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SANDRA

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David? David hat auf der Treppe zur Galerie des Audimax gesessen, nicht in diesem Traum, den ich vor drei Tagen gehabt habe, in Wirklichkeit, vor, na ja, ich weiß nicht genau wie vielen Jahren. Fünfundzwanzig? Ich habe nie von ihm geträumt, all die Jahre nicht. Und vor drei Tagen plötzlich. Komisch, oder? Und als die Türen aufgegangen und alle in den Saal zur Einführung in die Zoologie geströmt sind, ist David einfach sitzen geblieben, und ich habe mir aus irgendeiner Laune heraus vorgenommen: Ich gehe erst, wenn er geht, er, der eine Stufe tiefer sitzt, dessen Rücken ich sehe, dessen breiten Hinterkopf, das Gesicht nicht. Und da er nicht aufgestanden ist, sind wir noch dagesessen, nachdem die Türen wieder zugegangen waren. Er und ich. Also damals, nicht in dem Traum vor drei Tagen, das war in Wirklichkeit. Seine Arme waren um seine Knie geschlungen, mit dem Oberkörper vor und zurück, vor und zurück, und ich zu ihm: Hör auf damit! Und er hat augenblicklich damit aufgehört, und ich: Warum schwänzt du die Vorlesung? Und er: Ich glaube da nicht mehr dran.

Woran glaubst du nicht mehr? Ein neuer Konrad Lorenz zu werden. Und David hat gelacht, als wäre es überhaupt kein Problem, etwas, das man einmal unbedingt wollte, auf einmal nicht mehr zu wollen.

Auch für mich war Zoologie nicht die Zukunft. Ich wollte Journalistin werden. Ich wollte schreiben. Reiseberichte.

Hast du mal ein Gedicht geschrieben?

Nein.

Da hat er sich zum ersten Mal nach mir umgedreht – was er da gesehen hat, was er in diesem Moment gedacht hat? Ich habe es nie erfahren. Eine Weile hat er mich lächelnd gemustert, dann seine hohe Stirn in Falten gelegt, den kleinen Mund ein wenig schief verzogen und gesagt: Was ich an dir mag, ist das Geheime / jedes Wort zu viel ist schon Gefahr / denn so schnell verfällt ins Allgemeine / was zuvor so ganz besonders war.

Und ich: Ist es deine Stimme / sind es deine Hände / ach – dein ganzes Wesen fesselt mich / um dich zu beschreiben, bräucht es Bände … das ist von Erich Fried.

Nein, von Konstantin Wecker, hat David gesagt.

Stimmt. Scheiße! Der Punkt ging an ihn.

Am nächsten Mittwoch war David wieder dagewesen, ist wieder auf der Treppe sitzen geblieben, statt in die Vorlesung zu gehen. Am selben Abend sind wir zusammen zu einer Lesung von Erich Fried.

Der erste Kuss war gierig, total misslungen, es waren Bisse, unsere Zähne sind gegeneinandergeschlagen, wir haben uns ineinander verkrallt, es war ein Kampf, ein Krampf, ich habe etwas Warmes geschmeckt, einer von uns hat geblutet.

In diesem Traum vor drei Tagen hatten wir ein gemeinsames Kind, das jetzt Mitte zwanzig sein müsste, aber es war erst ein paar Wochen alt, so, als wäre es all die Jahre in meinem Bauch herangewachsen, das kann doch nicht sein, fünfundzwanzig Jahre lang schwanger, habe ich im Traum gedacht und bin deswegen fast verrückt geworden.

Ich bin auch im wirklichen Leben fast verrückt geworden.

An dem Tag, als David mit Tickets für ein Konzert im Musikverein angekommen ist, Orchester mit Klavier, ein damals gerade total gehypter junger Pianist, ein irrsinnig hübscher Kerl, Matthias irgendwer … ich weiß nicht, ob der heute noch eine Rolle spielt. Damals hat er mit seinen blauen Augen und seinen schwarzen Locken in der ganzen Stadt von Plakatwänden heruntergelacht, und obwohl ich noch nie auf Klassik abgefahren bin, war es ein total irres Konzert, auch weil David die ganze Zeit die Hände nicht von mir ließ, und kaum waren wir bei ihm zu Hause, haben wir gevögelt, und danach hat David erzählt, dass er den Pianisten schon länger kennt, persönlich kennt. Kurz nach der Matura, mit achtzehn, hat er ihn kennengelernt, ganz zufällig.

Wie zufällig?

Und David hat von The Beggar’s Opera erzählt und dem dritten Akt der Walküre, dem Spaziergang am Kanal, wie dieser Pianist für ihn auf dem Bösendorfer improvisiert hat und bei Rachmaninow gelandet ist …

Ich wollte in dieser Nacht bei ihm bleiben, aber ich hatte nicht den Mut, sagte David.

Während David erzählt hat, habe ich getrunken: Und wenn du bei ihm geblieben wärst … würdest du jetzt nicht mit mir hier sein? … Und dann wollte ich unbedingt hören, dass er beim Sex an diesen Pianisten gedacht hat, ihn sich vorgestellt hat, statt bei mir zu sein. Meine Hände sind seine Hände. Meine Lippen seine Lippen. Ich bin er. Ich habe David so lange gequält, bis er es zugegeben hat. Meine Küsse sind seine Küsse. Und ich habe geheult, und die Tränen und der Schweiß haben nach Alkohol gestunken, und irgendwann riechst du dich in so einem Zustand dann selbst, und ich habe mich, nicht ihn, ich mich, ich habe mich zum Kotzen gefunden.

Ich habe auch danach immer wieder Beziehungen mit Schwulen gehabt und mich oft gefragt: Ist das nun Pech oder Schicksal oder Glück oder was soll das eigentlich? Auch meine beiden Kinder sind von einem Mann, der früher schwul gewesen ist und jetzt hetero, das glaubt immer niemand, dass es das gibt. Aber das gibt’s auch in diese Richtung. Was weiß ich, wie das geht. Ich weiß nur eines: Es gibt so vieles. Alles gibt’s. Einfach alles. Auch Sachen, die dir nie und nimmer einfallen würden.

Wir haben keinen Kontakt mehr

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