Читать книгу Ganesha macht die Türe zu - Andreas Brendt - Страница 8

DAS TANTRA-FESTIVAL

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Ich wache auf und bin sofort gespannt. Ole bleibt liegen. Er hat die ganze Nacht gekotzt. Mindestens zehnmal. Da unser Badezimmer keine Türe hat, noch nicht mal einen Vorhang, war ich live dabei.

»Oooh Gott«, stöhnt Ole. Seine Hautfarbe ist verschwunden, tiefschwarze Ringe zeichnen seine Augen.

»Kann ich irgendwas für dich tun? Wasser, Elektrolyte, willst du eine Banane oder Salzstangen?«

»Gott, geht’s mir scheiße«, flüstert er.

»Vielleicht Cola?«

»Ne, nur liegen.« Seine Augen fallen zu.

»Viel Spaß«, haucht er mit einer sterbenden Handbewegung in meine Richtung.

Oh Mann. Aber vielleicht ist es besser, komplett kaputt zu sein, als jetzt mit sich zu ringen.

15 Minuten später bin ich unterwegs.

Auf der einen Seite ist es schade, dass Ole nicht dabei ist, auf der anderen ist es einfacher, bei den verrückten Übungen mitzumachen, wenn ich niemanden kenne.

Meine Nervosität ist wie die Prüfungsangst früher in der Schule. Aufregung in jeder Zelle, leichte Übelkeit, aber es gibt auch kein Zurück. Ich eile an den Ständen vorbei, sehe dunkle Augen und farbenfrohe Gewänder. Jeder Schritt auf diesem Subkontinent ist ein Erlebnis.

Heilige Kühe, Nagelbretter statt Matratzen, Götter mit Elefantenkopf. Indien macht es einem leicht, ein Kind zu sein. Ich will alles sehen, spüren, aufsaugen, berühren und berührt werden.

Und Tantra?

Wie bei den meisten Ideen, Philosophien und Lebenskünsten aus dem Großraum Indien, liegt auch der Ursprung von Tantra im Yoga. Ein Weg zur Erleuchtung.

Im Tantra ist alles Energie. Egal ob Wut auf den Chef, Traurigkeit, weil die Lieblingsoma verstorben ist, oder Sex. Alles ist Energie, wird eingeladen, gefühlt, gefeiert, gelebt. Tantra hat nichts mit Sexorgien zu tun. Die sexuelle Energie ist ein Phänomen unter vielen, ein Teilbereich, und wird auf andere Weisen geweckt, als durch Ficken oder das Massieren von Geschlechtsorganen. Die Atem- und Körperübungen, allein, zu zweit oder in einer Gruppe, sind unglaublich effektiv. Wenn die Yogaübungen den Körper geschmeidig machen und eine meditative Stille schaffen, dann liegt die Magie von Tantra darin, unbändige Energien zu entfesseln und unbekanntes Terrain zu betreten. Was dort im Inneren schlummert, ist gewaltig. Tantra ist ein mystisches Spiel. Ein Wagnis, eine offene Begegnung mit dem eigenen Wesen. Tantra ist alles und nichts, und genau das macht es so spannend. Was Tantra nicht ist, ist gemütlich. Und deshalb bin ich hier.

Um neun Uhr werden etwa 200 Teilnehmer zur großen Halle geführt, um einzutreten: Menschen, die entschieden haben, ihr Leben der Spiritualität zu widmen, andere wie ich, die Kurse oder Seminare belegen, Erfahrungen suchen, aber nicht so tief in die Szene eintauchen, und Neulinge, die irgendetwas hierhergeführt hat. Eine Sehnsucht, Fragen, Schmerz oder der Wunsch, etwas zu verändern.

Als wir eintreten, verliert all das seine Bedeutung. Egal woher wir kommen oder was wir sind, jeder bringt den Mut mit, auf (s)eine Reise zu gehen.

Mein Herz klopft, ich kenne niemanden. Um uns sphärische Musik. Der dumpfe Beat klingt wie der Puls dieser Gemeinschaft. Es riecht nach Energie, nach Aufbruch, nach Abenteuer. Männer, Frauen, Schüchterne und Starke. Königinnen, Mitstreiter, Tafelritter. Schwarze Augen und lange blonde Haare. Zarte und Harte. Tollkühne und Ängstliche. Hitze breitet sich aus.

Das Mädchen im gelben Bikini hat leuchtend grüne Augen. Sie wippt im Takt. Sie ist wunderschön. Ein indisches Mantra erklingt, ihr Kopf schwingt von rechts nach links. Weitere Krieger treten ein. Einige Lachen. Ein Muskelberg von einem Mann mit schwarzen Locken steht am Rand. In seinen Augen schwimmen Tränen.

Eine Gänsehaut rennt über meinen Rücken. Die Halle füllt sich. Mit Menschen, mit Gefühl, mit Lebensfreude, mit Unsicherheit, mit Furcht, mit Mut, mit Zuversicht. Von allen Seiten, von oben und unten und rechts und links schwirrt Emotion durch mich hindurch. Alle sind fremd, verschieden, auch gleich. Wie viel kann ich vor den anderen enthüllen? Was darf an die Oberfläche? Was will hier gesehen werden? Dürfen die Masken fallen, können wir uns offenbaren, uns zeigen, das, was wir zu Hause kontrollieren oder zurückhalten? Alles in mir ist durcheinander, schon jetzt, Neugierde, Magie, auch Traurigkeit und Ungewissheit. Das Gefühl wie vor einer großen Reise. Es ist mehr Aufregung als Vorfreude und vor allem Schiss.

Vorne reihen sich die Organisatoren auf, davor versammelt sich die Meute, die bereit ist, sich auszuliefern und gemeinsam ins Unbekannte zu ziehen. Jeder Einzelne ist wunderschön. Es berührt mich, diese Menschen zu betrachten. Dann treten die Lehrer ein. Ein alter Mann mit langem grauem Bart schließt für einen Moment die Augen, ein Kribbeln fliegt durch meine Magengegend. Zu ihm will ich gehen. Könnte Gandalf sein, auch wenn er mich mehr an Saruman erinnert.

Die Eröffnungszeremonie beginnt, der Ablauf wird erklärt, alles darf sein. Es geht um Liebe, die allem innewohnende Energie, die Essenz von Tantra. Unsere Gurus stehen nebeneinander und werden vorgestellt. Jeder verliert einen Satz zu dem, was uns erwartet. Ein drahtiger, hochgewachsener schwarzer Yogi ist zu Scherzen aufgelegt. Wir werden uns mit besonderen Frequenzen beschäftigen. Er zwinkert in die Runde. Hariprem, der Alte mit dem grauen Bart, ist genauso neugierig wie wir, da auch er noch nicht weiß, wie wir morgen Vormittag die Herzen öffnen werden. Viele lächeln, er ist hier nicht unbekannt.

Dann sollen wir durch den Raum gehen, die Mitstreiter der kommenden Tage sehen, fühlen, begrüßen. Augenkontakt, Verbindung aufnehmen und uns schließlich zu fünft zusammenfinden. Eine kleine Familie für die kommenden Tage des Tantra-Festivals. Bezugspersonen, eine Vereinigung, die ihr Inneres teilt, füreinander da ist. Und damit geht es los: Family Sharing. Fünf oder sechs Personen setzen sich in einen Kreis, um miteinander zu reden. Es wird geteilt, was jetzt gerade da ist. Jeder soll sich zeigen und gesehen werden. Es geht um das, was sich in uns abspielt. Alles darf sein. Die Sprache kann frei gewählt werden, denn die Geschichte ist zweitrangig. Es zählen das Wesen, die Gefühle, der Augenblick.

In meiner Familie sind vier Frauen und ein älterer Mann. Wir sind uns fremd, aber durch das Zusammensitzen und die gegenseitige Aufmerksamkeit entsteht Nähe. Der ältere Mann beginnt. Er wünscht sich Loslassen und Freundlichkeit. Er vermisst das Gefühl, dazuzugehören im Leben, und hofft, es hier zu finden. Oder nicht mehr suchen zu müssen. Sein Gesicht entspannt, meins genauso.

Die Mädels bringen unterschiedliche Themen weiblicher Natur mit. Da ist prickelnde Neugierde, Lebenslust, aber auch Angst, verzweifelter Trennungsschmerz und Experimentierfreude. Und Frau sein zu dürfen, sich anzulehnen und mal bedürftig zu zeigen. Jede ist einzigartig. Bei der Ängstlichen fühle ich Tränen hinter meinen Augen. Bei denen, die gehalten werden wollen und sich danach sehnen, nicht stark sein zu müssen, spüre ich eine bewegende Authentizität und Ehrlichkeit. Und Mut. Warum sind nicht alle Frauen so? Vermutlich wegen der Gleichberechtigung, die zwar total sinnvoll ist, aber auch immer mehr dazu führt, dass die Frauen in unserer Gesellschaft wie Männer werden. Stark, selbstsicher und kühl. Autark. Schade, wenn das alles ist. Denn wer soll die Welt retten? Sicher nicht die Männer! Oder: sicher nicht die Männer, die in ihrer herzlosen Männlichkeit gefangen sind. Was dieser materialistische, konsumgeile, plumpe Planet braucht, ist Weiblichkeit. Gefühl, Aufmerksamkeit, das Zarte, das Verletzliche, und ich will sie alle nur noch in die Arme schließen.

Als ich an der Reihe bin, fallen plötzlich deutsche Worte aus meinem Mund. Ohne Vorwarnung beschreibe ich meine Scheu, meine Ängste, nicht gut genug zu sein, und dass ich mich oft allein fühle. Traurigkeit steigt in mir auf, ein stilles Beben zwängt sich durch meine Brust. Eben noch Aufbruch, jetzt Einbruch. Aber so ist Tantra. Es passiert. Intensive Momente, während die anderen mir Raum schenken. Aufmerksamkeit, Anteilnahme, auch wenn sie die Bedeutung meiner Worte nicht verstehen. Vielleicht verstehen sie so sogar noch mehr. Ihre Nähe ist fühlbar. Alle verneigen sich, bedanken sich für meine Offenheit, und eine junge Frau sagt in kristallklarem Deutsch: »Das war schön! Ich danke dir.« Sie lächelt.

Ich bin verwirrt, aber es macht sowieso keinen Sinn, sich hinter Sprache zu verstecken. Oder irgendwas.

Wir fallen in eine Gruppenumarmung, sind bewegt von diesem unschuldigen, offenen Einfach-so-Sein. Es ist schön, dass es in der Riesengruppe nun ein paar Menschen gibt, die füreinander da sind. Familie. Nach einer Stunde ist die Eröffnungszeremonie abgeschlossen. In 15 Minuten finden die ersten Sessions in den beiden Hallen statt. Die klare Präsenz und meditative Aufmerksamkeit verwandelt sich in einen Hühnerhaufen. Alle wuseln durch die Gegend, zu ihren Sachen, trinken aus der Wasserflasche, drücken noch flott einen Bekannten, flitzen zur Toilette, gleich geht’s los.

Ich entscheide mich für: Dauerorgasmus.

Wir versammeln uns in der vorderen Halle, der Lehrer betritt den Raum. Taozen ist ein schlanker, großer dunkelhäutiger Yogi mit wachen Augen. Sein kahl rasierter Schädel glänzt mit seinen Zähnen um die Wette. Er schaut in die Runde, richtet seine Wirbelsäule auf, schließt die Augen, lässt Stille geschehen, etwas breitet sich um uns, in uns aus. Aufmerksamkeit oder Klarheit oder subtile Energie oder irgendwas. Vielleicht nur Einbildung, aber meine Neugierde wächst. Jetzt und hier sind alle total bereit.

Er begrüßt uns mit einer kurzen theoretischen Einleitung. Der Höhepunkt wird nicht erreicht, er kommt von selbst. Eigentlich ist die Ekstase immer da, nur sind wir voll bis oben hin mit Blockaden, Kontrolle und Verspannung – die man lösen kann. Er lächelt. Der Orgasmus fällt über dich her, wenn du ihn lässt. Eine energetische Explosion oder eine nach der anderen, denn es gibt ein Rezept beziehungsweise vier Zutaten für den Orgasmus:

1. Breath (Atmung)

2. Sound (Geräusch)

3. Movement (Bewegung) und

4. Sensation (Empfindung).

Schön. Vier Schritte. Kein Hexenwerk, sondern ein einfaches Handbuch zum Dauerorgasmus. Meditation statt Blowjob, und Höhepunkt nicht nur in den Kissen, sondern auch beim Parkspaziergang. Vier Punkte, aufgelistet wie in einem »Brigitte«-Artikel. Mehr braucht es nicht. Er grinst. Die Halle ist mit über hundert Menschen gefüllt. Eine Pause entsteht, niemand rührt sich. Wir haben verstanden, aber wissen auch nicht, wovon er spricht.

Es folgt eine Übung, in der wir, jeder für sich, die vier Aspekte praktizieren. Taozen nimmt ein Mikrofon, leitet an, und hundert Menschen werden zu einer zunächst nur atmenden, dann stöhnenden, sich räkelnden, wilden Meute. Der Raum wird wach, Feuer entsteht, es prickelt in der Luft und in den Menschen. Die plötzliche Intensität ist überall, die Gruppe lechzt, alles ist heller, heißer, näher, vibriert. Nach zehn Minuten spricht er uns in eine Entspannungsphase, die sich nach der glühenden Raserei wie ein stiller Ozean in mir ausbreitet.

Taozen lächelt, während wir uns sammeln, den Schweiß von der Stirn reiben und wieder aufrecht hinsetzen. Wir haben noch gar nicht angefangen.

Er fragt nach einem Freiwilligen. Hände schießen in die Luft, eine junge Frau aus der dritten Reihe wird auserwählt. Sie ist etwa dreißig Jahre alt, hat schulterlange Locken, helle Haut, trägt ein dunkles Top und eine knielange schwarze Stoffhose.

»What’s your name?«

»Leila. From Poland.«

»Leila, are you ready for an orgasm?«

Sie kichert. »Yes.«

Taozen zieht die Augenbrauen hoch: »Then, come here and lay down …«

Sie legt sich auf den Rücken. Taozen kniet vor ihr, blickt in die Runde und erklärt die Rollen. Bei dieser Übung gibt es einen Giver und einen Receiver. Der Giver gibt. Sonst nichts. Er erfreut sich nicht, er genießt nicht, er ist nicht stolz auf die Effekte. Er dient, ohne zu empfangen. Respektvoll. Ohne Erwartung. Ohne Lohn. Er gibt. Ehrlich. Selbstlos.

Der Receiver entdeckt sich selbst. Seine Aufgabe besteht darin, nur zu nehmen. Hier wird nichts vorgetäuscht, damit sich der Giver besser fühlt, oder eine Reaktion vorgespielt. Der Receiver kümmert sich nur um sich. Er atmet, er bewegt sich, er macht Geräusche und nimmt Sensations wahr. Taozen schaut von einem regungslosen Gesicht zum nächsten. Es ist so weit. Er blickt vor sich: »Ready?«

Leila nickt.

Taozen badet in Aufmerksamkeit, betrachtet sie freundlich, flüstert zu ihr hinab: »You are safe, please close your eyes.«

Eine stille Minute dient der Entspannung, dem Finden der Ruhe, dem Vertrauen, dann spricht er für alle hör- und sichtbar laut und bestimmt zu ihr:

»Relax and breathe. Move and make sensitive sound out of your hips. And explore all the sensations.«

Die Probantin räkelt sich, seufzt und atmet.

»Pleasure. Pain, pleasurable pain and painful pleasure. Open your mouth.«

Leila folgt seinen Anweisungen, der Rest des Raums wagt keine Bewegung.

Taozen atmet langsam aus.

»Okay, let’s give it a go …«

Er hebt seine Hände vor seine Brust. Leilas Atmung wird sofort intensiver. Er führt seine Handflächen in einem Abstand von circa dreißig Zentimetern über ihren Körper, streicht durch die Luft, und plötzlich stöhnt sie auf, als hätte jemand den Startknopf gedrückt. Unglaublich.

Ein Youtube-Video schießt in meinen Kopf.1 Fake. Garantiert. Ole war begeistert. Ein Typ umgarnt die Aura einer Frau, ohne sie zu berühren, und die flippt völlig aus. Ich hab’s gesehen. Ich hab’s nicht geglaubt. Fake! Auf j-e-d-e-n Fall.

Alle Blicke sind auf das Zentrum gerichtet. Leila schlägt die Beine übereinander, ihr Bauch verkrampft, sie spannt die Schultern an.

»Breathe«, befiehlt Taozen.

Leila atmet aus, und plötzlich wird sie erfasst.

»Ah, Aahh, AAAahh, AAAAHHH.« Sie stöhnt laut und heftig.

Taozen hält beide Hände im selben Abstand über ihrem Bauch, woraufhin ihr Magen zuckt und ihre Hüfte nach oben schießt. Taozen wirkt unbeteiligt, schaut uns an, spricht wieder: »Move a little and feel the sensations!«

Leila lässt los, reibt die Knie ineinander, genießt, windet sich zur Seite. Die Frau ist im Rausch, liegt taumelnd auf dem Boden, brennt. Das Schauspiel ist unfassbar. Man fühlt die Energie, das Unmögliche geschieht direkt vor unserer Nase. Einige drängeln, andere stehen auf, wollen keine Millisekunde verpassen, wollen jeden Zweifel an diesem Weltwunder zum Teufel schicken.

Taozen ist zentriert, voll da und wie ein Fels mit dem Boden verbunden. Leila ringt nach Luft, was ihn nicht sonderlich beeindruckt. Dann zieht er amüsiert die Augenbrauen hoch, hebt eine Hand, Leila fällt in einen kurzen Moment der Erholung, keucht. Taozen führt Zeige- und Mittelfinger zusammen, hebt sie wie ein Schwert an und lächelt: »Now, watch this.«

Er bewegt seine beiden Finger auf ihren Oberkörper zu und berührt ihren Solarplexus, ein paar Zentimeter unterhalb des Brustbeins. Im selben Moment jagt ein Stromstoß durch Leilas Leib. Sie reißt ihre Hüfte hoch und die Arme über den Kopf.

»OOOOHHHH.«

Ein Urschrei verlässt ihren Körper. Sie windet sich in kochendem Vergnügen, spannt Arme und Beine an, wölbt die Brust. Ein epileptischer Anfall ist nix dagegen.

»MOVE!«

»Aaaaaahhhhh.« Sie entspannt. Erleichterung ergießt sich über ihr Gesicht, meine Schultern sinken herab. Dann wird sie von der nächsten Welle erfasst. Sie fährt sich durch die Haare, zieht die Beine an, stöhnt versaut, reckt sich in ein Hohlkreuz, steht völlig unter Strom. Taozen betrachtet sie interessiert, aber nicht sonderlich überrascht, während wir auf das achte Weltwunder starren. Er schaut durch unsere Runde. Seine Finger drücken auf diesen unschuldigen, nichtssagenden Punkt. Vor ihm, wie auf Autopilot, windet und zuckt Leila, als wenn sie von einer magischen Geilheit elektrisiert wird, nein, der Schöpfer, die Existenz selbst sie mit reiner Energie penetriert.

Der Yogi wartet ein paar Augenblicke in Seelenruhe ab. Dann blickt er auf.

»There are more pressure points.«

Er hebt die Hand an und greift mit Daumen und Zeigefinger an ihren Hals, nahe der Halsschlagader. Im Moment der Berührung zuckt Leila zusammen und beginnt lauter und heftiger zu stöhnen. Und schneller. Etwas bäumt sich in ihr auf, plötzlich schreit sie, als würde sie von einem unsichtbaren göttlichen Schwanz durchdrungen. Die Frau ist in Ekstase. Der ganze Raum gehört ihr, sie ist absolut nicht mehr in dieser Welt.

Taozen derweil locker und entspannt. Herzlich willkommen in der Matrix.

Der nächste Punkt liegt an den Rippenbögen. Leilas Brust bäumt sich auf; sie kämpft, windet sich von rechts nach links, reißt die Unterarme an den Kopf. Ich habe keine Ahnung, ob ich mich für sie freuen soll oder einen Krankenwagen rufen.

»A! Aah!! Aah, AAAOOHH, AAAAAAAHHH!!!« Sie ringt nach Luft, schreit, stöhnt, wirft sich von links nach rechts und weiß schon lange nicht mehr, wohin.

Das unfassbare Schauspiel dauert an, geht weiter und weiter und weiter, wird noch krasser, Minute um Minute, die die schönsten und heftigsten Augenblicke in Leilas Leben zu sein scheinen. Die Intensität ist nicht zu fassen. Plötzlich reißt Leila den Kiefer auf und Taozen steckt ihr, weil ein weiterer Energiepunkt am Gaumen liegt, mit einer überraschenden Bewegung seinen Daumen in den Mund. Meiner steht sperrangelweit offen. Leila packt mit beiden Händen seinen Unterarm, krallt sich in seine Haut, wuchtet ihre Hüfte hoch, dann den Brustkorb, zuckt, reißt sich ins Hohlkreuz und wird von einer letzten Orgasmus-Explosion heimgesucht.

Stille.

Leila liegt schlaff auf dem Boden, atmet, zittert, keucht. Letzte Zuckungen streifen durch ihren Körper.

Taozen zieht seinen Finger aus ihr heraus, also aus dem Mund, und streichelt ihr sanft über den Kopf.

Langsam kehrt sie zurück, ihr Atem wird ruhiger. Taozen blickt sie an, gibt ihr Zeit. Sie versucht, sich zu bewegen, aufzurichten. Zart berührt er ihre Schultern, damit sie liegen bleibt. Sie entspannt. Er lächelt sie an.

»How are you?«

»I love you!«

Taozen blickt in die Runde, zieht die Augenbrauen hoch. Er ist der King.

Wir sinken zurück, sind sprach-, nein, fassungslos. Dann erklärt er, dass dies eine energetische Katharsis war. Eine Reinigung. Fragen können gestellt werden. Niemand weiß irgendwas.

»And you?«, er schaut Leila an.

»This was the greatest orgasm I ever had!«

»WITHOUT SEX!«, ruft Taozen begeistert in die Runde.

Leila versucht zu erklären. Sie kann es nicht. Es war wie Sex, aber auch wieder nicht. Die Energie war überall, in allen Ecken, in den Lenden, gewaltig, beängstigend, unbeschreiblich. Hell wie Feuer, mächtig wie ein Vulkan. Und alles voller Liebe.

Taozen blickt in die Augen der anwesenden Damenwelt:

»Who wants next?«

Tausend Arme fliegen in die Luft.

Im Anschluss spricht Taozen über Yoga und Tantra und 3.000 Jahre alte neueste Erkenntnisse im System Mensch.

Einer der Männer fragt: »So, was this a positve result?«

Taozen runzelt die Stirn.

»You mean, if I go home now and say to myself, ›well done‹?« Er schmunzelt. »Well, yes!«

Alle lachen.

Beim Mittagessen kommen alle zusammen, reden durcheinander. Es wird gescherzt, geflirtet, sich ausgetauscht. Kennenlernen, alle im Flow und auf der Suche nach Chakren, Energie und Pipapo. Erfahrungsberichte, Socializing, und natürlich muss immer hervorgehoben werden, wie viele und welche Seminare man erlebt, welche großen Meister man getroffen hat. Ich mag dieses Aufplustern nicht und mache einen Strandspaziergang. Allein.

Am Nachmittag suche ich mir Tantra-Connection aus. Als ich mit der Gruppe zur Halle wandere, fühle ich mich wie ein blinder Passagier, wie ein Fremdkörper, und das liegt sicher auch daran, dass ich in der Mittagspause keine Kontakte geknüpft habe. Leider ist niemand von meiner family dabei. Niemand, den ich kenne. Es ist unklar, was in den kommenden zwei Stunden passieren wird. Die Luft ist heiß, ich schwitze. Nicht nur wegen dieser Mittagshitze. Ich setze mich in die letzte Reihe. Ein Mädchen mit roten Haaren nickt mir zu, und ein unsicherer Typ hockt sich neben mich. Dann geht’s los.

Eine Frau mittleren Alters in dunkelgrünen Hosen und schwarzem Top schnappt sich das Mikrofon. Sie erzählt mit ruhiger Stimme. Diese zweite Session ist mehr eine Vorlesung als ein Erlebnis. Sie ist interessant, aber beinhaltet auch nichts Neues. Es geht um Bewusstsein. Das Loslassen von Vergangenheit und Zukunft, um die Befreiung im Moment zu finden. Im Hier und Jetzt gibt es keine Sorgen, keine Ängste und keine Erwartungen. Was bleibt, ist nichts. Pures Sein.

In der zweiten Stunde folgen die Übungen. Wir starten mit fünfzig zusammenhängenden Atemzügen. Das bedeutet, dass keine Pause zwischen Ein- und Ausatmung entsteht. Danach Stille. Fünf Minuten, in denen wir fühlen, was sich in unserem Körper abspielt. Dank der Vorübung und der unbemerkten Überdosis Sauerstoff, ist da jede Menge. Ein Kribbeln, ein Glucksen, als ob sich kleine Bläschen lösen. Alle verharren in Aufmerksamkeit und Konzentration, eine entspannte Stille ergreift Besitz von mir.

Dann sucht sich jeder einen Partner. Beim Eye Gazing schaut man einer fremden Person zehn Minuten in die Augen, umarmt sie abschließend und findet eine neue Person. Insgesamt viermal. Der Klang der Zimbel läutet den Partnerwechsel ein.

Eye Gazing kenne ich. Jede Begegnung ist anders. Begegnungen mit Männern sind anders als mit Frauen. Jeder Mensch hat eine Eigenart. Mal schießt ein Schwall Trauer durch meine Seele, weil ich den Schmerz meines Gegenübers sehen kann, mal keimt verspielte Erotik auf und manchmal Geschwisterliebe. Manchmal wird es unheimlich, weil Gesichter auftauchen und das Gegenüber plötzlich wie eine alte Frau oder ein Indianer aussieht. Ich habe keine Ahnung, was diese Optik zu bedeuten hat, was im Unterbewusstsein diese Bilder fabriziert, aber es fasziniert mich.

Manchmal fühle ich Erwartungsdruck, weil ein großer Zauber passieren muss. Das ist schließlich Tantra hier. Ich will das Ereignis mehr für den anderen als für mich. Ich will gut genug sein, nicht seine Zeit stehlen, einen heiligen Moment mit ihm erschaffen. Und ja, ich wüsste so gerne, was mein Gegenüber sieht, in mir, mit mir, aber hier lässt sich nichts erzwingen. Es ist besser, zu entspannen. Ziellos zu sein. Dann beginnen irgendwann die Phänomene.

Ich liebe den etwas ungelenken blonden Jungen, der vor mir sitzt. Er ist Mitte 20, wirkt verunsichert, aber ist damit total authentisch. Schön. Furcht liegt in der Luft. Bei ihm, bei mir, ich weiß es nicht, aber jetzt haben wir die Connection. Wir lassen sie da sein, wir versinken darin, umarmen uns nach den zehn Minuten, wir Brüder.

Bei der Frau danach ist es Spielerei, ein Zwinkern, ein Lächeln, mit dem ich nichts anfangen kann. Sie scherzt, zeigt eine Maske anstatt ihr Inneres. Wohin wird diese Reise gehen? Sie lenkt ab – steige ich darauf ein, oder ist da noch mehr? Ich starre in ihre dunkelblauen Augen, ihr Gesicht verschwimmt, plötzlich taucht eine Unsicherheit darin auf. Etwas geschieht. Etwas Gutes! Vielleicht Wahrheit, denn wir finden uns. Natürlich wacht hinter der bröckelnden Fassade auch die Angst, nicht zu gefallen. Entlarvt zu werden, denn der Blick in die Augen ist das Tor zur Seele. ›Gesehen zu werden‹ ist ein Wagnis, denn es ist uns peinlich, wenn der andere die Muster erkennt, bevor wir selbst sie realisieren. Zuerst habe ich ihre Spielerei erkannt, sie ertappt, nun sehe ich ihre Unsicherheit. Was sieht sie? Was fühlt sie? Ohne Maske spielt das keine Rolle, denn jetzt spüre ich ihr Wesen. Oder meins. Ich verstehe ihre Unsicherheit, weil sie meiner so ähnlich ist. Und das sieht sie. Sie entspannt, kann sein, muss sich für gar nichts schämen oder irgendetwas anzetteln, weil es reicht, dass wir hier voreinander sitzen und uns begegnen.

Die Unsicherheit wird zu Freundschaft, wird Geborgenheit. Ihr Vertrauen in mich schenkt mir Zuversicht. Unsere Verbindung ist jetzt zart und schön, eine subtile Weite taucht auf. Die fremde Frau ist offen wie ein Tagebuch, nah, ich selbst auch. Und plötzlich ist da etwas. Wie ein Lächeln, das zwischen uns durch die Luft segelt. Als nach zehn Minuten plötzlich die Zimbel erklingt, grinsen wir und schütteln mit dem Kopf. Die Umarmung ist sanft und innig, der abschließende gemeinsame Moment unglaublich intensiv. Wir werden belohnt, weil wir uns eingelassen haben.

Ich habe das Gefühl, dass ich meine vier Partner, aufgrund der Erfahrungen in der letzten Stunde, seit Ewigkeiten kenne. Das tut gut. Vor allem auf diesem Festival. Dabei ist Eye Gazing ein Werkzeug. Die offene Begegnung, die Nähe zu einem Menschen, ist ein Weg, um voll und ganz und so was von da zu sein. Mehr zu spüren, weniger die Vergangenheit zu erinnern oder an die Zukunft zu denken und so im Augenblick anzukommen.

Deshalb, erklärt die Gruppenleiterin, ist Spüren und Empfindung wichtig.

Bewusstsein mit allen Antennen. Die Gnostiker zum Beispiel beschreiben nicht nur fünf Sinne, sondern zwölf. Zwölf Antennen.2 Wie viele natürliche Antennen, wie viel Gespür verkümmert, weil sich der Mensch auf Technik verlässt, weil er der Rationalität die Totalgewalt über das Leben lässt. Dann wird alles im Leben von dem Geplapper in unserem Kopf bestimmt.

Stille entsteht. Ihre Worte hallen nach.

Wir sitzen im großen Kreis. Einige habe ich im intensiven Augenkontakt kennengelernt, und die anderen gehören dazu. Oder ich gehöre zu den anderen. Auf einmal sind wir eine Gemeinschaft. Wir betrachten uns, schließen nochmals die Augen, spüren, was da ist. Zwischen uns, um uns. Ist menschliches Bewusstsein oder Emotion oder Zuneigung messbar? Oder sind diese subtilen Aspekte der Existenz nur mit den geheimen menschlichen Antennen zu empfangen. Die Gruppenleiterin hält die Präsenz noch eine Weile, bevor wir die Halle verlassen werden. Sie gibt uns eine Hausaufgabe: Bleibt in dieser Aufmerksamkeit. Verfallt nicht in die Spiele und Muster, sondern spürt den Augenblick. Er ist alles, was es gibt.

In der Zeit nach dem Abendessen bis zur abschließenden Tanz-Session nehme ich an einer Männerrunde teil. Ein junger Skandinavier lädt ein. Er heißt Oscar, ist 34 Jahre alt, trägt einen gut gestylten Fünf-Tage-Bart und eine Lederweste. Wir sitzen zusammen im Sand.

Es ist etwas besonderes, wenn Männer in einem geschützten Raum zusammenkommen. Wenn Offenheit da ist, Verbundenheit entsteht und wir statt zu Konkurrenten zu Brüdern werden. Es tut gut, sich nicht zu verstecken mit den Qualitäten des männlichen Wesens, die häufig kleingehalten werden. Eigenschaften, die nichts in einer kultivierten Gesellschaft zu suchen haben, die roh sind, die bedrohlich aussehen, die zu viel sind. In einer unterstützenden Gemeinschaft sein zu dürfen, was Mann ist, ist wie Befreiung. Es ist Ehrlichkeit gegenüber unserer Natur.

Diese Runde allerdings ist an Peinlichkeit kaum zu überbieten. Oscar, der Gruppenleiter, erzählt uns stolz davon, wie sich sein Leben verändert hat, seit er keine Pornos mehr guckt, und wie man Frauen anspricht. Er nennt seine besten Sätze. Der Typ neben mir macht sich Notizen. Großartig: auswendig gelernte Parolen, die Frauen von unserer Spontanität und Echtheit überzeugen. Dann doch lieber stottern.

Als wir uns gegenüber aufstellen sollen, will ich nur noch weglaufen, denn die eine Hälfte spielt jetzt die Damen, die andere die Casanovas, die dem anderen Geschlecht entgegentreten.

Hier geht es nicht um Männlichkeit oder um das, was wir in modernen Gesellschaften unterdrücken sollen. Die wilde Natur. Die Lust. Das Ungezügelte. Die Kraft, aber auch die Verletzlichkeit. Jeder Mann ist voll davon. Das ist seine Schönheit. Hier jedoch geht es um das Aufführen einer komischen Rolle, um den Damen zu gefallen. Um ihnen siegesgewiss gegenüberzutreten, um spirituelles Eis am Stiel, um Proben, ums Verbessern von Erfolgsaussichten, und sicher gibt es auch dafür eine Berechtigung, aber ich bin froh, als ich diesen peinlichen Zirkus inklusive Homo-Anbagger-Rollenspiel nach schier endlosen fünfzig Minuten hinter mir habe. Oscar rät zum Schluss, die erlernten Techniken gleich heute Abend anzuwenden. Morgen werden wir uns darüber austauschen. Er blickt auf seine Truppe, klopft seinem Nebenmann auf die Schulter. Ich hoffe nur, dass mich niemand mit ihm sieht oder in Verbindung bringt.

Zum Abschluss des ersten Tages strömen die Teilnehmer des Tantra-Festivals in die große Halle zur Buddha-Disco. Wilder Tanz, alle lassen sich gehen, jubeln, feiern Bewegung, den Tag, die Musik. Da meine Beine vom gestrigen Drum-Zirkel schwer sind, laufe ich um die erste Halle herum zur zweiten. Der Love Room öffnet seine Pforten. Kerzen, Kissen, sanfte Musik, Zeit zum Alleinsein, Zeit für Zweisamkeit, zum Atmen, Meditieren, Kuscheln oder Schmusen. Wie immer ist alles erlaubt. Nichts muss, alles darf passieren. Vorstellungen und Konzepte werden am Eingang abgeben. Vertrauen, fühlen, geschehen lassen.

Eine Gruppe hält im Love Room ihr Family Meeting ab. Sechs Personen. Sie teilen Erfahrungen des Tages, Gefühle, Widerstände. Damaokaia ist ein Typ Anfang zwanzig, mit tief dunkler Stimme und einer großen Wikingertätowierung auf der Brust. Seine Freundin hat dunkles, wildes Haar. Sie sind ein unfassbar lebendiges Paar, wir haben vorhin zusammen gegessen. Sie liefern sich dem spirituellen Weg total aus und scheuen keinen Schmerz. Sie wollen sich ihren Dämonen stellen, ihre Eifersucht und ihr sexuelles Verlangen akzeptieren, schwach sein dürfen. Ihr Mut, sich allem zu öffnen, ist inspirierend. Das gegenseitige Vertrauen wird immer wieder auf die Probe gestellt und bekommt so die Gelegenheit, über sich hinauszuwachsen. Die Intensität ist manchmal zermürbend, aber sich fallen lassen zu können ist für die beiden das größte Geschenk: ein anderes, ein offenes Beziehungskonzept. Dennoch frage ich mich, ob die beiden von ihrem Umfeld und ihren Ansichten dazu gezwungen werden, weil eine normale Beziehung, in der es Kompromisse gibt und Genügsamkeit, ihnen nicht spirituell genug ist. Die vier anderen kenne ich nicht, aber die Gruppe wirkt wunderbar vertraut.

Außer der Sechsergruppe liegt in einem kleinen Berg aus Kissen noch Katarina, eine hübsche, sehr weibliche Russin, der ich vormittags am Eingang zu Taozens Session über den Weg gelaufen bin. Ich setze mich ein wenig abseits in den Love Room, weil ich weder das Meeting noch Katarinas Entspannung stören möchte, und sehne mich nach Zärtlichkeit. Nach Vertrautheit. Typisch Tantra, denn es wird etwas genährt, das sich nach Nähe sehnt.

Katarina ruht in ihrer Mitte. Ihr Kopf liegt auf einem Meer aus kleinen, quirligen Locken, ihr Brustkorb hebt und senkt sich wie in Zeitlupe. Ihre Gesichtszüge sind gelöst, süß, doch sofort kommt mir ein Gedanke, der mich häufig aufsucht:

Ich möchte ihr nicht zu nahe treten, ihr den Raum lassen, den sie braucht.

Oder würde sie sich freuen?

In meinem Bauch waltet eine verrückte Sorge. Vielleicht fürchte ich auch die Zurückweisung. Aber wenn nicht auf einem Tantra-Festival die Komfortzone verlassen und etwas wagen, wo dann? Es geht nicht nur um ihre Privatsphäre, das ist vielleicht sogar nur ein Vorwand in meinem Kopf. Es geht darum, mich meinen Ängsten und Widerständen zu stellen, denn eins ist klar: Ich hab Schiss.

Nach einer Weile verlässt die Gruppe den Raum. Wir sind allein.

Do one thing every day that scares you!

Ich erhebe mich, schleiche zu Katarina herüber. Auf halbem Weg wundere ich mich, weil ich gar nicht mitbekommen habe, irgendeine Entscheidung gefällt zu haben. Ich setze mich zu ihr. Sie schaut auf, lächelt mich glücklich an und schließt ihre Augen. Ich lege meinen Arm um sie, wir meditieren zusammen.

Nach einer Weile öffne ich die Augen. Katarina ist voll da, aber auch irgendwo weit weg. Sie wirkt wach und präsent.

Während die Ereignisse des Tages vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen, streichele ich über ihren Kopf. Sie schmiegt sich in meine Hand, genießt die Zärtlichkeit. Ich bin der Giver.

Nach ein paar Minuten hebe ich meine Hand in die Luft und fahre ihre Aura entlang. Sie räkelt sich voller Genuss. Ohne jeden Körperkontakt. Ich schmunzele: Alle verrückt in diesem Land. Dann reibt sie ihre Oberschenkel aneinander, ihr Atem rauscht. Sie öffnet den Mund, atmet, macht ein Geräusch, bewegt sich, die Augen sind geschlossen. Ich fühle den Raum zwischen meiner Hand und ihrem Körper, gleite mit dreißig Zentimetern Abstand über ihre Scham, zu den Oberschenkeln, den Knien und wieder hinauf zum Bauch. Ein Keuchen verlässt Katarinas Lungen. Ich spüre ihren Brustkorb, ihren Kopf, ohne ihn zu berühren, dann lege ich Zeige- und Mittelfinger auf ihren Solarplexus. Im Moment der Berührung beginnt ihr Körper zu zittern. Sie keucht, ihre Hüfte zuckt, ihr Atem strömt stoßweise durch den Mund. Der Kontaktpunkt ist minimal, total subtil, aber er geht tief, wird warm, ist unzertrennlich. Als wenn Strom durch meine Finger in sie hineinfließt. Ich beobachte, was mit Katarina geschieht, und das ist nur unmöglich. Direkt vor meiner Nase, einfach nur unmöglich. Großartig. Es zuckt in ihr, die Intensität wächst, wird gewaltig. Als ich meine Hand löse, ergießt sich ein Hauch Entspannung über sie, und sie zerfließt in gleichmäßige Erregung. Sinnliche Geräusche entschwinden ihrem Mund. Ich bin bereit für den nächsten Schritt, bin wohl jetzt ein Sex-Guru. Ich habe aufgepasst, also lege ich Daumen und Zeigefinger an ihren Hals …

»AAAHHAAHHHH!!!«

Zum Glück sind wir allein, denn sie stöhnt so heftig, als würde wild gefickt. Die nächste Welle bricht über sie hinein. Sie bebt, vibriert, keucht, windet sich. Ich kann das alles gar nicht glauben und blicke mich um. Niemand hier. Ich muss das Ole erzählen. Aber erst mal will ich wissen, wo das jetzt alles hinführt!!!

Als ich nachts in unserer Hütte ankomme, ist Ole noch wach. Er liest, ist nicht mehr ganz so blass und sieht eigentlich ganz brauchbar aus. Gut, denn es gibt einiges zu besprechen. Das glaubt mir doch keiner! Ole ist wahrscheinlich der Einzige im ganzen Universum. Eine Tasse Tee dampft auf seinem Nachttisch, neben einer Packung Salzstangen und einem Glas, in dem ein letzter Rest Coca-Cola schwimmt.

Ich berichte, er fragt nach allen Einzelheiten, ist morgen mit dabei. Mit tausend Grad Fieber oder Übelkeit, ganz egal. Nach zehn Minuten bin ich durch und schnaufe. Packe das alles nicht.

Ole blickt mich mit großen Augen an: »Und dann seid ihr zu ihr und habt richtig guten Sex gehabt?«

»Leider nein. Wir sind Hand in Hand am Strand entlanggelaufen, sie hat mir erzählt, wie sich die Energie angefühlt hat, wie intensiv, wie geil, wie die Energie durch mich hindurch in sie hineingeströmt ist. Sie konnte meinen Energiekörper sehen, war begeistert von meinen, na ja, außergewöhnlichen energetischen Fähigkeiten. Sie arbeitet wohl viel mit Energie. Und sie konnte nicht glauben, dass ich gar nix davon mitbekommen habe, was da geschehen ist.«

»Du warst der Giver. Wie ging’s weiter?«

»Als wir bei ihrer Unterkunft angekommen sind, war irgendwie klar, dass da nix läuft. Wir haben uns umarmt, wie Freunde, wie spirituelle Liebhaber. Dann ist sie glücklich schlafen gegangen. Ohne mich.«

»Immerhin bist du jetzt ein Guru. Und du musst mir unbedingt beibringen, wie das geht.«

Ich wache auf, drehe mich zur Seite, sehe die Dämmerung, höre Stille und den frühen Morgen. Es ist noch Zeit. Alles an diesem Tag ist ungewiss, aber das hat eine schöne Seite. Eine knappe Stunde später summt der Wecker. Wir machen uns fertig, Ole geht es passabel. Nach dem Frühstück laufen wir zum Love Center.

»Love Temple!!!«

Natürlich gehen wir zu Hariprem. Die Halle ist zum Bersten gefüllt. Ein paar bekannte Gesichter, alle nicht mehr ganz so fremd. Ich atme aus. Ole erkämpft sich einen Platz mit bester Sicht. Ich bleibe am Rand. Die Leute sitzen dicht gedrängt auf dem Boden, quatschen, dehnen sich oder sitzen in Stille. Um neun Uhr betritt Hariprem mit seiner Frau Kaulika, einer heiligen Peruanerin, die Halle und schreitet nach vorn. Er ist groß, hat sehr helle Haut, trägt ein weißes Gewand, der graue Bart schwebt über seiner Brust. Sie nehmen Platz, er schaut durch die Reihen, fühlt den Augenblick. Etwas umgibt ihn, eine Ruhe, eine Gewissheit, die das Geschnatter im Raum erlöschen lässt. Seine Präsenz ist fühlbar. Neben ihm seine Frau, sie legt ihre Hand auf seine Oberschenkel, er legt seine auf ihre. Er blickt sie mit großen Augen an, als wenn er sie noch nie gesehen hätte. Sie sind in diesem Moment die einzigen Menschen in dieser Halle. Nein, auf dem Planeten. Er verehrt sie wie eine Königin. Sie schauen sich an, verliebt wie Teenager. Er schmunzelt und richtet, als ob er sich erinnert: Da war noch was!, den Blick zurück zu uns. Seine Bewegungen sind langsam, sie schweben. Er erlebt jeden Millimeter. Total. Jemand reicht ihm ein Mikrofon. Eine kindliche Neugierde wohnt in seinen Augen. Und Vertrauen. Er wartet darauf, dass etwas passiert. Er wartet, ohne zu warten. Ohne Eile. Ohne Idee. Dann entstehen Worte, die durch seinen Mund über das Mikrofon zu uns gelangen.

»Wir sind umgeben von den Elementen. Sie spielen mit uns. Es sind vier, aber jedes Element ist auch die Liebe.«

Er beschwört die Elemente herauf.

»Feuer.« Ein Schmunzeln huscht über sein Gesicht.

»Erde.« Sein Körper ist vollkommen aufgerichtet und verwurzelt.

»Wasser.« Sein Atem fließt, die Arme in sanfter Bewegung.

»Luft …«, eine Entscheidung ergreift von ihm Besitz, »… aber heute ist es Wasser!«

»Feuer ist wild, ungezügelt, es brennt. Erde ist unverrückbar. Sie ist unser Fundament. Luft ist leicht, sie schwebt, sie wandert mit uns in ungeahnte Sphären, aber wir werden heute das Eis in unseren Herzen mit Wasser schmelzen lassen.«

Eine süße Traurigkeit wandert aus meiner Brust in meine Augen. Eine Träne kullert über meine Wange. Wo kommt das denn her? Wieso werde ich traurig, nur weil ein Typ mit langem weißem Bart ein paar abstrakte Sätze spricht? Wie lange habe ich nicht mehr geweint? Und jetzt: keine schlechte Nachricht wie der Tod eines Familienmitglieds oder das Ende einer Liebe, nichts, was Kummer bringt. Vielleicht sind es die Worte, vielleicht dieses subtile Unbeschreibliche in dieser Halle. Aber etwas in mir löst sich. Ich blicke wieder nach vorne. Dieser Mann strahlt so viel Frieden aus.

Wir sollen uns bequem und aufrecht hinsetzen. Äääh, was denn jetzt: bequem oder aufrecht? Na ja, jetzt keine Haare spalten, also schließe ich die Augen, denn Hariprem wird uns in eine Meditation geleiten.

»Lasst den Atem wie das Wasser fließen. Wasser läuft den Berg hinab, so wie ihr ausatmet, und strömt wie ein starker Fluss, wenn der Atem den Körper füllt. Fühlt die Kraft des Elements. Nichts kann das Wasser aufhalten. Lasst es fließen, lasst es wie einen Wasserfall in die Tiefe stürzen und lebendig sprudeln, während es seinen Weg beschreitet.«

Alle beginnen zu atmen, einige seufzen, andere stöhnen. Ich fühle, wie meine Brust sich wölbt und senkt, fühle die unbändige Kraft der Atmung.

»Intensiviert den Fluss! Wasser ist die Quelle des Lebens. Sprudelt!«

Seine Worte treffen mich. Unmittelbar. Im Körper. Der Raum um mich herum bebt, die Menschen werden größer. Alles ist nah. Dann wird die Halle zu einem brausenden Sturm. Hariprem peitscht uns an. Es wird laut, bis alle durch einen wilden Rausch in eine hyperventilierende Ekstase gespült werden.

Nach dem chaotischen Aufbau der Energie kehrt Ruhe ein. Jeder schaut in sich hinein. Atmet ein in das erste Chakra, schließt den Kanal, in dem die Beckenbodenmuskulatur angespannt wird, und zieht die Atmung hinauf ins Herz. Mit dem Ausatmen loslassen und die Energie an die Erde abgeben. Dann wieder von vorne. So öffnen wir unsere Herzen.

Was ein Quatsch! Aber die Empfindungen in mir sind unbeschreiblich. Ich fühle Wasser, ich fühle Kraft, ich fühle etwas, das an Liebe erinnert.

Wir kommen zur Ruhe, die Partnerübung kann beginnen.

Die Shivas, also die Männer, bilden einen großen Kreis, in dessen Mitte sich die Shaktis, die Frauen, stellen. Die weibliche Energie im Zentrum, das Männliche darum. Wir stehen uns gegenüber und haben unsere Partner gefunden. Vor mir steht eine bildhübsche Italienerin mit dunkelroten Lippen. Ihr Lächeln ist genauso unsicher wie meins. Das verbindet, schafft Nähe. Wir werden das Kind schon schaukeln.

Hariprem leitet an. Wir stehen stabil, mit gutem Kontakt zum Boden etwa einen Meter auseinander, und blicken uns in die Augen. Ihre Augen sind dunkel wie Ebenholz. Ich versinke darin, lange bevor es losgeht. Durch das Mikrofon wird das Vorgehen erklärt: Wir atmen entgegengesetzt. Während ich sexuelle Energie aus dem ersten Chakra ausatme, nimmt Shakti, also die Italienerin, diese mit der Einatmung in sich auf. Sie leitet meine Energie aus dem Beckenboden nach oben und verwandelt sie in Herzenergie. Mit der Ausatmung breitet sie die Arme in meine Richtung aus, und ich nehme, während ich einatme, ihre Liebe in mein Herz auf. Von dort wandert diese Energie hinunter. Ich atme aus und schiebe sexuelle Energie in ihr Beckenboden-Chakra. Dabei drücke ich meine geöffneten Handflächen in Ihre Richtung und unterstütze den Fluss, indem ich mein Becken nach vorne schiebe. Sie empfängt in ihren Lenden mit der Einatmung, nimmt die Energie in ihrem Sex-Chakra auf und transformiert sie auf dem Weg nach oben in Herzenergie, um diese mit dem Ausatmen wieder zu mir zu lenken. Bei dem so entstehenden Kreislauf blicken wir uns tief in die Augen.

Okay. Nix mit »Hallo, ich bin Andi aus Köln, guten Tag, was machst du so?«, dafür das Becken wie beim Sex vor und zurückschieben und Sexenergie in Herzenergie umwandeln. Logisch. Penisenergie in Vagina, dann zur Mitte, zur Titte, zum Sack, zack, zack. Das spreche ich so aber nicht aus. Konzentration! Hier und jetzt: Andi, die Traumfrau und heilige Tantra-Magie.

Ich stelle mich aufrecht hin, bin ›bereit‹, also habe keinen Plan, aber es kann losgehen. Sie lächelt verlegen. Dann wollen wir mal.

Ich atme ein und schiebe mit der Ausatmung mein Becken vor. Dabei denke ich an sexuelle Energie, ohne zu wissen, was genau das ist (es wird ja keine unheilige Geilheit sein). Sie nimmt diese mit einer tiefen Einatmung in ihre Hüfte auf, und plötzlich sind wir im Fluss. Ich nehme ihre Liebe auf, schicke ihr Sex, und während wir uns in die Augen schauen, ist dieser Kreislauf auf einmal ganz natürlich und überhaupt nicht mehr bekloppt. Es fließt.

Jede Runde ist voller Hingabe, mit jeder Runde intensiviert sich die Verbundenheit. Die Energie ist nicht mehr subtil oder unkonkret, sondern kraftvoll und lebendig. Gefühle tauchen auf. Erotik, Traurigkeit, Freude, Schüchternheit, Verlangen und immer wieder Liebe. Wir nehmen alles in unseren Kreislauf auf und lassen uns davontragen.

Nach dreißig Minuten ist die Übung zu Ende. Ich setze mich in den Schneidersitz, und meine Partnerin hockt sich auf meinen Schoß und schlingt ihre Beine um meinen Rücken. Eine innige Umarmung, sie legt ihren Kopf an meinen Hals – Gott, fühlt sich diese Frau gut an. Und leicht bekleidet. Unanständige Gedanken sind unvermeidlich. Vor allem, da ich gerade dreißig Minuten in die Luft gebumst habe. Ich verurteile mich dafür, aber nur ein bisschen, denn bei Tantra ist ja alles erlaubt, und damit kann ich die schweinische Ablenkung ziehen lassen. Lust darf sein, Lust kann weiterziehen. Es wird zärtlich und nah. Wir könnten ewig nur so sitzen bleiben.

Irgendwann verschwindet der Zauber. Ich kehre zurück, werde unaufmerksam, beginne zu denken: Was für eine Frau! Sie fühlt sich so sanft an. Und was für eine Übung! Eine wunderbare Sache für Paare. Um dem Alltag zu entfliehen, Präsenz zu erleben, Verbundenheit zu spüren. Am besten zweimal in der Woche. Außer wenn alles hektisch und die Zeit knapp ist, dann viermal in der Woche. Diese Übung in dieser Halle mit diesem Meister ist besonders, weil das Subtile plötzlich überwältigend ist. Oder liegt es an ihr? An dieser wunderschönen schüchternen Italienerin? Oder an mir? An diesem Tag?

Natürlich ist es schwierig, diesen Zauber im heimischen Wohnzimmer entstehen zu lassen. Dazu braucht es Indien. Oder Hariprem. Oder: wenig Erwartung und ein kleines bisschen Übung.

Ich versuche wieder in das Fühlen zu gelangen, aber der Klang der Zimbel beendet die Übung. Die Meditation ist zu Ende. Ich verneige mich vor der Italienerin. Sie sieht glücklich aus.

Es bleiben ein paar Minuten, um Fragen zu stellen. Ich schaue mich um. Die Gesichter der anderen sind gelöst und j-e-d-e-r E-i-n-z-e-l-n-e ist unfassbar schön!!! Ich weiß nicht, was mit meinen Augen passiert ist, aber die Hariprem-Brille ist phänomenal.

Eine junge Frau meldet sich und erzählt, dass ihr Lebenspartner, ein Yogalehrer, nichts von Tantra wissen will. Hariprem antwortet, dass es nur Liebe gibt. Und wenn dich jemand verändern möchte, dann ist das auch Liebe. Das ist seine Art der Liebe. Damit muss man umgehen. Mit offenem Herzen!

Eine groß gewachsene Blondine in einem gestreiften Shirt meldet sich energisch. Sie mag es nicht, wenn die Männer ihr zu nahe kommen. Sie wollen nur Sex! Sex! Sex!

Empörung schwirrt durch die Reihen. Welcher sexbesessene Schuft hat unsere heilige Übung falsch verstanden? Oder ausgenutzt!

Hariprem flüstert in das Mikrofon: »Es gibt kein Nein. Nein ist Ego. Wenn die Männer wie dumme Jungs nur ficken wollen, hilft die Liebe.« Er schaut die Blondine an. »Aggression kann man nicht mit Krieg heilen. Oder Plumpheit mit Entrüstung. Dem Blinden muss man einen Blindenstock anbieten. Ihm den Weg zeigen.«

Sie lächelt.

Hier in dieser Halle soll die Liebe alles richten. Aber geht das auch draußen? Braucht es nicht manchmal ein starkes Nein, um nicht in die Enge getrieben zu werden?

Es wäre so schön, und Hariprem verkörpert den Weg der Liebe. »Wer soll den Shivas denn die Liebe zeigen, wenn nicht die unendliche Weisheit der Shaktis? Nein, dieser Mann mit seiner Lust ist ein verirrtes Kind. Sie soll ihn die Liebe lehren. Nicht Hass, nicht Abneigung. Damit er wachsen kann.«

Alle Spannung verlässt das Gesicht der Frau im gestreiften Shirt. Alle Abwehrhaltung ist verschwunden. Sie ist berührt, als wenn sie ihren Platz in dieser Welt erkannt hätte.

Stille breitet sich in der Halle aus, denn unsere Empörung, unsere Ablehnung war Ego. Natürlich soll sie nicht mit dem Aufdringlichen ins Bett springen. Aber anstatt aggressiv zu reagieren, können wir mit unserem Herzen verstehen. Der Frieden in seiner Botschaft ist kein Mitgefühl, seine Botschaft ist nicht tolerant, nicht selbstlos, diese Botschaft ist bedingungslose Liebe. Auch das Schwierige, das Ungewohnte, das Hässliche kann geliebt werden. Wir müssen nur die Herzen öffnen.

Am Nachmittag geht Ole zu Energetic Breath, ist aber enttäuscht, weil jeder bei sich bleibt. Zwei Stunden einsam, mit geschlossenen Augen atmen. Präsenz fühlen, den Raum, da sein und alles, was kommt, vorbeiziehen lassen. Die Leere annehmen, in der Leere versinken.

In meiner Session, in der anderen Halle, geht es um unsere Ahnen, um Heilige, um Tiere, die Anbetung der Sadhus. Sie sind unsere Vergangenheit, ein Teil von uns, von dem wir uns nicht abspalten dürfen. Ein leidenschaftlicher Monolog. Der Inder spricht und spricht und spricht. Er will uns aufwecken, will Ehrfurcht schulen, will uns unterweisen. Ich aber mag lieber fühlen. Zum Schluss dann endlich Aktivität. Wir tanzen, stapfen auf dem Boden, brüllen Tiergeräusche.

Ich treffe Ole vor dem Abendessen. Wir müssen entscheiden, wie es weitergeht. Das Thema des dritten Tages ist Erden und Zentrieren. Es gibt Yogastunden, Bauchtanz und andere Angebote, die uns nicht vom Hocker hauen. Wir lieben die Begegnung und belassen es bei den zwei Tagen, weil der Spaß auch ziemlich teuer ist. Derweil gibt es in Arambol anderes zu erleben. Außerdem bleibt Hariprem und wird nach dem Festival ein paar Wochen lang jeden Tag eine Session abhalten. Für fünf Euro – Liebe und Heiligkeit im Sonderangebot.

Mit der untergehenden Sonne wird es kühler und der Strand lebendig. Ich schlage Ole das Kabarett der Männergruppe vor, vielleicht findet er es ja witzig, aber er winkt ab. Ich laufe über den Strand, genieße das bunte Schauspiel, die Menschen, die Leidenschaft. Ole wirft einen Blick in den Love Room, nur bleibt der heute leer.

Gegen neun Uhr findet in der Buddha Hall Ecstatic Explosion statt. Tantra-Disco. Möge der Rausch mit uns sein. Teilnehmer, Organisatoren, Lehrer, Gurus, Assistenten kommen zusammen. Eine große Familie, in der jeder sein darf, wie er ist. Ich entdecke Taozen, der im Takt um die Frauen herumschwirrt. Hariprem und Kaulika sind hundert Jahre zu alt für diesen Disco-Quatsch, aber schweben frei und verliebt im Raum. Die elektronische Musik geht mir in die Eingeweide. Viele springen, mein ›Ahnen-Inder‹ stapft auf der Stelle und schüttelt sein Haupt. Manche tanzen allein, andere hüpfen zusammen. Bewegung ohne Scheu. Wunderschöne Frauen winden sich, Männer explodieren. Katarina steht plötzlich hinter mir. Sie küsst meinen Hals, drückt mich und verschwindet dann mit einem Israeli. Schade. Ich schließe die Augen und fühle den Bass, die Klänge der Sitar, den hypnotisierenden Rhythmus. Es geschieht. Oder es darf geschehen. Meine Scham verflüchtigt sich, die Zwangsjacke geht auf, Bewegung fließt durch meine Hüften. Alles kann sein. Auch ich. Die Musik peitscht voran, die Beats fliegen uns um die Ohren, sie sind die Luft zum Atmen. Mittendrin eine qualvolle Pause, in der nur die Harfe zupft und wir, die bassabhängigen Wilden, auf eine schmerzhafte Folter gespannt werden. Die zerreißenden Momente werden in eine furchtbare Länge gezogen, bis das Wiedereinsetzen des Hammerbeats uns Erlösung schenkt und das Spektakel durch die Gegend katapultiert. Der Raum brennt. Ole geht ab, schwitzt, aber sein erschöpfter Körper will mehr. Er tanzt und tanzt und tanzt, und so beenden wir das Tantra-Festival, zwei schöne Tage, mit einzigartigen meditativen Momenten und tantrischen Begegnungen und wunderschönen Menschen, in einem großen ausgelassenen Miteinander aus Freiheit und Musik.

Ganesha macht die Türe zu

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