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1 Einführung – Die Bedeutung (sport-)historischen Denkens

Geschichte liegt nicht einfach als gegebene Vergangenheit vor; Geschichte entsteht (ständig neu) im Kopf eines jeden Menschen. Jeder Studierende, jede Familie, jeder Sportverein, jede Schule, jede Sportfakultät, jede Stadt, jede Region und jeder Staat hat ihre/seine Geschichte. Individuen wie Gruppen bilden ihre Identität durch Aufarbeitung ihrer Vergangenheit. Sie verankern sich historisch, „indem sie sich in bestimmte Traditionen einordnen, denen sie wiederum ihre Identität entnehmen“ (Lorenz, 1997, S.410). Die Identität von Menschen und menschlichen Gruppen ist dementsprechend ihre eigene historische Konstruktion. Ausgehend von diesem Gedankengang liegt den weiteren Ausführungen die folgende Begriffsbestimmung von Geschichte zugrunde:

(Sport-)Geschichte ist ein bedeutungsvoller Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart, den Menschen erzählend herstellen, um Orientierung für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln zu gewinnen.

Was den Menschen als Mensch ausmacht, ist die Fähigkeit zu denken, sich zu erinnern und Zukunftsvorstellungen zu entwickeln. In jedem gelebten Moment wird Zukunft zu Gegenwart und Gegenwart zu Vergangenheit. In diesem unaufhaltsam ablaufenden Prozess muss der Mensch seine Identität bewahren und entwickeln. Indem Menschen ebenso wie Gemeinschaften Geschichten erzählen, verarbeiten sie die auf sie einströmende Natur-Zeit in gedeutete humane Zeit, wie es der Geschichtsdidaktiker Rüsen formuliert (Rüsen, 1983; 1986). Unverarbeitete Natur-Zeit kann den Menschen bedrohen. Nur in erzählter, verarbeiteter und gedeuteter humaner Zeit kann der Mensch planend Zukunftsabsichten, Erwartungen und Hoffnungen entwickeln.

Die Verdrängung momentan nicht bewältigbarer Erlebnisse ist ein häufig anzutreffender Umgang mit bedrohlicher Gegenwartserfahrung. Der Geschichtswissenschaftler Lorenz (1997) verweist darauf, dass „ein gewisses Maß an Verdrängung (jedenfalls nach Freud) der Preis für jede Kultur“ sei und der Verdrängungsmechanismus die persönliche Identität unter traumatisierenden Umständen oft auch schützt. Aber ein Übermaß an Verdrängung führe zu einer Destabilisierung der Identität. Je mehr Aspekte seiner persönlichen Vergangenheit man verwerfe, desto weniger bleibe übrig, mit dem man sich identifizieren könne.

„Daß viele Menschen mit Identitätsproblemen schließlich einen Therapeuten aufsuchen, beweist, daß man unter seiner Vergangenheit leiden kann und daß es nicht möglich ist, sie einfach, wie eine Schlange ihre Haut, abzustreifen. Jeder Mensch verkörpert seine Geschichte, in die er ‚verstrickt‘ ist. Vergleichbare Probleme treten in den Geschichten von Kollektiven auf, wenn die Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit durch einen abrupten Bruch gestört wird. Die deutsche Geschichte [von 1933 bis 1945 und] nach 1945 ist dafür ein treffendes Beispiel“ (Lorenz, 1997, S.411).

Abb. 1:

Historisches Denken im Alltag des Menschen (Luh, 2004, S.443)

Glücklicherweise hat der Mensch nicht nur mit Identität brechenden Zeiterfahrungen zu tun, sondern auch mit Identität bestätigender, Identität entwickelnder und Identität modifizierender Zeiterfahrung, die alltäglich in ganz unterschiedlicher Form erzählend in humane Zeit umgewandelt wird: Ein Student, der nach Hause kommt, erzählt stolz von einer guten Note oder verschweigt eine schlechte – und sieht sich hierdurch in seinem studentischen Lebens- und Arbeitsverhalten bestätigt oder infrage gestellt. Nach einem Besuch im Fußballstadion treffen sich viele Fans mit Gleichgesinnten in ihrer Stammkneipe zu einer Nachbesprechung der in der „Ostkurve“ oder auf der „Südtribüne“ erlebten Zeit, bestätigen ihre Identität als treue Vereinsanhänger und verabreden sich für ein zukünftiges Heimspiel. Platziert ein Sportler, der lange verletzt war, nach einem mühevollen Aufbautraining einen gewonnenen Pokal an herausragender Stelle, ist das zweifellos auch eine Form der erzählenden Verarbeitung von bedeutsam erlebter Zeit bei gleichzeitigem Gewinn einer auf die Zukunft ausgerichteten Trainings- und Lebensperspektive.

Als denkender „Homo sapiens“ ist der Mensch nach Marcus T. Cicero auch ein geschichtliches Wesen, ein „Homo historicus“, der sich reflektiert oder unreflektiert seiner Geschichte stellen und in ihr leben muss. Der Mensch hat (seine) Geschichte; Geschichtlichkeit ist ein Kennzeichen des Mensch-Seins.

Sportgeschichte in 60 Minuten

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