Читать книгу Der Feuereifer des Florian H. - Andreas Hoffmann - Страница 4
Sonntag, 2. Mai
ОглавлениеErster Augenaufschlag des Tages. Verschwommene neun Uhr erkennt Florian auf dem Wecker. Die Matratze neben ihm: leer. Das Zimmer ist dunkel, immer, auch bei hellichtem Tage, der Brandwand wenige Meter gegenüber geschuldet, die der Sonne den Zutritt verwehrt. Hinzu kommt diesmal, soweit erkennbar, eine Wolkenhaube, metallicgrau gespritzt, wie am Ende einer Karosseriereparatur.
We don’t need another hero. Von Weitem, aus der Küche, tönt Tina Turner. Florian reckt seinen Körper auf die zuletzt bei ihm gemessenen ein Meter neunzig. Dann die Hand vor den Mund zu einem vorletzten Gähnen.
Leonore und Tina Turner nunmehr im Duett, eine temperamentvoller als die andere: And I wonder when we are ever gonna change living under the fear. Florians Arme rutschen in den Morgenmantel, er bindet den Frotteegürtel zur Schleife und zieht die Schlaufen exakt gleichmäßig lang.
Rein in die Latschen, ab in die Küche. Beim Vorbeigehen ein kurzer Blick ins Wohnzimmer, zur Couch. Klar doch, das Bild hängt wieder schief. „Luther verbrennt die päpstliche Bulle“, ein Farbdruck, Schnäppchen vom Flohmarkt. Seit damals steht über dem Sofa hängend der Titan vor Wittenbergs Elstertor und hält das Papier des Papstes hoch in den Himmel, zu seinen Füßen ein Feuerchen, um sich herum Kollegen, Studenten, Neugierige. Gleich fliegt die Bulle in die Flamme. Barbecue 1520 – hinge das Bild nicht immer wie eine Raute. Luther fällt fast auf den Bauch und die Professores und Studiosi auf ihn drauf. Weiß Gott, warum. Rütteln Autos und U-Bahnen derart an der Hauswand? Was soll‘s! Florian legt Hand an. Luther muss ins Lot. Ordnung muss sein. Erst dann kommt das Vergnügen.
All we want is life beyond the thunderdome. Tina wird in der Küche noch mal richtig laut und Leo tanzt im Takt dazu im Tanga. Mit der Kreissäge schneidet sie Brotscheiben, plötzlich Florians Hände in den Hüften, im Rhythmus mitschwingend. Sie lässt die Kurbel los. Greift hinter sich und faltet die Hände hinter seinem Nacken.
„Auch schon auf, Murmeltier? Rate mal, wie spät es ist!“
„Neun.“
„Neun Uhr?“ prustet sie los. „Eben kamen die Elf-Uhr-Nachrichten.“
Wecker stehen geblieben. Läuft zurzeit alles schief?
„Und? Gibt‘s was Neues?“
„Mächtig Randale letzte Nacht in Kreuzberg. Und die Wirtschaftsweisen werden morgen voraussagen: Keine vier Millionen Arbeitslosen mehr am Jahresende …“
„Super!“
„… sondern vier Komma vier.“
Haselbach muss lachen. Ungewollt. Über sich, nicht über die Meldung. Was ihn an Alarm erreicht, tröpfelt meist durch Leonores Filter. Er ist kein großer Zeitungsleser, kein Fernsehkieker, und wäre nicht Leos Drang zu Panorama, Fakt und Monitor, hätte er mehr Zeit für Wagner, Liszt und Beethoven.
„Übrigens: Ali hat wieder angerufen. Er sei im Laden.“
Florians Brauen schnellen hoch. Schweigend grapscht er die Kanne von der Kaffeemaschine, füllt die Tassen und hockt sich an den Küchentisch.
„Diese Drängelei, die hab ich gern. Vor allem am Tag nach deiner Rückkehr.“
Leo setzt den Brotkorb ab.
„Kein Problem. Ich wollte eh heute in meine Wohnung und bei Bakens reinschauen. Vater will sicher wissen, wie Bergner drauf war. – Und ist nicht heute dein Schachabend?“
Ja, natürlich. Fast vergessen. Schon wieder zwei Wochen vorbei. Diesmal bei Heiner. Turnusmäßig ist der mit Bier und Stullen dran.
Die reibungslose Prozedur nach dem Frühstück verrät das eingespielte Duo. Jeder Handgriff sitzt, drei Jahre lang eingeübt. Der häusliche Alltag erfordert kaum noch Worte. Geschirr ins Becken, Brotkorb in den Eckschrank, Kaffeekanne ausspülen und stülpen. Längst vorbei sind die Kontroversen darüber, wer wann abwäscht, ob mit oder ohne Spülmittel, bei laufendem Wasser oder im gefüllten Becken, ob das Geschirr selbst trocknen kann oder mit dem Küchentuch poliert werden muss. Geklärt ist, wer die Mülleimer hinunterträgt, wie oft – nach Florians Ansicht: selten – sie die Fenster putzen und wo die Eier besser aufgehoben sind: in Speisekammer oder Kühlschrank. Fragen von bedrohlicher Bedeutung für zwei, die sich zusammenraufen! Florian und Leo haben sie ausdiskutiert.
Jetzt ist Ali dran, auch kein Thema mehr zwischen ihnen. Doch Florian ist mit ihm noch immer nicht im Reinen. Dabei ist er schon seit fast drei Jahrzehnten sein Sohn, seiner so gut wie der seiner Mutter, so wie früher sein Bruder Werner – und doch nicht so.
Es ist zum Verrücktwerden, aber diese U-Bahnfahrt zum Laden seiner Eltern, wo sein Vater auf ihn wartet, ist jedesmal eine vertrackte Zeit des Zorns und die Stationsschilder vor dem Fenster, jedem anderen lesenden, SMS-schreibenden, spielenden, schlummernden Fahrgast egal, es sei denn, er muss aussteigen, diese Schilder pieksen wie Stichwörter. Zurückbleiben, bitte!
Rathaus Neukölln.
Hier stieg er immer aus. Zwei Ecken weiter war sein Gymnasium. Seine Mutter kannte es gut, von den Elternabenden und den Gesprächen und Konferenzen her, wenn er mit Zündholz und Reibefläche oder Bunsenbrenner die Aufmerksamkeit der Anderen in der Klasse erregte – und den Ärger der Lehrer. Wie oft saß sie im Sprechzimmer, dorthin zitiert oder aus eigenem Antrieb! Aber Ali, sein Vater? Keine Spur!
Und Florian? Seine Deutschlehrerin stellte einmal die Aufgabe: „Beschreibe das Leben eines wichtigen Menschen.“ Die Auswahl war groß. Zum Beispiel Katharina von Bora, die reiche Erbin Luthers, oder Ottilie Müntzer, Thomas‘ hungernde, alleinerziehende Witwe. Florian wählte seine Mutter, der besseren Quellenlage wegen. Der Vater, Kurt Haselbach, war kein Thema für ihn. Dabei hätte er einige Episoden flüssig herunterschreiben können, so oft hatte er sie gehört, zum Beispiel die vom Boxen.
Haselbach Vater war Boxer, im Verein wie im Leben. Einmal besiegte er sogar den Weltmeister. Florian kannte die Geschichte auswendig, die von dem Samstagabend mit Muhamed Ali im ZDF-Sportstudio. Haselbach sitzt im Publikum. Ein Boxring ist aufgebaut, Scheinwerfer, Kameras. Ringrichter und Champion treten auf. Beifall. Der Moderator sucht einen Herausforderer. Dutzende Bizepse schießen hoch. Haselbachs ist angeblich der dickste. Ab in die Umkleide. Der Kampf ist kurz. Nach zwei Minuten (später lässt es die Sendezeit wohl nicht zu) liegt Muhamed Ali auf dem Boden. Sieben, acht, neun. Der Unparteiische reißt Haselbachs Arm hoch. Seither heißt er Ali. In Kreuzberg, seinem Kiez, gibt es mit Sicherheit keinen blauäugigeren Ali als ihn.
Hermannplatz. Übergang zur U8.
In einer Seitenstraße war die Autowerkstatt, in der Werner lernte. Sein Vater kannte sie gut, denn er holte den Azubi, wenn es spät wurde, oft ab. Manchmal versackten sie auf dem Heimweg irgendwo, und Florian und seine Mutter wunderten sich zu Hause, wo sie blieben. Eines Abends, Ali warf sich gerade in seine Jacke, kam aus der Werkstatt ein Anruf. Florian kann das Klingeln noch heute hören. Seine Mutter schrie wie von Sinnen, Ali riss ihr den Hörer aus der Hand und das Kabel aus der Wand. Florian wird nie vergessen, wie sie alle hinaus hetzten und zur Werkstatt fuhren, wo sie schon von Weitem das Blaulicht auf dem dunklen Hof blinken sahen, Werner lag im Büro auf einer Trage, schwer verletzt, ohne Bewusstsein. Er starb noch in derselben Nacht. Seine Mutter sprach tagelang nicht ein Wort. Florian hatte Angst, sie würde nie wieder sprechen. Er schrieb Nächte hindurch Briefe an seinen Bruder, weinend, die Tinte zerlief immer wieder, aber sie trocknete auch. Und sein Vater stürzte sich in Aktivität, sinnlos, als käme es darauf an, die Todesanzeige persönlich aufzugeben, als erweckte der Ärger mit den Friedhofsverwaltungen um die schönste Grabstelle seinen Sohn zum Leben. Werner war tot. Florian lebte. Er war nun auch der Sohn seines Vaters, eine ungewohnte Rolle, in die er sich nie finden konnte.
Schönleinstraße. Ausstieg links.
Dieses Stationsschild vor dem Fenster, gerät Florian ins Schmunzeln, denn witzigerweise ist dies der Mädchenname seiner Mutter, Susanne Schönlein, verheiratete Haselbach. Ali, gerade Zimmererlehrling, lernte sie im Vereinsheim kennen, Tochter seines Trainers. Zahnarzthelferin. Einen „steilen Zahn“ nennt Ali sie noch immer, wenn er einen Kalauer auf der Zunge hat, unbekümmert von dem höflichen Lächeln älterer und den diesen Begriff nicht mehr begreifenden jüngeren Zuhörern. Ein steiler Zahn? Diese sanfte, ruhige Frau mit ihren tiefschwarzen Haaren, ihrem dunklen Teint, ihrer mittlerweile leicht oval gerundeten Gestalt? Wieso Zahn, wieso steil? Sie sei ihm eine Walz lang treu geblieben, weiß Ali (woher eigentlich), und danach begleitete sie ihn zum Standesamt, zum Arbeitsamt, zum Sozialamt. Bis er sich selbstständig machte. Als Geschäftsführer eines Kiosks. Da quittierte sie ihren Dienst beim Dentist und begleitete Ali in seinen Laden, samt zwei Söhnen, die sie ihm mittlerweile geschenkt hatte. „Geschenkt“? Florian schüttelt es den Kopf.
Kottbusser Tor. Vorsicht an der Bahnsteigkante.
Nicht weit weg von hier haben sie gewohnt. Nicht weit weg passierte das andere große Unglück der Familie. Florian sieht ihn noch vor sich, seinen Vater vor dem Sturz, parademäßig in Kluft mit Staude, Ehrbarkeit und Ohrring, ein stolzer, kräftiger Zimmerer. Am Baugerüst ohne Leiter hinauf hangeln, das konnte keiner wie er. Jede Wette! Die letzte ging verloren. Sie änderte sein Leben, ihr Leben. Auch diese Geschichte kennt Florian zur Genüge. So schlimm sie nach Eintreten des Ereignisses war, so gut lässt sie sich, sind die Folgen erst überwunden, erzählen, immer wieder, immer ausgeschmückter. Also, es regnete an jenem Tag, Bier und Korn flossen im Bauwagen literweis. Keiner ging mehr aufs Gerüst. Nur noch aufs Klo. Außer Ali. Der wollte hangeln. Die Wette galt. Die Einsätze im Hut, Modder an den Stiefeln, sprang er das Gerüst an und zog sich mit Kraft und Schwung von Stange zu Stange. Die oberste jedoch war zu viel. Ali rutschte ab und stürzte rücklings auf einen Sackstapel. Das Gejohle der Wettgegner verstummte jäh. Der Zimmerer bewegte sich nicht mehr. Der Radiologe fand die Frakturen extraordinär, das Labor aber einen zur Arbeitszeit ungemäß hohen Alkoholgehalt im Blut. Für Ali und seine junge Familie war dies der grausamste anzunehmende Unfall. Halbwegs genesen (der linke Arm hängt auch heute, zwanzig Jahre später, ziemlich schlaff) verließ er die Reha in die Erwerbslosigkeit. Vorbei war es mit Boxen und Beruf.
Moritzplatz. Einsteigen bitte. Die Türen schließen.
Florian steigt aus, orientiert sich kurz und wählt den richtigen Ausgang. Die Oranienstraße einige Hausnummern weiter, da ist der Laden, der Stolz des einstigen Zimmerers. Doch wie hat er damals gefleht. Florian kriegte es durch den offenen Türspalt mit, wie er seine Frau bekniete, ihre Stelle aufzugeben und mit ihm einen Kiosk zu eröffnen. Was der Steppke nicht wissen konnte: Sein Vater kämpfte um sein Gesicht bis zur Selbstverleugnung, bis Susanne aufging, dass Ali nicht mehr Ali gewesen wäre, hätte nicht er, sondern sie, die Frau des großen Weltmeisterbezwingers, die Familie über Wasser gehalten. Sie stritt nicht. Sie lenkte ein und stellte sich in den Laden, seinen Laden. Geklagt hat sie darüber später nie. Zumindest den Kindern gegenüber nicht. Eine Freude sei es ihr gewesen, meint Ali, unmittelbar für die Familie zu arbeiten, hautnah mitzuerleben, wie sich sein Geschäft entwickelt. Mit Zeitungen, Kaugummis und Zigaretten fing es an. Lottoscheine kamen hinzu, Fahrscheine, dann selbstbelegte Brötchen, heiße Getränke und kleine warme Mahlzeiten aus der Mikrowelle. Sie übernahmen auch den Nachbarladen, als Internet-Café, sommers mit Tischen und Stühlen auf dem schmalen, belebten Bürgersteig davor.
Wahnsinn. Das alles hat er geschafft, posaunt Ali, der Boxweltmeister mit der baumelnden Linken. Kein Straßenfest, das er nicht mit organisiert, kein Bürgertreffen, auf dem er nicht das Wort ergreift, kaum eine türkische Hochzeit, auf die er und seine Frau nicht eingeladen sind. Ali bewundert in sich den König von Kreuzberg. Ohne Susanne, seine linke Hand, wäre er so weit nicht gekommen. Darin ist sich Florian sicherer als seine Mutter selbst, und als sein Vater ohnehin.
Florian war an der Inthronisation nicht mitbeteiligt.
Er war gerade eingeschult, als sein Vater abstürzte. Schule und Laden, Laden und Schule: Viel mehr gab es für ihn und Werner nicht. Der war mit Feuereifer dabei. Auch Florian sollte mithelfen, klar. Bücher waren ihm wichtiger. Mit Winnetou, Robin Hood und Störtebeker kämpfte er für das Gute der Welt. Ali lobte und belohnte Werner, Florian, der Büchernarr, ging leer aus. Klare Ansage: Kein Ladendienst, kein Geldverdienst.
Dann eben kein Geld, dachte Florian. Wozu auch? Es gibt ja Stadtbüchereien.
Streit zwischen seinen Eltern kam, soweit er darin Einblick hatte, nur einmal auf. Er beobachtete ihn durchs Schlüsselloch.
Es ging um seinen Wunsch, Geschichte zu studieren. Brotlose Kunst, erklärte Ali. Er solle lieber – wie Werner – etwas Handfestes erlernen, etwas, das seinen Mann ernähre, und, wenn Florian es je soweit brächte, auch eine Familie. Automechaniker wie Werner? Das kam für Florian nicht in Frage und seine Mutter stellte sich vor ihn. Sie antwortete ungewöhnlich lange. Der Vater hörte ruhig zu, bis es aus ihm herausplatzte: Ob sie beide sich in den Jahren so mächtig ins Zeug gelegt hätten, nur damit ein Herr Studiosus das Ersparte zum Fenster hinauswerfe? Seine Mutter blieb leise, sie konnte ja gar nicht anders. Aber ihr Pianissimo brachte in seinem Vater eine Saite zum Schwingen, der er, Florian, den Kompromiss seines Lebens verdankte. Der hieß lautstark: Ja, Herrgott nochmal, soll er doch an die Uni gehen, aber bezahlen muss er den Blödsinn selbst.
Florian fuhr Droschke. Die sicherte ihm das Studium, brachte Unabhängigkeit und die eigene Bude, in der er nach wie vor wohnt. Bafög beantragte er nicht. Schulden bringen Unordnung. Kredit und Debit sind wurmstichige Stelzen, auf denen eine wacklige Weltfinanz herumstolpert. Das kann ihm nicht einmal Leonore ausreden. Die Welt ist, so wie sie ist, nicht die bestmögliche, aber am Vergangenen gemessen auch nicht die allerschlechteste. Ein Credo, so unerschütterlich ehrlich, wie es seine Eltern vorleben. Es im Stil seines Vaters nachzuleben, sich durchzuboxen, in die große Spur zu finden, einen Namen zu machen, dazu mangelt es ihm wahrlich nicht an Verstand. Es fehlt an Selbstvertrauen.
Florian steigt die Stufen hinauf, den immer tiefer hängenden Wolken entgegen. Über den obersten Stufen des U-Bahnaufgangs taucht Zeile für Zeile das revolutionär ramponierte Bild der Oranienstraße auf. Die Zeiger der zerdepperten Normaluhr: stehen geblieben, bevor sie zehn Uhr erreichten. Der Geldautomat, an dem Florian sein Handy auflädt: zerkratzt bis zur Unlesbarkeit des Displays. Die blättrigen Hausfassaden: farblich gestaltet einzig und allein durch Graffitis. Bahn frei dem Roten Mai. Fahrdamm und Bürgersteig: ein Scherbengemenge zersplitterter Flaschen, geborstener Laternen und eingeworfener Scheiben schutzloser Schaufenster. Im Hintergrund die Stadtreinigung. Überstunden. Vor einem geplünderten Laden eine Reporterin mit Mikrophon, den Blick in die Kamera. Ein Steinwurf entfernt Florians Ziel, unbeschädigt, „Ali Internetion@l“, das vertraute Bild: Der Inhaber mit seinem hängenden linken Arm, der prallen Weste und dem graublonden Bürstenschnitt breitbeinig unter dem Ladenschild, im Gespräch. Auf den weißen Plastikstühlen davor schleckt eine Familie Eis. Am Zeitungsständer das Neueste. Kreuzberg brennt. Chaoten raus. Ein Zeitungsleser biegt sich die Titelseiten so zurecht, dass er sie unentgeltlich lesen kann. Manche Ladeninhaber würden mosern, Ali und Susanne nicht.
„Hallo, da ist ja unser Langschläfer“, schallt es, als Florian in den Radarbereich seines Vaters gelangt. Oh, wie er sie liebt, diese Vereinnahmung, diese Erweckung falscher Tatsachen! Als wären sie dicke miteinander. Er könnte auf der Stelle Kehrt machen, gäbe es nicht Skandal. Dann noch der Schlag auf die Schulter als Freundschaftsbeweis, der eher der Kreuzberger Öffentlichkeit auf der Straße als dem Sohn gilt. Schließlich der Auftrag an Züleyha, die seine Frau hinter dem Ladentisch vertritt: „Zwei Espressos, siwuplee. Wir sind gleich wieder da.“ Als ob er Französisch könne, oder sie. Außerdem müsste er längst wissen, wie sehr Florian diesen braunen Matsch verabscheut. Züleyha weiß es. Sie lächelt Florian zu und zuckt mit hoch gezogenen Augenbrauen die Schultern. Und unter ihrem kaffeebraunen Pony strahlt ein achtzehn Jahre altes Gesicht wie die Sonne über Antalya.
„Komm mal mit, Junge, ich muss dir was zeigen.“
Schon startet Ali, beschleunigt, erreicht seine höchste Drehzahl: Jeder Gang durch den Kiez ein Triumph. Florian, allseits bekannt, niemand kennend, schlendert nebendrein. Sie ist zum Durchdrehen, diese Reputierlichkeit seines Vaters.
Da stoppt vor dem Muscletemple Bodybuilding & Fitness Center eine Frau ihren Rollator. Ali: „Wie geht’s Anton? Wieder gesund?“ Sie: „Morgen er darf raus.“ Er: „Grüß ihn von mir, Olga.“
Da schüttelt er dem Alten auf dem Klappstuhl vor dem Hamam die Hand („Grüß dich, Tuncaj.“). Da ruft er zum offenen Fenster hinauf: „Fall nicht raus, Erdal.“ Der lacht. Und lässt die Hosenträger auf das Unterhemd knallen. Huldigung an den Kaiser von Kreuzberg.
Und Florian? Behaglichkeit ist anders. Sein Blick tastet die Haustüren, Fenster und Kellereingänge entlang, als gäbe es nichts Interessanteres. Die Straße weitet sich zu einem Platz. Darauf ein Denkmal zu Ehren der Feuerwehr. Drei gut gelaunte Männer in Bronze, voll im Einsatz, nur ein wenig ratlos: Aus ihrem Schlauch müsste es spritzen, doch nicht ein Tropfen plempert heraus. Ebbe in den öffentlichen Kassen, ergo Dürre im Brunnen. Kreuzberg: Wo es an Luxus mangelt, fehlt Brunnenwasser erst recht. Wie versteinert verharren die eifrigen Männer in ihrer Bewegung. Letzte Nacht brannte es lichterloh und keiner konnte eingreifen.
Gegenüber zieht der Geruch abgekühlten Brandes streng in die Nase. Ali stoppt.
„Schau dir das an. Erkennst du es noch?“
„Das Fenster? Nein, woher?“
„Quatsch, Junge, wo guckst du denn immer hin? Das Auto.“
Florian wendet sich um. Ein stark verbeulter Kombi knautscht am Straßenrand, schräg in eine Lücke gedrückt. Die Scheiben fehlen, die Türen sind verzogen, die verbogene Haube starrt halb offen, von den Sitzen sind nur noch Gestelle übrig, die Reifen platt, Lenkrad und Armatur geschmolzen, der Außenlack glänzt fleckenweise noch silbern, grieselt meist jedoch verfärbt, verrußt und voller Brandflecken. Der Mercedesstern strahlt wie eh und je.
„Dein Wagen?“
„Gut erkannt. Wurde ihm wohl etwas zu warm.“
Er zeigt nach oben. „Goran – der wohnt da – rief gestern Abend so um acht an: ,Dein Wagen liegt auf der Straße und brennt‘. Susanne und ich sofort los. Straßen abgesperrt. An der Waldemar und an der Naunyn Polizeiketten. Kein Durchkommen, wir mussten durch die Wrangel. Als wir ankamen, löschte die Feuerwehr schon. Der Wagen lag auf der Seite. Quer auf der Fahrbahn. Wir standen blöd daneben. Eigentlich war’s hier schon wieder ruhig. Die Randale spielte sich inzwischen in der Oranienstraße ab. Warum kann das Theater nicht mal in Dahlem stattfinden? Schließlich sind wir nach Hause und ich rief bei euch an. Leo ging ran. Du warst nicht da.“
Florian versucht die Beifahrertür ordentlich zu schließen, als befürchte er Einbruchgefahr. „Hast du eine Ahnung, wer es war?“
Ali lacht. „Ich hab sogar ein Bekennerschreiben.“ Er fährt mit seiner Rechten in die leere Gesäßtasche. „Liegt wohl im Laden. Du lachst dich krumm, wenn du’s liest.“ Zurück zum Espresso also.
Es ist schon nicht mehr Florians Zunge, die gegen den konzentrierten Kaffee kämpft, seine Magensäfte haben sich bereits in die Verdauungsschlacht gemengt, als Ali endlich das Schreiben der Bekenner auf den Stößen von Papier findet, die sich in seinem Ladenbüro zu Hügeln türmen. „Der Brief ist der Gipfel. War unter der Tür durchgeschoben. Halt dich fest.“
Auf dem Kuvert steht „An Ali“ in Kinderschrift, sonst nichts – auch kein Absender. Florian zieht das karierte Papier eines Spiralblocks heraus und faltet es auseinander, da flattern Geldscheine auf den Boden.
Sein Vater kichert. „Vorsicht, Junge. Da segelt mein Vermögen.“
Florian faltet den Brief auseinander: „Lieber Ali! Tut uns echt leid. Wollten dein Daimler nicht abfackeln. Aber unse Kumpels aus Hamburg wußten nicht das das dein Wagen war. Die haben nur gesehen: Daimler. Wir haben zusammen gelegt. Ist nicht fiel Geld, aber entschuldigung.“
Sechs zerknitterte Scheine hebt Florian vom Boden auf, fünf Fünfer und einen Zwanziger. Sein Vater platzt fast.
„Sechs kleine Negerlein, und anscheinend ein Krösus dabei. Aber meinst du, die Bagage hat den Mumm den Brief zu unterschreiben!“
Florian streift die Scheine glatt, sortiert sie nach ihrer Vorderseite, und steckt sie auf Kante mit dem Schreiben in den Umschlag zurück. „Und du hast wirklich keine Idee, von wem der Brief ist?“
„Nee. Hier in dem Dreh gibt es reichlich Spinner, die meinen, sie verbessern die Welt, indem sie sie erst einmal anstecken. Aber mir hat sich noch keiner von denen vorgestellt.“
Im Laden herrscht immer noch Betrieb. Der wohlverdiente Sonntagnachmittag, einzige Freizeit in der Woche, ist noch in weiter Ferne. Die Markise einrollen, Stühle und Tische hereinstellen, Server und Kopierer ausschalten, fegen, wischen, Kasse machen, Rollläden herunterlassen und abschließen: Kein Gedanke.
Ali hält Florian einen Zettel hin. „Das hier habe ich heute morgen Susanne ins Notebook diktiert:“ Ein Aufruf „Liebe Brandstifter“, sich bei ihm zu melden und die Hitzeentwicklung in seinem Auto zu erklären. Zwei Wochen Frist. Ansonsten Strafanzeige. Adresse unbekannt.
Florian liest. Typisch. Wie immer. Hauptsache Aktion. Bloß nicht nachdenken. So ist er, sein Vater. Immer ran an den Feind, auch ohne Kenntnis seiner Position. Immer aktiv – und sei die Strategie noch so absurd. Unverbesserlich. Jeder vernünftige Einwand erübrigt sich. Florian tut kooperativ.
„Und wem willst du das Ganze schicken?“
„Schicken? Wieso denn schicken?“ Ali greift nach einem Stapel Papier in Plastikhüllen. „An die Laternen will ich die kleben. Fünfzig Stück. Hat mir Züleyha vorhin kopiert und eingetütet.“
„An Laternen? Da klebt doch schon genug ungelesenes Zeug!“
„Und meine Zettel obendrauf, in der Waldemar, Wrangel, Naunyn und, wenn noch welche übrig sind, in der Oranienstraße. Ich dachte, du könntest mir dabei helfen.“
Helfen? Von wegen! Allein tappt er die Waldemarstraße entlang, die Blicke der Anwohner im Genick („Du nicht Alis Sohn?“). Wie ein Laternenanzünder. Von einer Lampe zur nächsten. Ohne Stange, ohne Leiter, ohne Ersatzkohlen, aber mit Schere und Klebeband und einem Arm voller Sichthüllen. In der Wrangel sind sie alle – und Alis Sohn auch. Er könnte sich selbst prügeln. Diese permanente Zumutung seines Vaters, gegen die er so machtlos ist. Da hilft nur Vergessen und Verdrängen. Herabdrücken ins Unterbewusstsein, einer tückischen Triebfeder tollen Tuns. Dieses tolle Tun: Erklär dessen Ursache mal einem, wenn du sie selbst nicht weißt! Florian Haselbach würde zwei Wochen später vor genau diesem Problem stehen.
Durch Erinnern verdrängen: Als das letzte väterliche Mahnschreiben klebt, geht Florian hinüber zum Mariannenplatz, dem einzig nennenswerten Fleckchen Grün weit und breit. Er flackt sich auf die Wiese, da wo das von tausend Sohlen in die Erde gestampfte Gras noch am dichtesten ist. Zu Florians Linker paradiert der Kasernenbau eines gewesenen Krankenhauses, gewollt romanisch. Über ihm eine mächtige Linde, seit hundert Jahren dem Himmel entgegenwachsend, ohne ihn im Entferntesten erreicht zu haben. Unter ihr aus der Parkbank gerissene rote Latten, erbrochener Schleim, ein verkokelter Papierkorb, Fetzen von Klopapier im Gehölz. Daneben guter Dinge eine fröhliche Familie beim Picknick, die Mutter mit dem Säugling an der Brust. Vor Florian die Türme einer Kirche wie drohende Zeigefinger in dunkelrotem Backstein, jenem Thomas geweiht, der unbesehen an Wunder nicht glauben mochte. Dienet dem HERRN mit Furcht. Und vis-a-vis eine Bedürfnisanstalt, eher Arbeitsort angriffslustiger Bakterien als kampferprobter Reinigungstrupps. Kreuzberg: Wo dolce vita fehlt, ist‘s mit Hygiene Essig.
In der Mitte des Grünfleckens Haselbach, der Historiker, der erinnernd die Gegenwart beiseite schiebt, mit Bildern, so scharf vor Augen als passierten sie jetzt: die Barrikade, soeben aufgeworfen, Gestein gegen Gewehre, Bauarbeiter gegen Bürgerwehr, Arbeitslose gegen Arbeitnehmer, jeder seinem Vorteil hinterher. Am Ende ein Leichenzug als Ausdruck bürgerlicher Betroffenheit. Geschehen im Oktober 1848.
Eine Vibration weckt Florian. SMS von Leo.
„Hallo Flo, Eltern geben uns Karten. Räuber, Hans-Otto-Theater, heute 20 Uhr. Komm her. Kuss“
Eine Kurznachricht, eine Verlockung, ein Angebot, ein Mein-Wunsch-sei-dir-Befehl. Ach was, Befehl: Wie lange sind sie nicht mehr mit Billets im Theater gewesen! Zu teuer. Ihre Bühnenbesuche sind stets dramatisch, aber kostenlos. Vor der Tür die Pause abwarten, beim Klingeln mit dem Publikum ins Parkett schlüpfen, einige spannende Sekunden, bis die Saalbeleuchtung erlischt, dann im Dunkeln auf zwei frei gebliebene Plätze, oft nebeneinander und, haben die Kritiker die Inszenierung abgewatscht, sogar vorn. Das Stück liest man zuvor zu Haus.
„Die Räuber“ stehen in Florians Regal. Das Ganze auf der Bühne, ja, das wär was. Und er weiß: Die Karten sind nicht von schlechten Eltern. Er spreizt gerade seinen Daumen ab, um seine Zustimmung ins Handy zu tippen. Da kommt ihm Heiners Schachabend in den Sinn. Herrje, absagen! Peinlich, peinlich.
Die Antwort an Leo fällt leichter: „Freue mich. Komme um 6. Florian“. Jetzt noch Heiner anrufen. Es beginnt zu tröpfeln.
Szenenwechsel. Berlin-Nikolassee. Ein neugotisches Stationsgebäude. Haselbach in Gedanken.
Es gießt in Strömen. Ein paar Gestalten huschen schemenhaft durch die kleine Grünanlage auf dem Bahnhofsvorplatz, ihre Umrisse lösen sich auf hinter dem dichten Regenschleier, verlieren sich unter den nassschweren Kastanien in den gepflasterten Straßen, an denen sich dezent zurückhaltend hinter Rhododendron und Rotdorn Villen und Landhäuser reihen.
Es ist still. In der Ferne rauscht gedämmt Verkehr. Verlassen steht dem Bahnhof gegenüber am Anfang einer breiten, leeren Allee an einer einsamen Rufsäule ein einsames Taxi.
Trotz äußerster Anspannung lässt sich Florians Knirps nicht öffnen. Diese verfluchte Automatik! Für einen Moment lenkt sie ihn ab. Doch schon kehren seine Gedanken zurück zu Heiner. Dieses fürchterlich absurde Telefonat: Hilke, kann ich mal Heiner sprechen? Wegen unserem Schachabend. Hilke: Du, er ist nicht da. Schon seit gestern nicht. Keine Ahnung, wo er steckt.
Wie bitte? Was? Warum? Das ist nicht wahr, oder! Heiner nicht da?
Heiner, sein Freund aus Taxifahrertagen, mit dem er die Nächte in den Straßen teilte, über Funk, verabredet am Savigny-, am Kollwitzplatz, am Boxhagener, bei sich zu Hause. Ohne Rücksicht auf den Umsatz. Einfach nur zum Quatschen. Leicht gesagt: Einfach nur quatschen. Niemand bis dahin hatte dem stillen Florian so viele Sätze entlockt, so ungezwungen, so selbstgewiss, so arglos und offen, dass er am anderen Morgen über sich selbst erschrak. Bei Heiner verflüchtigte sich die Furcht, zu viel von sich preis zu geben. Themen gab es genug. Beide studierten, Heiner war mit Biochemie fast fertig und freute sich auf eine gut dotierte Anstellung bei Thurmeisen, Florian steckte in den Anfängen. Beiden finanzierte der Taxameter das Studium. Beide waren solo, Florian schon immer, Heiner erst seit kurzem. Der Name der Verflossenen, „Julie“, ist mit Tinte in seinem Oberarm verewigt bis zur Verwesung. Beide spielen Schach, Florian beherrscht das Damengambitt um die eine oder andere gelernte Variante besser. Kurzum: Heiner ist ein Freund für Florian, sein einziger.
Haselbach tritt aus dem Empfangsgebäude heraus. Blick auf die Uhr am Turm. Dann auf seine eigene. Da römische Ziffern, am Handgelenk arabische. Irgendwo dazwischen die präzise Zeit, mitteleuropäisch, zwischen halb und dreiviertel sechs. Florian kreuzt den Bahnhofsvorplatz, am Taxi vorbei in die Prinz-Friedrich-Leopold-Straße. Am Anfang der Allee leuchten noch vereinzelt Geschäfte, ein Goldschmied, ein Tanz- und Ballettstudio, eine Kosmetikerin, eine Apotheke, ein Schirmgeschäft. Dann aber wird es dunkel, ruhig, anonym. Die Grundstücke nehmen an Größe zu. In manche, scheint es, passt Kreuzbergs Mariannenplatz viermal hinein – bei viermal so viel Pflege. Florian schreitet die Villen ab, ihre Giebel und Säulen, Obelisken und Putten. Ein Divertimento der Gründerzeit, ganz nach Liebe und Laune der Bauherren.
Die Schnörkel, die er sonst bewundert, bleiben unbeachtet. Wo ist Heiner?
Eine Amsel hüpft keck über das Mosaikpflaster des Bürgersteigs. Es ist, als rotiere die Welt hier langsamer. Der Atem geht gleichmäßiger, der Puls schlägt ruhiger, Bronchien und Gefäße weiten sich. Menschen erwartet hier ein längeres, erfüllteres Dasein als in den engeren und lauteren Straßen der Innenstadt. Sagt die Statistik. Florians Puls rast. Wo steckt sein Freund?
Durchnässt, den unbeugsamen Knirps unter der Achsel, stoppt Haselbach vor einem wehrhaften Zaun aus blanken Lanzenspitzen. Das Klingelschild am Portal nennt nur die Hausnummer, keinen Namen. Hinter dem Zaun posiert an einem runden Brunnenbecken breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, ein bronzenes Männeken, das im Bogen Wasser lassend auf eine marmorne Flamme pisst. Dahinter auf einem Hügel eine Villa mit Turm. Eine Treppe zickzackt zu ihr hinauf.
Florian achtet nicht darauf. Was, um des Himmels Willen, ist mit seinem Kumpel los?
Zu ebener Erde steht, so barock wie möglich, eine Garage, zwei Tore und darüber eine Mansarde mit Gauben, einst die Wohnung des Chauffeurs, jetzt Leos Domizil, wenn es ihr nach Aerobic, Badminton oder der Diskothek zu spät wird, um noch zu ihm in die Karl-Marx-Straße zu fahren – oder ganz einfach, wenn sie Streit haben.
Oma Weistritz, die hier anno 45 heimatvertrieben in der Mansarde Zuflucht fand, lernte Florian nicht mehr kennen. Nach ihrem Tode erhielt Leo die Wohnung miet- und, mit Eintritt ihrer Volljährigkeit, zudem sturmfrei. Im Grundbuch steht ihre Mutter, Chefinternistin und Urenkelin des Kommerzienrats Weistritz, einst Patriarch tausender tüchtiger Taschentuchnäherinnen in Lauban und Berlin („Weistritz putzt der Welt die Nase“). Einzig sichtbar gebliebenes Erbe des hinter Oder und Neiße versunkenen Imperiums ist die Villa. Auf deren Garagentür eine Notiz: „Hallo Flo. Bin oben. Bis gleich“. Schiet. Er muss wohl oder übel hinauf zur Villa. Ein schwerer Gang, nicht der Treppe, sondern Leos Eltern wegen, hinter deren freundlichen Mienen er jedesmal, wenn er sie treffen muss, abschätzige Herablassung wittert. Trotz Leos Beteuerungen, sie seien nicht so. Würde er sich weniger ducken, sagt sie immer, dann könne er ihnen besser in die Augen sehen. Wo sei der Unterschied zwischen ihnen? Er sei Akademiker wie sie und wirtschaftlich so selbstständig wie sie sei er auch. Zum Piepen, der alberne Vergleich: Vater und Mutter Baken haben Doktorhüte, allerhöchste Posten und was ihren Haushalt anbetrifft: Putzfrau und Gärtner – das kann Florians Sippe nicht bieten.
Frau Baken? Naja, die könnte mit ihm als Schwiegersohn leben – das spürt er. Aber Leos Vater? Versteht Florian ihn richtig, so sprengt die Vorstellung, der scheue Sohn eines Zeitungsverkäufers könne dereinst Hausherr in Nikolassee werden, seine blühendste Fantasie.
Gleich muss Florian eintreten. Ein letzter vorsichtiger Blick durch das große Fenster in den erhellten Salon. Das Lampenfieber vor seinem Auftritt überlagert seine Bangigkeit um Heiner. Nichts hat sich im Saal verändert seit jenem ersten Abend, den er hier verbrachte: weder der Lüster an der Stuckdecke noch der verschnörkelte große Tisch in der Mitte des Saals, die Fauteuils, die Ottomane, der gewaltige eichene Bücherschrank. Neben ihm hängt nach wie vor in vergoldetem Schmuckrahmen „Die Heimarbeiterin“. Gebeugt hockt sie auf einem Schemel, näht in aller Armseligkeit an einem Fitzelchen Stoff (ein Taschentuch?), ihre kleine Tochter an ihre Schulter gelehnt, zwei Knaben zu ihren nackten Füßen spielend, die kranke Mutter hinter sich im Bett. Das Bild könnte von Liebermann sein, das Gemälde über dem Sofa dagegen eine Koproduktion von Lenbach und Tizian: Kommerzienrat Weistritz mit goldener Uhrenkette und Zwicker, ernst, reputierlich, würdevoll, im Hintergrund Lauban mit dem Turm der von ihm gestifteten Feuerwache.
Kaum zu glauben. Drei Jahre schon ist es her.
Da saß Haselbach hier. Strammer Max bei Professor Baken, eine studentische Tradition. Acht junge Historiker ließen es sich gut gehen bei dem alten Herrn mit dem Schmiss, der hohen Stirn und dem Schnurrbart. Selbstverständlich blieb es nicht bei Schinkenbrot mit Setzei. Auf dem großen Tisch gesellte sich eine Flasche Bier zur nächsten, auf Wunsch auch Wein. Die Stimmung war vergnügt. Baken gab Witziges aus seiner Burschenschaftszeit zum Besten. Man plauderte, man tratschte. Haselbach verhielt sich schweigsam wie immer. Kamen sie aber auf Fachliches, dann kam auch er in Fahrt. Gerade verteidigte er im Stil eines Orators unter dem „Hört, hört“ seiner Kommilitonen gegen Bakens launigen Einspruch den Realitätssinn der Sozialutopisten, da knarrte die Flügeltür. Abrupt brach der Diskurs ab. Acht Köpfe drehten sich verdutzt zur Tür, in der barfuß, in hellem Rock und dunkler Tunika, eine Frau mit langem rötlichem Haar stand, etwas jünger als Florian. Kess schaute sie in die Runde, lächelte und fragte: „Wären die Herren Studenten so frei, mir zuliebe auf einen Tropfen Wein zu verzichten?“ Ohne die Antwort abzuwarten, ohne sich vorzustellen schwebte sie zum Büffet. Griff nach Glas und Flasche und goss sich einen Spritzer ein. Hin zur Ottomane, auf der sie sich ausstreckte. Die Lippen am Glasrand ließ sie ihren Blick umherwandern, den einen Studiker genauer musternd als den anderen. Sie sprach nichts, sondern schmunzelte nur amüsiert, auch als ihr Vater fragte, ob sie nicht das Gefühl habe, dass sie störe.
Haselbach tat unbeeindruckt. Mit brustvollem Eifer kämpfte er zirka zweieinhalb Schachtelsätze weiter, ehe er sich holterdiepolter wie aus heiterem Himmel mit seinen Sozialutopisten in ulkige Widersprüche verhedderte. Seine Kommilitonen begannen zu utzen, Baken übernahm humorvoll wieder das Ruder und gab erneut der Heiterkeit Raum. Florian versank im Polster, fühlte sich von der Ottomane her gezoomt und verstummte. Bald schwebte die Schöne, wie sie gekommen war, davon. Zurück blieb ein Weinglas mit rotem Lippenabdruck. Direkt vor Florian.
Es dauerte nicht mehr lange, da löste sich die Runde auf und man stakste so sicheren Fußes wie noch irgend möglich die Stufen zur Straße hinab.
Am folgenden Tag ging es vor und nach dem Hauptseminar natürlich allein um des Professors Tochter, diese arrogante Tussi, nur hübsch, sonst nichts. Eine Woche später stand sie leibhaftig vor Haselbachs Wohnungstür und bald darauf mit seinem Schlüssel und ihren Koffern.
Hätte Professor Baken sein Kind so weit gekannt zu wissen, dass sie zu mehr als einem Flirt fähig sein kann, hätte er ihr Florians Anschrift sicherlich nicht im Sekretariat heraussuchen lassen. Was Leo von der Ottomane aus genoss, war nämlich ein Merkmal, das ihrem Vater gründlich missfiel: Die seltene Konsequenz, mit der dieser Jüngling seinen Standpunkt vertrat. Ihr Gespür stimmte: Geht es um Wahrheit, Gerechtigkeit oder was Haselbach nach langem Überlegen dafür hält, so verteidigt er diese, falls sie ihn berührt, gegen jeden vermeintlichen Irrtum, selbst wenn diesem ein Professor aufsitzt. Und er, der Scheue, scheut keine Konsequenzen. Leo liebt dies. Sie würde es bald wieder erleben.
Das Portal geht auf. Leonore mit der bronzenen Klinke in der Hand und einem Kuss auf den Mund. Dahinter das Vestibül mit den Vestalinnen in den beiden Nischen. Geradezu die flamboyante Garderobe, an die Leo Florians triefende Jacke hängt. Daneben der handgeflochtene chinoise Regenschirmständer, in den sie seinen verzogenen Knirps stukt. Nach links zum Salon hin der venezianische Spiegel, vor dem Leonore ihm die nassen Haare aus der Stirn streicht.
Als erstes aber die Nachricht, so ungeheuerlich, dass sie sofort heraus muss:
„Du, Heiner ist verschwunden.“
„Wie bitte?“
„Ja, verschwunden. Ich rief an. Wollte den Schachabend absagen. Hilke war dran, völlig aufgelöst. Hat keine Ahnung, wo er steckt. Seit gestern Mittag ist er weg. Wollte noch etwas für unseren Schachabend besorgen und dann kam er nicht wieder. Sie hat die Polizei alarmiert.“
Leonore braucht einen Moment, um die Nachricht zu begreifen.
„Die Polizei? Was soll denn passiert sein?“
„Weiß nicht. Aber Leo, er ist noch nie weggeblieben ohne etwas zu sagen.“
Leo schaltet. Das ist wohl wahr. Sie erschrickt. Denkt nach.
„Und Robert und Ricarda?“
„Den Kindern hat sie erzählt: ,Papa ist auf Dienstreise.‘ Hat sie aber nicht beruhigt. Sie ist ja selbst völlig durcheinander.“
Die Salontür geht auf. Frau Baken steht in der Tür.
„Möchtet ihr nicht hereinkommen, oder haben Sie Angst vor uns?“
Florian lacht gezwungen. Fassung wahren. Nur nichts anmerken lassen. Angst? Stimmt normalerweise. Aber jetzt ist ihm anders zumute.
„Angst? Doch nicht vor Ihnen, Frau Baken!“
Sie zieht seinen nassen Kopf vorsichtig zu einem Wangenkuss an ihr Gesicht und ihn dann in den Wohnraum. Ihr Mann nickt aus seinem Lehnstuhl einen flüchtigen Gruß herüber, blättert die Zeitung um und faltet sie neu. Leo im Sessel neben sich, spitzelt sich Florian mit seiner nassen Hose vorsichtig auf eine Stuhlkante, Hab-acht-Stellung, bereit zur Konversation.
Die eröffnet Leos Mutter: Scheußliches Wetter und Florian so durchnässt (er nickt). Sei ganz feucht hinter den Ohren (er lächelt). Könne sich im unteren Badezimmer föhnen (er dankt). Ob er ohne Schirm sei. Sie kauften sich bei jedem Guss einen neuen. Er möge sich ein Modell aussuchen, nachher im Keller, sie empfehle eines von Oertel oder von Brigg, nicht mehr ganz chic, aber strapazierfähig und regenfest.
„Haben Sie letzte Nacht etwas abbekommen, Florian? In den Nachrichten sah es aus, als brannte ganz Kreuzberg.“
„Mutter“, korrigiert Leo. „Wann merkst du dir das mal: Wir wohnen in Neukölln. Da war es den Abend ruhig.“ Und nach einer Pause zu Florian: „Was wollte Ali eigentlich von dir?“
„Chaoten haben sein Auto angezündet und jetzt will er herauskriegen, wer es war.“
„Gibt’s doch nicht!“ platzt es aus ihr heraus. „Ausgerechnet der Wagen von deinem Vater.“
„War wohl ein Versehen. Die Brandstifter haben anonym einen Brief geschrieben, mit der Bitte um Entschuldigung und ein paar Geldscheinen drin.“
Baken lacht und blättert um.
Seine Frau mustert ihn scharf. „Professor, hättest du die Freundlichkeit, wenn du dich an unserer Unterhaltung beteiligst, dies aktiv zu tun?“
Baken blättert seelenruhig weiter.
„Hat Ihr Vater Anzeige erstattet?“ fragt sie.
„Noch nicht. Er versucht erst auf eigene Faust die Täter zu finden.“
„Aber dann!“, setzt Frau Baken nach.
„Nein. Wenn sie sich zu erkennen geben, dann gerade nicht.“
„Was? Keine Anzeige?“
„Nein. Nur wenn sie sich nicht bei ihm melden.“
Baken kann sein Lachen wieder nicht unterdrücken.
Auch Leonore beginnt sich über den großohrigen Zeitungsleser im Lehnstuhl zu ärgern. „Komm, Florian, ich glaube es ist Zeit, dass wir aufbrechen. Der Lehrstuhlinhaber da drüben hat seinen Knigge offenbar im Hörsaal liegen gelassen.“
„Möchten Sie nicht eine Tasse Tee, Florian?“ kontert ihre Mutter, im Rettungseinsatz für die Situation.
„Nein, danke. Vielen Dank übrigens auch für die Theaterkarten. Warum gehen Sie nicht selbst?“
Leo steht schon an der Tür. „Stell dir vor, es ist sogar eine Premiere. Meine Eltern haben sich dummerweise für heute Abend zum Essen verabredet, ohne auf ihren Kalender zu gucken.“
„Glücklicherweise“, verbesserte Florian. Die Drei schmunzeln. Leo drängt. „Aber wir müssen jetzt los, Flo.“
„Kennen Sie ‚Die Räuber‘?“ schiebt ihre Mutter ein, immer noch nicht aufgebend.
„Ja, ich glaube“, sagt Florian und zitiert absichtlich falsch: „Der Mohr hat seine Arbeit getan, der Mohr kann gehen.“
„Der Satz ist aus Othello“, brummt es hinter der Zeitung, die sich plötzlich senkt. Das Eis bricht. Na endlich. Ein Spiel um Worte beginnt.
„Othello? Wirklich? Oh, dann irre ich wohl. Aber ich meine, irgendwo kommt ein Moor auch in den Räubern vor“, antwortet Florian. Augenzwinkern zu Leo hinüber. Ihr Vater wird vorgeführt und merkt es nicht. Recht geschieht ihm.
„Natürlich, die beiden Brüder heißen von Moor, es sind die Protagonisten“, doziert Baken, „aber mit Ihrem Zitat irren Sie sich, Herr Haselbach.“ Baken blickt über seinen Brillenrand: „Der Satz heißt ,Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan‘ und es spricht ihn der Mohr von Venedig, nicht der Moor von Schiller.“
„Ist der Satz nicht von Schiller? Oh, pardon. Aber von wem ist er dann? Der Name Schiller sagt mir was, aber wer ist Venedig?“
Jetzt registriert auch Baken, dass man ihn zum Besten hält. „Mein lieber Herr Haselbach, ihnen kann nicht mehr geholfen werden“, sagt er noch. Dann versuchte er seine Ruhe im Lokalteil wiederzufinden.
„Professor, wo bleibt dein Humor?“, mahnt seine Frau.
„Wo der ist?“ Baken holt tief Luft und tippt auf die Schlagzeile vor ihm. „Wenn du das hier liest, kann dir der Humor vergehen. Da hat sich gestern einer vor einen ICE geworfen, in Halensee. Völlig zermatscht. Nicht mehr identifizierbar. Aber zwei Stunden lang hat er die Züge durcheinander gebracht. Deinen wohl auch, Leonore.“ Der provokante Professor fährt fort: „Suizid – na gern! Der Mann wird seine Gründe gehabt haben. Aber wenn es unbedingt Gleise sein müssen, dann bitte sehr an einem weniger verkehrsreichen Ort, am besten auf einer stillgelegten Strecke. So eine mit Draisinenbetrieb. Gibt ja inzwischen genug davon.“
„Vater!“
„Georg! Den Zynismus nimmst du sofort zurück!“
„Flo, lass uns endlich gehen. Wir kommen noch zu spät.“ Allerhöchste Zeit sich zu empfehlen, ehe die Eheschlacht so richtig ausbricht. Leo nimmt Florian bei der Hand und zerrt ihn vom Acker, auf dem es gleich brennen wird. Frau Baken, den Gatten als Gegner im Visier, lässt sie abziehen. Florian ist erleichtert. Er kennt die Kombattanten und er kennt Leonore, den Apfel dieses Stammes. Besser: Er meint sie in einer Vertrautheit zu kennen, die erst erschüttert wird, wenn überraschende Umstände zwingen, sich neu zu akzeptieren oder zu trennen. Diese Entscheidung, die hätten Florian und Leonore zu treffen – bald schon und völlig unerwartet.
Als sie aus dem Foyer treten, hat es zu regnen aufgehört. Das hell erleuchtete Theater bescheint den nassen Vorplatz. Lichter und Lampen spiegeln sich in den Pfützen. Ein Zeitungsverkäufer hält geduldig die Schlagzeile des kommenden Tages in die Höhe. Konjunktur belebt sich. Taxis rollen vor, Türen springen auf, knallen zu. Dann entschwinden die Wagen in der Dunkelheit, wohin auch immer. Florian steuert auf Leos Auto zu. Sie hakt sich beschwingt unter und korrigiert sachte seinen Kurs in die Richtung einer Kneipe, „Alter Fritz“.
„Lass uns da drüben noch was trinken gehen, ja?“
Er leistet keinen Widerstand.
„Da haben deine Eltern was verpasst.“
„Ja, die Inszenierung war erste Sahne.“
„Und dennoch, bei aller Klasse: Klar ist mir das Stück auch auf der Bühne nicht geworden.“
„Wieso?“
„Weil es so einen wie diesen Karl Moor nicht geben kann. Ein schillersches Hirngespinst.“
Kichern.
„Ja, lach nur, aber schau mal: Der ist glücklich, adlig, reich. Wie kann so einer zum Räuberchef abdriften? Angeblich nur, weil er meint, er sei bei seinem Vater unten durch. Ein für allemal. Schließlich spielt er total verrückt, ermordet seine Geliebte und stellt sich der Polizei. Frag mal einen Gerichtsgutachter: Mental und sozial nicht zu erklären.“
„Ich kenn zwar keinen Gutachter, aber ich versuch’s gleich selbst mal. Lass uns erst mal reingehen.“
Ein freier Tisch findet sich. Der Kellner bringt sofort die Speisekarte, zündet eine Kerze an und nimmt die Karte unbesehen wieder mit. Mit zwei Gläsern Rotweinschorle kehrt er zurück. Fridericus Rex blickt aus dem ovalen Rahmen über ihre Schultern. Greis und gnädig. Eine Ulkuhr zeigt seitenverkehrt halb drei an, die Zeit rennt gegen den Uhrzeigersinn.
Leonore hebt ihr Glas: „Auf deinen ratlosen Gutachter!“, nippt und setzt hinzu: „Und auf unseren Schiller.“
„Auf seine Räuber? Mit Verlaub, ich weigere mich.“
Leo stößt sein abgestelltes Glas an. „Auch auf seine Räuber! Ich finde nämlich, seine beiden Brüder, der Bandit und der Ehrenmann, sind Typen, die zeitlos sind.“
„Karl Moor ein zeitloser Typ? Der ist doch so zeitlos idealisiert wie der arme Störtebeker, der jeden Sommer Abend für Abend auf Rügen kopflos über die Bühne tingeln muss. Erinnerst du dich?“
„Ralswiek. Tapferer Kerl, ja. Und dennoch, an dem Moor ist was Wahres dran.“
Leo zupft an einer Plastikrose in der Vase vor sich, in Gedanken, auf der Suche nach Worten.
„Flo, der arme Moor ist verzweifelt. Ihm ist Schlimmes passiert, so schlimm, dass er es nicht verkraftet. Sein Geld ist futsch, die Liebe des Vaters – meint er – auch. Der Bruder ist ein Intrigant, die Geliebte erkennt ihn nicht mehr. Da würdest du auch ausrasten! Der Junge wird zum Desperado. Ist das nicht verständlich, Flo? Dass einer Amok läuft, weil er emotional mit sich nicht klar kommt: das geschieht doch immer wieder. Das könnte selbst dir passieren.“
„Ich bin aber eine gefestigte Persönlichkeit.“
Leo prustet los.
„Welcher Gutachter hat denn das festgestellt?“
„Sag ich dir später. Aber mal im Ernst: Wo im wahren Leben gibt es so edle Räuber, die ihre Beute Bedürftigen schenken und sich am Ende auch noch einem Hartz-IV-Empfänger ausliefern, damit der bei der Polizei die Belohnung kassieren kann…“
„… die ihm der nette Herr von der Arbeitsagentur gleich wieder abknöpft. – Ich sag‘s dir gleich.“
Unterbrechung. Ein dunkelhäutiger junger Mann tritt an den Tisch, in Jackett und Jeans mit zertretenem Saum, und präsentiert einen Strauß aufgeblühter dunkelroter Baccara. Leo nimmt Florian die Antwort ab: „Vielen Dank, aber das ist leider nicht meine Sorte.“ Der Rosenverkäufer tut, als hätte er verstanden, nickt, wendet und hält die Blumen über den Nachbartisch.
„Jetzt bin ich aber auf deinen real-idealen Räuberhauptmann gespannt.“ Florian lehnt sich zurück.
„Zugegeben, Flo, so ideal wie bei Schiller findest du den Kriminellen der guten Tat nirgends. Aber jetzt hör mal auf mein psychologisches Gutachten. Also, da gibt es einen Herrn XY, der lebt ganz weltfremd moralisch und noch schlimmer: Er ist von einer grandiosen Idee besessen.“ Leo zieht die Plastikblume aus der Vase und dreht sie nachdenklich in der Hand.
„Ist das die schöne Idee?“ Florian grinst.
„Siehst du doch! Aber bring mich jetzt nicht aus dem Tritt. - Herr XY meint, dass diese seine Menschheitsidee verwirklicht werden muss. Sie beherrscht ihn total, sein Denken, Fühlen und sein Tun. Er kämpft für sie, leidenschaftlich und mit großen Opfern.“
Die Blume in Leos Hand zeichnet unsichtbare Kreise auf der Tischplatte, als entstünde darauf das Phantombild des Herrn XY. „Aber überall stößt er auf Ablehnung. Bei seinen Mitbürgern, die politisch kein Interesse, bei den Mächtigen, die ganz andere Interessen haben. Der gefühlte Innendruck steigt in dem Maße an, wie die Außenwelt seine Möglichkeiten zu handeln blockiert. Verzweiflung über seine Ohnmacht übermannt ihn, treibt ihn so an, dass er am Ende nicht davor zurückschreckt, Mittel anzuwenden, die mit seinem strikten Idealismus selbst unvereinbar sind.“
Leo wendet die Blume und piekst mit dem Drahtstengel Florians Brust. Der sinkt getroffen zur Seite. „Ihr Stich, Frau Gutachterin. Aber wo sind die Zeugen?“
„Das fragen ausgerechnet Sie, Euer Ehren, Einser-Historiker, der Sie sind? Sie kennen sie doch, die Kronzeugen.“
Florian zuckt mit den Achseln.
„Mein lieber Herr Haselbach, rufen Sie sie nur auf. Sie stehen vor dem Gerichtssaal Schlange.“
Zu köstlich, die Leo. Florian unterdrückt seinen Spaß an Leos Vorstellung. Der Theaterabend findet seine Fortsetzung. Was lässt sie sich als nächstes einfallen? Sie steckt die Blume zurück in die Vase. Ohne Requisiten fährt sie nach einigem Überlegen fort, äußerlich ruhig. Aber in ihr flackert es. Florian hört es an der Quinte, um die ihr Ton fällt.
„Herr Richter, auf Ihren Ruf treten sie ein, die Zeugen. Einer so gewaltsam wie der andere. Und alle nehmen Platz auf der Anklagebank, neben- und hintereinander. Ganz vorn, die Dolche nicht mehr im Gewand, Athens Tyrannenmörder. Dann, ebenso entwaffnet, Spartacus und Brutus. In der nächsten Reihe, ihrer Parolen, Bomben und Pistolen ledig, die Freiheitskämpfer, Gotteskrieger, Revolutionäre und Rebellen aller Zeiten. Dann die Bürgerrechtler und Anarchisten, die Männer und Frauen der Resistance, neben ihnen genauso stolz Grynszpan, Elser und Stauffenberg. Und wenn in der letzten Reihe noch ein Plätzchen frei ist, pardon, quetschen sich dorthin unsere Stammheimer Terroristen, auch sie den dies irae vor sich: Vergebung oder Verdammnis. Und Sie werden über ihre Aussagen staunen, Richter Haselbach. Denn alle ähneln sie Karl Moor und Herrn XY in einer Hinsicht: Sie wollten jeder und jede zu ihrer Zeit nach ihrer Nase die Welt verbessern, ohne Rücksicht darauf, ob uns Heutigen die Nasenrichtung passt oder nicht.“
Punktum. Florian klatscht leise Beifall. Leonore steht auf, verneigt sich vor ihm und als sie die Aufmerksamkeit an den Nachbartischen bemerkt, belustigt auch zu diesen. Florian errötet. Er hielt sich für den einzigen Zuhörer. Gedämpft setzt er fort: „Hervorragendes Plädoyer, Frau Anwältin. Aber es lässt Einen außer Acht: Franz Moor. Wo findest du einen Schurken von diesem Kaliber? Erbschleicher, wirft den alten Vater ins Verließ, hintergeht den Bruder und macht sich auch noch an dessen Geliebte heran. So viel Widerwärtigkeit auf einmal. Ich glaube, wir könnten in Gerichtsakten blättern so viel wir wollten, wir fänden einen solchen Fall nicht.“
„Da gebe ich dir recht.“
„Dann sind wir uns ja letztlich einig.“
Leo knetet das weiche Wachs der Kerze. Die Flamme züngelt aufgeregt.
„Nicht ganz, lieber Florian. Ist dir nicht aufgefallen, dass Franz vorhin auf der Bühne der einzige war, der moderne Klamotten anhatte? Nadelstreifenanzug und Fliege.“
„Ja, und?“
„Markenzeichen der Bosse“, meinte Leo, „Outfit der eiskalten Supermanager. Ebenso eiskalt servierte Franz den alten Vorstand des Familienkonzerns ab, seinen Vater, den Patriarchen, zu lieb zu seiner Belegschaft. Raus mit ihm im Namen des Gewinns. Produktivitätsmaximierung ist die Maxime, Lohnkürzungen und Entlassungen die Mittel dazu.“
„Nu mal halblang, Leo. Eben noch Anwältin, jetzt Betriebswirtin. Was du hier auftischst, ist das nicht ein bisschen dicke? Das hat doch mit dem Stück nichts mehr zu tun!“
„Und ob. Hast du Franz Moor nicht zugehört, als er sich für den Herrn im Haus hält? Wir lesen die Stelle morgen bei dir noch mal nach, ja? Und was die Gerichtsakten anbetrifft: Die eine oder andere Szene kriminellen Managements kannst du auch dort schon finden. Such dir das Vitaminpräparat aus, vor dem dir am meisten ekelt. Die rote Liste ist lang: Bestechung, Bedrohung, Begünstigung, Barbesuche, Bordellnächte, Bargeld für das brasilianische Busenwunder des Betriebsrats. Die Perfidie kennt keine Grenzen.“
Wieder könnte Florian applaudieren, wären da nicht die Augen und Ohren der anderen Gäste – und sein Hang zur Ordnung, der geheiligten, gegen die Leonores Polemik hallend hämmert. Zu kraftvollem Widerspruch mangelt es ihm, dem Medienabstinenten, an Argumenten. Lasch kommt seine Verteidigung: „Übertreib mal nicht, Leo.“
„Ich untertreibe. Mir stinken die großkopfeten Gewerkschaftsbosse, die kleinlaut ihre Fahne eingerollt an der Garderobe der Vorstandsetage abgeben. Und ich habe die Nase voll von leitenden Angestellten, die ihre Luxusdienstreisen mit ihren Sekretärinnen auf den Spesenzettel setzen.“
„… spricht die zukünftige Assistentin eines Direktors“, wirft Florian ein, schwache Replik eines Unüberzeugten. Leonore schaut ihn scharf an, ihre Lippen werden dünn, der Mund spitz, die hohen Wangenknochen ihres schlanken Gesichtes treten kräftiger heraus, so als sei sie auf dem Sprung zuzubeißen. Er sieht auf einen Blick: Witzig fand sie seine Bemerkung nicht. Beklommenes Aufatmen, als Leo ihr Glas leert und vorschlägt zu zahlen und heimzufahren. Morgen früh schrille wieder der Wecker.
Nein, überzeugt hat Leonore Florian erneut nicht, so ausgesucht sie auch diesmal wieder gesprochen hat. Er merkt sich, wie immer, ihre Worte, aber sein Begriff von Ordnung, auch der einer Gesellschaftsordnung mit oben und unten und all ihren Abstufungen, für jeden betretbar, hinauf und herunter, dieser Begriff, festgemauert wie eine Kirchenburg, hat so wenig Schaden genommen wie eine Altardecke nach umgekipptem Messwein. Seinen Glauben an Ordnung und Gerechtigkeit zu erschüttern, reichen Leonores Mörser bei aller Macht ihrer Munition nicht aus. Hätte gleichzeitig Heiner Geschütze aufgefahren und ihm Schach geboten, vielleicht dann … Aber Heiner ist nicht zugegen und niemand weiß, was mit ihm los ist.