Читать книгу Frau vor Sonnenuntergang - Andreas Geist - Страница 6
2
ОглавлениеDer letzte Wutausbruch musste einen Schalter in meinem Gehirn umgelegt haben. Ich war ohnmächtig geworden und hatte einen wunderbaren Traum gehabt, in dem ich über Felder und Wiesen schwebte wie ein Engel. Würde es so sein?
Ich hatte so einen Traum nur einmal in meinem Leben gehabt. Damals war ich noch ein Kind, und als ich aufwachte, war ich unglücklich darüber gewesen, dass ich nicht zurück konnte in die heile Welt meines Traums.
Ich versuchte auch jetzt, das Gefühl festzuhalten. Ich unterdrückte den Wunsch, mich zu bewegen. Der Himmel war klar. Es musste Abend sein. Über mir beschien die untergehende Sonne die hellen Stämme der riesigen Kiefern. Ich hatte dieses Licht immer geliebt. Dort oben bewahrten sich die Bäume eine Unberührtheit, die unerreicht blieb vom Schmutz und Lärm der Welt. Dieser unschuldige Ort warf das warme Licht der späten Abendsonne zurück, während der Waldboden schon im Dunkeln lag. Die Baumkronen waren eine eigene, autarke Welt, eine Insel ursprünglichen Lebens. Wohnten dort die Engel? War das der Himmel?
Ich sehnte mich nach einer anderen Welt, in der mich niemand bedauern würde, in der mein Wert nicht fiel, nur weil ich keine Arme und Beine mehr hätte.
War dort oben diese Welt?
Die Vögel hatten auch keine Arme und die kurzen Beine taugten lediglich als plumpes Fahrwerk für die Landung. Wenn sie auf dem Waldboden herumhüpften, sahen sie geradezu grotesk aus. Da waren sie einfach nicht in ihrem Element. Aber wenn sie sich in die Luft erhoben, wurden sie anmutig wie Engel.
Vielleicht war auch ich einfach nicht mehr in meinem Element. Ich gehörte von nun an der Welt der Baumkronen an, der Welt der letzten Sonnenstrahlen. Was machte ich noch hier? Ich wollte fliegen.
Der Traum war verblasst. Ich konnte ihn nicht festhalten und die unbarmherzige Realität des zerschmetterten Ikarus drang durch die Löcher meines Schutzschildes.
Nur: Helden starben einfach. Was für ein billiger Abgang. Sie saßen nach ihren Heldentaten nicht in einem Rollstuhl, hinter dem ein Beatmungsschlauch diskret in einer elektrischen Pumpe verschwand. Der Vorhang fiel immer rechtzeitig, bevor sie aus den Kostümen schlüpften, die ihre wahrscheinlich ebenso zerbrechlichen wie schmächtigen Körper so wunderbar kaschiert hatten. Warum war ich nicht einfach gestorben? Die Wahrscheinlichkeit, dass ich in diesem Zustand enden würde, war eins zu einer Million.
Ein furchtbarer Verdacht beschlich mich. Nach meinem Tod würde ein Arzt meine Familie unsinnigerweise damit trösten, dass ich nicht mehr gelitten hätte.
Vielleicht erlebten die meisten Todgeweihten aber genau das, was ich gerade durchlebte. Sie konnten ihre Agonie nur niemandem mehr mitteilen, und so hielt sich ein Märchen hartnäckig, das immer mit denselben Worten begann:
Er hat nicht mehr gelitten…
Scheiße! Ich musste sie warnen. Sie durften den Tod nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es war eine gnadenlose Abrechnung und die Erlösung musste man sich verdienen.
Ich fühlte, dass die Endorphine oder das Adrenalin oder beides langsam aus meinem Blutkreislauf verschwanden. Ich würde in eine Depression stürzen, gegen die ich mich nicht zur Wehr setzen könnte. Ich wollte sterben. Bitte. Ich flehte ihn an, den unbekannten Gott, doch die rostige Kaffeemühle meines Verstandes mahlte weiter stetig und gnadenlos und quietschend.
Ich dachte an meine Frau und unsere kleine Tochter. Vielleicht war sie kurz, nachdem ich weg war, aufgewacht und zu uns ins Bett gekrochen wie jeden Morgen. Dann fragte sie gewöhnlich,
„Wo ist Papa?“, und Mama antwortete gewöhnlich:
“Er fährt ein bisschen Rad und kommt dann zum Frühstück“.
Ich musste diese Gedanken unterbinden. Sie durchlöcherten meinen Panzer, der mich ohnehin nur noch dürftig schützte.
Nach dem Stand der Sonne war es ungefähr vier Uhr und nahezu dunkel. Warum suchte mich niemand?
Wie als Antwort auf meine Frage hörte ich lautes Rufen. Noch sehr entfernt, aber ich identifizierte deutlich meinen Namen.
„Martin, Maaartin!“
Ich wollte einer spontanen Eingebung folgend Hier schreien, aber da war sie wieder, die eine Ecke meiner grauen Substanz, die die Situation analysierte und mir aufzeigte, was passierte, wenn sie mich fänden. Ich räusperte mich und krächzte ein halbherziges Hier unten, am Schießbach, das so niemand hören konnte. In mir entbrannte ein Kampf, der mich in meiner geschwächten Position auf dem falschen Fuß, oder sollte ich lieber sagen auf den lahmen Füssen und Händen erwischte und überforderte. Das heisere Husten, das mich daraufhin schüttelte, sollte eigentlich ein unglückliches Lachen sein. Da war er wieder, der Schmerz. Hurra!
Mir stockte der Atem. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte ich ein Brennen in meinem Rücken auf Höhe meines Steißbeins. Dann war es wieder weg. Hatte ich es mir nur eingebildet?
Wenn es aber wahr wäre, dann kehrte mein Gefühl am Südpol meiner schlaffen Hülle zurück. Dann gab es Hoffnung auf eine Wiederherstellung, ja vielleicht sogar ad integrum. Ich schloss die Augen und überlegte fieberhaft. Wenn ich jetzt die Suchmannschaft auf mich aufmerksam machte, dann verlor ich die Kontrolle über mein weiteres Leben. Sie würden mich so weit herstellen, dass ich mit dem Rollstuhl alleine vom Wohnzimmer auf die Toilette rollen könnte. Dann würde ich ein Lob bekommen wie ein Hund, der seinen Haufen auf die Wiese des Nachbarn anstatt auf den heimischen Teppich gesetzt hatte. Aber wenn es wirklich Hoffnung gab, dann war jetzt meine Chance, bevor ich verhungerte oder verdurstete oder an Unterkühlung starb. Ich versuchte, ganz ruhig zu werden. Diejenigen, die mich suchten, würden zurückkommen. Ich war nicht wie Saint Exupery in der Sahara notgelandet, sondern lag auf einem Waldweg im Nordschwarzwald umgeben von Städten und Dörfern.
„Also entspann Dich“, sagte ich mir. Die Stimmen entfernten sich. Meine aufkeimende Mutlosigkeit wurde unterbrochen von einem weiteren dumpfen Schmerz, der diesmal unter meiner rechten Schulter lokalisiert war. Ich lag auf einem Haufen Buntsandsteinbrocken.
„Ich liebe Euch Buntsandsteinbrocken, weiter so. Wenn ich je wieder hier herauskomme, dann werde ich das Liegen auf Buntsandsteinbrocken als neue Physiotherapie für angehende Tetraplegiker empfehlen“.
Dann war die Verbindung wieder unterbrochen. Erneut schlich sich ein furchtbarer Verdacht in mein Bewusstsein. War es ein Phantomschmerz? Also lediglich eine verzweifelte Projektion meines Gehirns in einen Teil meines Körpers, den es noch nicht aufgeben wollte?
„Hallo, hier Tower Marrakesch an Antoine. Melde Dich“. Doch inzwischen war Antoine in der Wüste gestrandet und hatte Kontakt mit dem kleinen Prinzen aufgenommen. Jetzt begriff ich eine neue Seite der Geschichte. Es war keine Liebesgeschichte. Dort stand nicht nur der viel zitierte Ausspruch des kleinen Männchens von seinem kleinen Stern: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen verborgen“.
Da gab es auch die Schlange. Ja, jetzt hatte ich es kapiert.
Die Schlange war das Sinnbild der Wesen ohne Arme und Beine, das Symbol des Tetraplegikers. Das, was sie dem kleinen Prinzen auf die Frage erwiderte, ob sie denn nicht einsam sei, wenn sie alleine durch die Wüste schlängele, bekam damit einen neuen, tiefen Sinn.
„Man ist auch unter Menschen einsam“.
Das wäre mein Schicksal. Auch ich wäre unter den Menschen um mich herum einsam. Nicht, dass ich Einsamkeit nicht ertragen konnte. Doch wenn ich mir vorstellte, dass meine kleine Tochter mir freudig zuriefe:
„Papa, gehst Du mit mir Radfahren“, um dann beschämt zu Boden zu blicken, weil ihr das herausgerutscht war. Und wenn ich dann mit meinem üblichen Sarkasmus aus meinem Rollstuhl zur Antwort gäbe:
„Ich fahre doch schon den ganzen Tag Rad“, dann fühlte ich die unendliche Einsamkeit der Schlange in der Wüste. Sie war einsam, nicht weil die Sahara so öde und leer war, sondern weil sie mit ihrem Gift einen lebensfeindlichen Korridor um sich schuf. Sie war der Feind aller Fröhlichkeit und Unbeschwertheit. Ihr Gift war schleichend wie sie selbst und auf lange Sicht tödlich für jeden, der mit ihr Kontakt suchte.
Aus dieser Einsamkeit gab es kein Entrinnen. Sie würde erst enden, wenn ich diese Welt, zu der ich ohnehin nicht mehr gehörte, verließe. Nein, es musste nicht unbedingt mein Ableben sein. Es gab auch Menschen, die in einem Pflegeheim nur noch Kontakt mit ihresgleichen suchten. Sie wollten nicht mehr vor die Türe, nicht mehr ihre Angehörigen besuchen, denen sie nach ihrem Empfinden nur noch zur Last fielen.
War das nicht so gut wie tot? Oder war es eine richtige und natürliche Reaktion auf neue Lebensumstände, so wie man als Kleinkind sein soziales Umfeld im Kindergarten, als Jugendlicher in der Schule und auf dem Sportplatz, und als Erwachsener an seinem Arbeitsplatz fand? Was nützte dem Vogel die Freundschaft mit dem Regenwurm. Der eine verbrachte ein erfülltes Leben unter der Erde, während der andere schon die Berührung mit dem Erdboden aufs Nötigste beschränkte. Der einzige Schnittpunkt ihrer beider Lebenslinien war für gewöhnlich gleichzeitig der Endpunkt für eine von ihnen.
Guten Appetit.
Ich wollte nicht in einem Heim vor mich hinvegetieren. Aber wollte das spielende Kind denn andrerseits erwachsen werden?
Musste man nicht immer am Ende eines Lebensabschnitts durch eine dunkle Röhre kriechen, um auf eine neue Ebene des Seins zu gelangen? Diese Röhre war bedrohlich und eng, und niemand wusste, was ihn dahinter erwartete. War es eine Frage des Vertrauens?
Musste ich einfach darauf vertrauen, dass alles im Leben einen Sinn ergab, dass jeder Abschnitt kostbar war und nur derjenige ein Verlierer, der der Vergangenheit nachtrauerte oder sich nach einer anderen, unerreichbaren Zukunft sehnte? Vielleicht, denn nur die Singularität des Jetzt zählte. Nur das Jetzt war formbar, beherrschbar und nur in ihm könnte ich zu dem finden, was mich von der Amöbe unterschied, nicht gesteuert durch vorgegebene Muster sondern selbst steuernd. Der flüchtige Augenblick gab mir die Möglichkeit mein Leben aktiv zu gestalten, anstatt mich passiv an Dinge zu verlieren, die entweder unveränderbar in der Vergangenheit lagen oder unerreichbar in der Zukunft. Von der Amöbe unterschied mich nicht nur die Chance, sondern die Pflicht Logistikon zu werden, zum Wagenlenker, der den beiden Pferden vor dem Karren, die Platon Begehren und Mut genannt hatte, seine Richtung aufzwang.