Читать книгу Eine Stadt dreht durch - Andreas Heinzel - Страница 11

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Ich würde mich als eher rationalen Vater bezeichnen. Ich liebe meine Tochter, liebe meinen Sohn, stelle die beiden aber gewiss nicht auf ein Podest, um sie dort oben unreflektiert anzuhimmeln. Nehmen wir zum Beispiel meine Tochter Emma. Emma ist eine wirklich gute Schülerin, die die ersten Jahre der Grundschule problemlos gemeistert und ein schönes Gefühl für Sprache und Zeichnen entwickelt hat. Ich möchte fast sagen, dass sie nicht nur in diesem Bereich zu den besseren, wenn nicht zu den Klassenbesten gehört, aber glauben Sie mir, das ist für mich ohne Bedeutung. Wichtiger ist, dass sie sich als Mensch bewährt. Daher freut es mich als Vater natürlich, dass sie nicht nur mit großer Mehrheit zur ersten Klassensprecherin gewählt worden ist, sondern auch das Klassenbuch führt und schwächeren Mitschülern bereitwillig Nachhilfe gibt. Auch im Sport hat sie ihre Stärken und läuft über die Fünfzig-Meter-Distanz selbst den Jungs in ihrer Klasse davon. Das alles ist im Grunde aber zweitrangig. Was bedeuten schon Medaillen bei Skirennen oder Soloauftritte mit der Blockflöte beim Schulfest?

Bei meinem Sohn Niklas verhält es sich ähnlich. Vor gut einem Monat ist er sechs Jahre alt geworden, entsprechend wird er im Herbst eingeschult. Meine Frau Sybille und ich müssen nur noch die passende Einrichtung finden, damit er den anderen mit den Englisch-Kenntnissen aus dem Kindergarten nicht zu weit voraus ist. Wir haben bereits etwas ins Auge gefasst, auch wenn der Anfahrtsweg von einer guten halben Stunde durch den Berufsverkehr noch nicht unseren Vorstellungen entspricht. Doch auch das sollte sich im Laufe der nächsten Wochen noch lösen lassen.

Wie seine Schwester, so bereitet mir auch Niklas große Freude. Nicht zuletzt deshalb, da sein größter Wunsch zum Geburtstag ein lederner Fußball war, den ich ihm, also wir, Sybille und ich, sehr gerne erfüllten. Und da es sich in Straßenkleidung nicht wirklich gut spielen lässt, bekam Niklas gleich noch ein Trikot der Frankfurter Eintracht dazu, zudem ein paar Stollenschuhe sowie eine Sporttasche, in der er auf dem Weg zum Training seine Ausrüstung verstauen konnte. Niklas freute sich sehr, wenngleich er beim Auspacken des Trikots etwas enttäuscht wirkte, da er vermutlich das Leibchen seines Lieblingsspielers erwartetet hatte. Dummerweise spielt Joshua Kimmich jedoch nicht bei Eintracht Frankfurt, daher musste dieser Wunsch unerfüllt bleiben, was die Laune meines Sohnes jedoch nur kurzzeitig trübte. Vielmehr zeigten die ersten vielversprechenden Ballkontakte im elterlichen Wohnzimmer, dass Niklas auch ohne fachkundige Anleitung bereits die Grundzüge des Volleyschusses beherrschte und dabei eine erstaunliche Treffsicherheit an den Tag legte. Einer fußballerischen Karriere sollte also nichts im Wege stehen, nicht einmal die im Bauhausstil gehaltene Schreibtischlampe, die unser Sohn beim zweiten Versuch eines Seitfallschusses von der Tischplatte fegte. Zufrieden kehrte ich die Scherben zusammen und beschloss das Talent meines Sohnes in Doppelfunktion als Vater und Spielervermittler an einen geeigneten Frankfurter Verein zu binden. Ich hatte auch bereits etwas im Sinn, einen Club, der immerhin einen Nationalspieler hervorgebracht hatte.

Auf der Webseite des Vereins entdeckte ich einen Hinweis auf die Trainingszeiten der U7-Bambini-Gruppe. Dort stand, dass ein Probetraining der G-Jugend, zu der mein Sohn aufgrund seines Alters zu zählen war, jederzeit und auch ohne vorherige Anmeldung möglich sei. Das klang vielversprechend, daher beschloss ich, den kommenden Weltmeister am nächsten Donnerstag auf den Kindersitz zu schnallen und ihn in die faszinierende Welt des Lizenzfußballs einzuführen. Niklas war begeistert und fragte, ob er auch Felix, seinen Kumpel aus dem Kindergarten, mitnehmen dürfte. Nein, antwortete ich, später vielleicht, schließlich wollte ich die volle Konzentration des Trainerstabs zunächst auf das vor mir stehende und etwas enttäuscht in sein Zimmer davon schlurfende Nachwuchstalent lenken. Soweit käme es noch, dass ich die Bälger anderer Eltern mitförderte.

Als wir am Donnerstagnachmittag, eine halbe Stunde vor Beginn der Trainingseinheit, auf dem Vereinsgelände eintrafen, bot sich uns ein Anblick, der an Niklas’ Geburtstagsfeier erinnerte, die wir erst kürzlich im Günthersburgpark abgehalten hatten. Während die Erwachsenen am Spielfeldrand plauschten, lachten und mitgebrachten Kaffee und Kuchen verzehrten, spielten deren Kinder auf dem Kunstrasenplatz und jagten einem formationslosen Bienenschwarm gleich dem Ball hinterher. Als ich noch überlegte, ob wir hier möglicherweise falsch sein könnten, kam eine der Mütter auf mich zu, stellte sich als Gabi vor und fragte, ob mein Kleiner bei ihnen mitspielen wolle.

„Thomas“, antwortete ich widerwillig, da ich dieses distanzlose Geduze beim ersten Kontakt gewöhnlich ablehnte. Doch wollte ich dem Junior durch meine Prinzipien nicht die Zukunft verbauen.

„Und du bist?“, fragte die Frau meinen Sohn, der sich bereits die Fußballschuhe schnürte.

„Das ist Niklas“, antwortete ich für ihn, da Niklas sehr genau abwog, an wen er das Wort richtete und an wen nicht.

„Hallo Niklas“, versuchte es Gabi erneut. „Du, die Fußballschuhe kannst du aber wieder ausziehen. Wir spielen hier nicht mit Stollen, sondern mit ganz normalen Turnschuhen.“

Gabi, die bestimmt noch nie mitgespielt hatte, weder mit Stollen noch ohne, verscherzte es sich mit diesen Worten umgehend mit dem männlichen Teil der Familie Wenninger, zumindest mit mir.

„Das sind speziell auf den noch wachsenden Kinderfuß ausgerichtete Sportschuhe, die dem Fuß beim abrupten Beschleunigen und Abbremsen optimalen Halt bieten“, zitierte ich den Verkäufer aus dem Sportfachgeschäft, in dem ich das Wunderwerk für nicht wenig Geld erstanden hatte.

„Mag sein“, antwortete Gabi lächelnd. „Aber die Verletzungsgefahr ist für die anderen Kinder zu groß, wenn ein Kind mit harten Stollen spielt. Die anderen haben alle Schuhe mit weichen Gummisohlen.“

„Dann sollten die anderen eben auch mit Stollen spielen“, schlug ich vor. „Was machen die denn, wenn der Platz nach einem kräftigen Gewitter unter Wasser steht? Da rutschen die doch nur herum.“

„Bei Gewitter spielen wir sowieso nicht, ist doch klar.“

Gabi mag das klar gewesen sein, ich hatte dafür wenig Verständnis. Das wäre in etwa so, als wenn Niklas bei schlechten Wetterverhältnissen seine Englisch-Übungen hätte ignorieren wollen. Indiskutabel. Aber gut, wir waren ja nicht hier, um mit einer Gabi zu diskutieren, sondern um ein Talent auf den richtigen Weg zu bringen.

„Sagen Sie … äh … sag mal Gabi, ist denn der Trainer schon da?“

„Sicher“, antwortete sie und deutete auf einen jungen Mann, vielleicht Ende zwanzig, mit leger geschnittenem, dreistreifigem Sporthemd, der bei den anderen Erwachsenen stand und sich an einem Stück Kirschstreuselkuchen abarbeitete.

„Hey Max!“, rief Gabi ihn an, woraufhin der Coach das Backwerk hinunterschlang und sich zu uns umdrehte. „Max, hier ist ein neues Kind, das bei uns mitspielen will.“

Nicht bei dir, dachte ich, behielt meinen Einwand aber für mich, da sich der noch kauende Max bereits auf uns zubewegte, die bestreuselte Hand an der halblangen Bermudas abwischte und mir entgegenstreckte.

„Hi, ich bin Max. Und du bist?“

„Thomas“, antwortete ich. Dieses anbiedernde Gebaren durfte ich keinesfalls einreißen lassen. „Max, das ist mein Sohn Niklas. Ein Kind mit unglaublich viel Ballgefühl und Spielwitz, was seine Mutter und ich zu fördern beabsichtigen.“

„Ah, da seid ihr bei uns genau richtig“, lachte der Coach und ging in die Hocke, um seinen neuen Spielführer zu begrüßen. „Hi Niklas, ich bin Max“, sagte er und streckte ihm die Hand zum Abklatschen entgegen, was bei uns daheim eher unüblich, Niklas aus unerfindlichen Gründen jedoch geläufig zu sein schien, da er die Geste ohne zu überlegen erwiderte. „Schön, dass du bei uns mitspielen willst“, sagte der G-Jugend-Trainer. „Wenn du keine Turnschuhe dabei hast, kannst du auch gerne barfuß spielen, das Gras ist weich.“

„Niklas hat extra Stollenschuhe dabei.“

„Nee, lieber nicht“, bekam ich zur Antwort. „Die Verletzungsgefahr für die Zwerge ist zu groß. Aber mit deinen tollen Schuhen kannst du ja ein bisschen bei euch im Garten oder im Hof üben, hm?“, richtete er das Wort an meinen Sohn. „Wenn du willst, darfst du schon zu den anderen laufen und mitkicken. Ich komme gleich zu euch.“ Niklas sprang auf und stürmte freudig auf den Platz, während sich der Trainer fürs Erste verabschiedete, um zum Kuchenbuffet zurückzukehren. Ich ignorierte Gabis unangemessenes Lächeln und blickte Niklas hinterher, der den Spielerschwarm schnell erreicht hatte und das Verhalten der anderen kopierte, indem auch er dem Ball sinnfrei hinterher lief. Insgeheim hoffte ich, dass ich kein Herdentier gezeugt hatte, sondern einen Leitwolf, freute mich jedoch, dass ich just in diesem Moment Zeuge des Beginns einer vielleicht beispiellosen Fußballerkarriere werden durfte. Ich winkte Niklas nochmals zu mir zurück und zog mein Handy aus der Tasche.

„Was denn, Papa?“, fragte er, als er vor Energie sprühend vor mir auflief.

„Nichts, mein Sohn, alles gut. Ich wollte nur filmen, wie du auf den Platz und zu den anderen läufst. Für die Nachwelt, weißt du?“

„Ah okay“, entgegnete Niklas verständig. Als ihn die Kamera fokussiert hatte, ließ ich ihn zu den anderen sprinten, und Sekunden später war er wieder Teil des Geschehens. Offensichtlich akzeptierte ihn die Mannschaft, jedenfalls war zwischen ihm und dem Rest des Rudels kein Unterschied zu erkennen, was mich, wenn ich es recht bedachte, etwas beunruhigte. Aber gut, dachte ich, trotz seiner jungen Jahre war der Vereinstrainer hoffentlich eine Fachkraft, die den Spreu vom Weizen zu trennen wusste.

„Wenn du möchtest, kannst du gerne zu uns kommen. Linus hat Geburtstag, und wir haben Kaffee und Kuchen dabei.“

„Danke, aber ich würde gerne erst einmal das Verhalten meines Sohnes auf dem Platz beobachten.“

„Wie du willst. Du weißt ja, wo wir sind. Wenn du genug beobachtet hast, bist du herzlich willkommen.“

Ich bedankte mich bei der Vertreterin der Geburtstagsgesellschaft und widmete mich wieder der Mannschaft auf dem Platz. Wenigstens Trikots besaßen sie, wenn schon nicht das richtige Schuhwerk. Einige Jungs schrien herum, kommandierten ihre Mitspieler, forderten den Ball und schienen verärgert, wenn ihre Rufe ignoriert wurden. Niklas hingegen hatte den Ball, wenn ich es richtig verfolgt hatte, seit seiner Einwechslung noch kein einziges Mal zugespielt bekommen. Von Minute zu Minute missfiel mir das mehr, ganz im Gegensatz zu meinem Sohn, den die Ignoranz der Sportsfreunde nicht im Geringsten zu stören schien. Niklas lief den anderen freudig rufend hinterher und es war ihm gleichgültig, ob er den Ball bekam oder nicht. Ein absurdes Verhalten, das der Trainer hoffentlich schnell zu korrigieren gedachte. Wo steckte der überhaupt? Es war bereits fünf Minuten nach drei, das Training hätte längst beginnen sollen.

Ich entdeckte Max, der nach wie vor eifrig mit den Eltern plauderte, mittlerweile jedoch vom Kuchen zu herzhaften Blätterteigtaschen gewechselt war. Als er meinen ungeduldigen Blick und das gleichzeitige Tippen des Zeigefingers auf das Ziffernblatt meiner Armbanduhr bemerkte, rief er mir mit vollem Mund und freundlichem Blick zu, dass es gleich losginge. Allem Anschein nach war Kalorienzufuhr ein plausibler Grund, das Training der ihm anvertrauten Schützlinge verspätet beginnen zu lassen. Ich addierte sein Verhalten als Punkt auf einer in Gedanken verfassten Malus-Liste und entschied, mit dem abschließenden Urteil zu warten, bis die nun hoffentlich bald startende Probeeinheit beendet war.

Weitere fünf Minuten später schleppte sich Max zur G-Jugend, die noch immer ziellos dem Ball hinterher hetzte und dabei kostbare Energie vergeudete. Durch einen kurzen, energischen Pfiff unterbrach der Coach die Kindereien und rief die Mannschaft zu sich. Ich vermutete eine letzte taktische Besprechung, wahrscheinlich eine Veränderung des Systems vor dem Aufeinandertreffen mit dem nächsten Gegner. Ich suchte und fand meinen Sohn in der hinteren Reihe. Er bohrte in der Nase und war offensichtlich fündig geworden.

Leider konnte ich kein Wort von dem verstehen, was der Trainer erklärte, geschweige denn, für welches Spielsystem er sich für die anstehende Trainingseinheit entschieden hatte. Ich tippte auf eine offensiv angelegte 2-3-2-3-Formation, auch ein 2-5-3-System war denkbar, je nachdem, wie der Gegner es zuließ.

Erneut blies Max in die Trillerpfeife, dann händigte ihm einer der größten Schreihälse den Ball aus. Endlich ging es los, wurde auch Zeit. Ein Viertel der 60-minütigen Trainingseinheit hatten sie bereits mit unsinnigem Gerenne und Kindergeburtstag vertändelt.

Planlos verteilten sich die Kinder auf dem mit Fähnchen abgesteckten quadratischen Feld und blickten erwartungsvoll in Richtung ihres Trainers. Doch anstatt des Balls bekamen sie einen weiteren Pfiff zu hören, woraufhin die Spieler von Rot-Schwarz Dornbusch die geballten Fäuste nach vorne reckten, lostrabten und seltsame, an Motorgeräusche erinnernde Laute von sich gaben. Als ich mich noch fragte, was der Unsinn sollte, hörte ich Max Autobahn! rufen, woraufhin die G-Jugend ihr Tempo beschleunigte, was ihnen – im Gegensatz zum Vater eines ihrer Spieler – großen Spaß bereitete. Auch mein Sohn irrte orientierungslos und mit von sich gestreckten Fäusten auf dem Trainingsgelände umher und kollidierte mehrfach mit aggressiven Mitspielern. Was sollte das Ganze? Warum hatten die keinen Ball?

„Fußgängerzone!“, rief der Coach. Sogleich bremsten die Kinder ab und spazierten gemächlich über den Platz. Es folgten Kommandos wie Linkskurve, Rechtskurve, Rückwärtsgang und ähnlich seltsames Zeug, bevor der Trainer dem Quatsch mit einem weiteren Pfiff ein Ende bereitete und die Jungs laut schreiend zu ihm liefen. Wobei Jungs das Ganze nicht richtig traf, denn unverkennbar befanden sich auch einige Mädchen in der Mannschaft, was ich ebenfalls auf der Malus-Liste verbuchte, sich in dieser Altersklasse aber wohl nicht verhindern ließ.

Inzwischen war eine gute halbe Stunde vergangen und noch immer kam kein Spiel zustande, schon gar kein vernünftiges, von taktischen Anweisungen des Coaches ganz zu schweigen. Immerhin hatte er die Gruppe mittlerweile in zwei Mannschaften eingeteilt und dem einen Team, zu dem auch Niklas gehörte, neongelbe Leibchen ausgehändigt. Sie kämpften sich hinein und verzogen sich daraufhin mit Kriegsgeheul auf ihre Seite des Platzes, während der leibchenlose Gegner das gegenüberliegende Terrain für sich in Anspruch nahm.

Dann endlich … endlich … rollte Max den Ball ins Feld und pfiff das Spiel an. Einen Anstoß kannte man hier anscheinend nicht. Eine taktische Ordnung allerdings auch nicht. Wenn überhaupt, konnte man mit viel gutem Willen ein 6-0-0-System der insgesamt sechs Feldspieler erkennen. Wie zu Beginn des Nachmittags wurde das Kind, das den Ball besaß, vom Rest des Schwarms verfolgt, bis einer von ihnen das Leder eroberte und sich das Spielchen wiederholte. Ein komplettes Chaos, aus dem sich von Zeit zu Zeit eher zufällig ein Schuss aufs gegnerische oder auch das eigene Tor ergab. Als die leibchenlose Mannschaft nach ein paar Minuten aus heiterem Himmel den ersten Treffer erzielte, jubelten prompt beide Teams, was sich mir aus logischer Sicht nicht erschloss. Lediglich einer der Spieler schien am Geschehen gänzlich unbeteiligt. Niklas nutzte die Zeit, in der die anderen um den Ball balgten, um sich abseits des Geschehens von einer Gegenspielerin das Radschlagen beibringen zu lassen und im Anschluss hinter dem Tor Gänseblümchen zu pflücken.

„Na, dein Niklas ist ja ein ganz Süßer“, vernahm ich zur Linken die inzwischen vertraute Stimme von Mutter Gabi. „Kaum da, schon flirtet er mit Eslem“, lachte sie. „Hat er das von dir?“

„Ich flirte nicht mit Eslem“, antwortete ich. „Und Niklas flirtet ebenfalls nicht. Er baut ein Vertrauensverhältnis zur Mannschaft auf.“

„Und er schlägt ein tolles Rad“, sagte Gabi. Ich drehte mich zu ihr um. Was wollte die eigentlich von mir?

„Sag mal Gabi, ist euer Kindergeburtstag schon vorbei? Ich würde mich gerne auf das Spielgeschehen konzentrieren, um das Training im Anschluss zu analysieren.“

„Oh sorry“, entgegnete sie spöttisch. „Da will ich dich nicht stören. Hat schon ein hübsches Sträußchen beisammen, dein Kleiner.“

„Welcher von denen ist eigentlich deiner?“, wollte ich wissen. Doch die Frage beantwortete sich von selbst, als eines der Großmäuler, die zu Beginn lautstark den Ball gefordert hatten, zum zweiten Tor einschob und sich dafür von seiner Mannschaft feiern ließ.

„Hey … super, Oskar, toll gemacht!“, schrie Gabi ins Feld, applaudierte und pfiff bewundernd durch die Zähne. Das verzogene Alphatier mit dem Killerinstinkt gehörte demnach zu ihr.

Der Torschütze rannte auf seine Mutter zu, klatschte sich mit ihr ab und verschwand zurück aufs Feld. Auch mein Sohn freute sich für Oskar, begleitete ihn bei dessen Ehrenrunde und jubelte, als hätte er selbst und nicht der Chef des gegnerischen Teams ein Tor geschossen. Da wartete fraglos noch viel Arbeit auf mich.

Wenig später war das erste Training meines Sohns auch schon vorbei. Freudestrahlend, so viele neue Freunde – und Freundinnen – gefunden zu haben, kam Niklas auf mich zugelaufen und führte mir sogleich das Rad vor, das er dank Eslems Anleitung in der zweiten Halbzeit des Trainingsspiels perfektioniert hatte. Verhalten freute ich mich über seine kunstturnerischen Fertigkeiten und wollte unbedingt noch ein Wort mit dem Trainer reden, bevor sich der junge Mann wieder dem Büffet widmen konnte. Max sammelte gerade die Leibchen ein, ließ sich von zwei Kindern die Eckpfosten bringen und trottete dann gemächlich in meine Richtung.

„Ach, äh … Max, auf ein Wort“, rief ich ihn an.

„Na Niklas“, richtete er indes nicht an mich, sondern an den Spieler zu meinen Füßen das Wort, der Mühe hatte, die Schnallen seiner Sandalen zu schließen. „Wie hat’s dir denn bei uns gefallen?“

„Gut“, kam ebenso kurz wie pointiert die Antwort.

„Kommst du denn jetzt immer?“

Niklas nickte. Er hatte heute weiß Gott schon genug mit fremden Menschen geredet, da musste es auch eine zustimmende Geste tun.

„Ja prima, dann bis nächste Woche“, sagte Max und wollte schon weiterziehen, als ich ihn zurückhielt.

„Max, sag mal, müssen wir ernährungstechnisch noch auf etwas achten? Ausreichend Proteine und Kohlenhydrate vor dem Training?“

„Ach was, Niklas sollte nur vor dem Spiel nicht gerade einen BigMac essen, damit läuft sich’s nicht so gut.“

„Und macht ihr hier auch Laktattests? Oder sollen wir das beim Sportarzt veranlassen?“

Der Trainer sah mich an, als hätte ich ihn soeben aufgefordert, mit verbundenen Augen in den nahegelegenen U-Bahn-Schacht zu laufen.

„Laktattests? Ist das dein Ernst? Rot-Schwarz Dornbusch ist nicht der FC Bayern, und dein Sohn ist nicht sechzehn, sondern sechs. So was machen wir hier nicht. Die Kinder sollen erst einmal Spaß am Spiel mit dem Ball bekommen.“

„Ah ja, und deshalb spielt ihr Straßenverkehr.“ Meine Zweifel an der Kompetenz des Jugendtrainers wurden nicht eben weniger.

„Das dient dem spielerischen Trainieren der Antrittsschnelligkeit und der Reaktionsfähigkeit. Glaub mir, das hat alles seinen Sinn. Schönen Tag noch euch beiden … und bis Donnerstag.“

Damit ließ er mich stehen. Laktattests brabbelte er leise vor sich hin, als er kopfschüttelnd Richtung Geburtstagsgesellschaft schlenderte und ich mir meinerseits überlegte, ob ein Vereinswechsel bereits möglich wäre, wenn man noch gar kein Mitglied des Vereins geworden war. Doch als Niklas aufsprang, um sich eigens bei Eslem zu verabschieden und sich mit ihr für nächsten Donnerstag verabredete, beschloss ich, Max und Rot-Schwarz eine zweite Chance zu geben. Antrittsschnelligkeit, ging es mir durch den Kopf. Dafür, mein lieber Trainer, brauchte man Stollenschuhe. Aber das schien hier ja keinen zu interessieren.

Eine Woche später fanden sich mein Sohn und ich wieder pünktlich auf dem Trainingsgelände ein. Niklas rannte sogleich zu Eslem und präsentierte ihr stolz die Turnschuhe mit Noppen, die ihm seine Eltern am Tag nach dem Probetraining gekauft hatten. Damit sollte sich auch das Gänseblümchenpflücken erledigt haben, hoffte ich.

Auch Max war bereits anwesend und versammelte in Ermangelung eines Kuchenbüffets die Mannschaft um sich. Es schien, als funktionierte der Trainingsbetrieb heute disziplinierter als beim letzten Mal. Das Einzige, was mir missfiel, war die Einteilung der Mannschaften. Der Trainer ließ vier gegen vier spielen, sechs Feldspieler und zwei Torleute, der Rest musste sich mit einer Zuschauerrolle begnügen. Zum Rest gehörte auch Niklas, der seine Freundin Eslem anfeuerte, die in der Abwehr der leibchenlosen Mannschaft zugange war.

„Da seid ihr ja wieder. Wie schön“, hörte ich eine vertraute Stimme neben mir. „Wo ist denn Niklas? Ah da, neben dem Platz. Ich sehe ihn.“

„Heute kein Streuselkuchen?“

„Nein, das machen wir nicht jedes Mal. Nur, wenn eins der Kinder Geburtstag hat oder einer der Mamas und Papas gerade Lust hatte zu backen. Du siehst aber nicht richtig begeistert aus? Ist irgendwas?“

Ich zeigte Richtung Spielfeld, wo ich seit dem Anpfiff ein munteres Hin und Her der sechsköpfigen Spielertraube mal nach links, dann wieder nach rechts beobachten musste. Kein Deut von Spieltaktik war erkennbar. Und von meinem Sohn erst recht nichts. Er zog es vor, auch ohne Eslem an seinem Rad zu arbeiten, ein erster einhändiger Versuch war jedoch misslungen.

„Wie soll aus der Mannschaft etwas werden, wenn der Coach seine besten Spieler nicht einsetzt?“, fragte ich.

„Ach, das ist es? Keine Angst, dein Niklas wird noch spielen. Max wechselt die Kinder immer durch, so kommt jeder mal zum Einsatz.“

„Und warum spielt Oskar von Anfang an?“ Offenkundig war Gabis Sohn der Spielführer der Leibchen und kommandierte seine Mannschaftskameraden gerade vors gegnerische Tor.

„Oskar ist einer der Stützen der Minis. Beim letzten Turnier hat er elf Tore geschossen. Aber auch er wird manchmal ausgetauscht“, beruhigte mich Gabi. „Nur beim Turnier, da spielt er meistens durch. Er ist unsere Zehn, der Mittelfeldmotor und Kapitän der Bambinis.“

„Die Zehn, hm? Na, dann solltest du erst mal Niklas am Ball erleben, aber dazu müsste er halt eingewechselt werden. Maaax?“, rief ich, doch der Trainer hörte nicht. Er tippte konzentriert auf seinem Handy.

„Viel Glück“, ließ Gabi mich stehen, gesellte sich zu ein paar anderen Müttern und feuerte ihren Sohn lautstark an, damit er mit ihrer Unterstützung seinen Torrekord brechen konnte.

Als Max auch auf erneutes Rufen nicht reagierte, beschloss ich, die Sache in die Hand zu nehmen und machte mich auf den Weg zum kompetenzverminderten Trainernachwuchs.

„Max, ich möchte, dass du Niklas einwechselst“, formulierte ich ohne jeglichen Groll und vollkommen sachlich mein Anliegen. „Niklas braucht Praxis, sonst verkümmert sein Talent.“

„Hallo“, begrüßte mich Max und steckte das Handy weg. Wurde auch Zeit. „Du bist Niklas’ Vater, richtig?“ Natürlich war ich Niklas’ Vater, wer sonst? „Niklas kommt gleich rein, ich will den Teams nur ein bisschen Zeit geben sich zu finden. Sie sind meine Stammspieler beim nächsten Turnier.“

Ich hörte wohl nicht richtig.

„Wie? Und Niklas?“

„Niklas darf auch gerne mitmachen. Ich sehe mir gleich mal an, was dein Kleiner drauf hat. Bisher scheint er mir etwas abgelenkt zu sein.“

Ein Eindruck, der sich nur schwer widerlegen ließ, da Niklas just damit beschäftigt war, abseits des Platzes den Hund einer Spielermutter zu streicheln.

„Kein Wunder“, antwortete ich. „Das ist bei Hochbegabten so. Wenn sie sich langweilen, können sie sich nicht konzentrieren. Wenn du ihn in die Mannschaft nimmst, wirst du sehen, was der Junge kann.“

„Ist gleich soweit. Aber jetzt würde ich dich bitten, wieder zu den anderen zu gehen, ich muss mich auf die Racker konzentrieren.“

„Ist klar“, antwortete ich. „Du musst Niklas mal schießen sehen. Für einen Sechsjährigen eine einmalige Technik.“

Damit ließ ich Max in Ruhe, schlenderte so beiläufig wie möglich zurück in die Nähe der anderen Eltern, die sich sicher gerade fragten, was ich wohl beim Trainer gewollt haben konnte.

„Was wollte der denn bei Max?“, fragte eine Mutter, die es sich auf einem Campingstuhl gemütlich gemacht hatte und ihr Strickzeug sortierte.

„Der ist sauer, weil sein Sohn nicht spielt“, antwortete Gabi.

„Ach so“, lachte die Frau im Stuhl. „Aber er hat den Kleinen doch noch gar nicht angeschrien.“

„Kommt noch, wart’s ab“, lachte auch Gabi, zog eine Packung Kekse aus der mitgebrachten Tasche und bot sie ringsum an.

Ein Pfiff ertönte, dann gestikulierte der Trainer die Mannschaft zu sich und sprach auf sie ein. Er deutete verschiedene Kinder aus und schickte sie aufs Feld. Auch Niklas hatte sich inzwischen eingefunden und stand, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, vor seinem Trainer. Na los, dachte ich, jetzt zeig schon auf ihn, worauf wartest du? Doch Max redete und redete und machte keine Anstalten, meinen Sohn mit auf den Platz zu schicken. Also, wenn Niklas jetzt nicht spielen würde, dann würde er überhaupt nicht mehr für … doch da endlich deutete sein Trainer auf ihn, drückte ihm eins der neonfarbenen Leibchen in die Hand und sprach eindringlich auf ihn ein. Mein Sohn nickte, er schien die taktischen Anweisungen des Coaches zu verstehen. Typisch für erstklassige Trainer, dass sie ihre Leitwölfe vor Spielbeginn ein letztes Mal zu sich zitierten, damit diese auf dem Platz zu ihrem verlängerten Arm wurden und die Mannschaft in ihrem Sinne dirigieren konnten. Niklas nickte erneut, dann lief er, ein letztes Rad schlagend, in seine Hälfte und orientierte sich zunächst zum eigenen Tormann. Falscher Platz, Niklas, falscher Platz. Du musst nach vorne, jetzt geh doch nach vorne, was willst du denn da hinten?

„Jetzt geh doch nach vorne!“, schrie ich meinem Sohn zu und gab ihm entsprechende Zeichen. „Niklas! Hallo? Geh nach vorne, na los!“ Da endlich drehte sich Niklas zu mir um, nickte, sprintete in die Hälfte des Gegners und gesellte sich zum Schlussmann der anderen Mannschaft. Immerhin besser, als vor dem eigenen Tor herumzulungern.

„Na also“, sagte Gabi und biss in den Keks. „Wusste ich’s doch. Aber er schreit gleich noch mal, pass auf.“

Das größte Mittelfeldtalent, das der deutsche Fußball seit Günter Netzer auf den Weg gebracht hatte, stand unbewegt am Torpfosten des Gegners und tauschte sich offensichtlich mit dem Keeper aus. Das Spielgeschehen lief derweil komplett an ihm vorbei. Die Mannschaften jagten dem Ball hinterher und versuchten, ihn irgendwie in eines der beiden Tore zu bugsieren. Welches, war ihnen nach wie vor einerlei, was zur Folge hatte, dass es mir zunehmend schwerer fiel, das Match in Ruhe zu verfolgen. Das Schlimmste aber war, dass all das den Trainer nicht zu stören schien. Max stand seelenruhig am Spielfeldrand, rief den Spielern von Zeit zu Zeit etwas zu und wirkte, als verliefe alles nach einem klaren, mir nicht ersichtlichen Plan. Wie um alles in der Welt sollte er einen Eindruck von den Fähigkeiten meines Sohns bekommen, wenn dieser erst einen einzigen Ballkontakt zu verzeichnen hatte, und den nur deshalb, weil er versehentlich angeschossen wurde und das Leder von seinem Schienbein ins Seitenaus geprallt war?

„Du musst dich anbieten, Niklas. Spiel dich verflucht noch mal frei, damit du den Ball kriegen kannst! Auf, auf, auf!“

„Bingo“, sagte die Strickerin. „Woher wusstest du das?“

„So sind sie alle“, antwortete Gabi. „Wenn ihr Knirps nicht sofort Kapitän wird, drehen sie durch.“

Meine aufmunternden Worte zeigten Wirkung Tatsächlich löste sich Niklas von seinem angestammten Platz, lief mal hierhin, mal dorthin, fand allerdings nur schwer ins Spiel. Andererseits stand er als Einziger praktisch immer frei, da die anderen fünf Feldspieler grundsätzlich gemeinsam dem Ball nachjagten und die Torhüter darauf warteten, dass, aus welchem Grund auch immer, irgendwann einmal ein Torschuss auf sie abgegeben wurde.

Als ich schon alle Hoffnung auf ein erfolgreiches Debüt von Wenninger Junior aufgegeben hatte, passierte das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Erwartbare: Aus unerfindlichen Gründen löste sich der Ball aus dem Spielerknäuel und rollte meinem Sohn direkt vor die Füße.

„Schieß!“, schrie ich wie entfesselt. „Niklas, schieß das Ding rein!“

Und das Wunder geschah: Mein Sohn, mein eigen Fleisch und Blut, mein ganzer Stolz nahm sich ein Herz, traf den Ball geradezu ideal und drosch ihn mit dem Vollspann auch noch ins richtige Tor, nämlich in das das Gegners.

„Tooooooooooooooooooor!“, brüllte ich und rannte einem Rumpelstilzchen gleich Richtung Platz. Der Spieler des Tages hatte seinen Einstand mit dem Tor des Monats gekrönt. Was für ein Schuss! Selbst Neuer wäre da machtlos gewesen.

Folgerichtig umarmten die Mitspieler ihren Helden und warfen sich auf ihn, dass ich Angst bekam, ob sein schmächtiger Brustkorb die Last des Teams unbeschadet überstehen würde. Doch bevor ich einschreiten musste, ließen sie von ihm ab, Niklas rappelte sich auf und schlug, seinen Erfolg feiernd, erst einmal ein weiteres Rad. Von mir aus, dachte ich, ich hatte schon dämlichere Torjubelvarianten gesehen. Da ich ihn nicht in Verlegenheit bringen und ihn diesen Moment ganz für sich allein auskosten lassen wollte, blieb ich mit Tränen in den Augen in einiger Distanz zum Platz stehen. Das, dachte ich, das bedeutete für meinen Filius einen Stammplatz bei Rot-Schwarz.

Als etwas später das Spiel und damit gleichzeitig das Training beendet war, schritt ich, in mich gekehrt wie weiland der Kaiser, über das Gelände und kostete den Moment des Sieges aus. Mein Sohn hatte das einzige, das entscheidende Tor geschossen. Es war eine gute, eine weise Entscheidung gewesen, ihn hier, in dieser Talentschmiede, anzumelden. Apropos: Angemeldet war Niklas ja noch gar nicht. Das musste ich unbedingt nachholen, schließlich fand am Wochenende das Turnier statt, und dafür musste mein Sohn offiziell zum Verein gehören. Ich fragte Max, der mich jedoch auf die Webseite des Vereins verwies.

„Da kannst du dir das Formular herunterladen und uns zuschicken. Das geht am Schnellsten.“

„Wird gemacht“, antwortete ich und nutzte die Gelegenheit, um den Eindruck des Trainers von seinem Schützling zu erfragen. „Und?“, erkundigte ich mich so beiläufig wie möglich. „Was sagst du als Fachkraft zum Potenzial von Niklas?“

„Schöner Schuss“, sagte Max.

„Hat dich das Tor nicht an etwas erinnert?“, wollte ich wissen.

„Erinnert? An was?“, fragte er zurück.

„Na komm“, lächelte ich und senkte verschwörerisch die Stimme. „Ich sage nur: Bar-ce-lo-na.“

Max sah mich ungläubig an. Ich sah schon, ich musste ihm auf die Sprünge helfen.

„Der junge Messi.“

„Messi. Ah, verstehe, klar.“

„Ein Jahrhunderttalent.“

„Unbestritten.“

Ich war froh, dass Max meinen Sohn genauso einschätzte wie ich. Jung war er, dieser Trainer, vielleicht etwas lax in seinen Methoden. Aber er hatte ein Händchen für begnadete Kicker. Für die, die es wirklich drauf hatten. Freundschaftlich boxte ich ihm auf den Oberarm, Max lächelte verlegen. Dann drückte er Niklas das Vereinstrikot in die Hand, das er beim Turnier tragen sollte. Sein erstes Trikot. Vorsichtig befühlte ich die Kunstfaser. In ein paar Jahren wäre das Stück sicher ein Vermögen wert. Ich nahm mir vor, es nach dem Turniersieg rahmen zu lassen, dann verabschiedete ich mich bis Samstag, schnappte meinen Sohn und verließ die Arena.

Eine weitere Woche später begleitete die komplette Familie Wenninger den Jungstar von Rot-Schwarz Dornbusch zu seinem ersten offiziellen Auftritt. Während sich meine Frau beim Trainer als Mutter von Niklas vorstellte, legte sich meine Tochter Emma auf den Rasen und las. Sie wäre viel lieber zu Hause geblieben und hätte Blockflöte geübt, doch heute würde sie Zeuge eines historischen Ereignisses werden, daher hatte ich auf ihre Anwesenheit gepocht.

Während sich Niklas umzog, kam unvermeidlicherweise Gabi auf uns zu, in der Hand ein Weizenbier. Alkoholfrei, nahm ich an.

„Tag die Herren … oh … und Damen“, begrüßte sie uns. „Seid ihr heute mit der ganzen Familie angereist, das ist ja süß. Dann hoffen wir doch mal, dass Niklas heute auch spielen wird, hm?“

„Das steht nach seinem spielentscheidenden Tor letzte Woche wohl außer Frage.“

„Ja, bestimmt. Wenn Max das genauso sieht. Oh, wie schön, Niklas, du hast ja schon ein eigenes … Moment mal, was ist denn das da?“

Gabis Gesichtsausdruck verhärtete sich, als sie Niklas’ Trikot in Augenschein nahm.

„Das ist mein Trikot“, antwortete Niklas wahrheitsgemäß.

„Das sehe ich. Ich meine … das da. Dreh dich mal.“

„Das ist seine Rückennummer. Die Zehn“, klärte ich sie auf.

„Wir haben hier keine Rückennummern.“

„Naja, ihr vielleicht noch nicht, aber Niklas schon. Hab ich ihm extra aufflocken lassen.“

„Sorry, aber das geht auf gar keinen Fall. Damit kann Niklas nicht spielen. Und überhaupt: Wenn hier einer ein Trikot mit der Nummer Zehn verdient hätte, dann ja wohl Oskar. Der spielt schließlich auf dieser Position.“

„Ich denke, das entscheiden nicht Sie.“

„Und Sie erst recht nicht, mein Lieber.“

Damit zog sie wutentbrannt ab und stampfte Richtung Max, während Niklas die Tränen in die Augen schossen und er mich fragte, ob es stimmte, dass er heute nicht spielen dürfe.

„Natürlich darfst du spielen, Niklas. Dafür werde ich schon sorgen. Das hat nicht die böse Hexe zu entscheiden, sondern dein Trainer.“

Hexe und Trainer standen derweil am Spielfeldrand. Gabi sprach wild gestikulierend auf Max ein und deutete dabei abwechselnd auf meinen Sohn und auf mich, bis sich schließlich beide auf den Weg zu uns machten.

„Hi“, begrüßte mich Max. „Ich hab gehört, dass es Schwierigkeiten mit dem Trikot von Niklas gibt.“

„Keine Schwierigkeiten, nur ein paar mütterliche Eifersüchteleien. Kinderkram“, antwortete ich.

„Zeig doch mal, Niklas“, sagte Max und betrachtete das Hemd seines Schützlings. „Tolles Hemd“, befand er. Triumphierend lächelte ich Oskars Mutter an. „Aber leider kannst du das nicht anziehen.“

„Wie jetzt?“, fuhr ich ihn an.

„Sorry, aber wir haben hier keine Nummern. Bei unseren Bambinis gibt es keine festgelegten Positionen. Bei den ganz Kleinen ist das noch alles spielerisch, die Trikots tragen sie nur, damit sie wissen, dass sie zu einem Team gehören. Von mir aus könnten sie auch T-Shirts tragen. Und das hier … das geht leider gar nicht.“

Max deutete auf den Schriftzug, den ich eigens auf Niklas’ Brust hatte aufdrucken lassen: Anwaltskanzlei Wenninger & Partner. Von Fall zu Fall an Ihrer Seite.

„Hab ich doch gesagt, Max. Unmöglich, echt“, mischte sich Gabi ein.

„Tut mir leid, Werbung auf den Trikots möchten wir bei uns nicht. Komm, Niklas, ich hab bestimmt noch ein anderes Hemd für dich.“

„Aber Niklas spielt doch auf der Zehn, oder?“

„Wenn einer die Zehn spielt, dann Oskar.“

„Halten Sie sich da mal raus“, bremste ich die Furie.

„Was erlauben Sie sich? Sie und ihr gänseblümchenpflückender, herumturnender Spross?“

„So, jetzt beruhigen wir uns alle mal wieder“, versuchte der Trainer zu beschwichtigen, doch inzwischen hatte Niklas bereits zu heulen begonnen, was meine Frau wiederum in großen Aufruhr und schnellen Trab versetzte. Sie hatte sich gerade am Getränkestand mit demselben – Gabis unmöglichem Verhalten nach zu urteilen wohl doch alkoholischen – Getränk versorgt, das mir Oskars Mutter just in diesem Moment über mein nicht eben günstiges Ralf Lauren Polohemd schüttete, was auch Gabis Sohn mitbekam, der daraufhin ebenfalls aufgeregt zu uns gelaufen kam und, als er des Geschreis der Erwachsenen und des Geheules seines Mitspielers gewahr wurde, ebenfalls zu plärren anfing.

„Schluss jetzt!“, fuhr uns der Trainer an, doch da hatte er bereits Sybilles Weizenbier im Nacken, das eigentlich für die hysterische Mutter des Mitspielers bestimmt gewesen war.

„Oh Entschuldigung Max, das war so nicht …“

„Schluss! Aus!“, rief der ebenso triefende wie überforderte Juniorentrainer. „Oskar und Niklas, ihr beiden bleibt erst einmal draußen, bis sich eure Eltern wieder beruhigt haben. Und ihr …“ Max fuchtelte mit dem Finger zwischen Gabi, meiner Frau und mir hin und her, scheinbar abwägend, welchen der Erwachsenen er als Hauptübeltäter identifizieren sollte, bis der Finger – natürlich – bei mir Halt machte.

„Euch alle will ich heute nur noch in ganz, ganz weiter Distanz sehen, verstanden? Ihr solltet euch schämen, euren Kindern so den Spaß zu verderben. Ihr seid wirklich eine Schande.“

Damit ließ er uns zugegebenermaßen etwas bedröppelt stehen und begab sich zu den anderen Kindern, während die Eltern der beteiligten Vereine, aber auch die Trainer der Turniermannschaften kopfschüttelnd zu uns herübersahen, als wären sie gerade Zeuge eines drittklassigen Kampfes im Schlammcatchen geworden.

„Gratuliere“, fauchte ich Gabi an.

„Leck mich“, antwortete sie und zog von dannen, während meine Frau ihre Sachen packte, Emma schnappte und mich mit den Worten verließ, dass ich das ja schön hingekriegt hätte und dass sie es ihrerseits vorzöge, den Rest des Nachmittags zu Hause zu verbringen, und ich könnte mich ja melden, wenn der Spuk vorbei sei.

Nach diesem für alle Unbeteiligten unschönen Verlauf des Events begann das Turnier dann schließlich doch noch, wenn auch mit leichter Verspätung. Max machte seine Drohung wahr und ließ die unschuldigen Kinder der Streithähne im ersten Spiel außen vor. Ein, wie ich fand, pädagogisch ausgesprochen fragwürdiges Unterfangen, aber gut, was konnte man von einem unerfahrenen, vermutlich schlecht oder gar nicht ausgebildeten Hilfstrainer schon erwarten?

Niklas und Oskar hatten den Zwist ihrer Eltern hingegen schnell vergessen und feuerten sämtliche am Turnier beteiligten Mannschaften gleichermaßen an. Elf Freunde sollt ihr sein, ging es mir durch den Kopf und erfreute mich am Fairplay der Kinder. Das war echter Sportsgeist.

Ein Verhalten, das auch Oskars Mutter gut zu Gesicht gestanden hätte, doch die Furie würdigte mich während des Turnierverlaufs keines Blickes mehr. Selbst da nicht, als Niklas und Oskar beim nächsten Spiel gemeinsam zum Einsatz kamen und Oskar auf Vorlage meines Sohns ein zugegebenermaßen sehenswertes Tor schoss und der Mannschaft von Rot-Schwarz nicht nur zum Sieg, sondern auch zum dritten Platz in der Abschlusstabelle verhalf.

Als das letzte Spiel vorbei war und sich die Mannschaften unter dem Applaus der Zuschauer ihre Medaillen abgeholt hatten, trottete Niklas mit hängendem Kopf auf mich zu. Oje, die Enttäuschung über den verpassten Turniersieg schien ihn offenbar tief zu treffen.

„Hey Sportsfreund“, versuchte ich ihn aufzubauen. „Der dritte Platz beim ersten Turnier ist ein schöner Erfolg. Beim nächsten Mal spielst du von Anfang an, und dann gewinnt ihr, du wirst sehen.“

Niklas nickte stumm und wirkte weiterhin bedrückt. Oder war Gabis peinlicher Ausraster der Grund für seine Laune?

„Du, und Oskars Mutter … weißt du, manchmal sind Mamas so. Die wollen unbedingt, dass ihr Kind das Beste ist, auch wenn sie froh sein können, wenn es den Ball überhaupt trifft, und dann sind sie neidisch auf so ungewöhnliche Talente wie dich.“

Wieder nickte Niklas, doch seine Laune wollte sich partout nicht aufhellen. Was hatte der Star vom Dornbusch nur?

„Eshrff …“, hörte ich ihn endlich unverständlich nuscheln.

„Was sagst du?“

„Eslem hört auf“, sagte er dann leise, doch einigermaßen deutlich.

„Eslem? Wieso das denn?“, fragte ich ehrlich verwundert. Das Mädchen war zwar ein Mädchen, hatte aber zweifellos Talent.

„Sie geht jetzt turnen“, schluchzte Niklas und drückte sich an mich, etwas das normalerweise ganz und gar nicht seiner Art entsprach. Eslems Wechsel der Sportart schien meinen Sohn zu bedrücken. Daran war nur das Radschlagen schuld.

„Das wird ihr bestimmt großen Spaß machen, auch wenn sie wirklich super Fußball spielt. Aber dann spielst du eben mit den ande …“

„Ich will auch turnen gehen, Papa.“

„Turnen?“ Das Kind stand unter Schock. „Was willst du denn mit Turnen, Niklas? Du bist doch das Fußballtalent.“

„Ich will aber turnen“, stieß Niklas unter Tränen hervor und zog sich das anonyme, nummernlose Trikot vom schmächtigen Leib. Oh mein Gott, schwante es mir, der Junge war verliebt. Ein Vater spürte das.

„Aber wie soll das denn gehen? Fußball und Turnen? Du kommst doch jetzt in die Schule, da hast du sowieso nicht mehr so viel Zeit, und dann geht bestimmt nur eins von beiden.“

„Ich will lieber turnen.“

Es war sinnlos. Eslem hatte ihm komplett den Kopf verdreht. Und jetzt? Was konnte ich tun? Das Talent meines Sohnes vergeuden und ihn wegen eines kleinen Mädchens zum Radschlagen animieren?

Eslem kam auf uns zugelaufen, setzte sich neben ihren weinenden Freund und drückte ihn.

„Hast du deinen Papa gefragt?“

Niklas nickte stumm.

„Und was hat er gesagt?“

Niklas zuckte mit den Schultern. Das war unfair. Eslem sah mich mit großen braunen Augen an Die beiden kämpften eindeutig mit unfairen Mitteln.

„Und? Darf er, Niklaspapa?“

„Na schön“, gab ich schweren Herzens nach. „Du kannst dir ja mal ansehen, ob das überhaupt was für dich ist. Wenn nicht, gehst du wieder Fußball spielen.“

Niklas und Eslem sprangen auf und tanzten herum, als wären sie gerade Pokalsieger geworden. Turnen, dachte ich. Das roch nach miefigen Hallen und kreidiger Luft. Geld verdienen konnte man damit sowieso nicht. Als Erstes musste ich mich dringendst erkundigen, ob in Eslems Verein wenigstens russische oder rumänische Trainer die Verantwortung trugen. Wenn die nur ein bisschen Purzelbaum übten, konnte er es auch gleich sein lassen. Eine Olympiateilnahme war für mich das Minimalziel, eine Medaille um einiges erstrebenswerter. Dann würde Niklas wenigstens ein paar Werbegelder mitnehmen und könnte die Verluste aus der verpassten Champions League etwas abfedern.

Ich packte Niklas’ Sachen, der es vorzog, mit Eslem Fangen zu spielen, und schlenderte grußlos an Gabi und Max vorbei, die längst wieder das Büffet für sich entdeckt hatten. Nein, mit Sicherheit wäre das nicht der richtige Verein für meinen Sohn gewesen. Ich warf das liebevoll mit der Zehn beflockte Trikot in den blauen Plastikmülleimer und rief meine Frau an. Sie könne uns jetzt abholen, ließ ich sie wissen, und dass sich die Karrierepläne unseres Sohns gerade entscheidend geändert hätten. Es hätte etwas mit einer Frau zu tun, aber das würde ich ihr später genauer erklären.

Eine Stadt dreht durch

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