bizarr, er könnte aus einem Quentin-Tarrantino-Film stammen. Hartfeld liebte die Filme dieses Regisseurs, aber er wollte nicht darin leben. Er war so kurz vor dem Ziel, seinem Ruhestand in Schweden, und jetzt das! Du musst kämpfen, sagte er zu sich selbst. Es gibt einen Ausweg. Aus jeder Situation gibt es einen Ausweg, du musst ihn nur finden!