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Mörderische Eifel
ОглавлениеDer schwere Regen hat aufgehört, ist in ein leichtes Nieseln übergegangen. So ein Nieseln kann die ganze Nacht weitergehen. Ich weiß das. Hab genug Nächte wie diese erlebt. Das alte Kopfsteinpflaster schimmert im Licht einer trüben Laterne. Wenn jetzt noch Nebel vom Fluss hochsteigt …
Eine Szene wie in einem alten Edgar-Wallace-Film – kurz bevor der Kinski um die Ecke schleicht oder Blacky Fuchsberger einem hübschen Mädchen zur Hilfe eilt, das er am Ende natürlich heiraten wird. Heute Nacht aber würden kein Kinski und kein Fuchsberger auftauchen, und die schummrige regennasse Gasse liegt auch nicht in den Londoner Docks, sondern mitten in der Kölner Altstadt. Ich stehe im Schatten, zurückgezogen in einem schmalen Durchgang zwischen zwei Häusern. Unsichtbar selbst für den, der diesen Durchgang sorgfältig in Augenschein nehmen würde. Natürlich unsichtbar! Aber hallo, wenn ich an einem solchen Abend an einem solchen Ort auffallen würde, hätte ich echt den falschen Job. Keine 20 Meter die Straße runter öffnet sich eine Kneipentür. Eine breite Lichtbahn ergießt sich auf das Pflaster. Wie eine Landebahn für angetrunkene Altstadtbesucher. Musik, Gläserklirren, Stimmengewirr und schallendes Gelächter aus der Kneipe bilden die akustische Begleitung zur Lichtlandebahn. Abstoßend und einladend zugleich. Fast hätte ich bei dem ganzen Krach das Auto überhört, das langsam aus einer Seitenstraße rollt. Meine Zielperson ist angekommen.
Ich greife unter die Jacke, ziehe meine Lieblingswaffe, auf die ich schon den Schalldämpfer geschraubt habe. Sie leistet mir schon seit Jahren gute Dienste, ich schätze ihre Zuverlässigkeit und Zielgenauigkeit. Obwohl – auf diese kurze Distanz ist ein Fehltreffer undenkbar. Das kurze trockene Ploppen des Schusses wird keinem auffallen. Himmel, bei dem Kneipenlärm hätte ich nicht einmal einen Schalldämpfer gebraucht. Aber da gehe ich lieber auf Nummer sicher.
Meine Auftraggeber schätzen das. Ich sei ein Perfektionist, der auch auf die kleinsten Details achtet, hatte mir einer gesagt. Ein anderer nannte mich mal einen Korinthenkacker, kann sein, dass er das als Kompliment gemeint hatte, er lebte aber nicht mehr lang genug, um es mir zu erklären. Ich denke einfach, ich habe einen Hang zur Gründlichkeit. Ohne mich jetzt selber loben zu wollen, sorgt diese Gründlichkeit für meinen guten Ruf in der Branche. Ich kann mir meine Aufträge aussuchen. Keine Ehestreitigkeiten oder Scheidungskisten, keine Frauen, keine Kinder – da gibt es bei mir ganz klare Grenzen. Das da vorne in der schwarzen S-Klasse mit den getönten Scheiben ist definitiv kein Scheidungsfall und auch keine Frau. Hinten im Auto sitzt Joseph, »Drei-Finger-Joe« Parretti, Oberhaupt des New Yorker Parretti-Clans. Drei-Finger-Joe besitzt, soweit ich weiß, noch alle Finger. Nur bei Männern, die ihm in die Quere kommen … da fackelt er nicht lange rum.
Joe ist mitten in seiner Europareise, um die familiären Wurzeln kennenzulernen und nebenbei den einen oder anderen Deal einzufädeln. Jedenfalls hat es ihn ins gute, alte Köln verschlagen. Man munkelt, dass er im Schatten des Doms mit Vladimir Romelski verhandelt. Vladi der Schlächter, und Drei-Finger-Joe – quasi Seelenverwandte. Nun, meine Aufgabe ist es, die trauten Geschäftsgespräche zu unterbinden. Man kann keine Geschäfte mit jemanden machen, der mit ein, zwei Kugeln im Kopf auf dem Altstadtpflaster liegt – ganz einfache Sache. Deshalb warte ich ja hier im Nieselregen. Ich entsichere die Pistole. Zwei Schüsse, kurz hintereinander, und schon ist es vorbei mit Parrettis Europatrip.
Natürlich steigt Joe Parretti nicht selber aus, er wartet, bis sein Fahrer ausgestiegen ist, um ihm die Tür zu öffnen und den Schirm hinzuhalten. Immerhin bleibt der Fahrer nicht an seiner Seite, sondern übergibt ihm den Schirm. Ich hebe die Pistole, ziele – und plötzlich ist es wieder da: das Zittern. Meine rechte Hand zittert, als hätte ich schlagartig Schüttelfrost bekommen. Der Lauf mit dem Schalldämpfer zuckt wie ein Lämmerschwanz. Ich atme tief durch, nehme die andere Hand zur Hilfe, stütze die Schusshand ab. Doch in diesem Moment tauchen die drei Mädels auf. Laut kichernd laufen sie genau in die Schussbahn, und als sie quälende drei Sekunden später wieder mein Ziel freigeben, ist Parretti schon in einem Hauseingang verschwunden.
Ich schließe die Augen. Dieses leise Stöhnen – war ich das gerade gewesen? Schweißtropfen rinnen mir von der Stirn. Mit zitternden Händen schiebe ich die Pistole zurück in das Schulterhalfter. Lichtflecken tanzen plötzlich über das Pflaster, ich blinzle sie weg. Scheiße, das ist mir so noch nie passiert. Na ja, nicht ganz. Vor zwei Wochen, als ich in Frankfurt den Job erledigen wollte, hat das mit dem Zittern angefangen. Zum Schluss musste ich den Kerl vom Dach stoßen, ehrlich, das war so nicht geplant gewesen. Ich lehne mich an die regennasse Hausmauer und versuche mich zu beruhigen. Was ist nur los mit mir?
*
Zwei Tage später …
»Sicher fragen Sie sich: ›Was ist nur los mit mir?‹ Und die Antwort scheint mir eindeutig. Aber lassen Sie mich Ihnen zur Sicherheit noch ein paar Fragen stellen.«
Ich nickte zustimmend, deshalb saß ich ja in dem hohen schwarzen Ledersessel bei Dr. Samuel Wertmann und versuchte, nicht an das fürstliche Honorar zu denken, das er mir ohne Zweifel für diese Privatuntersuchung in Rechnung stellen würde. Um ehrlich zu sein, würde ich ihm auch bereitwillig jeden Bonus zahlen, wenn nur das verdammte Zittern aufhören würde. Noch so einen Reinfall wie in Köln, und ich war weg vom Fenster. Ein gescheiterter Auftrag spricht sich ja so was von schnell in der Branche herum. »Also, Herr Belke, im Grunde sind Sie topfit, körperlich gesehen: Lungenvolumen, Blutwerte, Cholesterinspiegel, alles bestens. Ihre Reaktionsfähigkeit – alle Achtung, solche Werte habe ich noch nie gesehen. Aber Ihr Augenzucken, das Zittern, die Schlafstörungen, die Sie erwähnten … Sie machen beruflich was genau?«
»Ich bin freier Unternehmensberater.«
»Eine anspruchsvolle Aufgabe, vermute ich. Man verlässt sich auf Ihre Kompetenz?«
»Schon. Für viele bin ich so eine Art Problemlöser.«
»Das dachte ich mir. Ja, das passt. Ich will Sie jetzt nicht mit Fragen überfallen, aber ich habe da so einen Verdacht. Sie haben dieses Zittern immer wann?«
»Kurz vor einem Abschuss … äh – ich meine Abschluss«, Wertmanns forschender Blick brachte mich ganz durcheinander, »sozusagen auf der Zielgeraden, wenn ich ein Projekt …«
»Herr Belke, entschuldigen Sie, wenn ich Sie kurz mal abwürge.«
Ich zuckte beim Wort würgen zusammen, Wertmann nahm davon aber keine Notiz.
»Mir scheint das doch ein stichhaltiger Hinweis zu sein. Ich wage mal einen Schuss ins Blaue: Sie stehen jedes Mal bei einem Ihrer Abschlüsse unter enormem Erfolgsdruck, nicht wahr?«
»Genau, alles läuft prima, aber dann, wenn es sozusagen ans Eingemachte geht …«
»Kommt das Zittern«, ergänzte Dr. Wertmann. »Wie sieht es mit Schweißausbrüchen oder Sehstörungen aus? Ja? Dachte ich mir. Schwindel und Kopfschmerz?« Wertmann quittierte mein Kopfschütteln mit einem zufriedenen Brummen.
»Tja, es ist ganz eindeutig, Herr Belke. Sie sind überarbeitet. Zuviel Stress, mancher würde das jetzt neudeutsch als Burn-out bezeichnen, ich nenne es extrem erholungsbedürftig. Wann waren Sie das letzte Mal im Urlaub?«
Ich dachte nach. Der Kurztrip nach Rimini für den Doppelmord zählte wahrscheinlich nicht, und die Fahrt letzten Sommer an die Ostsee, wo ich den Stahl-Erben auf dem Surfbrett ertränken musste, ließ Dr. Wertmann sicher auch nicht gelten.
»Wenn Sie so lange überlegen müssen, ist das bestimmt schon eine Weile her. Sie müssen mal raus aus Ihren Verpflichtungen, sich vom Job lösen.«
»Sie meinen, wenn ich mal ein Wochenende freimache …«
»Herr Belke! Wir reden hier von einem ernsthaften Problem.«
Wertmanns Stimme hatte an Schärfe zugelegt. »Erstens sollten Sie mal mindestens eine Woche völlig abschalten, damit meine ich: Vermeiden Sie alles, was Sie an Ihre Arbeit erinnert. Zweitens müssen Sie Ihre Grundeinstellung ändern. Sie müssen wieder lernen sich zu entspannen. Sagen Sie sich: Keiner stirbt, wenn es mal nicht 100-prozentig klappt.«
Da hatte er verdammt recht.
»Lassen Sie zu, dass sozusagen auch mal ein Schuss danebengeht.«
Von wegen, da könnte ich ja gleich einpacken.
»Akzeptieren Sie, dass nicht immer alles perfekt sein muss. Manchmal reicht es auch, wenn ein Job ›quick and dirty‹ zu Ende gebracht wird.«
Wie jetzt? Quick and dirty? Ich konnte doch künftig nicht jede Zielperson vom Dach werfen. Wie stellte sich Wertmann denn das bitte vor?
»Ich sehe an Ihrer Miene, dass Sie mir immer noch nicht glauben, Herr Belke.«
»Doch schon, Herr Doktor, aber es ist nicht so leicht, wie Sie sich das vorstellen.«
Wertmann lehnte sich zurück und fing in seinem Chefsessel an zu wippen.
»Also mein Schwager, Herr Belke, ist ein hohes Tier bei der Deutschen Bank. Der hatte ein ganz ähnliches Problem. Wissen Sie, was dem geholfen hat? Eine ruhige, entspannte Woche in der Eifel. In Bad Bertrich hat er diesen landschaftstherapeutischen Park besucht. Das hat Wunder gewirkt. Ein paar Stunden in der Vulkaneifeltherme im naturwarmen Glaubersalzwasser – Sie werden sehen, das bringt Sie wieder auf die Beine. Dazu die saubere Luft, die Stille der Landschaft. Die haben mittlerweile sogar Entspannungscoaches, die Ihnen beim Entschleunigen helfen. Damit sollten Sie anfangen, und nach der Woche Auszeit beginnen wir damit, die Stressursachen in Angriff zu nehmen. Vor allem aber: Vergessen Sie Ihre Arbeit, sonst werden Sie sich nie erholen.«
*
Am nächsten Tag
Ich hatte gleich das Gefühl, dass es der falsche Sitzplatz war. Aber der ganze Reisebus war voll, und der einzige freie Platz war der neben der alten Dame.
Kricks – es knackte im Lautsprecher. Pop, pop, pop, jemand schlug mit dem Finger gegen ein Mikrofon.
»Der Herr im Gang, würden Sie sich bitte auch hinsetzen.«
Der halbe Bus schaute zu mir herüber. Bei so viel Aufmerksamkeit wurde ich ganz kribbelig. Die letzten zehn Jahre hatte ich darauf geachtet, möglichst unauffällig zu bleiben, und ich stand keine fünf Minuten im Bus, und schon würde sich jeder der Reisegesellschaft an den großen Kerl erinnern, der es nicht geschafft hatte sich hinzusetzen. Prima, das fing ja gut an.
»Setzen Sie sich, junger Mann, setzten Sie sich. Ich beiße nicht. Und ansehnlicher als Omma Brock bin ich allemal, hihi.«
Die alte Dame am Fenster kicherte in sich hinein, während sie mit ihrer altersfleckigen Hand auf das Sitzpolster klopfte.
Ich seufzte und setzte mich, was hätte ich auch tun sollen. Ich schloss kurz die Augen. Sich anonym fahren zu lassen, schien mir gestern noch eine gute Idee zu sein, aber jetzt kamen mir erste Zweifel.
»Sagen Sie mal, junger Mann, is’ Ihnen nicht gut? Oder haben Sie einen neben sich stehen? Sie wissen schon, wie der Herbie Feldmann von dem Kramp?«
Ich öffnete die Augen. Ich kannte weder eine Omma Brock noch wusste ich, was die Dame mit Herbie Feldmann meinte, aber das war mir eigentlich auch egal. Ich wollte mich entspannen, nur entspannen.
»Belke, Michael Belke. Ich bin etwas müde. Ich …«
»Katharina Schmeller, Sie können aber gern Tante Käthe sagen, sagen alle, die mich kennen, und ich sag einfach Michael«, unterbrach mich die Dame. »Und wir bleiben beim Sie.«
Ich blinzelte sie verdutzt an. Mittelgroß, nicht gerade schlank, dunkelblaue Stoffhose, fliederfarbene Bluse, Alter irgendwo zwischen 70 und 80, würde ich schätzen. Graue Dauerwellenlöckchen und ziemliche viele Lachfalten um die Augen.
Kricks – »Ja, hallo. Herzlich willkommen, liebe Fahrgäste. Unser heutiger Kapitän der Landstraße ist Willi Kappski. Mein Name ist Udo, und während sich Willi auf die Straße konzentriert, werde ich Ihnen in den nächsten Stunden alles Wissenswerte verraten. Wobei ich hier gerade auf der Liste sehe, dass wir einen prominenten Gast an Bord haben. Ich freue mich, dass sie wieder mal dabei ist – unsere Tante Käthe.«
Ein paar Mitreisenden reckten die Hälse, aus dem hinteren Busteil kam vereinzeltes Klatschen. Die Dame neben mir erhob sich halb aus ihrem Sitz, lächelte und winkte mit der Hand in die Runde. Wo war ich da nur hineingeraten?
»Tante Käthe, Sie versprechen mir, dass Sie mich berichtigen, wenn ich mal etwas Falsches sage«, tönte Udo weiter aus dem Lautsprecher. »So, jetzt aber erst einmal viel Spaß bei unserer ›Eifel-Krimitour‹. Ich denke, wir alle werden mörderisch viel Spaß haben, höhö.«
Mist, das hatte ich überlesen. Vergessen Sie Ihre Arbeit, sonst werden Sie sich nie erholen – Dr. Wertmanns Worte klangen mir in den Ohren. Ein Profikiller entspannte sich auf Krimitour im Reisebus – ich glaubte nicht, dass Wertmann das gefallen würde.
»Also wenn Sie was wissen wollen? Fragen Sie mich einfach. Wie Udo es schon andeutete, ich habe da einen gewissen Ruf«, Tante Käthe zwinkerte mir zu. »Sie mögen doch Eifelkrimis?«
Na ja, mögen wäre zu viel gesagt. Ich hatte mal angefangen, einen Krimi zu lesen, aber mich dann zu sehr über den unprofessionellen Mörder aufgeregt. Außerdem war das so, als würde ich mir Arbeit mit nach Hause nehmen.
»Was möchten Sie wissen?«, riss mich Tante Käthe aus meinen Gedanken. »Ich kenne mich ein wenig aus.«
Ein wenig war die Untertreibung des Jahrhunderts. In den nächsten zwei Stunden meldete sich ab und zu Udo mit seinen Insider-Infos zu Wort. Vor allem aber hörte Käthe nicht auf zu reden. Ich erfuhr, dass wir in Hillesheim Pause machen würden, dem Epizentrum des Eifelkrimis. Sie zeigte mir mit dem Strahlen eines Rockstar-Groupies das Foto eines alten Mannes mit weißer Wuschelmähne, Vollbart und Pfeife. Der Herr war so etwas wie der Godfather des Eifelkrimis. Sein Eifel-Blues war 1989 nicht nur irgendein Buch gewesen, mit ihm begann der Erfolg der Regionalkrimis, erklärte mir Käthe mit ehrfurchtsvoller Stimme.
»Natürlich ist das nicht meine erste Fahrt«, vertraute sie mir an.
Was für eine Überraschung …
»Ich hab mir im letzten Jahr die Osteifel und den Laacher See angeschaut, dort ist mehr als nur ein Toter bereits aufgetaucht. Der Sittig und die Keiser treiben da ja ihr Unwesen.«
Ich wusste nicht, wovon sie redete, aber das hielt sie nicht weiter auf.
»Prüm und Bitburg habe ich dann im Sommer besucht. Zwei wundervolle Städte.«
»Von Bitburg kenne ich nur das Pils«, irgendetwas musste ich ja antworten. »Genau ›Bitte ein Bit‹, das wurde sogar schon in einem Titel verarbeitet: ›Bitte ein Mord‹. Ich glaube, Noske war das. Können Sie sich so was vorstellen?«
Ja, konnte ich, den Satz hörte ich bei meiner Arbeit ständig.
»Und die Carola Clasen hat auch schon in Bitburg gemordet.«
Für einen Wimpernschlag überlegte ich, ob Käthe eine Kollegin von mir meinen könnte, aber dann verwarf ich diesen Gedanken wieder.
»Im Herbst werde ich an die Ahr fahren, auf Eichendorffs Spuren, der Henn schreibt ja so anschaulich, bei den ganzen Rezepten bekomme ich immer Appetit. Und noch bin ich ja fit, so schnell werde ich nicht in eine Seniorenresidenz ziehen. Männer wie Opa Berthold gibt es nämlich nur in Büchern, im wirklichen Leben ist es da todlangweilig.«
Käthe achtete in keiner Weise darauf, ob ich ihr folgen konnte oder nicht. Sie plapperte und plapperte. Zwei lange Stunden zählte sie mir Handlungsorte und Autoren auf oder erging sich in Andeutungen zu Figuren, die ich nicht verstand. Zwei Stunden. 120 endlos lange Minuten Mord und Totschlag. Wie, zum Henker, sollte ich mich dabei entspannen? Am Ende, kurz bevor der Bus auf einen Parkplatz rollte, überlegte ich ernsthaft, sie für immer zum Schweigen zu bringen. Wenn ich mich nicht entspannte, konnte ich auch genauso gut arbeiten. Spontan fielen mir 20 Methoden ein, jemanden mit bloßen Händen zu töten, und das waren nur die, die hinterher wie ein Unfall aussahen.
Kricks. »So, da wären wir. Willkommen in der Eifelhauptstadt des Verbrechens. Willkommen in Hillesheim.«
Alles klatschte begeistert, nur ich wusste nicht, warum.
»Nun aber los, junger Mann. Uns bleiben nur zwei Stunden«, drängte Käthe.
Kricks. »Natürlich können Sie Ihr Gepäck im Bus lassen. Hier wird ja nur gemordet, höhö.« Udos launige Bemerkung löste allgemeine Heiterkeit aus. Vielleicht sollte ich einfach im Bus bleiben und mich ausruhen, überlegte ich. Da stieß mir Käthe auch schon den Ellenbogen in die Rippen. »Auf geht’s, wir wollen doch nicht die Letzten sein.«
Käthes Eile war, wie sich herausstellte, völlig unnötig. Denn erst einmal stellten sich draußen alle Busreisenden brav im Halbkreis auf. Udo war in seinem Element. Vor lauter Aufregung wippte er nervös auf den Fußballen, jetzt kam sein großer Auftritt. Die launigen Ansagen im Bus waren nur das Vorspiel gewesen, das wurde mir in den nächsten Minuten klar. Udo strich sich eitel ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Mit seinen schwarzen Haaren und dem dunklen Schnurrbart, weißen Jeans und Hawaiihemd erinnerte er mich an den jungen Tom Selleck. Udo trug natürlich die obersten drei Hemdknöpfe offen, sodass den Damen ein Blick auf die haarige Brust samt Goldkettchen gewährt wurde. Magnum hatte sich nach Hillesheim verirrt.
»So, wenn wir jetzt vollständig sind …«
Ich schaute mir die Runde an. Mehr Frauen als Männer, einige in Käthes Alter, zwei junge Frauen, zwei Ehepaare, offensichtlich miteinander befreundet. Ich wollte gerade überlegen, wer von den Männern wohl mal Studienrat gewesen war, da begann Udos Show.
Ich hatte zwei Wochen in den USA gearbeitet und war – durch Zufall – in Memphis in einen Gottesdienst geraten. Das kennen Sie sicher aus Filmen. Der Pastor an der Kanzel, der Gospelchor im Hintergrund, die aufgeputschte Gemeinde – haben Sie das Bild vor Augen? Dann haben Sie einen Eindruck von dem, was Udo abzog.
»Leute, jetzt liegt es an euch. Ihr habt die Wahl. Hier gibt es wunderschöne Wanderwege«, Udo grinste in die Runde, »oder vielleicht die Geologisch-Mineralogische Sammlung?«
Udo hielt sich eine Hand ans Ohr und beugte sich übertrieben nach vorne. »Ich kann euch nicht hören.«
Die ersten Reisenden kapierten schnell, was er hören wollte. »Nö, buh, ach was!«
»Ah, dann weiß ich das Richtige für euch. Heute ist ja der erste Donnerstag im Monat, da ist Markt. Wollt ihr den Krammarkt sehen?«
»Buhhhh« – jetzt hatten es alle kapiert.
»Ihr möchtet die alte Stadtmauer mit dem Hexenturm, die barocke Orgel der St. Martins Kirche oder den Eiskeller anschauen? Nein, das wollt ihr alles nicht! Ich weiß doch, was ihr wollt! Ihr wollt das Krimi-Archiv sehen, einen kurzen Blick ins Krimi-Hotel werfen, ihr wollt euren Kaffee im ›Sherlock‹ trinken.«
Udos letzte Sätze wurden von zustimmendem Gejohle und lauten Jawohl-Rufen unterbrochen. Udo strahlte: »Denn wir sind hier auf deeer Eiiffffel …«
»Krimitour!«
Ach du Scheiße, sogar die beiden Studienräte brüllten begeistert mit. Udo hatte seine Meute im Griff, daran gab es keinen Zweifel.
Ich hielt Ausschau nach einer ruhigen Parkbank, als sich Käthe bei mir unterhakte. »Gefällt es Ihnen, Michael?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich soll mich entspannen, aber das kann ich wohl hier vergessen.«
»Na, na, seien Sie nicht so streng mit sich und den anderen. Das wird lustig, glauben Sie mir. Ich war schon ein paar Mal hier. Ich habe sogar den Eifelkrimi-Wanderweg geschafft, das sind immerhin gut 20 Kilometer. Nur das mit der Krimi-Radtour habe ich gelassen, eine alte Frau sollte ihre Grenzen kennen, auf dem Rad wird mir immer schwindlig, und ich muss ja auf mein schwaches Herz achten, sagt der Arzt. Der Udo macht das doch ganz ordentlich. Es gibt hier auch eine Krimibus Tatort-Tour, die ist sehr empfehlenswert, aber wie gesagt, der Udo versteht sein Geschäft.« Käthe plapperte an meiner Seite, sie schien gar keine Antwort von mir zu erwarten. Ich meine, als Profikiller in Hillesheim nicht an die Arbeit zu denken, das war, als wolle ein Bankmanager im Geldspeicher von Onkel Dagobert mal Abstand vom Thema Geld nehmen. Wir gingen ein kurzes Stück die Straße herunter, da stießen schon die Ersten der Reisegesellschaft begeisterte Rufe aus. Eine englische rote Telefonzelle stand gut sichtbar vor einem hellen Haus. Das Kriminalhaus. Unsere Reisegesellschaft sorgte im Cafe ›Sherlock‹ für volle Tische. Auf der einen Seite gefiel mir die Einrichtung. Unzählige Fotos und alte Filmplakate an den Wänden, alte Ohrensessel, Tische und Stühle aus dunklem Holz, gemütlich war es hier. In einer Ecke stand ein Tisch in einem holzverkleideten Zugabteil, daneben ein offener Kamin. Man hatte lebensgroßen Figuren von Sherlock Holmes und einem englischen Bobby aufgestellt. Der ganze Raum atmete Krimi, Detektive und Ermittler. Nur ich, ich atmete immer schwerer. Mein Blick fiel auf einen der Tische, wo unter Glas liebevoll Accessoires des Verbrechens ausgestellt wurden. Ich sah eine Pistole und fühlte, wie mein Auge anfing zu zucken. Der bohrende Blick von Inspektor Derrick sorgte bei mir für ein unangenehmes Kribbeln. Es dauerte keine zwei Minuten. Plötzlich spürte ich, wie meine Hände anfingen zu zittern.
»Ist Ihnen nicht gut, Michael? Himmel, Sie sehen ja ganz blass aus«, Käthe musterte mich besorgt.
»Ich … ich werde mal kurz an die frische Luft gehen.«
Nur wenige Meter vom Eingang des Cafés stand eine Tischgruppe aus Stein und Holz. Ich setzte mich auf eine der Bänke und atmete tief durch. Ich konzentrierte mich auf zwei aus Holz geschnitzte Frauenfiguren, und nach zwei Minuten hörte das Zittern auf. Ich blieb einfach mit geschlossenen Augen in der Sonne sitzen und spürte langsam, wie die Anspannung der letzten zwei Stunden nachließ. Dr. Wertmann hatte recht, es gab etliche Kollegen, die weniger akkurat arbeiteten und trotzdem gut ausgebucht waren. Und wenn man mal ehrlich war: Welcher Auftraggeber beschwerte sich schon gern bei einem Profikiller? Vielleicht hatte ich mir selber zu hohe Standards gesetzt. Jedenfalls konnte es so nicht weitergehen.
»Ach, das war herrlich!«
Mit einem seligen Seufzen setzte sich jemand neben mich. Ich musste nicht hinschauen, um zu wissen, wer da gekommen war.
»Es war … es war so aufregend.«
Käthes Stimme zitterte. Ich hörte ihr mit geschlossenen Augen zu. Sie redete ein bisschen durcheinander, ich verstand Krimiautoren, ein Treffen in der anderen Etage, Autogramme.
»Und dann hat er mich angeschaut und mit seiner tiefen Stimme gesagt: ›Sieh mal an, die Tante Käthe ist wieder im Lande‹.«
Ich hörte einen weiteren seligen Seufzer und danach einen leisen erstickten Laut. Ich öffnete die Augen und schaute zu Käthe herüber. Sie hatte die Augen geschlossen und lächelte. Die Hände hielten ein Taschenbuch fest, auf dessen Rückseite zahlreiche Unterschriften zu sehen waren. Für einen Moment konnte ich es nicht glauben, aber ich hatte genügend Tote gesehen. Ich brauchte ihren Puls gar nicht mehr fühlen, tat es zur Sicherheit dann doch. Katharina »Tante Käthe« Schmeller hatte ihre letzte Tour angetreten. So viel Aufregung kann aufs Herz schlagen. Vorsichtig nahm ich ihr das Buch aus der Hand. Dann machte ich mich auf den Weg, Udo Bescheid zu sagen, der musste schließlich alles Notwendige in die Wege leiten. Nach Bad Bertrich suchst du dir besser eine andere Reisemöglichkeit, überlegte ich.
Ich nahm schließlich drei Stunden später ein Taxi, handelte einen Pauschalpreis aus und genoss die himmlische Ruhe auf dem Rücksitz. Draußen zogen Tannenwälder vorbei. Ich griff in die Reisetasche und holte Käthes Buch heraus, das mit den vielen Autogrammen vom Autorentreffen.
»Mörderische Eifel«, las ich auf dem Cover. Ich lehnte mich zurück und lächelte still. Offenbar schienen hier Morde an der Tagesordnung zu sein. Aber nicht mit mir, ich würde jetzt entspannen – endlich!