Читать книгу Wir haben keinen Kontakt mehr - Andreas Jungwirth - Страница 5
MATTHIAS
ОглавлениеThe Beggar’s Opera von John Gay? Kennt niemand. Brechts Dreigroschenoper? Kennt jeder. Die Oper von Gay wurde in Wien zuletzt Anfang der Achtzigerjahre in der Volksoper aufgeführt.
In der Pause nach dem zweiten Akt habe ich ihn um eine Zigarette gebeten. Vor über dreißig Jahren. Dreißig Jahre sind eine echt scheißlange Zeit. David hat noch exakt eine Zigarette gehabt, er hat sie angesteckt, und dann ist sie zwischen uns hin- und hergegangen, wie ein Joint.
Wie findest du die Aufführung?
Er hat mit den Schultern gezuckt.
Also nicht gut?
Du?
Auch nicht gut.
Ich auch nicht.
Warum sagst du es dann nicht einfach?
David ist rot geworden. Er hatte nichts Falsches sagen wollen.
Wir haben die Zigarette fertig geraucht, dann habe ich auf die Uhr geschaut.
Damals bin ich mindestens dreimal pro Woche in die Oper gegangen, bezahlt habe ich selten, ich hatte meine Tricks. Ich habe gewusst, wenn wir jetzt ein Taxi nehmen, kommen wir rechtzeitig zur zweiten Pause der Walküre in die Staatsoper.
Am Opernring aus dem Taxi raus, die Leute sind tatsächlich gerade zurück auf ihre Plätze, wir einfach hoch in den obersten Rang, niemand hat eine Eintrittskarte verlangt oder hat uns sonst irgendwie daran hindern wollen, die Walküre zu sehen.
Die Walküre ist damals für mich der Hammer gewesen. Überhaupt Wagner. Besser als jeder Rausch.
Ich habe so viele Jahre nicht an David gedacht, und jetzt fällt mir eins nach dem anderen wieder ein: David hatte gerade die Matura gemacht und war für ein paar Tage nach Wien gekommen, hat bei seinem Cousin am Nestroyplatz übernachtet, das war damals noch eine wilde Gegend, kein ATV gegenüber, keine chicen Lokale, kein Ansari, kein Mochi, dort hat damals noch niemand wohnen wollen.
Nach der Oper etwas essen, im ersten Bezirk, gleich bei der Synagoge, das Lokal gibt es heute nicht mehr, geredet: Ich wollte damals ein bekannter Pianist werden, berühmt wie Vladimir Horowitz. David wollte Verhaltensforscher werden, berühmt wie Konrad Lorenz.
Es war fast Mitternacht, als wir am Donaukanal entlanggegangen sind.
Der Vollmond hat sich im Wasser gespiegelt. Das Wasser hat gestunken. Nicht nur an diesem Tag, es hat immer gestunken, egal zu welcher Jahreszeit. Damals wurde noch alles ungefiltert in den Kanal geleitet. Ich muss nur daran denken, dann habe ich den Geruch schon in der Nase. Und neben mir dieser duftende Maturant, siebzehn, achtzehn Jahre alt …
Schritte, Schweigen, dann: Ich möchte dir gerne meine Wohnung zeigen. Was Besseres fiel mir nicht ein.
Und er: Okay.
Echt?
Falsch.
Was?
Scherz.
Im Wohnzimmer stand ein Bösendorfer.
Eine Weile habe ich improvisiert, immer wilder in die Tasten gegriffen, schließlich bin ich bei Rachmaninow gelandet, bis mein Nachbar gegen die Wand gehämmert hat. David und ich haben gelacht und sind aufs Sofa übersiedelt. Wieder geredet: David war in der Mansarde eines Einfamilienhauses aufgewachsen, hat das Zimmer mit seinem älteren Bruder geteilt, ihre Betten standen unter der Dachschräge, über ihm ein Poster von Franz Klammer, Abfahrts-Olympiasieger, Innsbruck 1976, in einem hautengen gelben Rennanzug. Für den Bruder war das einfach nur der Goldmedaillengewinner. 1976 war David neun und schaute ausschließlich auf die Muskeln unter der zweiten Haut. Und ich habe erzählt, wie ich drei Wochen zuvor Besuch von Bea hatte, einer Freundin von früher, aus Baden bei Wien, wo ich groß geworden war. Sie hat damals in Strasbourg gelebt und hat einen Typen mitgebracht, Philippe, und nachts habe ich plötzlich gespürt, wie jemand in mein Bett kriecht. Erst habe ich gedacht, es ist Bea, aber es war nicht Bea, es war Philippe, er hat mich in den Arm genommen.
Willst du es nicht?, hat mich Philippe gefragt.
Doch, habe ich geflüstert, ich will es auch.
Dann musst du auch atmen, sonst erstickst du.
Eine Weile ist es vollkommen still gewesen … zwischen David und mir. Wir haben uns nicht gerührt, aber mein Herz hat wie wild geschlagen.
Es ist fast vier Uhr früh. Wollen wir uns nicht hinlegen? Dann können wir noch besser reden.
David hat den Kopf geschüttelt.
Während er seine Schuhe angezogen hat, habe ich gewusst, dass er es später bereuen würde.
Ich hab mich aufs Bett gelegt, mir vorgestellt, wie er am Donaukanal entlangmarschiert, unter den Brücken durch, die den zweiten Bezirk mit dem ersten verbinden. Vermutlich hat er schon am Weg zu seinem Cousin diesen Brief im Kopf entworfen.
Ich habe mir dann noch einen runtergeholt und dabei abwechselnd an Philippe und an David gedacht, an schulterlange Haare, einen knochigen Körper, weiße Haut, einen samtigen Schwanz, der zu meiner Überraschung ohne jeden Schmerz in mich eingedrungen ist.
Eine Woche später ist dieser Brief an die Adresse meiner Eltern gekommen. Darin hat David geschrieben, wie sehr er es bereut hat, nicht geblieben zu sein, dass ihm erst später klar geworden ist, dass er auch will, was Philippe gewollt hatte, ohne in dem Brief zu sagen, was das war. Er schrieb, dass ich ihm schreiben soll, dass er mich wiedersehen möchte, sobald er nach Wien kommen würde, um zu studieren.
Ich verstehe immer noch nicht, warum der Brief an meine Eltern und nicht an meine Wiener Adresse kam. Kann sein, er hat sie sich nicht gemerkt … aber wenn er die andere Adresse herausgefunden hat, hätte er auch meine … und so weiter, keine Ahnung. Ist ja auch egal. Ist über dreißig Jahre her.
Meine Mutter hat den Brief aufgemacht, mit der Begründung, es könnte ja was Wichtiges sein. Sie hat mich angerufen. Hallo, Matthias. Ihre Stimme klang merkwürdig. Ich war gewarnt, ohne zu ahnen, worauf es hinauslaufen würde.
Hallo, bist du noch da?
Und dann hat meine Mutter mit leiser, ängstlicher, ungläubiger Stimme gefragt: Wer ist dieser David?