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Befreites Denken: Wie wir in äußerlich chaotischen Zeiten im Inneren fokussiert und klar bleiben können

Ulrich Borchard


Wer sich in der Literatur des „Psycho-Marktes“ ein wenig auskennt, weiß, dass in vielen Ratgebern „positives Denken“ empfohlen wird. Die einfache Formel ist: Positive Gedanken führen zu einem guten, negative Gedanken zu einem schlechten Leben. Deshalb sollen wir durch positives Denken unsere negativen Gedankenmuster, unsere alten Glaubenssätze oder gleich unseren „Mind Set“ ändern.

Dass unsere gewohnheitsmäßigen Gedanken Einfluss auf unser Leben haben, ist natürlich auch meine Erfahrung. Sowohl im eigenen Leben als auch in meiner Arbeit als Coach. Wer mit eher negativen Gedankenmustern durch die Welt läuft, macht es sich nicht einfach. Wissenschaftler gehen davon aus, dass mehr als 95 Prozent unserer täglichen Gedanken keine neuen Gedanken sind, sondern schon vorher von uns gedacht wurden. Wenn diese 95 Prozent vor allem negativer Art sind, hat das natürlich Auswirkungen. In Persönlichkeitstrainings und Coachings habe ich deshalb auch mit vielen Teilnehmenden über die Macht der Gedanken gesprochen und unzählige Anregungen gegeben.

In meiner beruflichen Anfangszeit als Persönlichkeitstrainer hielt ich zum Beispiel häufiger Seminare zur Durchführung von geschäftlichen Präsentationen ab. Dabei ging es neben der Vermittlung von Präsentationstechniken natürlich auch immer um den Umgang mit Unsicherheit und Lampenfieber. Zur Illustration der Macht der Gedanken inszenierte ich dann manchmal eine kleine Demonstration: Unter einem ausgedachten Vorwand bat ich die im Halbkreis sitzenden Teilnehmenden, gleich die Augen zu schließen. Ich würde dann gleich an allen Teilnehmenden vorbeigehen und dabei genau eine Person kurz mit dem Finger an der Schulter berühren. Diese Person sollte dann, nachdem ich wieder vorne an meinem Platz wäre und alle gebeten hätte, die Augen zu öffnen, spontan eine kurze Rede zu einem bestimmten Thema halten. Der Vorwand für diese Übung musste nur sinnvoll genug zum Seminarinhalt passen, dann machten die Teilnehmenden bereitwillig mit, auch wenn natürlich die meisten bei dem Gedanken, sie könnten gleich „dran sein“ und eine spontane Rede halten müssen, eher nicht so glücklich waren.

Und genau darum ging es: Tatsächlich berührte ich, wenn ich dann um den Sitzkreis herum ging, die Schultern aller Teilnehmenden. Jeder einzelne ging aber in diesem Moment davon aus, die oder der Einzige zu sein, die oder der berührt wurde. Wenn alle auf meine Aufforderung hin wieder die Augen öffneten, saßen alle da und dachten, sie seien als Einzige „gleich dran“. Tatsächlich musste keiner in dieser Übung eine spontane Rede halten. Stattdessen bat ich ohne viel Erklärung alle Teilnehmenden, auf vorbereitete Karten erstens ihren ersten Gedanken aufzuschreiben, welchen sie hatten, als sie an der Schulter berührt wurden. Zweitens sollten sie ihre Emotion in diesem Moment benennen und drittens ihre Körperreaktion aufschreiben. Wenn dann alle Karten in dieser Reihenfolge an einer Pinnwand Zeile für Zeile untereinander hingen, wurde lesbar, was Gedanken bewirken konnten. Typischerweise schrieben viele Teilnehmende etwa folgendes auf:

1. Gedanke: „Warklar!“

2. Emotion: „Nervosität“

3. Körperreaktion: „Grummeln im Bauch“

oder

1. Gedanke: „Immer ich!“

2. Emotion: „Lampenfieber

3. Körperreaktion: „Kloß im Hals“

oder

1. Gedanke: „Scheiße!“

2. Emotion: „Schrecken“

3. Körperreaktion: „Schwindelgefühl“

Aber in jeder Gruppe gingen ein oder zwei Teilnehmende anders mit sich um, zum Beispiel:

1. Gedanke: „Interessant!“

2. Emotion: „Neugier

3. Körperreaktion: „keine“.

Warum positives Denken oft nicht funktioniert

Für viele Teilnehmende war diese Übung eine eindrucksvolle Demonstration dafür, wie wir uns selbst mit unseren Gedanken für anschließenden Erfolg oder Misserfolg programmieren. Wenn dann aber in der nachfolgenden Diskussion die Teilnehmenden von persönlichen Erlebnissen berichteten und ich für solche Situationen positive Gedanken vorschlug, hörte ich immer wieder:

„Bei dir hört sich das so einfach an! Aber ich würde nie darauf kommen.“

Das liegt natürlich daran, dass wir die oben genannten 95 Prozent unserer Gedanken, die wir wiederholt denken, eben gerade nicht bewusst denken. Viele solcher Gedanken kommen aus den Tiefen unseres Unterbewusstseins. Die meisten unserer Denkgewohnheiten haben wir sogar schon in sehr jungen Jahren in unser Unterbewusstsein aufgenommen. Da wir als Kleinkinder so vieles lernen müssen, nimmt unser Unterbewusstsein in diesem Alter noch alles, was wir erleben, unkritisch an und speichert es sofort wörtlich als Wahrheit. Nur so können wir als Kleinkinder derart schnell lernen: krabbeln, Laute bilden, sprechen, stehen, laufen, rennen, Radfahren, sozial sein.

Später schiebt sich dann mehr und mehr eine kritische Instanz vor unser Unterbewusstsein. Diese hat die Aufgabe, unser aufgebautes Selbstbild vor Verletzungen zu schützen. Dadurch ist es für andere, aber auch für uns selber, schwerer, mit Logik und Verstand zu unserem Unterbewusstsein vorzudringen. Jemand, der in der oben beschriebenen Seminar-Demonstration „Immer ich!“ dachte und Lampenfieber bekam, schützte sicher auch unbewusst sein Selbstwertgefühl: Die damit verbundene Vorannahme „Das kann ich nicht!“ oder „Ich werde es nicht schaffen!“ schützt davor, enttäuscht zu werden, da man jetzt ja schon vorher „weiß“, dass man scheitern wird.

Das alles ist uns im Alltag natürlich meist nicht bewusst, deshalb spricht man ja vom Unterbewusstsein und deshalb fallen uns in der Regel bei Anderen deren „Bretter vorm Kopf“ viel schneller auf als unsere Eigenen. Manche Vorannahmen und Glaubenssätze fallen gar niemandem mehr auf, da sie sich als sog. Meme in der gesamten Gesellschaft oder Kultur verbreitet haben (Vera F. Birkenbihl, Viren des Geistes, DVD, 2006).

Was wir selbst tun können, um fokussiert und klar zu bleiben

Es gibt natürlich Möglichkeiten, die kritische Instanz des Unterbewusstseins in bestimmtem Maße zu umgehen. Diese Möglichkeiten werden oft unter Begriffen wie Mentaltraining oder Hypnose beschrieben. Da ich diese Methoden seit vielen Jahren selber anwende, weiß ich, wie sehr sie hilfreich sein können, um festsitzende Verhaltens- und Denkgewohnheiten zu ändern. Wir haben heutzutage zudem mit neuartigen Methoden die Möglichkeit, direkt die emotionalen Ursachen für das Festhalten an bestimmten Verhaltens- und Denkmustern aufzulösen, mit sehr positiven Folgen für die Klarheit des eigenen Denkens und den Erfolg im Handeln. Leser*innen, die hierüber mehr erfahren möchten, können sich gerne direkt an mich wenden. An dieser Stelle möchte ich drei Impulse für den Alltag geben, wie wir negatives Denken direkt ändern können, ohne uns zu positivem Denken zwingen zu müssen.

1. Tue es einfach.

„Im Anfang war die Tat.“

(Johann Wolfgang von Goethe)

Es ist häufig sehr viel einfacher, das eigene Verhalten zu ändern als das eigene Denken, da wir unser Verhalten meist sehr viel besser bewusst steuern können. Wenn wir so tun, als ob wir die von uns gewünschte positive Denkweise schon hätten, werden wir nicht nur andere Ergebnisse erzielen, sondern auch genau die Gedanken und Gefühle hervorbringen, die wir ursprünglich haben wollten (Richard Wiseman, Machen, nicht Denken, 2013).

Dazu noch einmal das Beispiel Lampenfieber bei geschäftlichen Präsentationen: Menschen, die sich beim Präsentieren unsicher fühlen, entfernen sich oft unbewusst in kleinen Schritten von ihren Zuhörenden. Wenn es zum Beispiel eine scheinbar kritische Rückfrage gibt, gehen sie unbewusst vom Fragestellenden weg. Dieses Verhalten macht sie unbewusst noch nervöser.

Statt nun an der Nervosität und Unsicherheit zu arbeiten, ist es in einem solchen Moment viel effektiver, bewusst auf den Fragestellenden zuzugehen, während er seine kritische Frage stellt. Das wirkt nicht nur auf andere souverän, sondern man fühlt sich aufgrund dieses Verhaltens tatsächlich sicherer und es fällt einem genau die souveräne Antwort ein, die man sich gewünscht hat.

2. Wechsle deine Umgebung.

„Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung."

(Antoine de Saint-Exupéry)

Diesen Text schreibe ich, wie viele meiner Mitautoren*innen, inmitten der sog. Corona-Krise im März 2020. Während einer solchen Krisenzeit haben viele Menschen sehr unschöne Gedanken und Gefühle. Dabei spielt, wie der Neurowissenschaftler Stephen W. Porges herausgefunden hat, eine wichtige Rolle, ob unser Nervensystem – nicht unser Verstand - unbewusst eine gegebene Umgebung als sicher oder unsicher empfindet (Stephen W. Porges, Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit, 2019). In einer als unsicher empfundenen Umgebung schaltet unser Nervensystem je nach subjektiv erlebter Gefahrengröße auf Kampf, Flucht oder Erstarrung um. Rationalität und Klarheit im Denken sind dann nicht zu erwarten. Welche Folgen das bei einer global empfundenen Gefahrensituation haben kann, können wir aus meiner Sicht gerade erleben.

Für den einzelnen Menschen wäre es sicherlich gut, auch und gerade in einer solchen Situation innere Klarheit und Weitsicht zu behalten, um für sich selbst weise Entscheidungen treffen zu können. Doch wie kann eigenständiges Denken gelingen, wenn ein Großteil des Umfeldes im Gefahrenmodus ist?

Grundsätzlich ändern wir unseren eigenen Zustand dadurch, dass wir uns selbst in eine als positiv und sicher empfundene Umgebung begeben (zum Beispiel unter geliebte Menschen). Eine andere Umgebung wird auch andere Gedanken und Emotionen in uns hervorrufen. Die Kommunikationsexpertin Nancy Kline nennt eine solche Umgebung „Thinking Environment“ bzw. „Denkumgebung“ (Nancy Kline, Time to Think: Zehn einfache Regeln für eigenständiges Denken und gelungene Kommunikation, 2016). Die von ihr aufgestellten Regeln für die Etablierung einer Denkumgebung leiten sich aus der Erfahrung ab, dass die Qualität des Denkens von der Aufmerksamkeit der Menschen füreinander abhängt. Umgekehrt bedeutet dies: Wenn wir als Menschen miteinander eine solche Denkumgebung schaffen, werden wir eigenständiger denken können.

3. Vertraue dir selbst.

„Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch

die Gedanken. “

(Karl Kraus)

Was passiert, wenn jemand in einer scheinbar schwierigen Situation, wie in der oben beschriebenen Seminar-Übung, statt „Immer ich!“ den Gedanken „Interessant!“ hat? Es entsteht in diesem Moment nicht nur eine andere Emotion, sondern auch ein konstruktives Denken, das hilft, die anstehende Aufgabe gut zu bewältigen. Es kommen uns genau diejenigen neuen und eigenständigen Gedanken, die wir im Alltag laut Wissenschaft nur zu weniger als fünf Prozent haben. Ein erster neugieriger Gedankenimpuls wie „Interessant!“ zieht weitere neue und konstruktive Gedanken zu sich. Mir gefiel schon als Kind die Formulierung des Mr. Spock vom Raumschiff Enterprise, die er bevorzugt in scheinbar ausweglosen Situationen wählte: „Faszinierend!“

„Meine Lieblingsformulierung für einen Gedankenimpuls in einer akuten Problemsituation stammt von meinem Psychologen-Kollegen Ortwin Meiss: „Ich bin mal gespannt, was mir jetzt Geniales einfällt!“ (Ortwin Meiss, Trance, Flow und Peakperformance: Die Entwicklung von Spitzenleistungen, DVD, 2007).

Nach meiner Erfahrung denken viele Menschen zu sehr in nur eine Richtung, in die Richtung nach außen, weg von uns selbst. Das ist unser rationales, logisches Denken. Die Richtung nach innen, hin zu uns selbst, die Richtung, aus der die neuen Gedanken und Ideen kommen, wird von vielen Menschen nicht in gleicher Weise beachtet. Sie nehmen intuitiv das Ungleichgewicht in ihrem Denken wahr, fangen dann aber an zu grübeln, denken also noch mehr in die Richtung weg von sich selbst.

Hieraus entsteht die Unrast, dieses ständige Gefühl, dass etwas fehlt. Ich bin davon überzeugt, dass jetzt die Zeit ist, unsere geistigen, intuitiven Fähigkeiten zu entdecken. Nachdem wir ja bereits das Verständnis unserer rational-logischen Intelligenz (IQ) um die Bedeutung der Emotionalen Intelligenz (EQ) ergänzt haben, ist nun die Zeit, auch unsere Spirituelle Intelligenz (SQ) zu integrieren.

Damit ist nicht irgendein religiöses Konzept gemeint, sondern unsere Sehnsucht, unserem Leben Bedeutung und Bestimmung zu geben.


Ulrich Borchard ist Psychologe, Managementberater und Executive Coach. Er unterstützt Führungskräfte, Druck und Zweifel in Leichtigkeit und Sinnerfüllung zu wandeln.

Seit mehr als 20 Jahren unterstützt er mittlerweile tausende Führungskräfte bei der Bewältigung ihrer anspruchsvollen Führungsaufgaben und der Entwicklung einer persönlichen, sinnerfüllten Führungsperspektive. In den letzten Jahren hat er es sich vermehrt zur Aufgabe gemacht, besonders stark beanspruchten Entscheidern zu einer echten inneren Transformation zu verhelfen, die wieder Leichtigkeit und Freude in ihren Alltag bringt. Die positiven Folgen für seine Klienten und deren Umfeld erfüllen ihn mit tiefer Dankbarkeit.

Ulrich Borchard ist glücklich verheiratet und hat zwei Kinder. Er lebt in Witten und Barcelona.


ulrich@borchard-beratung.de

https://borchard-beratung.de

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