Читать книгу Eine Stadt dreht durch - Andreas Heinzel - Страница 9
ОглавлениеBereits vor Jahren, nein, vor Jahrzehnten hatten mein Mann und ich aufgehört, uns etwas zu Weihnachten zu schenken. Wir waren in der glücklichen Lage, uns alles kaufen zu können, sollten wir denn einen Wunsch hegen, doch derlei passierte schon lange nicht mehr. Im Grunde hätten wir auch die Schenkerei zu den Geburtstagen einstellen können, doch aus unerfindlichen Gründen behielten wir es bei. Joachim bekam von mir meist etwas Nützliches, das er gewohnt unangemessen hektisch auspacken durfte. Etwas, das er möglicherweise sogar gebrauchen konnte, eine digitale Körperwaage oder einen elektrisch betriebenen Rasenmäher, während er mir im Gegenzug im Laufe des Geburtstags eine der Karten überreichte, die er zu Dutzenden in seinem Schreibtisch hortete. Darauf war ein Blumenstrauß vor einer Wiese zu sehen und handschriftähnlich Alles Gute zum Geburtstag aufgedruckt, sodass er auf der Innenseite nur noch mit Joachim zu unterschreiben und einen Hundert-Euro-Schein beizulegen brauchte.
„Kauf dir etwas Schönes, Ursula“, sagte er, während er mir den Umschlag in die Hand drückte, und variierte diese Empfehlung auch nur sehr selten. Ich bedankte mich mit ähnlich gleichförmigen Worten, begab mich ins Schlafzimmer in der oberen Etage, zog den Geldschein heraus und legte ihn zu den anderen, die sich gleich hinter der Bibel in der Schublade meines Nachttischs stapelten. Bestimmt hatte ich inzwischen mehr als zweitausend Euro angehäuft, die ersten Geldgeschenke musste ich nach der Jahrtausendwende noch in die neue Währung umtauschen. Ohne dass mein Mann es bemerkte, wollte ich das Geld für den Moment aufsparen, in dem ich mehr als das Haushaltsgeld benötigte, das mir Joachim am Monatsanfang zugestand. Dieser Moment war nun gekommen.
Joachim war am achten Mai fünfundvierzig geboren worden, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation. Er war überhaupt nur gezeugt worden, da sein Vater Karl, der an die Westfront abkommandiert worden war, das Glück hatte, trotz der Invasion in der Normandie einen letzten kurzen Heimaturlaub antreten zu dürfen. Das Elternhaus in Sachsenhausen war bei den schweren Bombenangriffen im Jahr zuvor nicht getroffen worden und so konnte Karl noch einmal unbeschwerte Tage mit der Mutter und seiner Frau Hildegard verbringen, die er vor dem Aufbruch Richtung Paris, einem Impuls folgend, geehelicht hatte.
Neun Monate später galt Karl als vermisst, genau wie sein Vater, von dem die Steinhoffs seit Stalingrad nichts mehr gehört hatten. Als die Wehen einsetzten, konnten sie so schnell keinen Doktor ins Haus holen, und so war es an der Mutter sowie der Haushälterin Luise, den kleinen Sohn an einem derart hoffnungsfrohen Tag zur Welt zu bringen. Wegen des Glückstags, an dem er geboren worden war, gab ihm seine Mutter den Zweitnamen Fortunato, den Joachim aber Zeit seines Lebens peinlich fand und schon zu Gymnasialzeiten hinter einem verschämten F. versteckte. Hildegard hatte die Entscheidung der Namensgebung alleine treffen müssen, denn zu ihrem Unglück kehrte auch Joachims Vater nicht aus dem Krieg zurück. Beim Rückzug der deutschen Einheiten war er von der Offensive der Alliierten in Form eines amerikanischen Sherman-Panzers überrollt worden und konnte erst Jahre später durch die unermüdliche Suche des Roten Kreuzes gefunden und der Familie Steinhoff zugeordnet werden.
Das Schicksal wollte es demnach, dass Joachim in einem reinen Frauenhaushalt aufwuchs. Nach der mit Bestnoten bestandenen Reifeprüfung und dem im Anschluss daran abgelegten Wehrdienst ging er zum Studium der Jurisprudenz nach Heidelberg. Er galt als fleißig, strebsam und konnte den damals beginnenden Unruhen unter den Studenten nichts abgewinnen. Im Gegenteil schien er ein festes Regelwerk geradezu zu suchen und fand es in Form einer schlagenden Verbindung, der er noch im ersten Semester beitrat und die ihm neben dem Respekt der Kommilitonen einen prächtigen Schmiss an der linken Wange einbrachte. Im Kreise seiner Kameraden galt Joachim als leidenschaftslos und ging höchstens bei den regelmäßig stattfindenden Gelagen aus sich heraus. In der Tat konnte er sich nur für sehr wenige Dinge begeistern, in erster Linie für Fußball, insbesondere die Mannschaft seiner Heimatstadt, die Frankfurter Eintracht.
Der Wagen des Bestattungsinstituts bog in die Einfahrt unseres Anwesens in der Mörfelder Landstraße ein und fuhr leise durch den knöchelhohen Schnee. Ich beobachtete das Ganze hinter dem Vorhang des Salons, denn ich erwartete die Herren bereits. Ich hatte sie eigens darum gebeten, erst nach Einbruch der Dunkelheit zu erscheinen, da ich die Neugier der wenigen Nachbarn nicht unnötig wecken wollte. Womöglich dächten sie sonst noch, im Hause Steinhoff sei jemand verstorben.
Den Zeitpunkt der Lieferung hatte ich in weiser Voraussicht gewählt. Joachim war mit den wenigen noch verbliebenen Studienfreunden zur Partie seiner Eintracht nach München gereist. Der Besuch eines gemeinsamen Auswärtsspiels war das letzte verbliebene Relikt der jahrzehntelangen Stadionbesuche, ein Anlass, die Freunde von früher einmal im Jahr zu treffen und vor und nach dem Spiel auf gute alte Zeiten anzustoßen. Nicht einmal ins Waldstadion, das er unbeirrbar so bezeichnete, ging er noch. Joachim war zwar erst vierundsiebzig Jahre alt, doch hatte er ein paar Jahre zuvor die Entscheidung getroffen, die Spiele seiner Mannschaft von nun an ausschließlich am Fernseher zu verfolgen, was er seitdem auch konsequent und ausnahmslos beherzigte.
Ich zog mir den Mantel über und ging den Herren, die gewohnheitsmäßig ihre Hüte vor mir zogen, die wenigen Stufen von der Pforte in den Garten entgegen.
„Guten Abend, Frau Steinhoff. Wohin dürfen wir das gute Stück denn bringen?“
„Ich zeig’s ihnen“, antwortete ich, lief voraus und öffnete mit der Fernbedienung das Tor der Garage, das sich nahezu geräuschlos hob und den Blick auf ein rotes Jaguar Cabriolet freigab, welches sich Joachim nach der Pensionierung geleistet hatte und das er nach wie vor an drei, vier geeigneten Sommertagen im Jahr zu einer Spritztour in den Taunus ausfuhr. Von Zeit zu Zeit hatte ich daran teilgenommen, doch inzwischen ließ ich ihn überwiegend alleine fahren.
Abgesehen von diesen wenigen Gelegenheiten betraten wir die Garage eigentlich nie. Sämtliche notwendigen Fahrten absolvierten wir mit dem Taxi, was weitaus bequemer und sicherer war, zumal ich mich auf Joachims Beifahrersitz zusehends unwohler fühlte. Seine Reaktionszeit hatte sich spürbar verlangsamt, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er deswegen einen Unfall verschulden würde.
„Stellen Sie ihn bitte dorthin“, sagte ich und deutete auf die vier neben dem Jaguar platzierten Getränkekisten. Die Kisten aufzureihen, hatte mich mehr Anstrengung gekostet, als ich bei der Planung vermuten konnte. Die beiden Männer nickten zustimmend, kehrten zu ihrem Fahrzeug zurück und öffneten die Heckklappe des Kombis. Sie zogen den schweren Eichensarg aus dem Laderaum und trugen ihn bedächtigen Schritts, ganz so, als würde sich tatsächlich jemand darin befinden, in die Garage, setzten ihn vorsichtig auf den Getränkekisten ab und verbeugten sich davor.
„Wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, Frau Steinhoff: Eine solch kluge und weitsichtige Entscheidung erleben wir ausgesprochen selten. Ich denke, Ihr Gatte wird sich sehr darüber freuen.“
„Das denke ich auch“, sagte ich. „Später hat er doch nichts mehr davon. So kann er jetzt schon dem Tag entgegenfiebern, wenn das in Ihren Ohren vielleicht auch etwas makaber klingen mag.“
„Ganz im Gegenteil, leider denken viel zu wenige Menschen wie Sie. Sie scheinen Ihren Mann sehr zu lieben.“
„Oh ja“, antwortete ich. „Das tue ich, meine Herren.“
Ich begleitete die Herren zum Fahrzeug, verabschiedete mich mit Handschlag und wünschte beiden ein frohes Fest. Bezahlt war der Sarg bereits, die Geburtstagskarten meines Mannes hatten schließlich doch noch eine sinnvolle Investition zugelassen. Eine Anschaffung, von der er natürlich keine Ahnung hatte. Ich zog den Mantel enger um den Körper, ging vorsichtig, um auf dem frischen Schnee nicht auszurutschen, zur Garage zurück und verschloss das Tor hinter mir.
Liebe. Ich musste lachen. Das war einmal, wenn überhaupt. Joachim liebte nur seinen Verein, für größere Gefühle war in seinem Herzen kein Platz. Schon gar nicht für mich. Als mir das klar wurde, als ich erfasste, dass ich in Joachims Leben keine Rolle spielte, vielleicht nie gespielt hatte, empfand ich einzig und allein Bitterkeit. Die Liebe bis in alle Ewigkeit, das Füreinanderdasein, bis dass der Tod euch scheidet, all diese Floskeln, die wir uns in der Kirche vor langer Zeit versprochen hatten, alles hatte seine Gültigkeit verloren. Wenn ich ehrlich war, hatte ich mich nur nicht scheiden lassen, da Joachim ein erstklassiger Jurist war und es für ihn ein Leichtes gewesen wäre, mich von heute auf morgen mittellos auf die Straße zu setzen. Also arrangierten wir uns irgendwie, und die Liebe bis in alle Ewigkeit überließ ich Joachims Verbundenheit zur Eintracht.
Ich hob den Deckel des Sargs und klappte ihn nach oben. Was ich sah, beeindruckte und begeisterte mich gleichermaßen. Ich hatte den Sarg von Hand fertigen lassen, hatte eigens den Klappmechanismus in Auftrag gegeben, sodass man das massive Stück auch leicht alleine anheben konnte. Der Korpus war mit edler schwarz-weißer Seide ausgeschlagen, der Boden bedruckt mit den Konterfeis von Joachims Fußballheroen. Die meisten Spieler kannte ich gar nicht, doch standen unter den Köpfen die Namen: Anthony Yeboah, Manfred Binz, Oka Nikolov, Jay-Jay Okocha und viele andere las ich heute zum ersten Mal. Bernd Hölzenbein und Jürgen Grabowski waren hingegen selbst mir ein Begriff.
Auf der Innenseite des Deckels hatte ich den Text des Eintracht Lieds drucken lassen, auf den Umrandungen waren sämtliche sportlichen Erfolge der Mannschaft vermerkt. Das Kissen, auf dem in ein paar Jahren Joachims gelblich-fahler Schädel zur ewigen Ruhe gebettet würde, zierte das Wappentier des Vereins, ein schwarzer Adler.
Ich betrachtete Detail für Detail und stellte zufrieden fest, dass es sich bei meinem ersten Weihnachtspräsent nach Jahrzehnten um ein kostbares Stück Handwerkskunst handelte. Ein Kleinod, für das sich jeder Euro gelohnt hatte. Joachim würde darin seine ewige Ruhe finden, und zwar ohne mich. Ich hatte längst testamentarisch verfügt, dass ich keinesfalls an seiner Seite beerdigt, sondern verbrannt und anschließend im Grab meiner Eltern bei Donauwörth beigesetzt werden wollte. Nicht ausgeschlossen, dass der Sarg mein letztes Geschenk an ihn war, das wusste man in unserem Alter nie. Jedenfalls freute ich mich auf sein Gesicht. Wenn man den eigenen Sarg sieht, wird einem die Endlichkeit der eigenen Existenz bewusst. Genau das wollte ich, ihm seine Grenzen aufzeigen. Ich wollte ihn erschrecken, ihm bewusst machen, dass seine Zeit bald abgelaufen war. Vielleicht bereute er dann das Leben, das er geführt, die ständigen Demütigungen, die er mir zugefügt hatte. Nicht mehr lange, Joachim, dann würde diese hölzerne Kiste dein finales Zuhause. Gewöhne dich schon mal daran.
Ich hätte beim besten Willen nicht sagen können, wann meine Liebe zu Joachim erloschen war. Zweifelsohne war er trotz der massiven Narbe auf der Wange ungemein attraktiv gewesen, als ich ihn Mitte der Siebziger Jahre in der Anwaltskanzlei am Goetheplatz kennengelernt hatte, in der ich zu der Zeit als gerade ausgelernte Rechtsanwaltsgehilfin arbeitete. Eigentlich war mein Plan gewesen, selbst Jura zu studieren, den notwendigen Abiturdurchschnitt hatte ich problemlos erreicht, doch konnte ich mir das Studium finanziell nicht leisten, und so bewarb ich mich nach längerer Überlegung für eine Berufsausbildung in einer Richtung, die meinem ursprünglichen Interesse entsprach.
Der junge Anwalt Joachim F. Steinhoff stand hingegen gerade am Beginn einer großen Karriere, soviel war bereits nach den ersten Wochen offensichtlich. Sein forsches Auftreten, der kristallklare Verstand und sein argumentatives Geschick vor Gericht sprachen sich schnell herum, und so dauerte es nicht lange, bis Joachim das Angebot bekam, als Teilhaber in die Kanzlei einzusteigen. Zu diesem Zeitpunkt ging ich mit ihm bereits ins Bett. Ich hatte zwar vielleicht nicht das Niveau, das er sich selbst für sich erhoffte, doch ich war schön. Nicht hübsch, sondern regelrecht schön. Ohne eitel wirken zu wollen, muss ich sagen: Ich hätte damals jeden Mann in Frankfurt haben können, doch ich entschied mich für Joachim. Irgendetwas an ihm zog mich an, damals zumindest.
Wenige Monate später heirateten wir und gründeten eine Familie. Ein Jahr später kam unser Sohn Lorenz auf die Welt, weitere Kinder waren uns nicht vergönnt, was letzten Endes aber auch gut war, vor allem für die nicht gezeugten Kinder. Als Lorenz elf Jahre alt war und die Entscheidung für eine weiterführende Schule getroffen werden musste, entschied Joachim, seinen Sohn, für den er nur die allerbeste Ausbildung vorsah, in ein Internat an den Bodensee zu schicken. Ich wurde dazu nicht befragt, Lorenz schon gar nicht. Und so übergab ich unseren Sohn an einem Spätsommertag schweren Herzens und mit Tränen in den Augen den verantwortlichen Erziehern und reiste mit Joachim, der Abschiede hasste und im Wagen auf mich gewartet hatte, zurück an den Main.
Wider Erwarten gewöhnte sich Lorenz nach anfänglichen Schwierigkeiten an das Leben im Internat. Mit dem Einsetzen der Pubertät besuchte er uns nur noch sporadisch und legte seinerseits wenig Wert auf einen Besuch seiner Eltern. Nach dem Abitur zog er nach London, wo er ein Wirtschaftsstudium absolvierte und direkt danach ein erfolgreiches Maklerbüro für gewerbliche Immobilien gründete und leitete. Er fand eine Frau, mit der er in der Nähe von Windsor schließlich ein gemeinsames Cottage kaufte, und ich hatte Grund zu der Annahme, dass es ihm gut mit ihr ging. Wir hörten seitdem nicht viel voneinander, ab und zu führten wir lediglich kurze Videotelefonate über den Computer und bekamen bei der Gelegenheit auch unsere Enkel zu Gesicht. Jeffrey war mittlerweile zwei Jahre alt, seine Schwester Elaine würde nächsten Februar fünf. Beide hatten wir von Angesicht zu Angesicht das letzte Mal bei Jeffreys Taufe gesehen.
Kurz nach der Geburt unseres Sohns hörten Joachim und ich auf, miteinander zu schlafen. Joachim hatte sich von Anfang an beschwert, ich sei kalt und steif wie ein Brett, ich solle mich gefälligst gehen lassen, das sei doch nicht so schwer. Er ging grob vor und dachte wohl, dass er mich auf die Art zu einem lustvollen Empfinden bringen würde. Das genaue Gegenteil war der Fall. Daraufhin verweigerte ich mich ihm immer häufiger, und nach kurzer Zeit entschieden wir uns für getrennte Schlafzimmer.
Zu dieser Zeit begannen auch seine Affären. Zunächst ließ er sich mit meinen Nachfolgerinnen ein, denn auf Joachims ausdrücklichen Wunsch hin hatte ich nach der Geburt unseres Sohns die Stelle in der Kanzlei aufgegeben. Die Anzeichen für seine anschließenden Bettgeschichten waren untrüglich. Immer häufiger ging er auf Dienstreisen, und wenn ich anschließend in seiner Brieftasche forschte, fand ich jedes Mal die Spesenbelege exklusiver Restaurants, meist für zwei Personen, immer mit Champagner und allem drum und dran. Natürlich schnupperte ich auch an seiner Kleidung, wie man das tat, wenn man Verdacht schöpfte, und nicht selten roch sein Hemd oder sein Sakko nach einem blumigen, schweren Duft.
Ich stellte ihn nicht zur Rede, nein, eigentlich war es mir einerlei. Sollten die Flittchen ruhig mit ihm ins Bett steigen, ich wünschte ihnen viel Spaß. Vielmehr war ich froh, dass dieses Kapitel endlich vorbei war, zumindest mit Joachim. Stattdessen schlief ich mit Staatsanwalt Karrenfeld, sobald ich sicher sein konnte, dass Joachim wegen eines Prozesstermins mehrere Stunden lang vor Gericht eingespannt war. Ein paar Monate lang genossen wir unsere Zeit in den Zimmern des Frankfurter Hofs, ja, tatsächlich, ich verspürte in der Tat körperlichen Spaß. Etwas, das ich zum ersten Mal mit jemandem erlebte, und vielleicht hätte ich Joachim damals einfach verlassen sollen. Im Nachhinein betrachtet wäre es sicher die richtige Entscheidung gewesen. Doch Klaus Karrenfeld, den ich kennengelernt hatte, als er auf Einladung meines Manns bei einer Sommerfeier des Juristenkreises in unserem Garten erschienen war, war glücklich verheiratet und Vater zweier Töchter. Nichtsdestotrotz hätte er alles für mich aufgegeben, zumindest behauptete er das. Jedoch wollte ich weder daran schuld sein, noch wollte ich ausprobieren, ob er am Ende wirklich zu seinem Wort stehen oder mir, wenn es darauf ankam, doch den Laufpass geben würde. Nach ein paar Monaten zog ich daher selbst die Konsequenzen und beendete unsere Affäre. Es grenzte sowieso an ein Wunder, dass Joachim, der mich seinerseits munter weiter betrog, von meinen Seitensprüngen nichts mitbekommen hatte. Nach den Anwaltsschlampen stieg er nun auf die Professionellen um. Möglicherweise war er trotz des beruflichen Erfolgs nicht mehr anziehend genug, oder ein Verhältnis mit einem jungen Ding wurde ihm einfach zu anstrengend. Jedenfalls stöberte ich weiter regelmäßig in seinen Taschen und Aktenkoffern und fand dort irgendwann die Visitenkarte eines Escort-Services. Weniger störte mich, dass Joachim für seine Eskapaden inzwischen bezahlen musste, das fand ich sogar belustigend. Viel mehr ärgerte es mich, dass er nicht mal mehr den Versuch einer Heimlichtuerei unternahm, sondern die Visitenkarte mehr oder weniger offen in seiner Tasche herumliegen ließ. Im Grunde war ihm also egal, ob ich etwas davon mitbekam oder nicht. Das war das eigentlich Verletzende.
Auch die Reisen mit den Studienfreunden zu den Auswärtsspielen der Eintracht begannen meist mit einem Besäufnis, denn das konnten sie noch, die alten Herren, und endeten irgendwann in einem Bordell oder einem Hotelzimmer mit den örtlichen Dienstleisterinnen. Vermutlich auch jetzt in München, vorausgesetzt, er hatte daran gedacht, sich die kleinen blauen Pillen einzupacken, die er im Nachttisch aufbewahrte, aber davon war auszugehen.
Ich stand vor dem Sarg und überlegte, wie es wäre, darin zu liegen. Welches Gefühl stellte sich wohl ein, wenn sich der Deckel über einem schloss und man darin zu Grabe getragen wurde? Nicht, dass ich das gerne bei lebendigem Leibe miterleben wollte, schon gar nicht, da ich mich für eine Feuerbestattung entschieden hatte, aber irgendwie reizte es mich schon, das Ganze einmal auszuprobieren. Warum auch nicht?
Ich legte den Schlüssel, die Fernbedienung für das Garagentor und mein Mobiltelefon neben die Lackpolitur für den Jaguar auf das kleine Wandbord, zog die Schuhe aus und stieg vorsichtig in den Sarg. Langsam senkte ich den Oberkörper ab und ließ meinen Kopf auf dem Eintracht-Kissen ruhen. Zugegebenermaßen war mein erster Eindruck etwas enttäuschend. Zwar lag der Kopf bequem, doch erfüllte die seidene Auspolsterung eher dekorative Zwecke. Es ließ sich nicht leugnen, dass ich letzten Endes in einer Holzkiste lag. Dann zog ich am Deckel und war gespannt, was ich empfinden würde, wenn sich die Kiste gänzlich über mir schloss. Ich hatte noch nie unter Platzangst gelitten, auch in großen Menschenmengen oder engen Aufzügen fühlte ich mich nicht unwohl, daher senkte ich den Deckel vollends ab und ließ ihn auf den Korpus nieder.
Mit einem schnappenden Geräusch schloss sich der Sarg, und sofort überlegte ich, worauf der seltsame Klang zurückzuführen war. Was hatte da geschnappt? Ich versuchte, den Deckel wieder anzuheben, doch vergeblich, der Versuch misslang. Ich drückte fester dagegen, doch das Ding bewegte sich keinen Millimeter. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter, als mir bewusst wurde, dass ich allem Anschein nach gefangen war. Das Schnappgeräusch war ein Schloss gewesen, ein Mechanismus, der sich nur von außen mit dem Schlüssel öffnen ließ. Ich merkte, wie ich Oka Nikolov unter mir vor Schreck einnässte, während Joachim in einem Schwabinger Hotel vermutlich gerade eine volltätowierte junge Russin vögelte. Ich überlegte zu schreien, doch das war vollkommen sinnlos. Das Garagentor hatte ich selbst geschlossen, bis zur Straße waren es sicher hundert Meter, die Nachbargrundstücke lagen sogar noch weiter entfernt und die älteren Herrschaften, die dort wohnten, hörten schwer. Das kannten wir selbst gut genug. Zudem kostete jeder Schrei wertvollen Sauerstoff.
Auf Joachim musste ich nicht warten, der hatte heute früh den Zug in die bayerische Hauptstadt genommen, ging morgen gepflegt zum Spiel seiner Eintracht gegen die Bayern und kam mit Sicherheit nicht vor Montag zurück. Anrufen würde er nicht, das hatten wir von Anfang an so gehandhabt. Solange er verreist war und sich nicht meldete, ging es ihm gut. Da er nie angerufen hatte, wenn er unterwegs war, ging ich davon aus, dass es ihm immer dann gut ging, wenn er nicht zu Hause war. Und da er nicht anrief, würde er mich auch nicht vermissen. Er würde mich sowieso nicht vermissen.
Noch einmal versuchte ich mit der Kraft, die ich mit meinen zweiundsiebzig Jahren noch aufbringen konnte, den Deckel aufzustemmen. Ich drückte und hämmerte dagegen, ich trat mit den Füßen gegen die massive Eiche, doch vergebens. Die Füße anzuheben und mich mit Wucht dagegenzustemmen, war unmöglich, dafür war der Korpus viel zu eng. Ich wunderte mich, dass ich nicht weinen musste. War ich selbst für meinen Tod zu rational veranlagt? Statt in Panik zu verfallen, versuchte ich noch immer, eine Lösung zu finden, wie ich der Falle entfliehen konnte. Doch es gab keine.
Es begann bereits unangenehm zu riechen, dafür hatte ich selbst gesorgt. Auch hatte ich das Gefühl, dass die Luft im Inneren mit jedem Atemzug stickiger wurde. Wie lange hatte ich noch? Bis morgen vielleicht? Noch ein paar Stunden? Die Antwort darauf war müßig. Meine Situation war hoffnungslos.
Joachim F. Steinhoff lag auf dem Bett des Hotelzimmers. Er sah auf die Uhr. Es war jetzt kurz vor sieben, in einer halben Stunde war er mit seinen Freunden in der Lobby verabredet. Normalerweise würden sie sich bei einem guten Essen und viel Bier über die Chancen der Eintracht am morgigen Tag unterhalten, doch heute kreisten Joachims Gedanken um etwas anderes. Joachim war nicht bei der Sache. Er dachte an seine Frau, er dachte an Ursula. Wie kam Ursula auf die hanebüchene Idee, ihm einen Sarg schenken zu wollen? Hatte sie tatsächlich angenommen, dass er davon nichts mitbekommen würde, dass sich das an ihm vorbei initiieren ließe? So naiv konnte sie nicht sein, nicht mal sie. Natürlich kannte er jeden Schritt seiner Frau. Er verfolgte die eingehenden und abgehenden Gespräche auf ihrem Handy und las die Kurznachrichten, die sie bekam und versendete. Er kontrollierte den Verlauf ihrer Webseitenbesuche und öffnete die wenigen Mails, die sie erreichten und die, die sie verschickte. Ursula bemerkte von alldem nichts, dafür reichte ihr technisches Verständnis nicht. Sie war froh, in ihrem Alter überhaupt noch solche Dinge zu … nun, beherrschen war vielleicht das falsche Wort. Er war diesbezüglich weit kompetenter, hatte sich stets auf dem Laufenden gehalten. Und so war er eines Tages im Herbst auch auf Ursulas Suchergebnisse gestoßen. Offensichtlich hielt sie nach einer Firma Ausschau, um einen individuell nach ihren Vorgaben gestalteten Sarg anfertigen zu lassen. Als er daraufhin ihre Telefonate und Mails kontrollierte, fand er unter den gesendeten Nachrichten eine, die an eine Frankfurter Pietät gerichtet war, erfuhr, dass es sich um einen Sarg für ihn selbst handelte und entdeckte unter den gelöschten Nachrichten die Auftragsbestätigung. Immerhin legte sie, was ihm verborgen bleiben sollte, in den Papierkorb, nur vergaß sie in ihrer technischen Einfalt, den Korb zu leeren. So bekam er einen vollständigen Überblick über Ursulas Korrespondenz und erfuhr den voraussichtlichen Liefertermin.
Joachim verstand Ursulas Beweggründe nicht. Wollte seine Frau ihn töten oder womöglich töten lassen? Was sollte das? Sie hatten sich doch arrangiert. Vielleicht lebten sie nebeneinander her, aber welches Paar tat das nicht? Möglicherweise, dachte er nun, hätte er sie damals doch rauswerfen sollen, als sie ihn mit diesem lächerlichen Staatsanwalt betrog. Seiner Zeit hatte er ihr zugutegehalten, dass sie immerhin die Mutter seines Sohnes war, also entschied er, die Trennung zu vertagen. Jedenfalls so lange, wie er nach seinen Vorstellungen leben konnte und sie ihn in Ruhe ließ.
Natürlich wusste er, dass sie ihm hinterher spionierte. Ursula war durch und durch neugierig. Ständig schnüffelte sie herum, schnupperte an seiner Kleidung, durchwühlte Schubladen und Taschen. Alles musste sie wissen, alles musste sie herausfinden, und dadurch machte sie sich das Leben nur selbst schwer. Aber vielleicht war ja genau das der Grund für den Sarg. Gut möglich, dass sie auf dieses Leben keine Lust mehr hatte, nicht mehr betrogen werden wollte, dass sie seine Lügen nicht mehr ertrug, seine Ignoranz. Wer weiß, eventuell hatte er den Bogen überspannt. Wollte sie ihn deswegen loswerden und war wie immer nur zu schwach, einfach eine Scheidung einzureichen?
Was auch immer sie im Schilde führte: Unabhängig von Ursulas Beweggründen konnte er natürlich nicht tatenlos dabei zusehen. Schon vor Jahrzehnten hatte er in weiser Voraussicht sämtliche Besitztümer, die Konten und Depots vor ihrem Zugriff gesichert und im Falle seines Todes den gemeinsamen Sohn Lorenz als Erben eingesetzt. Ihr würde lediglich der Pflichtteil zustehen, mehr nicht. Und von den Konten im Ausland, auf die er seit jeher sein Geld verschob, hatte sie sowieso keine Ahnung. Soweit war alles klar. Jetzt ging es darum, ihr Vorhaben zu sabotieren, was immer das war.
Wieder und wieder hatte er versucht, sich den Moment vorzustellen, in dem das Pietätsinstitut den Sarg anlieferte. Wohin würde Ursula ihn bringen lassen? In den Keller? Auf den Dachboden? In die Garage? Und wenn die Männer mit ihrem Kombi wieder vom Hof biegen würden, was würde sie dann tun? Den Fernseher einschalten? Ein Buch lesen? Ein heißes Bad nehmen?
Nein, dafür kannte er Ursula zu gut. Ursula würde etwas ganz anderes tun.
Da er Zugriff auf ihren Account hatte, veranlasste er unter ihrem Namen eine kleine Änderung des Auftrags und orderte statt der normalen Schlösser selbstschließende Schnappverschlüsse, und nachdem klar war, dass sie die Rechnung bereits vor Ort bezahlt hatte, überwies er die Mehrkosten von seinem Konto. Das würde sie nie im Leben kontrollieren. Damit war er auf der sicheren Seite.
Wenn er also Montag aus München zurückkehren würde und sie stünde hinter dem Vorhang, bereit, ihm die Haustür zu öffnen, konnte er das weitere Geschehen aufmerksam beobachten und in aller Ruhe herausfinden, was sie vorhatte.
Wenn er aber Recht behielt und sie tat, was er vermutete, war sie das Opfer ihrer Neugier geworden. Dann hatte die Falle zugeschnappt, im wahrsten Sinn des Wortes.
Wie lange lag ich hier schon? Zwei Stunden oder drei? Ich wusste es nicht. Mit der Dunkelheit verlor ich jedes Zeitgefühl. Ich versuchte, so wenig und so flach wie möglich zu atmen. Vielleicht verschaffte mir das etwas Luft, also zeitlich gesehen. Wenn das mein Ende war, dann war alles, was ich darüber gelesen hatte, Lug und Trug. Nein, das Leben zog nicht an mir vorbei, kein helles Licht tat sich am Ende eines Tunnels auf. Im Gegenteil, mein Verstand arbeitete klar und messerscharf. Vor allem eins beschäftigte mich. Und die Antwort auf die Frage, die mich schon seit Stunden umtrieb, die Frage, warum der Deckel eingeschnappt war. Darauf gab es nur eine rationale Erklärung. Aber wie hatte er das angestellt? Wie hatte er von meinem Auftrag erfahren, und wie war es möglich, dass er die Bestellung manipulieren konnte, ohne dass ich etwas davon mitbekam? Wenn ich eins und eins zusammenzählte, bedeutete es, dass Joachim mir hinterher spionierte, mich kontrollierte und jeden meiner Schritte verfolgte. Das zeugte immerhin noch von einem gewissen Interesse an mir, damit konnte ich nun wirklich nicht rechnen.
Das bedeutete aber auch, dass er wiederum damit gerechnet hatte, dass ich mich in den Sarg legen und ihn schließen würde, sonst hätten die Schnappvorrichtungen keinen Sinn gemacht. Er ging also bei seiner Abfahrt nach München davon aus, dass ich mich in seiner Abwesenheit unrettbar einschließen würde. Ich war darauf hereingefallen, und Joachim hatte das perfekte Alibi. So etwas Abgefeimtes.
Schlagartig wurde mir klar, dass das mein endgültiges Aus bedeuten würde. Ich musste sogar befürchten, dass Joachim seinen Ausflug verlängern würde, um ganz sicher zu gehen, dass es mit mir vorbei war. Er wusste ja nicht, wann mich die Neugier überkam, vielleicht erst Samstag oder Sonntag. Dann würde er nach seiner Rückkehr den grausamen Fund machen und der Polizei gegenüber den verzweifelten Witwer markieren, der sich das tragische Geschehen überhaupt nicht erklären konnte. Als Nächstes würde er Lorenz anrufen, ihm mitteilen, dass seine Mutter durch einen furchtbaren Unglücksfall ums Leben gekommen sei. Und dann würde Lorenz den Brief öffnen, den ich ihm schon vor Jahren geschickt hatte. Den Brief, den er sicher verwahren und erst dann hervorholen sollte, im Falle, dass er eines Tages genau diesen Anruf bekäme. Den Brief, von dem Joachim nichts wissen konnte, der vielleicht das Einzige war, was ich ihm mit Sicherheit verborgen hatte und in dem ich meinen Sohn bat, die Polizei einzuschalten, sollte ihm irgendetwas an meinem Tod seltsam vorkommen. Ein unerklärliches Verschwinden, ein tragischer Unfall, ein entsetzliches Unglück.
Ich schloss die Augen, mehr noch: Ich schloss ab. Nicht mehr lange, dann würde mich mein eigener Atem vergiften. Mein Leben war vorbei, so war es nun einmal, ich selbst war daran schuld. Nur dass mich der Tod ausgerechnet in einer Kiste mit den Spielern von Joachims Eintracht ereilen würde, das war bitter. Das war gewissermaßen sein finaler Auswärtssieg.