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DAS ENDE DER NATUR?

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Im Jahr 1990, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Jamesons Postmodernism, verkündete Bill McKibben in dem gleichnamigen, heute als das erste populäre Buch über den Klimawandel geltenden Buch »das Ende der Natur«. Er war einer der Ersten, die das Gefühl hatten, dass die veränderte Zusammensetzung der Atmosphäre alles auf den Kopf stellte, angefangen mit der Bedeutung des Wetters. Denn ein plötzlicher Wolkenbruch ließ sich nicht länger ignorieren und ein Nachsommer nicht mehr als Laune der Natur genießen. Alles Wetter müsse mittlerweile als ein Artefakt »unserer Lebensweise« beargwöhnt werden, selbst noch auf einem Spitzbergener Berggipfel oder auf einer Sanddüne in der Atacama-Wüste, in Gebieten also, die als abgeschiedene Wildnis gälten: Aufgrund des Kohlenstoffdioxids finde sich der menschliche Fingerabdruck überall. »Wir haben das CO2 produziert – wir machen der Natur ein Ende« – oder:

Indem wir das Wetter verändern, machen wir jeden Fleck auf der Erde zu etwas Künstlichem, zu Menschenwerk. Wir haben die Natur ihrer Eigenständigkeit beraubt, und das hat verhängnisvolle Folgen für ihr Wesen. Das Wesen der Natur ist ihre Eigenständigkeit; ohne sie gibt es nur noch uns.28

Innerhalb welcher Definition aber ist die Natur verschwunden? Auf den ersten Blick mag es den Anschein haben, als bediente sich McKibben einer Definition, die derjenigen Sopers nicht unähnlich ist – mit »Eigenständigkeit« bzw. »Unabhängigkeit« als Schlüsselbegriff –, doch geht er noch einen entscheidenden Schritt weiter. Er bezieht sich nicht auf die Natur als eine Reihe an materiellen Strukturen und Prozessen mit eigenen kausalen Kräften, nicht auf das Ende der Fotosynthese, der Atmung oder der Wolkenformation; all diese Dinge, beteuert er, bestünden auch weiterhin. Vielmehr »haben [wir] dem ein Ende gemacht, was zumindest in der Neuzeit Natur für uns definiert hat … ihrer Trennung von der menschlichen Gesellschaft«, das heißt ihre Reinheit, ihr vollkommen ursprünglicher, unberührter, vom Menschen unbeeinträchtigter Zustand.29 Nur unter Anerkennung dieser Definition ließe sich behaupten, die Natur sei an ihr Ende gelangt. Aber handelt es sich dabei überhaupt um eine vernünftige Definition?

Wenn ich Zucker in meinen Kaffee mische, folgere ich daraus nicht, dass der Kaffee sein Ende gefunden hat. Ich nehme eher an, er hat den einen Zustand abgelegt und dafür einen anderen angenommen: Es ist nicht länger nur schwarzer Kaffee, sondern süßer schwarzer Kaffee. Normalerweise, in unserem Alltag und unserer Sprache, bestehen wir nicht darauf, dass, sobald A mit B in Berührung kommt, A aufhört zu existieren – ein privates Unternehmen bleibt während der Verhandlungen mit dem Staat ein privates Unternehmen; ein See bleibt ein See, selbst wenn Tonnen an Sedimenten hineingeschüttet werden. Besonders für jene, die mit der marxistischen Dialektik vertraut sind, sollte es sich hierbei um einen banalen Gedanken handeln – kapitalistische Eigentumsverhältnisse verschwinden nicht in dem Moment, in dem sie mit feudalen oder sozialistischen vermengt werden; Kapital kann sich nur durch ständige Bezugnahme auf seine Erzfeindin Arbeit und dergleichen vermehren, und zwar lediglich innerhalb einer Welt, in der ein Gefüge aus Gegensätzen keinen überraschenden Umstand darstellt. Sollten wir mit der Natur also anders verfahren? Gibt es irgendeinen Grund, eine bestimmte Bedingung – namentlich die Abwesenheit sozialen Einflusses – in die Definition dieser speziellen Sache als Prüfstein gerade ihrer Existenz zu integrieren?

Wir wollen dies die puristische Definition nennen. McKibben präsentiert keinerlei Begründung für sie; er nimmt sie schlichtweg als gegeben hin. Betrachten wir Natur jedoch in einem etwas kleineren Maßstab, erscheint es schwierig, diese Definition aufrechtzuerhalten. Man nehme etwa die Ozeane: Mittlerweile sind sie entstellt – aufgrund des Plastikmülls, der in gigantischen Wirbeln seine Bahnen zieht, aufgrund von Versauerung, Überfischung und anderen menschlichen Einflüssen, die bis in die tiefsten, dunkelsten Winkel hinabreichen. Können wir also sagen, dass Ozeane ipso facto nicht mehr existieren? Wohl kaum. Sie befinden sich in einer anderen Verfassung, aber vorhanden sind sie nach wie vor – und wenn das auf die Ozeane zutrifft, die doch einen ziemlich bedeutenden Teil dessen ausmachen, was wir als »Natur« verstehen, warum dann nicht auch auf die maßgebliche Gesamtheit? Es scheint hierfür zwei mögliche Umgangsweisen zu geben. Entweder speist man Heiligkeit, also eine Art (paradoxerweise) übernatürliche Wertigkeit, in die Definition der Natur ein, oder man hält an einer extremen Form des Dualismus fest, was die Überzeugung erlauben würde, die Essenz der Natur sei ihre vollständige Absonderung von der menschlichen Gesellschaft.30

Wenn wir nun zu Recht zu dem Schluss kommen, dass die puristische Definition analytisch unhaltbar ist, soll damit keineswegs gesagt sein, dass McKibben nicht gut daran tut, das Ende eines bestimmten Zustands der Natur zu beklagen.31 So, wie ich schließlich einen Grund haben könnte, vor Widerwillen aufzuschreien, wenn jemand Zucker in meinen Kaffee kippt, dürften sich noch weitaus überzeugendere Gründe dafür finden lassen, den Verlust eines jeden unberührten Ortes der Welt zu betrauern. Im Hinblick auf unsere Absichten, und darum geht es, gereicht McKibbens traurige Kunde analytisch jedoch zu keinerlei Nutzen. Denn laut der puristischen Definition gehörte die Kohle, die von den Briten an entlegenen Küsten entdeckt wurde, vor deren Ankunft zwar der Natur an, doch als diese Briten (oder vielmehr diejenigen, die für sie arbeiteten) zu graben und die Kohle zu fördern anfingen, fiel das Material irgendwie aus der Natur in die Sphäre des Menschen. Wenn nun aber die Kohle bereits kein Teil der Natur mehr war, wie kann sich das CO2 dann überhaupt noch tödlich auf sie ausgewirkt haben? Die Antinomien des Dualismus würden auf allen Ebenen einer solchen Geschichte erneut zum Vorschein kommen.

Der Fortschritt dieses Sturms

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